Unheimliche Geschichten - Edgar Allan Poe - E-Book
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Edgar Allan Poe

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Beschreibung

Zum Sterben schön - der Poe für das 21. Jahrhundert Poes Werk war von Anfang an eine Provokation, das Modische, Unoriginäre war ihm verhasst. Das puritanische Amerika strafte ihn dafür mit übler Nachrede und Vergessen. Erst in Frankreich fand er posthum geistiges Exil, als niemand geringeres als Baudelaire ihn in den Rang setzte, der ihm gebührt, seine Werke in fünf Bänden übersetzte und kommentierte. Mit ebendieser Poe-Ausgabe von Charles Baudelaire beginnt die literarische Moderne. Andreas Nohl überträgt sie ins Deutsche und zeigt Poe, den großen Pionier, im Zeitalter von Copy & Paste und Epigonen auf der Höhe seiner Kunst. Der vorliegende erste Band trägt den Titel Unheimliche Geschichten: Poes unvergleichliche Erzählungen – von den Detektivgeschichten wie »Doppelmord in der Rue Morgue« über »Der Gold-Skarabäus« bis hin zu den Grotesken und den visionären Traumbildnissen wie »Ein Sturz in den Malstrøm« – bezeichnen bis heute die Höhepunkte ihrer Gattung, wenn sie sie nicht überhaupt erst begründet haben. Poe steht keineswegs in der Tradition der gothic tales, die von der Romantisierung der Angst leben – denn er hat das Gegenteil getan: Er hat der Angst alles Schauerlich- Beschauliche genommen und ihre zuckenden Herzmuskeln bloßgelegt. "Wenn jeder, der seine Einfälle Poe verdankt", so Arthur Conan Doyle, "den zehnten Teil seiner Einnahmen opfern müsste, könnte diesem ein Denkmal errichtet werden, das größer ist als die Pyramiden…" Enthalten sind: ›Der Doppelmord in der Rue Morgue‹, ›Der entwendete Brief‹, ›Der Gold-Skarabäus‹, ›Ente einer Ballonfahrt‹, ›Das beispiellose Abenteuer eines gewissen Hans Pfaall‹, ›»Manuskript in Flasche gefunden«‹, ›Ein Sturz in den Malstrøm‹, ›Die Fakten im Fall von M. Valdemar‹, ›Mesmerische Offenbarung‹, ›Eine Geschichte aus den Ragged Mountains‹, ›Morella‹, ›Ligeia‹ und ›Metzengerstein‹. Texte von Charles Baudelaire über Edgar Allan Poe und seine Erzählungen vervollständigen den Band. Bibliophile Ausstattung: Transparenter Schutzumschlag, farbige Zwischenblätter, Lesebändchen. So wird diese Poe-Ausgabe zum Sterben schön.

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Seitenzahl: 525

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Edgar Allan Poe

Unheimliche Geschichten

Herausgegeben von Charles Baudelaire

Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Andreas Nohl

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Unheimliche Geschichten

Der Doppelmord in der Rue Morgue

Welches Lied die Sirenen sangen oder

welchen Namen Achill annahm, als er sich unter den Frauen versteckte, das gibt zwar Rätsel auf – aber man kann immerhin Vermutungen darüber anstellen.

Sir Thomas Browne

Die geistigen Funktionen, die man die analytischen nennt, sind selber der Analyse nur schwer zugänglich. Wir können sie lediglich an ihren Wirkungen messen. Wir wissen, neben anderem, dass sie demjenigen, der sie in hohem Grade besitzt, stets eine Quelle lebhaftesten Vergnügens sind. Wie der Kraftprotz sich seiner körperlichen Fähigkeiten erfreut und Übungen genießt, die seine Muskeln beanspruchen, so blüht der Analytiker bei der geistigen Tätigkeit des Entschlüsselns auf. Ihn beglücken schon die belanglosesten Aufgaben, in denen seine Begabung zur Geltung kommt. Er liebt Rätsel, Scharaden, Hieroglyphen und zeigt in deren Auflösung und Entzifferung ein Maß an Scharfsinn, das der gewöhnlichen Auffassungsgabe übernatürlich vorkommt. Seine Ergebnisse, die sich zuinnerst einem methodischen Vorgehen verdanken, haben dennoch das flair der Intuition.

Die Fähigkeit der Auf-Lösung wird möglicherweise durch das mathematische Studium verstärkt, und zwar vor allem durch dessen höchsten Zweig, der zu Unrecht und nur aufgrund seiner rückwärts gewandten Rechenoperationen, als sei er deren reinste Verkörperung, Analysis genannt wird. Doch Rechnen ist nicht identisch mit Analysieren. Ein Schachspieler zum Beispiel tut das eine, ohne sich um das andere zu kümmern. Daraus folgt, dass das Schachspiel in seiner Wirkung auf die Intelligenz deutlich überschätzt wird. Ich habe hier aber keineswegs vor, eine wissenschaftliche Abhandlung zu schreiben, sondern stelle schlicht einer in mancherlei Hinsicht absonderlichen Erzählung eher zufällige Beobachtungen voran.

Ich möchte also bei dieser Gelegenheit behaupten, dass die höheren geistigen Funktionen des reflexiven Intellekts entschiedener und nützlicher bei dem unscheinbaren Damespiel zur Anwendung kommen als bei sämtlichen elaborierten Kapriolen des Schachspiels. Bei Letzterem, wo die Figuren unterschiedliche und bizarre Bewegungen ausführen und verschiedene und wechselnde Werte haben, wird das, was lediglich komplex ist, fälschlich (ein weit verbreiteter Irrtum) für geistig tief gehalten. Eine wesentliche Rolle spielt hier die Aufmerksamkeit. Wenn sie nur für einen Augenblick nachlässt, wird etwas übersehen, und das kann zu Verlust oder Niederlage führen. Da die möglichen Züge nicht nur vielfältig, sondern auch verwickelt sind, potenziert sich ein solcher Fehler, und in neun von zehn Fällen ist es eher der konzentrierte als der scharfsinnige Spieler, der den Sieg davonträgt. Beim Damespiel hingegen, wo es nur eine Art von Zügen mit wenigen Variationen gibt, ist die Wahrscheinlichkeit einer Unachtsamkeit deutlich geringer, und da die Aufmerksamkeit vergleichsweise wenig beansprucht wird, entstehen die Vorteile durch den überlegenen Scharfsinn der einen oder anderen Partei. Um es konkreter zu machen, wollen wir uns ein Damespiel vorstellen, bei dem die Spielsteine auf vier Damen reduziert sind und demzufolge keine Unachtsamkeit zu erwarten ist. Es liegt auf der Hand, dass der Sieg (die Spieler sind gleich stark) nur durch einen exzellenten Zug, das Ergebnis einer großen intellektuellen Anstrengung, herbeigeführt werden kann. Gewöhnlicher Hilfsmittel beraubt, versetzt sich der Analytiker in die Gedankengänge seines Gegners, identifiziert sich damit und erkennt so nicht selten mit einem Blick den einzigen Weg (der manchmal sogar absurd einfach ist), wie er ihn zu einem Lapsus oder einer Fehleinschätzung verführen kann.

Seit Langem wird Whist für seinen förderlichen Einfluss auf das sogenannte rechnerische Vermögen gerühmt, und Männer von höchster Intelligenz finden, wie man weiß, ein anscheinend unerklärliches Vergnügen daran, während sie Schach als albernes Spiel abtun. Ohne Zweifel gibt es nichts Vergleichbares, was die analytischen Fähigkeiten so stark fördert. Der beste Schachspieler der Christenheit ist vermutlich wenig mehr als der beste Spieler des Schachspiels; aber die Kompetenz im Whist ermöglicht einen Erfolg in all jenen bedeutenderen Bereichen, wo sich Verstand mit Verstand misst.

Wenn ich von Kompetenz spreche, meine ich damit jene Perfektion im Spiel, welche die souveräne Beherrschung aller Mittel voraussetzt, aus denen sich ein legitimer Vorteil ziehen lässt. Diese sind nicht nur mannigfach, sondern auch vielgestaltig und finden sich häufig in entlegenen Winkeln des Denkens, die dem gewöhnlichen Verstand unzugänglich sind.

Wenn man aufmerksam beobachtet, erinnert man sich genau, und insofern wird sich der Schachspieler beim Whist gut schlagen, wobei die Hoyle’schen Regeln (die auf dem schlichten Mechanismus des Spiels basieren) hinreichend und allgemein verständlich sind.

So gelten ein aufnahmefähiges Gedächtnis und ein Vorgehen ›nach Lehrbuch‹ als die Summe eines guten Spiels. Doch erst jenseits der Grenzen des bloßen Regelwerks kommt die Fähigkeit des Analytikers zur Geltung. Er stellt stillschweigend eine Vielzahl von Beobachtungen und Schlussfolgerungen an. Das tun vielleicht auch seine Mitspieler; doch der Unterschied in der Menge der gewonnenen Informationen liegt nicht so sehr in der Stichhaltigkeit der Schlussfolgerungen als vielmehr in der Qualität der Beobachtungen. Es geht um das Wissen, was man beobachten muss. Unser Spieler setzt sich keinerlei Grenzen; auch verzichtet er nicht darauf, nur weil das Spiel im Zentrum steht, seine Schlüsse aus Dingen abzuleiten, die nicht unmittelbar zum Spiel selbst gehören. Er studiert den Gesichtsausdruck seines Partners und vergleicht ihn sorgfältig mit dem der Gegenspieler. Er achtet darauf, wie die anderen ihre Karten sortieren; häufig zählt er Trumpf für Trumpf und Bild für Bild anhand ihrer Blicke auf jede einzelne Karte. Er sieht jede mimische Veränderung, während das Spiel fortschreitet, und gewinnt eine Fülle von Einsichten aufgrund der unterschiedlichen Regungen, in denen sich Sicherheit, Überraschung, Triumph oder Enttäuschung zeigen können. Aus der Art, wie eine Person einen Stich an sich nimmt, urteilt er, ob sie einen nächsten machen wird. Er durchschaut eine Finte durch die Art, wie eine Karte auf den Tisch geworfen wird. Ein beiläufiges oder unachtsames Wort; das versehentliche Fallenlassen oder Umdrehen einer Karte und der Schreck oder die Nachlässigkeit, mit der sie vor den Blicken verborgen wird; das Zählen der Stiche und die Reihenfolge, in welcher sie einsortiert werden; Verlegenheit, Zögern, Ungestüm oder Beklommenheit – alles das enthält für seine scheinbar intuitive Wahrnehmung Hinweise auf den tatsächlichen Stand der Dinge. Nach den ersten zwei oder drei Runden kennt er das Blatt jedes Spielers genau, und ab da legt er seine Karten mit einer so souveränen Präzision ab, als hielten die übrigen Beteiligten ihre Karten offen in der Hand.

