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Fest entschlossen tritt die noch junge Ilse von Zednickau ihre Stelle als Erzieherin in dem kleinen Ort Königstein bei Frankfurt an. Bei Frau Fürst und ihren Töchtern Brigitte und Renate hofft sie, ein neues Zuhause zu finden. Unglücklich und rastlos waren die Ehejahre mit Benno von Zednickau, einem Spieler, mit dem sie gezwungenermaßen rund um die Welt reiste, bis er alles Hab und Gut verspielt hatte. Ehrlich erzählt Ilse Frau Fürst von ihrem Schicksal und die Hausherrin zeigt tiefstes Verständnis. Schon nach wenigen Wochen scheint Ilses Leben eine glückliche Wendung genommen zu haben. Die beiden Mädchen vergöttern ihre Lehrerin und bald hat der reiche Gutsbesitzer Heinz Pardingen sich in Ilse verliebt – der Hochzeit steht nichts mehr im Wege. Doch eines Tages erkennt sie in einem der Schausteller auf einem Rummelplatz ihren ehemaligen Mann wieder. Als er am nächsten Morgen vor ihrer Tür steht, sieht sie ihre Zukunft bedroht. In ihrer Verzweiflung nimmt sie zu einem weiteren Treffen einen kleinen Revolver mit. Ein plötzlich auftauchender zweiter Mann, ein Schuss, ein auf dem Boden liegender Benno: die Ereignisse überschlagen sich – und Ilse lebt von da an mit der grauenhaften Überzeugung, eine Mörderin zu sein. Doch es gibt keine Leiche ...Die falsche Schuld – ein spannender Frauenroman!-
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Seitenzahl: 201
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Anny von Panhuys
Frauen-Roman
Saga
Unschuldig-schuldig?
© 1952 Anny von Panhuys
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711570425
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Königstein ist ein liebliches kleines Städtchen im Taunus, eine Perle inmitten dunkler Wälder und sanft geschwungener Berge. In den Sommermonaten ist der Ort belebt und voller Kurgäste, die Erholung suchen, in Stille und schöner Natur, sowie in der reinen Berg- und Waldluft. In der übrigen Zeit des Jahres sinkt das Städtchen in seinen Dornröschenschlaf. Es ereignet sich wenig; Jeder kennt Jeden und ist nach echter Kleinstädtersitte ungemein interessiert am Tun und Treiben des lieben Nachbarn. Am Stammtisch der Honoratioren, wie bei den nachmittäglichen Kaffeeklätschchen der Damen wird eifrig diskutiert, natürlich stets über die Abwesenden und wehe dem, der aus dem Rahmen althergebrachter Gebräuche herausfällt. Er hat nichts zu lachen, denn die unbeschäftigten, aber oft bösen Zungen bemächtigen sich seiner und schnell wird der Stab über so manches Menschenkind gebrochen. Unkenntnis der Hintergründe eines Schicksales schützt nicht vor Kritik und Verurteilung. Gott Lob, gibt es hier wie überall auch herzensgute und liebe Seelen, deren seelischer und geistiger Horizont nicht von der allzu engen Umgebung beeinflußt wird, die gern auch Anregungen von außen schöpfen und froh sind, ab und zu einen frischen Hauch aus fernen Städten und Ländern zu spüren.
Zu ihnen gehört in Königstein Frau Fürst, eine sympathische Witwe in mittleren Jahren, die Inhaberin der einzigen Buchhandlung und Leihbibliothek des Ortes. Seit dem Tode ihres Mannes widmete sie sich ganz der Erziehung ihrer beiden Töchter und der Führung des Geschäfts, das sie mit Umsicht und Energie leitete.
Die ständige Beschäftigung mit Büchern und die Reisen, die sie früher mit ihrem Mann gemacht hatte, bewahrten sie vor geistiger Enge und es lag ihr am Herzen, ihren beiden Kindern, der 16 jährigen Brigitte und der 12 jährigen Renate eine Erziehung zu geben, die über die Ausbildung der Kleinstadtschule hinausging. Da sie die Mädchen in ein Pensionat nach Frankfurt schicken wollte, hatte sie sich entschlossen, eine Erzieherin ins Haus zu nehmen, die die Bildung der Töchter vervollständigen sollte.
Brigitte und Renate waren entzückt von dem Gedanken und voller Ungeduld, bis die Entscheidung der Mutter gefallen war.