Die Fähigkeit zur Analyse sollte nicht mit schlichter Kreativität verwechselt werden; denn während der Analytiker selbstverständlich scharfsinnig sein muss, ist dem Kreativen die Analyse oft bemerkenswert unzugänglich. Die konstruktive oder kombinatorische Fähigkeit, in der sich Kreativität gewöhnlich zeigt und der die Phrenologen (meiner Meinung nach irrtümlich) ein besonderes Organ zuweisen, im Glauben, es sei eine primitive Fähigkeit, wird so häufig bei Personen beobachtet, deren Verstand in anderen Belangen an Idiotie grenzt, dass der Tatbestand das allgemeine Interesse enzyklopädistischer Autoren gefunden hat. Zwischen Kreativität und analytischer Fähigkeit besteht allerdings ein weitaus größerer Unterschied als zwischen Vorstellungskraft und Phantasie, wenn auch in analogem Sinn. In der Tat wird sich erweisen, dass kreative Menschen stets Vorstellungskraft haben, während Menschen mit wahrer Phantasie immer auch analytisch denken.

Die folgende Erzählung wird dem Leser wie eine Art Kommentar zu diesen vorgestellten theoretischen Auslassungen erscheinen.

Als ich im Frühling und einem Teil des Sommers 18** in Paris lebte, machte ich dort die Bekanntschaft eines gewissen Monsieur C. Auguste Dupin. Dieser junge Gentleman entstammte einer sehr guten, um nicht zu sagen illustren Familie, war allerdings durch widrige Umstände so verarmt, dass seine Lebensgeister erlahmten und er aufhörte, sich in Gesellschaft zu begeben oder sich um die Wiedererlangung seines Vermögens zu kümmern. Dank der Großzügigkeit seiner Gläubiger blieb ihm ein kleiner Teil des väterlichen Erbes erhalten, und mit dem Einkommen, das ihm daraus erwuchs, gelang es ihm bei eiserner Sparsamkeit, das Lebensnotwendige zu beschaffen, ohne sich mit Überflüssigem zu belasten. Bücher waren in der Tat sein einziger Luxus, und an die kommt man in Paris leicht heran.

Unsere erste Begegnung fand in einer obskuren Bibliothek in der Rue Montmartre statt, wo der Zufall es wollte, dass wir auf der Suche nach dem gleichen sehr seltenen und wichtigen Buch waren und so miteinander ins Gespräch kamen. Wir trafen uns immer wieder. Ich interessierte mich sehr für die kleine Familienhistorie, die er mir mit der ganzen Freimütigkeit auseinandersetzte, zu der ein Franzose fähig ist, wenn es um nichts als um ihn selber geht. Zugleich war ich erstaunt über das enorme Ausmaß seiner Belesenheit; doch vor allem faszinierte mich die Leidenschaft und frische Lebendigkeit seiner Phantasie. Da ich in Paris nun einmal auf der Suche nach besonderen Erfahrungen war, schien mir die Gesellschaft eines solchen Mannes unbezahlbar. Und diesen Eindruck gestand ich ihm ganz offen. Schließlich kamen wir überein, während meines Aufenthalts in Paris eine Unterkunft zu teilen, und da meine finanziellen Verhältnisse weniger bedrängt waren als die seinigen, wurde mir gestattet, die Kosten für Miete und Möblierung zu übernehmen – Letztere in einem Stil, der zur grillenhaften Düsternis seines wie meines Naturells passte. Das Haus selbst war eine vom Zahn der Zeit angenagte und mit allerlei groteskem Zierrat versehene Villa, die aufgrund irgendwelcher abergläubischen Ängste, nach denen wir uns nicht weiter erkundigten, schon lange leer stand und in einer abgelegenen und heruntergekommenen Gegend des Faubourg Saint-Germain ihrem Verfall entgegenwitterte.

Wäre unser Lebenswandel dort der Außenwelt bekannt gewesen, man hätte uns für verrückt gehalten – wenn auch vielleicht für harmlose Verrückte. Unsere Abgeschiedenheit war vollkommen. Wir empfingen keine Besuche. Ich hatte unseren Rückzugsort sogar vor meinem ehemaligen Bekanntenkreis sorgsam geheim gehalten. Und es war viele Jahre her, dass Dupin Paris wahrgenommen hatte oder in Paris wahrgenommen worden war. Wir lebten nur in uns selbst.

Es war eine Marotte meines Freundes (denn wie sonst soll ich es nennen?), dass er die Nacht um ihrer selbst willen liebte, und auf diesen Spleen, wie auch auf seine anderen Eigenarten, ließ ich mich stillschweigend ein, wobei ich mich seinen bizarren Launen geradezu hemmungslos hingab. Die Göttin der Finsternis wollte nicht allezeit bei uns verweilen, aber wir konnten ihre Gegenwart vortäuschen. Bei der frühesten Morgendämmerung schlossen wir die massiven Fensterläden unseres alten Hauses und zündeten mehrere Wachskerzen an, die neben ihrem starken Duft nur ein ziemlich funzeliges Licht verbreiteten. Mit ihrer Hilfe gaben wir uns Träumereien hin – lasen, schrieben oder plauderten, bis uns die Wanduhr den Anbruch der natürlichen Dunkelheit ankündigte. Dann brachen wir auf, wanderten untergehakt durch die Straßen und führten die Gespräche des Tages fort oder streiften bis tief in die Nacht umher und suchten im Lichter- und Schattentanz der belebten Stadt jenes grenzenlose geistige Vergnügen, das aus der bloßen Beobachtung entsteht.

Bei solchen Gelegenheiten konnte ich nicht umhin (obzwar ich durch seine überbordende Phantasie schon darauf vorbereitet war), Dupins außergewöhnliche analytische Fähigkeit zu erkennen und zu bewundern. Ihm selbst machte es anscheinend großen Spaß, sie anzuwenden – wenn auch nicht, sie vorzuführen –, und er gestand freimütig, welche Freude es ihm bereitete. Er prahlte mit einem leisen, heiteren Lachen, die meisten Menschen seien für ihn offene Bücher, und er bewies ein ums andere Mal diese Behauptung durch unvermittelte und überaus erstaunliche Belege seines Wissens um meine innere Befindlichkeit. Sein Verhalten in solchen Situationen war kühl und abwesend, sein Blick ausdruckslos, während seine Stimme, gewöhnlich ein wohltönender Tenor, in eine Höhe rutschte, die gereizt geklungen hätte, wäre seine Aussprache nicht gleichzeitig bedacht und vollkommen deutlich gewesen. Wenn ich ihn in solchen Gemütszuständen beobachtete, dachte ich oft über die alte Theorie der zweigeteilten Seele nach und amüsierte mich bei der Vorstellung eines doppelten Dupin – dem kreativen und dem analytischen.

Das soeben Gesagte soll aber keineswegs zu der Annahme verleiten, ich würde hier etwas Geheimnisvolles oder gar ein Stück Abenteuerromantik zu Papier bringen. Was ich an dem Franzosen beschrieben habe, war schlicht Ausdruck einer äußerst erregten oder vielleicht auch krankhaften Intelligenz. Die beste Vorstellung von der Besonderheit seiner Ausführungen in solchen Phasen wird vielleicht ein Beispiel geben.

Wir schlenderten eines Nachts eine lange verwahrloste Straße in der Nähe des Palais Royal hinunter. Da wir beide mit unseren Gedanken beschäftigt waren, hatte wohl seit mindestens einer Viertelstunde keiner von uns eine Silbe gesprochen. Da erklärte Dupin unvermittelt:

»Er ist ein sehr kleiner Bursche, das stimmt, und er wäre besser im Théâtre des Variétés aufgehoben.«

»Daran kann es überhaupt keinen Zweifel geben«, antwortete ich automatisch und bemerkte zunächst nicht (so sehr war ich in Gedanken), wie außerordentlich das Gesagte zu meinen eigenen Überlegungen passte. Einen Augenblick später besann ich mich und war doch sehr erstaunt.

»Dupin«, sagte ich ernst, »das ist mir unbegreiflich. Ich gestehe, dass ich verblüfft bin und kaum meinen Sinnen traue. Wie ist es möglich, dass Sie wissen, an wen ich denke?« Hier hielt ich inne, um herauszufinden, ob er tatsächlich wusste, an wen ich gedacht hatte. »An Chantilly«, sagte er, »aber warum das Zögern? Sie haben gerade gedacht, dass seine kleine Gestalt zu einer Tragödie nicht passt.«

Das war in der Tat genau das, woran ich gedacht hatte. Chantilly war ein ehemaliger Flickschuster aus der Rue St. Denis, der sich, vom Theater besessen, an der Rolle des Xerxes in Crébillons gleichnamiger Tragödie versucht hatte und für seine Mühen regelrecht von der Presse verrissen worden war.

»Erklären Sie mir um Himmels willen«, rief ich aus, »mit welcher Methode – wenn da eine Methode ist – Sie es fertiggebracht haben, meine Gedanken zu lesen.« Tatsächlich fühlte ich mich ertappter, als ich zugeben wollte.

»Es war der Obsthändler«, erwiderte mein Freund, »der Sie zu der Schlussfolgerung verleitete, dass der Sohlenflicker nicht groß genug ist für Xerxes et id genus omne.«

»Der Obsthändler? Sie verblüffen mich. Ich kenne überhaupt keinen Obsthändler.«

»Der Mann, der Sie angerempelt hat, als wir in die Straße eingebogen sind – vor vielleicht fünfzehn Minuten.«

Jetzt erinnerte ich mich, dass tatsächlich ein Obsthändler, der einen großen Korb voller Äpfel auf dem Kopf trug, mich aus Versehen beinahe umgerannt hätte, als wir von der Rue C*** in die große Durchfahrtstraße einbogen, in der wir nun standen. Aber was das mit Chantilly zu tun hatte, wollte sich mir beim besten Willen nicht erschließen.

An Dupin war nicht der geringste Hauch von charlatanerie. »Ich will es erklären«, sagte er, »und damit Sie alles klar verstehen, verfolgen wir zuerst Ihre Gedankengänge zurück ab dem Moment, da ich Sie angesprochen habe, bis zum rencontre mit dem betreffenden Obsthändler. Die größeren Glieder der Kette sind folgende: Chantilly, Orion, Dr. Nichol, Epikur, Stereotomie, das Straßenpflaster, der Obsthändler.«

Es gibt wohl nur wenige Menschen, die sich nicht irgendwann in ihrem Leben damit die Zeit vertrieben haben, die Schritte zurückzuverfolgen, mit denen sie zu bestimmten Schlussfolgerungen gelangt sind. Das kann durchaus interessant sein, und wer sich zum ersten Mal darauf einlässt, ist verblüfft von der scheinbar unermesslichen Entfernung und Zusammenhangslosigkeit zwischen dem Ausgangspunkt und dem Ziel. Wie groß war also mein Erstaunen, als ich den Franzosen so sprechen hörte und zugeben musste, dass er recht gehabt hatte. Er fuhr fort:

»Wir hatten, kurz bevor wir von der Rue C*** abbogen, über Pferde geredet, wenn ich mich richtig erinnere. Das war unser letztes Gesprächsthema. Als wir in diese Straße kamen, eilte ein Obsthändler mit einem großen Korb auf dem Kopf an uns vorbei und stieß Sie gegen einen Haufen Pflastersteine, die an einer Stelle aufgeschichtet lagen, wo der Fahrdamm repariert wird. Sie traten auf einen der losen Steine, rutschten aus, verknacksten sich leicht den Fuß, wirkten verärgert oder ungehalten, murmelten ein paar Worte, blickten sich nach dem Steinhaufen um und gingen dann schweigend weiter. Ich habe nicht weiter darauf geachtet, was Sie taten, aber das Beobachten ist neuerdings wie eine Art Zwang für mich.

Sie hielten Ihren Blick auf den Boden gerichtet – musterten mit einer gewissen Gereiztheit die Löcher und Ritzen zwischen den Steinen (ich sah also, dass Sie immer noch an die Steine dachten), bis wir zum Lamartine-Gässchen kamen, das man versuchsweise mit lückenlos ineinandergreifenden Steinen gepflastert hat. Hier hellte sich Ihr Gesicht auf, und die Bewegung Ihrer Lippen ließ mich nicht daran zweifeln, dass Sie das Wort ›Stereotomie‹ murmelten, ein reichlich affektierter Begriff, der für diese Art Pflasterung verwendet wird. Ich war mir sicher, dass Sie nicht ›Stereotomie‹ vor sich hin sagen konnten, ohne zugleich an Atome und damit an die Lehre von Epikur zu denken; und da ich kürzlich in unserem Gespräch dieses Thema erwähnt hatte, auf wie einzigartige Weise, wenngleich kaum bemerkt, die vagen Vermutungen dieses edlen Griechen in der neuesten Kosmogonie der Nebelflecke ihre Bestätigung gefunden haben, schien mir zwingend, dass Sie unvermeidlich Ihren Blick hinauf zum großen Nebelfleck im Orion richten – zumindest habe ich erwartet, dass Sie das tun. Sie haben hinaufgeschaut, und ich war mir nun sicher, dass ich Ihren Denkschritten richtig gefolgt war. Doch in dem vernichtenden Verriss über Chantilly, der gestern im Musée erschienen ist, zitierte der spöttische Kritiker, nach einer billigen Anspielung auf die Namensänderung des Schusters beim Anlegen der Kothurne, eine lateinische Zeile, über die wir oft gesprochen haben. Ich meine die Zeile:

 

Perdidit antiquum litera prima sonum.

 

Ich hatte Ihnen erklärt, dass sich dies auf Orion bezieht, früher Urion geschrieben. Und da diese Erklärung mit einer gewissen Schärfe vorgetragen war, wusste ich, dass Sie sie nicht vergessen hatten. Es war deshalb klar, dass Sie nicht umhin konnten, die beiden Gedanken von Orion und Chantilly miteinander zu verknüpfen. Dass Sie sie verknüpft haben, erkannte ich an der Art des Lächelns in Ihrem Gesicht. Sie dachten an die öffentliche Abschlachtung des armen Flickschusters. Bis dahin waren Sie in vorgebeugter Haltung gegangen, doch jetzt richteten Sie sich zu voller Größe auf. Da war ich mir sicher, dass Sie an die kleine Gestalt von Chantilly dachten. An diesem Punkt unterbrach ich Ihre Gedanken, um einzuwerfen, dass er – da er ja wirklich ein sehr kleiner Kerl ist – im Théâtre des Variétés besser aufgehoben wäre.«

Nur wenig später beim Durchblättern der Abendausgabe der Gazette des Tribunaux fesselten folgende Auszüge unsere Aufmerksamkeit:

UNGEHEUERLICHE MORDE.

Heute Morgen gegen drei Uhr wurden die Bewohner des Quartier St. Roch durch entsetzliche Schreie aus dem Schlaf gerissen, die offenbar aus dem dritten Stockwerk eines Hauses in der Rue Morgue kamen, welches allein von einer Madame L’Espanaye und ihrer Tochter, Mademoiselle Camille L’Espanaye, bewohnt wird. Nach einiger Verzögerung, die dem vergeblichen Versuch geschuldet war, sich auf übliche Weise Zugang zu verschaffen, wurde das Eingangstor mit einer Brechstange aufgebrochen, und acht oder zehn Nachbarn drangen in Begleitung von zwei Gendarmen in das Gebäude ein. Inzwischen hatten die Schreie aufgehört. Als die Gruppe jedoch die erste Treppe hinaufstürmte, ließen sich aus dem oberen Teil des Hauses zwei oder mehr laute Stimmen in wütendem Streit vernehmen. Bei Erreichen des zweiten Treppenabsatzes verstummten auch diese Laute, und alles war vollkommen still. Die Gruppe verteilte sich, und man eilte von Raum zu Raum. Als sie im dritten Stock zu einem geräumigen, nach hinten gelegenen Zimmer kamen (die Tür war von innen verschlossen und musste mit Gewalt geöffnet werden), bot sich ihnen ein Anblick, der alle Anwesenden gleichermaßen mit Grauen und mit Staunen erfüllte.

Das Zimmer war in wildester Unordnung – die Möbel zerbrochen und wahllos verstreut. Es gab nur ein Bettgestell, und aus diesem war das Bettzeug herausgerissen und mitten auf den Boden geworfen worden. Auf einem Stuhl lag ein blutverschmiertes Rasiermesser. Auf dem Herd befanden sich zwei oder drei lange und dicke Strähnen von grauem Menschenhaar, ebenso blutgetränkt und offenbar mit der Wurzel ausgerissen. Auf dem Boden lagen vier Napoleons, ein Topasohrring, drei große Silberlöffel, drei kleinere aus métal d’Alger sowie zwei Säcke, die nahezu viertausend Francs in Gold enthielten. Die Schubladen einer Kommode, die in einer Ecke stand, waren herausgezogen und offenbar durchwühlt worden, wobei noch viele Gegenstände darin lagen. Ein kleiner Eisentresor wurde unter dem Bettzeug (nicht unter dem Bettgestell) gefunden. Er war offen, der Schlüssel steckte in der Tür. Er enthielt nichts außer ein paar alten Briefen und anderen Papieren von geringer Bedeutung.

Von Madame L’Espanaye fehlte jede Spur. Doch aufgrund der ungewöhnlichen Menge Ruß in der Feuerstelle wurde der Kamin inspiziert und (horribile dictu!) der Leichnam der Tochter, mit dem Kopf nach unten, herausgezogen. Er war also ein beträchtliches Stück durch die enge Öffnung hinaufgezwängt worden. Der Körper war noch warm. Die Untersuchung ergab zahlreiche Hautabschürfungen, zweifellos durch die Gewalt verursacht, mit der er hochgestoßen und wieder herausgezogen worden war. Das Gesicht war voller Kratzwunden, und der Hals zeigte dunkle Blutergüsse und tiefe Druckstellen von Fingernägeln, als wäre die Verstorbene erdrosselt worden.

Nach einer gründlichen Durchsuchung aller Winkel des Hauses, die keine weiteren Aufschlüsse erbrachte, begab sich die Gruppe in einen kleinen, gepflasterten Hinterhof, wo der Leichnam der alten Frau lag; ihr Hals war so vollständig durchtrennt, dass, als man sie hochzuheben versuchte, der Kopf abfiel. Körper wie Kopf waren scheußlich entstellt – Ersterer so sehr, dass er kaum noch Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen hatte.

Für die Auflösung dieses schrecklichen Verbrechens gibt es bis jetzt, wie wir glauben, nicht den geringsten Anhaltspunkt.

Am nächsten Tag brachte die Zeitung folgende zusätzliche Einzelheiten:

DIE TRAGÖDIE IN DER RUE MORGUE.

Im Zusammenhang mit dieser überaus merkwürdigen und schockierenden Affäre wurden viele Einzelpersonen vernommen. (Das Wort »Affäre« hat im Französischen noch nicht den leichtfertigen Sinn wie bei uns.) Doch es kam nichts zutage, was Licht ins Dunkel gebracht hätte. Wir geben im Folgenden die wichtigsten Zeugenaussagen wieder:

PAULINE DUBOURG, Wäscherin, gibt zu Protokoll, dass sie die beiden Toten seit drei Jahren kannte und während dieser Zeit für sie gewaschen hat. Die alte Dame und ihre Tochter schienen sich gut zu verstehen – sie gingen liebevoll miteinander um. Sie zahlten sehr gut. Konnte keine Angaben machen bezüglich ihres Lebenswandels oder der Art ihres Einkommens. Glaubt, dass Madame L. durch Wahrsagen ihren Lebensunterhalt verdiente. Man munkelte, sie habe Geld auf die Seite gelegt. Traf nie Personen im Haus, wenn sie die Wäsche holte oder zurückbrachte. Ist sich sicher, dass sie keine Hausangestellten hatten. Anscheinend war das ganze Haus, abgesehen vom dritten Stockwerk, unmöbliert.

PIERRE MOREAU, Inhaber eines Tabakladens, sagt aus, er habe seit annähernd vier Jahren regelmäßig kleine Mengen Rauch- und Schnupftabak an Madame L’Espanaye verkauft. Ist in der Gegend geboren und hat immer dort gelebt. Die Verstorbene und ihre Tochter hatten das Haus, in dem ihre Leichen gefunden wurden, seit über sechs Jahren bewohnt. Früher hatte ein Juwelier dort gewohnt, der die oberen Zimmer an verschiedene Personen untervermietete. Das Haus gehörte Madame L. Sie wurde zusehends unzufrieden mit dem Missbrauch, den ihr Mieter mit dem Gebäude trieb, und zog schließlich selber ein, lehnte es aber ab, einen Teil zu vermieten. Die alte Dame sei kindisch gewesen. Der Zeuge hat die Tochter vielleicht fünf oder sechs Mal in den ganzen sechs Jahren gesehen. Die beiden Frauen lebten sehr zurückgezogen – es hieß, sie hätten Geld. Hat von Nachbarn gehört, dass Madame L. Wahrsagerin gewesen sei – glaubt es aber nicht. Hat nie jemanden das Haus betreten sehen außer der alten Dame und ihrer Tochter, ein oder zwei Mal einen Dienstmann und vielleicht acht oder zehn Mal einen Arzt.

Viele andere Personen, Nachbarn, äußerten sich ebenso. Niemand hat demnach das Haus regelmäßig besucht. Es ist unbekannt, ob es lebende Verwandte von Madame L. und ihrer Tochter gibt. Die Läden an den vorderen Fenstern wurden selten geöffnet. Diejenigen an der Rückfront des Hauses waren immer geschlossen, mit Ausnahme des großen Zimmers im dritten Stock. Das Haus ist ein gutes Haus – nicht sehr alt.

ISIDORE MUSET, Gendarm, sagt aus, dass er um circa drei Uhr früh zu dem Haus gerufen wurde und an die zwanzig oder dreißig Personen am Eingangstor vorfand, die sich Einlass zu verschaffen suchten. Brach es schließlich mit einem Bajonett auf – nicht mit einer Brechstange. Hatte damit nur geringe Mühe, da es sich um ein Doppel- oder Flügeltor handelt und weder oben noch am Boden die Riegel vorgeschoben waren. Die Schreie dauerten an, bis das Tor aufgebrochen war, und hörten dann plötzlich auf. Es schienen Schmerzensschreie einer Person (oder mehrerer Personen) zu sein – sie waren laut und langgezogen, nicht kurz und abgehackt. Der Zeuge ging auf der Treppe voran. Hörte beim ersten Treppenabsatz zwei laute Stimmen in heftigem Streit – die eine tief und rau, die andere deutlich schriller, eine sehr merkwürdige Stimme. Konnte einige Worte der ersteren verstehen, die einem Franzosen gehörte. War sich sicher, dass es keine Frauenstimme war. Konnte die Wörter ›sacré‹ und ›diable‹ ausmachen. Die schrille Stimme gehörte einem Ausländer. Konnte nicht erkennen, ob es die Stimme eines Mannes oder einer Frau war. Konnte nicht verstehen, was gesagt wurde, glaubt aber, die Sprache sei Spanisch gewesen. Der Zustand des Zimmers und der Leichen wurde von diesem Zeugen nicht anders beschrieben als gestern von uns.

HENRI DUVAL, Nachbar und von Beruf Silberschmied, sagt aus, er habe zu der Gruppe gehört, die zuerst das Haus betrat. Bestätigt im Großen und Ganzen die Zeugenaussage von Muset. Sowie sie sich Zutritt verschafft hatten, schlossen sie die Tür hinter sich, um die Gaffer abzuhalten, die sich trotz der späten Stunde sehr schnell versammelten. Die schrille Stimme, glaubt der Zeuge, war die eines Italieners. War sich sicher, dass sie nicht französisch war. Konnte nicht mit Gewissheit sagen, ob es eine Männerstimme war. Vielleicht war es die einer Frau. Ist selbst der italienischen Sprache nicht mächtig. Konnte die Worte nicht verstehen, ist aber aufgrund des Tonfalls überzeugt, dass der Sprecher Italiener war. Kannte Madame L. und ihre Tochter. Hat oft mit ihnen gesprochen. Ist sich sicher, dass die schrille Stimme keiner der beiden gehörte.

ODENHEIMER, Gastronom. Dieser Zeuge meldete sich freiwillig. Da er kein Französisch spricht, wurde er durch einen Übersetzer befragt. Gebürtig in Amsterdam. Kam am Haus vorbei, als die Schreie ertönten. Sie dauerten mehrere Minuten an – wahrscheinlich zehn. Sie waren lang gezogen und laut – äußerst grässlich und quälend. Gehörte zu denen, die das Haus betraten. Bestätigte alle vorstehenden Aussagen mit einer Ausnahme. War sich sicher, dass die schrille Stimme die eines Mannes war – eines Franzosen. Konnte die einzelnen Worte nicht verstehen. Sie wurden laut und schnell hervorgebracht – ungleichmäßig – und drückten offenbar Furcht ebenso aus wie Wut. Die Stimme war harsch – weniger schrill als grell. Konnte sie nicht als schrille Stimme bezeichnen. Die tiefe Stimme sagte wiederholt ›sacré‹, ›diable‹ und einmal ›mon Dieu‹.

JULES MIGNAUD, Bankier von Mignaud & Fils, Rue Deloraine. Ist Mignaud senior. Madame L’Espanaye hatte Vermögen und im Frühjahr des Jahres … (acht Jahre zuvor) ein Konto bei seinem Bankhaus eröffnet. Zahlte regelmäßig kleinere Summen ein. Hat nie etwas abgehoben bis drei Tage vor ihrem Tod, als sie persönlich die Summe von 4000 Francs entnahm. Diese Summe wurde in Gold ausgezahlt und von einem Angestellten zu ihr nach Hause gebracht.

ADOLPHE LE BON, Bankangestellter bei Mignaud & Fils, gibt zu Protokoll, er habe am fraglichen Tag gegen Mittag Madame L’Espanaye mit den 4000 Francs, die in zwei Geldsäcken verstaut waren, zu ihrem Wohnhaus begleitet. Als die Tür geöffnet wurde, erschien Mademoiselle L. und nahm ihm einen der Säcke aus der Hand, während die alte Dame den anderen ergriff. Daraufhin verbeugte er sich und ging. Sah zu dieser Zeit niemand anderen auf der Straße. Es handelt sich um eine Nebenstraße – sehr einsam.

WILLIAM BIRD, Schneider, sagt aus, er sei Teil der Gruppe gewesen, die das Haus betrat. Ist Engländer. Wohnt seit zwei Jahren in Paris. War einer der Ersten, die die Treppe hinaufstiegen. Hörte streitende Stimmen. Die tiefe Stimme war die eines Franzosen. Verstand mehrere Worte, kann sich aber nicht mehr an alle erinnern. Hörte deutlich ›sacré‹ und ›mon Dieu‹. In diesem Moment ertönte ein Geräusch, als ob mehrere Personen miteinander kämpften – ein Scharren und Schleifen. Die schrille Stimme war sehr laut – lauter als die tiefe. Ist sich sicher, dass es nicht die Stimme eines Engländers war. Klang eher wie die eines Deutschen. Könnte die Stimme einer Frau gewesen sein. Versteht kein Deutsch.

Vier der oben genannten Zeugen sagten bei nochmaliger Befragung aus, die Tür zu dem Zimmer, in dem die Leiche von Mademoiselle L. gefunden wurde, sei von innen abgeschlossen gewesen. Alles war vollkommen still – kein Geröchel oder sonstige Geräusche irgendwelcher Art. Beim Aufbrechen der Tür war niemand zu sehen. Die Fenster, sowohl des hinteren wie des vorderen Zimmers, waren geschlossen und fest von innen verriegelt. Eine Tür, die von einem Zimmer ins andere führte, war zu, aber nicht abgeschlossen. Die Tür, die vom vorderen Zimmer auf den Flur führt, war abgeschlossen, der Schlüssel steckte von innen. Ein kleiner, nach vorne gelegener Raum am Ende des Flurs war offen, die Tür war angelehnt. Diese Kammer stand voll mit alten Bettgestellen, Kisten und so weiter. Letztere wurden herausgeholt und sorgfältig durchsucht. Es gab keinen Teil des Hauses, der nicht Zoll für Zoll durchsucht worden wäre. Schornsteinreiniger wurden die Kamine hinauf- und hinabgelassen. Das Haus hat vier Geschosse und Dachkammern (mansardes). Eine Falltür zum Dach war fest vernagelt – schien seit Jahren nicht geöffnet worden zu sein. Wie viel Zeit zwischen dem Ertönen der streitenden Stimmen und dem Aufbrechen der Zimmertür verging, wurde von den Zeugen unterschiedlich angegeben. Manche meinten, es seien nur drei Minuten vergangen, andere sprachen von fünf Minuten. Die Tür ließ sich nur unter Schwierigkeiten öffnen.

ALFONZO GARCIO, Leichenbestatter, sagt aus, er sei in der Rue Morgue wohnhaft. Er ist gebürtiger Spanier. Gehörte zu der Gruppe, die ins Haus eindrang. Stieg nicht die Treppe hinauf. Ist nervenschwach und fürchtete sich vor den Folgen der Aufregung. Hörte die streitenden Stimmen. Die tiefe, raue Stimme war die eines Franzosen. Konnte nicht verstehen, was gesagt wurde. Die schrille Stimme gehörte einem Engländer – ist sich dessen sicher. Kann kein Englisch, sondern urteilt nach dem Tonfall.

ALBERTO MORTANI, Pâtissier, gibt an, er sei unter den Ersten gewesen, die die Treppe hinaufgingen. Hörte die besagten Stimmen. Die tiefe Stimme war die eines Franzosen. Konnte mehrere Worte verstehen. Der Sprecher schien zu schimpfen. Konnte die Worte der schrillen Stimme nicht verstehen. Sprach schnell und sprunghaft. Glaubt, es sei die Stimme eines Russen gewesen. Bestätigt die allgemeinen Zeugenaussagen. Ist Italiener. Hat noch nie mit einem Russen gesprochen.

Verschiedene Zeugen versicherten bei nochmaliger Befragung, dass die Kamine in allen Zimmern im dritten Stockwerk zu eng seien, um einen Menschen durchzulassen. Mit ›Schornsteinreinigern‹ waren die zylindrischen Bürsten gemeint, die Kaminkehrer zum Reinigen der Kamine benutzen. Diese Bürsten wurden durch jeden Rauchabzug im Haus hinuntergelassen und wieder heraufgezogen. Es gibt kein hinteres Treppenhaus, in dem jemand hätte hinabgehen können, während die Gruppe vorne die Treppe hinaufging. Der Leichnam von Mademoiselle L’Espanaye war so fest in den Kamin gepresst worden, dass sie nur mit vereinten Kräften von vier oder fünf Männern herausgeholt werden konnte.

PAUL DUMAS, Arzt, gab zu Protokoll, er sei bei Tagesanbruch gerufen worden, um die Leichenschau vorzunehmen. Sie lagen beide auf dem Bettzeug in dem Zimmer, wo Mademoiselle L. gefunden worden war. Der Leichnam der jungen Frau wies starke Abschürfungen und Blutergüsse auf. Die Tatsache, dass er in den Kamin hineingestopft worden war, erklärt diese Male hinreichend. Der Hals war übel zugerichtet. Es gab mehrere tiefe Kratzspuren gleich unterhalb des Kinns und daneben eine Reihe dunkelvioletter Flecken, die augenscheinlich von Fingern herrührten. Das Gesicht war grauenerregend entfärbt, und die Augäpfel waren hervorgetreten. Die Zunge war teilweise durchgebissen. Über der Magengrube wurde ein großes Hämatom entdeckt, offensichtlich durch den Druck eines Knies verursacht. Nach Meinung von M. Dumas ist Mademoiselle L’Espanaye von einer oder mehreren unbekannten Personen erdrosselt worden. Der Leichnam der Mutter war furchtbar entstellt. Sämtliche Knochen des rechten Beins und Arms waren mehr oder minder zertrümmert, das linke Schienbein großenteils zersplittert, ebenso sämtliche Rippen auf der linken Brustseite. Der ganze Körper schrecklich zerschunden und verfärbt. Es ließ sich nicht sagen, wie die Verletzungen zustande gekommen waren. Ein schwerer Holzknüppel oder eine dicke Eisenstange – ein Stuhl –, jede große, schwere und stumpfe Waffe in der Hand eines starken Mannes kann so etwas anrichten. Eine Frau hätte dergleichen mit keiner Waffe bewerkstelligen können. Der Kopf der Verstorbenen war, als der Zeuge ihn sah, vom Rumpf vollständig abgetrennt und ebenfalls zum großen Teil zerschmettert. Der Hals war offensichtlich mit einem sehr scharfen Instrument durchgeschnitten worden – wahrscheinlich mit einem Rasiermesser.

ALEXANDRE ÉTIENNE, Chirurg, war zusammen mit M. Dumas zur Leichenschau gerufen worden. Bestätigte die Aussagen und Mutmaßungen von M. Dumas.

Weiter ist nichts von Bedeutung ans Licht gekommen, obgleich noch weitere Personen befragt wurden. Ein so rätselhafter und in all seinen Einzelheiten unfassbarer Mord ist in Paris noch nie begangen worden – wenn es sich denn überhaupt um einen Mord handelt. Die Polizei tappt vollständig im Dunkeln – bei Vorfällen dieser Art ein eher ungewöhnlicher Sachstand. Es gibt jedoch nicht den Schatten eines Verdachts.

Die Abendausgabe der Zeitung berichtete, im Quartier St. Roch herrsche immer noch größte Aufregung – die fraglichen Tatorte seien noch einmal sorgfältig inspiziert und neuerliche Zeugenvernehmungen durchgeführt wurden, aber alles ergebnislos. Ein Nachtrag vermerkte jedoch, dass Adolphe Le Bon festgenommen und in Untersuchungshaft gesteckt worden sei – obwohl ihn anscheinend nichts weiter belastete als die bereits genannten Tatsachen.

Dupin nahm am Fortgang dieser Affäre außerordentlichen Anteil – zumindest schloss ich dies aus seinem Verhalten, denn er selbst äußerte sich nicht. Erst nachdem Le Bons Verhaftung publik geworden war, fragte er mich nach meiner Meinung zu den Morden.

Ich konnte mich nur ganz Paris darin anschließen, sie für ein unlösbares Rätsel zu halten. Ich sah kein Mittel, dem Mörder auf die Spur zu kommen.

»Wir dürfen die Mittel«, sagte Dupin, »nicht im Lichte dieser oberflächlichen Untersuchung beurteilen. Die Pariser Polizei, der man so viel Scharfsinn nachsagt, ist schlau, weiter nichts. Es gibt keine Methode in ihrem Vorgehen, außer der Methode, die ihnen der Augenblick eingibt. Sie führen ein Füllhorn von Maßnahmen durch, aber nicht selten sind diese so untauglich für ihren Zweck, dass man an Monsieur Jourdains Ruf nach seiner robe-de-chambre denken muss – pour mieux entendre la musique. Die Ergebnisse, die sie zutage fördern, sind nicht selten überraschend, aber größtenteils basieren sie auf schlichtem Fleiß und Emsigkeit. Wenn diese Eigenschaften nicht verfangen, versagen ihre Ideen. Vidocq zum Beispiel besaß Intuition und Ausdauer. Aber da sein Denken nicht geschult war, verrannte er sich ständig durch den Übereifer seiner Untersuchungen. Er verbaute sich die Sicht dadurch, dass er die Dinge zu dicht vors Auge hielt. Er sah vielleicht ein oder zwei Aspekte mit ungewöhnlicher Schärfe, verlor dabei jedoch notwendig den Blick auf das Ganze. Man kann also durchaus zu tief bohren. Die Wahrheit befindet sich nicht immer in einem Brunnen. Was die wichtigeren Erkenntnisse anbelangt, so glaube ich tatsächlich, dass sie ausnahmslos an der Oberfläche liegen. Tief sind die Täler, in denen wir nach Erkenntnis suchen, doch auf den Berggipfeln finden wir sie. Die Bedingungen und Ursachen für diese Art Irrtum lassen sich recht gut anhand der Beobachtung der Himmelskörper darstellen. Wenn wir einen Stern mit dem Blick nur streifen – geradezu an ihm vorbeisehen, indem wir ihm nur die äußeren Bereiche der Netzhaut zuwenden (die für schwache Lichteindrücke empfänglicher sind als das Zentrum) –, sehen wir den Stern in klarer Abgrenzung – das heißt, wir nehmen sein Licht am deutlichsten wahr –, während das Licht umso unschärfer wird, je mehr wir unseren Blick voll auf ihn richten. Im letzteren Fall treffen zwar mehr Strahlen aufs Auge, aber im ersteren haben wir eine deutlich feinere Wahrnehmungsfähigkeit. Durch übermäßigen Tiefsinn verzerren und schwächen wir unser Denken. Und es ist durchaus möglich, selbst die Venus vom Firmament zu vertreiben, indem man sie zu lange, zu konzentriert oder zu direkt anstarrt.

Was nun diese Morde anbelangt, so lassen Sie uns erst eigene Ermittlungen anstellen, bevor wir uns eine Meinung darüber bilden. Die Untersuchung wird uns einiges Vergnügen bereiten«, (ich empfand den Ausdruck in diesem Zusammenhang als etwas befremdlich, sagte aber nichts), »und nebenbei hat mir Le Bon mal einen Dienst erwiesen, für den ich ihm nicht undankbar bin. Wir werden uns den Tatort mit eigenen Augen ansehen. Ich kenne G…, den Polizeipräfekten, und werde keine Mühe haben, die nötige Erlaubnis zu erhalten.«

Die Erlaubnis wurde erteilt, und wir brachen unverzüglich zur Rue Morgue auf. Sie ist eines jener heruntergekommenen Verbindungssträßchen zwischen der Rue Richelieu und der Rue St. Roch. Wir kamen erst am Spätnachmittag an, weil das Viertel sehr weit von unserer Wohnung entfernt liegt. Das Haus war schnell gefunden, denn es starrten immer noch viele Gaffer von der gegenüberliegenden Straßenseite mit eitler Neugier zu den geschlossenen Fensterläden hinauf. Es war ein gewöhnliches Pariser Haus mit einem Eingangstor, auf dessen einer Seite sich eine Pförtnerloge mit Schiebefenster befand, eine loge de concierge. Bevor wir eintraten, gingen wir die Straße hinauf, bogen in eine Seitengasse ab und dann noch einmal in eine zweite, bis wir an die Rückseite des Gebäudes kamen – wobei Dupin die ganze Gegend sowie auch das Haus selbst mit einer pedantischen Sorgfalt inspizierte, deren Sinn sich mir nicht ohne Weiteres erschloss.

Wir gingen den Weg zurück, und an der Vorderfront des Hauses angekommen, klingelten wir und wurden nach dem Vorweisen unseres Berechtigungsscheins von den wachhabenden Beamten eingelassen. Wir stiegen die Treppe hinauf und betraten das Zimmer, in dem der Leichnam von Mademoiselle L’Espanaye gefunden worden war und wo die beiden Toten immer noch lagen. Die heillose Unordnung im Zimmer hatte man wie üblich belassen. Ich sah nichts, was über die Berichte in der Gazette des Tribunaux hinausging. Dupin begutachtete jeden Gegenstand – die Leichen der Opfer nicht ausgenommen. Danach gingen wir, immer von einem Gendarmen begleitet, in die anderen Räume und in den Hof. Die Durchsuchung hielt uns beschäftigt, bis es dunkel wurde und wir aufbrachen. Auf unserem Heimweg trat Dupin für einen Moment in die Redaktionsräume einer unserer Tageszeitungen ein.

Ich sagte schon, dass mein Freund mancherlei Spleens hatte und dass je les ménageais (wofür es in unserer Sprache keinen treffenden Ausdruck gibt). Jetzt hatte er sich in den Kopf gesetzt, bis zum Mittag des nächsten Tages jegliches Gespräch über den Mordfall zu verweigern. Dann fragte er mich unvermittelt, ob mir beim Anblick der Gräueltat irgendetwas Eigenartiges aufgefallen sei.

Etwas an der Art, wie er das Wort »eigenartig« betonte, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken, ohne dass ich wusste warum.

 

»Nein, nichts Eigenartiges«, sagte ich. »Nichts, was wir nicht schon in der Zeitung gelesen haben.«

»Die Gazette«, antwortete er, »ist, so fürchte ich, nicht zum eigentlichen Grauen der Sache vorgedrungen. Aber vergessen wir die müßigen Ansichten dieses Blatts. Mir scheint, dieser Fall wird aus ebendem Grund für unlösbar gehalten, der seine Lösung eigentlich zu einem Kinderspiel machen sollte – ich meine, weil er in allen Zügen so outriert wirkt. Die Polizei ist verwirrt, weil es offenbar kein Motiv gibt – nicht für den Mord selbst, sondern für die Scheußlichkeit des Mordes. Zugleich ist sie ratlos, weil sich scheinbar die streitenden Stimmen nicht mit der Tatsache unter einen Hut bringen lassen, dass oben außer der ermordeten Mademoiselle L’Espanaye niemand entdeckt wurde und dass niemand das Haus verlassen konnte, ohne von der hinaufgehenden Gruppe bemerkt zu werden. Das wilde Durcheinander in dem Raum; der Leichnam, der kopfunter in den Kamin gestopft worden war; die entsetzlichen Verstümmelungen am Körper der alten Frau: Diese Umstände zusammen mit den schon erwähnten und anderen, die ich nicht zu erwähnen brauche, haben die staatlichen Ordnungshüter und ihren viel gepriesenen Scharfsinn paralysiert. Sie sind dem groben, aber verbreiteten Irrtum aufgesessen, das Ungewöhnliche mit dem Unverständlichen zu verwechseln. Aber gerade mit Hilfe solcher Abweichungen vom Pfad des Gewöhnlichen tastet sich die Vernunft, wenn überhaupt, zur Wahrheit vor. In Untersuchungen, wie wir sie hier durchführen, sollte man weniger danach fragen, ›was vorgefallen ist‹, sondern vielmehr, ›was vorgefallen ist, das es bisher noch nie gegeben hat‹. Tatsächlich steht die Leichtigkeit, mit der ich zur Lösung dieses Kriminalfalls komme oder gekommen bin, im direkten Verhältnis zu seiner scheinbaren Unlösbarkeit in den Augen der Polizei.«

Ich starrte ihn stumm vor Erstaunen an.

»Ich erwarte«, fuhr er fort und warf einen Blick auf unsere Wohnungstür, »ich erwarte jemanden, der zwar vielleicht nicht der Schlächter selbst, aber dennoch in gewissem Maß in die Untat verwickelt ist. An der Abscheulichkeit der begangenen Verbrechen ist er wahrscheinlich unschuldig. Ich hoffe, ich liege mit dieser Vermutung richtig, denn darauf baue ich meine Erwartung, das ganze Rätsel lösen zu können. Ich rechne jeden Augenblick mit der Ankunft des Mannes. Es ist durchaus möglich, dass er nicht kommt, aber die Wahrscheinlichkeit spricht eher dafür. Sollte er kommen, ist es nötig, ihn festzuhalten. Hier sind Pistolen, wir beide wissen damit umzugehen, wenn ihr Einsatz erforderlich ist.«

Ich nahm die Pistolen an mich, ohne recht zu wissen, was ich tat, und ohne meinen Ohren zu trauen, während Dupin weiterredete, ganz so, als führte er ein Selbstgespräch. Ich habe seine geistesabwesende Art in solchen Situationen schon erwähnt. Seine Ausführungen waren zwar an mich gerichtet, seine Stimme aber hatte, obwohl keineswegs laut, einen Klang, als spreche er zu jemand weit Entferntem. Seine Augen waren ausdruckslos auf die Wand gerichtet.

»Dass die streitenden Stimmen«, sagte er, »die von den Leuten auf der Treppe gehört wurden, nicht die Stimmen der beiden Frauen waren, ist durch die Zeugenaussagen eindeutig erwiesen. Das enthebt uns jeden Zweifels darüber, ob die alte Frau nicht vielleicht zuerst ihre Tochter und dann sich selbst umgebracht hat. Ich spreche diesen Punkt hauptsächlich aus einem methodischen Grund an: denn die Kraft von Madame L’Espanaye hätte nicht annähernd ausgereicht, um den Leichnam ihrer Tochter dergestalt in den Kamin zu stopfen, wie er vorgefunden wurde. Und die Art der Verletzungen an ihrem eigenen Körper schließen eine Selbstentleibung vollständig aus. Der Mord muss also von einer dritten Partei begangen worden sein. Und die Stimmen dieser dritten Partei waren diejenigen, deren Streit zu hören war. Ich möchte Sie jetzt aufmerksam machen – nicht auf alle Zeugenaussagen zu diesen Stimmen –, sondern darauf, was an diesen Zeugenaussagen eigenartig war. Ist Ihnen irgendetwas Eigenartiges aufgefallen?«

Ich erwiderte, dass alle Zeugen zwar die tiefe Stimme übereinstimmend als die eines Franzosen identifiziert hatten, aber bei der schrillen – oder wie einer sie nannte: grellen – Stimme herrschte große Uneinigkeit.

»Das ist der Inhalt der Zeugenaussagen«, sagte Dupin, »aber es ist nicht das Eigenartige an den Aussagen. Sie haben nichts Besonderes bemerkt, doch gab es etwas zu bemerken. Die Zeugen, wie Sie sagen, waren sich bei der tiefen, rauen Stimme einig. Doch bei der schrillen Stimme ist das Eigenartige nicht, dass sie sich uneins waren, sondern: dass ein Italiener, ein Engländer, ein Spanier, ein Holländer und ein Franzose sie in ihrer jeweiligen Beschreibung für die eines Ausländers hielten. Jeder ist sich sicher, dass es nicht die Stimme eines Landsmannes war. Jeder vergleicht sie nicht mit der Stimme einer Person aus irgendeinem Land, dessen Sprache er spricht, sondern im Gegenteil. Der Franzose vermutet, es sei die Stimme eines Spaniers gewesen, und er hätte ›vielleicht ein paar Wörter verstanden, wenn er des Spanischen mächtig wäre.‹ Der Holländer behauptet, es sei die eines Franzosen gewesen; aber wir werden informiert, er sei, ›da er kein Französisch spricht, durch einen Übersetzer‹ befragt worden. Der Engländer glaubt, es sei die Stimme eines Deutschen, aber er ›versteht kein Deutsch‹. Der Spanier ist sich sicher, dass ›die Stimme einem Engländer gehörte‹, aber er ›urteilt nach dem Tonfall‹, da er ›kein Englisch kann‹. Der Italiener glaubt, die Stimme eines Russen zu hören, hat aber ›nie mit einem gebürtigen Russen gesprochen‹. Ein zweiter Franzose ist überdies anderer Ansicht als der erste und sich sicher, dass es die Stimme eines Italieners war; aber er ist, obwohl ›der italienischen Sprache nicht mächtig‹, wie der Spanier ›vom Tonfall her überzeugt‹. Nun, wie überaus seltsam muss diese Stimme in Wirklichkeit gewesen sein, über die solche Aussagen aus den Zeugen hervorgelockt werden konnten! – in deren Klang sogar die Angehörigen der fünf großen Kulturnationen Europas nichts Vertrautes erkennen konnten! Sie werden sagen, dass es vielleicht die Stimme eines Asiaten war – eines Afrikaners. In Paris gibt es weder viele Asiaten noch Afrikaner, doch ohne Ihren Einwand bestreiten zu wollen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf drei Punkte lenken. Ein Zeuge nennt die Stimme ›weniger schrill als grell‹. Und zwei andere sagen aus, sie sei ›schnell und sprunghaft‹ gewesen. Keine erkennbaren Worte – keine wortähnlichen Laute – wurden von irgendeinem Zeugen erwähnt.

Ich weiß nicht«, fuhr Dupin fort, »was ich bisher zu Ihrem Verständnis beigetragen habe. Aber ich stehe nicht an zu behaupten, dass sich bereits aus diesem Teil der Zeugenaussagen – die sich über die tiefe und die schrille Stimme auslassen – hinreichende Schlussfolgerungen für einen Verdacht ergeben, der allen weiteren Untersuchungen des Kriminalfalls eine Richtung vorgeben sollte. Ich habe ›hinreichende Schlussfolgerungen‹ gesagt, aber damit habe ich mich noch nicht ganz verständlich gemacht. Ich meine damit, dass die Schlussfolgerungen die einzig richtigen sind und dass der Verdacht unweigerlich als einziges Ergebnis aus ihnen erwächst. Worum es bei diesem Verdacht geht, will ich aber jetzt noch nicht verraten. Ich möchte nur, dass Sie im Kopf behalten, dass es für mich zwingende Gründe gab, bei meiner Durchsuchung des Zimmers in einer definitiven Reihenfolge – einer bestimmten Richtung vorzugehen.

Nun versetzen wir uns im Geiste in jenes Zimmer. Was suchen wir dort als Erstes? Den Fluchtweg, den die Mörder benutzt haben. Es erübrigt sich zu sagen, dass keiner von uns beiden an übernatürliche Geschehnisse glaubt. Madame und Mademoiselle L’Espanaye wurden nicht von Geistern umgebracht. Die Täter waren materielle Wesen und sind als solche geflohen. Aber wie? Glücklicherweise gibt es hier nur eine Methode der Beweisführung, mit der sich dieser Punkt klären lässt, und diese Methode muss uns zu einer definitiven Entscheidung führen. – Lassen Sie uns die möglichen Fluchtwege einen nach dem anderen betrachten. Es ist klar, dass sich die Mörder, als die Gruppe die Treppe hinaufging, in dem Zimmer aufhielten, in dem Mademoiselle L’Espanaye gefunden wurde, oder zumindest in dem daran angrenzenden Raum. Folglich brauchen wir nur in diesen beiden Räumlichkeiten nach Ausgängen zu suchen. Die Polizei hat den Fußboden, die Decke und das Mauerwerk der Wände in jeder Richtung freigelegt. Keine Geheimausgänge können ihrer Wachsamkeit entgangen sein. Aber da ich ihren Augen nicht traute, habe ich mit den meinen nachgesehen. Es gab in der Tat keine Geheimausgänge. Beide Türen, die von den Zimmern auf den Flur führen, waren abgeschlossen, die Schlüssel steckten von innen. Wenden wir uns den Kaminen zu. Sie haben zwar acht oder zehn Fuß über der Feuerstelle einen normalen Durchmesser, doch auf ihrer ganzen Länge würde nicht einmal eine große Katze hindurchpassen. Da die Möglichkeit einer Flucht auf den bislang erwähnten Wegen absolut ausgeschlossen ist, bleiben uns nur noch die Fenster. Durch die des Vorderzimmers kann niemand geflohen sein, ohne dass die Menge auf der Straße es bemerkt hätte. Die Mörder müssen also durch die Fenster des Hinterzimmers entkommen sein. Nun, da wir auf so zweifelsfreie Weise zu unserem Schluss gelangt sind, steht es uns als logisch denkenden Menschen nicht an, ihn aus Gründen einer scheinbaren ›Unmöglichkeit‹ zu verwerfen. Es bleibt uns nur noch zu beweisen, dass diese scheinbare ›Unmöglichkeit‹ in Wirklichkeit nicht besteht.

Es gibt zwei Fenster in dem Zimmer. Eines davon ist nicht von Möbeln zugestellt und frei zugänglich. Der untere Teil des anderen Fensters ist vom Kopfende des sperrigen Bettgestells verdeckt, das direkt davorgeschoben wurde. Das Erstere war fest von innen verriegelt. Es widerstand selbst dem angestrengtesten Versuch, es hochzuschieben. Ein tiefes Loch war links in den Rahmen gebohrt, in dem, fast bis zum Kopf, ein kräftiger Stift steckte. Bei der Untersuchung des anderen Fensters fand sich ein ebensolcher Stift; und wieder konnte man das Fenster auch mit Kraftaufwand nicht hochschieben. Die Polizei gab sich damit zufrieden, dass die Flucht nicht in dieser Richtung stattgefunden haben konnte. Und deshalb sah sie es als überflüssig an, die Stifte herauszuziehen und die Fenster zu öffnen.

Meine eigene Untersuchung war ein wenig ausführlicher, und zwar aus dem eben genannten Grund – weil sich hier beweisen ließ, dass alle scheinbaren Unmöglichkeiten in Wirklichkeit keineswegs unmöglich waren.

So folgte ich also weiter meinem Gedankengang – a posteriori. Die Mörder waren aus einem dieser Fenster geflohen. Da dem so war, konnten sie die Fenster nicht von innen verriegelt haben, so wie diese nun einmal vorgefunden wurden – genau die Überlegung, die durch ihre Unbestreitbarkeit der polizeilichen Untersuchung an dieser Stelle ein Ende gesetzt hatte. Und dennoch waren die Schiebefenster verriegelt. Sie mussten sich also selbst verriegeln können. Diese Schlussfolgerung war zwingend. Ich ging also ans freie Fenster, zog mit einiger Mühe den Stift heraus und versuchte, es hochzuschieben. Wie ich erwartet hatte, widerstand es all meinen Anstrengungen. Damit wusste ich, dass es eine verborgene Feder geben musste. Diese Bestätigung meiner Hypothese überzeugte mich davon, dass mindestens meine Prämissen zutrafen, wie rätselhaft die Sache mit den Stiften auch weiterhin erscheinen mochte. Eine eingehende Untersuchung brachte die verborgene Feder bald zum Vorschein. Ich drückte sie, und zufrieden mit meiner Entdeckung verzichtete ich darauf, das Fenster hochzuschieben.

Jetzt steckte ich den Stift wieder hinein und betrachtete ihn aufmerksam. Eine Person, die durch das Fenster geklettert war, hätte es wieder schließen können, und die Feder wäre von sich aus eingeschnappt – aber der Stift hätte nicht wieder eingesetzt werden können. Die Folgerung lag auf der Hand und grenzte erneut den Bereich meiner Ermittlungen ein. Die Mörder mussten durch das andere Fenster entkommen sein. Angenommen, die Federn an beiden Fenstern waren die gleichen, was wahrscheinlich war, dann mussten sich dennoch die Stifte oder zumindest die Art ihrer Befestigung unterscheiden. Ich trat auf das Bettgestell und schaute mir das zweite Schiebefenster genau an. Als ich meine Hand hinter das Kopfteil des Bettes gleiten ließ, fand ich rasch die Feder und drückte sie, und sie glich, wie ich vermutet hatte, ihrer Nachbarin aufs Haar. Jetzt betrachtete ich den Stift. Er war genauso kräftig wie der andere und steckte augenscheinlich genauso fest in seinem Loch – bis fast zum Kopf.

Sie werden denken, dass mich dies überraschte; aber Sie missverstehen die Natur meiner induktiven Gedankengänge. Um einen Ausdruck aus dem Sport zu gebrauchen: Ich war nicht einmal ›ins Abseits‹ geraten. Ich hatte die Spur nicht einen Augenblick verloren. Kein einziges Glied in der Kette fehlte. Ich hatte das Geheimnis bis zu seiner letztmöglichen Auflösung verfolgt – und diese Auflösung war der Stift. Er hatte, sage ich, in jeder Hinsicht die gleiche Gestalt wie sein Kollege im anderen Fenster; aber diese Tatsache war eine absolute Nullität (so überzeugend sie auch erscheinen mochte) im Vergleich zu der Feststellung, dass hier an diesem Punkt der Verdacht endete. ›Es muss etwas faul sein mit diesem Stift‹, dachte ich. Ich zog daran und hatte den Kopf mit etwa einem Viertelzoll des Schafts in den Fingern. Der Rest steckte im Bohrloch, wo er abgebrochen war. Der Bruch war alt (denn die Kante war verrostet) und offenbar durch Hammerschläge verursacht, die den Kopf des Stifts teilweise in die obere Partie des unteren Fensters versenkt hatten. Ich steckte also das Ende des Stifts wieder sorgfältig in das Loch, aus dem ich ihn hervorgezogen hatte, und der Stift erschien vollkommen unversehrt – der Bruch war nicht zu sehen. Indem ich auf die Feder drückte, schob ich das Fenster sachte ein paar Zoll hinauf. Der Kopf des Stifts ging mit, ohne zu verrutschen. Ich schloss das Fenster, und wieder wirkte der Stift unversehrt.

So weit war das Rätsel also enträtselt. Der Mörder war durch das Fenster über dem Bett geflohen. Nachdem er hinausgeklettert war, war es von allein hinuntergerutscht (oder auch zugeschoben worden) und durch die einrastende Schnappfeder verschlossen worden. Die Polizei hatte die Arretierung fälschlich dem Nagel zugeschrieben – und damit eine weitere Untersuchung für unnötig erachtet.

Als Nächstes stellt sich die Frage nach dem Abstieg. Über diesen Punkt hatte ich mir bei unserem Rundgang um das Haus bereits Klarheit verschafft. Etwa fünfeinhalb Fuß neben dem betreffenden Fenster befindet sich ein Blitzableiter. Von da aus hätte niemand das Fenster erreichen, geschweige denn in das Zimmer eindringen können. Mir fiel aber auf, dass die Läden im vierten Stock von jener besonderen Art sind, die die Pariser Zimmerleute ferrades nennen – sie werden heute kaum noch benutzt, aber man sieht sie noch häufig an alten Häusern in Lyon und Bordeaux. Sie haben die Gestalt einer gewöhnlichen Tür (einer einfachen, keiner Flügeltür), nur dass die obere Hälfte aus Gitterwerk oder durchbrochener Holzarbeit besteht und so einen vortrefflichen Halt für die Hände bietet. Im vorliegenden Fall sind diese Läden ganze dreieinhalb Fuß breit. Als wir sie von der Rückseite aus sahen, waren beide halb geöffnet – das heißt, sie standen im rechten Winkel von der Hausmauer ab. Es ist wahrscheinlich, dass die Polizei – so wie ich auch – die Rückseite des Hauses untersucht hat; aber wenn dem so war, nahmen sie, da sie gegen die Kante der ferrades blickten, deren große Breite nicht wahr oder versäumten jedenfalls, diese gebührend zu berücksichtigen. Da sie sowieso davon überzeugt waren, dass aus diesem Teil des Hauses ein Verschwinden unmöglich war, haben sie hier natürlich nur eine sehr kursorische Untersuchung durchgeführt. Mir war allerdings klar, dass der Laden, der zu dem Fenster am Kopfende des Bettes gehört, wenn er vollständig an die Hausmauer zurückgeklappt ist, nur noch zwei Fuß vom Blitzableiter entfernt wäre. Ebenso offensichtlich war, dass das Fenster mit einem sehr ungewöhnlichen Maß an Beweglichkeit und Mut vom Blitzableiter her durchaus zu erreichen war. – Mit einem Griff über zweieinhalb Fuß (wir gehen jetzt davon aus, dass der Laden vollständig aufgeklappt war) konnte ein Einbrecher festen Halt am Gitterwerk finden. Ließ er dann den Blitzableiter los, stützte seine Füße gegen die Wand und stieß sich mutig ab, so als ob er den Laden schließen wollte, hätte er sich sogar, wenn wir uns das Fenster offen vorstellen, ins Zimmer schwingen können.

Bitte denken Sie insbesondere daran, dass ich von einem sehr ungewöhnlichen Maß an Beweglichkeit gesprochen habe, das für das Gelingen bei einem so riskanten und schwierigen Unternehmen nötig ist. Es ist mein Plan, Ihnen zunächst zu beweisen, dass die Sache möglicherweise durchgeführt werden konnte; aber zweitens und vor allem möchte ich Ihre Aufmerksamkeit auf die äußerst ungewöhnliche, ja, geradezu übernatürliche Gewandtheit lenken, die dafür notwendig war.

Sie werden mir ohne Zweifel in der Juristensprache erwidern, dass ich, um ›meiner Sache Glaubwürdigkeit zu verleihen‹, die erforderliche Beweglichkeit eher geringer bewerten sollte, als auf ihrer vollen Anerkennung zu bestehen. Das mag in der Juristerei gängige Praxis sein, aber es hat nichts mit logischem Denken zu tun. Mir geht es letztlich nur um die Wahrheit. Doch zunächst möchte ich Sie dazu bringen, die sehr ungewöhnliche Beweglichkeit, von der ich eben gesprochen habe, jener sehr eigenartigen schrillen (oder harschen) und sprunghaften Stimme gegenüberzustellen, über deren Nationalität keine zwei Personen übereinstimmten und in deren Aussprache keine Silben zu unterscheiden waren.«

Bei diesen Worten schoss mir eine unbestimmte, halb ausgeformte Vorstellung davon durch den Kopf, was Dupin meinte. Ich schien mich auf der Schwelle zum Verständnis zu bewegen, ohne doch wirklich verstehen zu können – so wie Menschen manchmal kurz davor sind, sich an etwas zu erinnern, ohne letztendlich der Erinnerung habhaft zu werden. Mein Freund fuhr mit seinem Vortrag fort:

 

»Sie haben bemerkt«, sagte er, »dass ich die Frage nach der Flucht mit der Frage nach dem Eindringen verknüpft habe. Ich wollte Ihnen damit den Gedanken nahebringen, dass beides auf die gleiche Weise an der gleichen Stelle geschehen ist. Kehren wir zum Inneren des Raums zurück. Wie sah es dort aus? Die Schubladen der Kommode, so heißt es, waren durchwühlt, auch wenn viele der Kleidungsstücke noch vorhanden waren. Hier ist die Schlussfolgerung absurd. Sie ist eine reine Vermutung, und zwar eine ziemlich törichte, nicht mehr. Woher sollen wir wissen, dass bei den Wäschestücken in den Schubladen etwas fehlte? Madame L’Espanaye und ihre Tochter führten ein äußerst zurückgezogenes Leben – hatten keine Gäste – gingen nur selten aus – brauchten also wenig Kleidung zum Wechseln. Die gefundene Kleidung war von mindestens so guter Qualität, wie man sie bei diesen Frauen erwarten konnte. Wenn ein Dieb irgendetwas davon hätte mitgehen lassen, warum dann nicht das Wertvollste – oder warum nicht alles? Mit einem Wort, warum sollte er viertausend Francs in Gold liegen lassen, um sich mit einem Bündel Wäsche zu belasten? Das Gold wurde dagelassen. Fast die gesamte Summe, von der Monsieur Mignaud, der Bankier, gesprochen hat, wurde in Säcken auf dem Fußboden gefunden. Ich möchte deshalb, dass Sie sich den Gedanken an ein Motiv aus dem Kopf schlagen, der sich durch die Zeugenaussagen über die Ablieferung des Geldes am Eingangstor in den Köpfen der Polizei festgesetzt hat. Koinzidenzen von Ereignissen, die zehnmal so bemerkenswert sind wie diese (die Übergabe des Geldes und der Mord innerhalb von drei Tagen nach dem Empfang desselben), widerfahren jedem von uns stündlich, ohne dass wir sie auch nur flüchtig wahrnehmen. Zufallsbegebenheiten sind generell ein großer Stolperstein für die Sorte von Denkern, die in ihrer Ausbildung nie etwas über Wahrscheinlichkeitstheorie erfahren haben – jene Theorie, der die glanzvollste menschliche Forschungstätigkeit ihre glanzvollsten Beispiele verdankt. Wenn das Gold im vorliegenden Fall verschwunden wäre, hätte die Tatsache, dass es drei Tage zuvor übergeben wurde, mehr als eine Koinzidenz dargestellt. Es hätte den Gedanken an ein Motiv bestärkt. Doch wenn wir angesichts der realen Umstände des Falls das Gold als Motiv für diese Gräueltat annehmen, müssen wir uns den Täter als einen wankelmütigen Idioten vorstellen, der das Gold und sein Motiv zugleich vergessen hat.

Behalten wir nun all die Punkte im Auge, auf die ich Sie hingewiesen habe – die absonderliche Stimme, die ungewöhnliche Gewandtheit und dieses erstaunliche Fehlen eines Motivs bei einem so unvergleichlich scheußlichen Mord wie diesem – und werfen einen Blick auf die Schlächterei selbst. Hier ist eine Frau, die mit bloßer Hände Kraft erdrosselt und kopfunter in einen Kamin gepresst wurde. Normale Mörder morden anders, und ganz sicher entsorgen sie die Leiche nicht auf eine solche Weise. Die Art, wie der Leichnam den Kamin hinaufgestopft wurde, das werden Sie zugeben, hat etwas extrem Outriertes – etwas, das mit unseren gewöhnlichen Begriffen von einer menschlichen Handlung nicht übereinzubringen ist, selbst wenn wir uns die Täter als die verderbtesten Subjekte vorstellen. Bedenken Sie auch, welche Riesenkraft nötig gewesen sein muss, um den Körper mit solcher Gewalt in die Öffnung hinaufzupressen, dass die vereinte Anstrengung mehrerer Personen kaum ausreichte, um ihn herunterzuholen!

Wenden wir uns nun weiteren Anhaltspunkten zu, die dafür sprechen, dass hier eine Kraft von verblüffendem Ausmaß am Werk war. Auf dem Herd lagen dicke Strähnen – sehr dicke Strähnen grauen Menschenhaars. Diese waren mit den Wurzeln ausgerissen. Sie wissen, welch große Kraft es braucht, auch nur zwanzig oder dreißig Haare zusammen auszureißen. Sie haben die betreffenden Strähnen ebenso gut gesehen wie ich. An ihren Wurzeln (ein abscheulicher Anblick!) hingen Fetzen der Kopfhaut – ein klarer Hinweis auf die enorme Gewalt, mit der vielleicht eine halbe Million Haare auf einmal entwurzelt wurden. Der Hals der alten Frau war nicht einfach aufgeschlitzt, sondern der Kopf vollständig vom Rumpf abgetrennt: Das Werkzeug war ein bloßes Rasiermesser. Ich möchte, dass Sie sich auch die wilde Brutalität dieser Taten vor Augen führen. Von den Verletzungen am Körper von Madame L’Espanaye will ich gar nicht reden. Monsieur Dumas und sein werter Gehilfe Monsieur Étienne haben erklärt, dass sie von einem stumpfen Werkzeug herrührten, und insoweit haben diese Herren durchaus recht. Das stumpfe Werkzeug war eindeutig das Kopfsteinpflaster im Hof, auf welches das Opfer aus dem Fenster über dem Bett hinabgestürzt war. Dieser Gedanke, so naheliegend er jetzt erscheinen mag, ist der Polizei aus dem gleichen Grund entgangen wie schon die Breite der Fensterläden – weil sich durch die Sache mit den Stiften ihre Wahrnehmungsfähigkeit hermetisch der Möglichkeit verschlossen hatte, dass die Fenster überhaupt geöffnet worden waren.

Wenn Sie nun, zusätzlich zu allem anderen, die merkwürdige Unordnung des Zimmers gebührend mitbedacht haben, dann sind wir so weit, dass wir die folgenden Anhaltspunkte zusammenfassen können: frappierende Gewandtheit, eine wilde Brutalität, ein Gemetzel ohne Motiv, eine grotesquerie des Schreckens, die allem Menschlichen fremd ist, und eine Stimme, die für die Angehörigen verschiedener Nationen einen ausländischen Tonfall hatte, bei der sich aber keine Silben unterscheiden oder verstehen ließen. Welches Ergebnis folgt daraus? Welchen Eindruck habe ich in Ihrer Vorstellungskraft hinterlassen?«

Ein kalter Schauder überlief mich, als Dupin mir die Frage stellte. »Ein Wahnsinniger«, sagte ich, »hat diese Tat begangen – irgendein rasender Verrückter, der aus einem benachbarten Irrenhaus ausgebrochen ist.«

»In mancher Hinsicht«, erwiderte er, »ist Ihr Gedanke nicht abwegig. Doch die Stimmen von Verrückten, selbst in ihren wildesten Anfällen, haben nichts mit jener eigenartigen Stimme gemein, die von der Treppe aus gehört wurde. Verrückte haben doch eine Nationalität, und ihre Sprache, wie unzusammenhängend die Wörter auch sein mögen, zeichnet sich doch immer noch durch einen Zusammenhang von unterscheidbaren Silben aus. Abgesehen davon ist das Haar, das ich hier in der Hand halte, nicht das Haar eines Verrückten. Ich habe diese kleine Haarprobe aus den fest verkrampften Fingern von Madame L’Espanaye herausgelöst. Sagen Sie mir, was Sie davon halten.«

»Dupin!«, sagte ich vollkommen perplex. »Dieses Haar ist höchst sonderbar – das ist kein Menschenhaar.«

»Das habe ich auch keineswegs behauptet«, sagte er. »Aber bevor wir diesen Punkt entscheiden, möchte ich, dass Sie sich die kleine Skizze anschauen, die ich auf diesem Papier angefertigt habe. Es ist eine genaue Abbildung der ›blauen Flecken und tiefen Einschnitte von Fingernägeln‹ am Hals von Mademoiselle L’Espanaye, wie es in einer der Zeugenaussagen heißt, während in einer weiteren (der MM. Dumas und Étienne) von einer ›Reihe dunkelvioletter Flecken, die augenscheinlich von Fingereindrücken herrührten‹, die Rede ist.