An einem schönen Frühlingstage des Jahres 19 .. standen Frau Fürst und ihre beiden Töchter erwartungsvoll auf dem Bahnsteig. Der einrollende Zug sollte die neue Lehrerin bringen. Es war doch ein aufregendes Ereignis, nicht nur für die Kinder, sondern auch für die Mutter, denn ihr fiel erst jetzt ein, daß es doch etwas gewagt war, eine neue Hausgenossin nur auf einen Brief und Bild hin zu engagieren, ohne weitere Empfehlungen oder vorherige Bekanntschaft.
Nun mußte sie schon auf ihr Glück vertrauen und hoffen, daß sie die rechte Wahl getroffen habe.
Der kleine Bahnhof lag mitten in einer Fülle von lichtgrünen Bäumen und Sträuchern gebettet. Das niedrige Stationsgebäude war schneeweiß angestrichen und hatte grellblaue Fensterläden. So farbenfreudig wirkte der kleine Bahnhof, daß es Ilse Bertram, die an einem Abteilfenster der 2. Klasse stand, wie ein frohes Willkommen in der neuen Heimat dünkte. —
Langsam war der Zug eingefahren. Königstein war Kopfstation einer kurzen Nebenstrecke. Drei Augenpaare flogen den Zug entlang, dessen Türen sich jetzt öffneten.
Allzu viele Reisenden stiegen nicht aus, doch da Königstein Kurort war, befanden sich schon einige frühe Kurgäste darunter; die Saison begann in 8 Tagen.
Brigitte seufzte. „Mutter, sie ist nicht gekommen!“ und Frau Fürst nickte verstimmt.
Ilse Bertram stand indes, einen schmalen Koffer aus Krokodilleder in der Rechten, und blickte sich um, ob niemand da war, sie abzuholen. Eben erst sah sie das Dreiblatt und nach kurzer Musterung ging sie lächelnd darauf zu. So ähnlich hatte sie sich die Familie vorgestellt.
Plötzlich sagte eine tiefe, klangvolle Stimme dicht neben der kleinen Gruppe „Habe ich das Vergnügen mit Frau Fürst, ich heiße Ilse Bertram.“
„Ach nein,“ stieß die mollige Frau Fürst überrascht hervor, dann lachte sie etwas verlegen. „Natürlich bin ich Frau Fürst, und ich freue mich, daß Sie gekommen sind, Frau Bertram. Seien Sie herzlich Willkommen!“
Eine breite Hand streckte sich der schmalen Ilse Bertram entgegen, und diese nahm die Hand und preßte sie einen Augenblick lang fest in ihre, von glattem, dunkelbraunen Dänenleder umkleideten Finger.
„Guten Tag, Brigitte! — Guten Tag, Renate!“ Auch die beiden Mädchen erhielten einen warmen Händedruck. Sie blickte die beiden blonden Mädchen prüfend an. „Ich hoffe, wir werden sehr gute Freunde werden.“
Die beiden Mädchen nickten stumm und befangen.
„Nun wollen wir nach Hause gehen“, sagte Frau Fürst, und Ilse Bertram war es, als hätte die brave Bürgersfrau etwas Wunderschönes gesagt.
Nun wollen wir nach Hause gehn.
Nach Hause! Schon immer wäre sie gerne nach Hause gegangen und hatte doch seit Jahren nicht gewußt, wo ihr Zuhause lag. Viele Wege war sie schon in ihrem noch jungen Dasein gewandert, aber ein richtiges, warmes Zuhause hatte an keinem Wegziel auf sie gewartet. Vielleicht wartete es hier auf sie. Es schien alles so nett und traulich hier, so eng und begrenzt.
Sie ging neben Frau Fürst her durch die schmalen Straßen. Brigitte hatte sich ihres Handköfferchens bemächtigt und Renate beobachtete, ob man ihnen mit der eleganten Dame auch überall die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Auch Frau Fürst achtete darauf, während sie mit Frau Bertram plauderte und hatte die Genugtuung, festzustellen, man verrenkte sich förmlich die Hälse, um ihnen nachzuschauen.
Sie trug nur einen einfachen, allerdings sehr faltenreichen Mantel aus brauner Seide, aber wie fielen die Falten und welche tadellosen Füße kamen darunter hervor, auch konnte man sich noch an einem guten Stück seidenglänzenden Strumpfes erfreuen, der ebenso wie Schuhe, Mantel, Handschuhe und der weiche Seidenhut, braun waren. Sogar ein Schirm in der Farbe war vorhanden. Ilse Bertram aber ahnte nicht, wie sehr sie auffiel. Ihres Erachtens nach war sie sehr schlicht gekleidet, ganz wie es ihrem jetzigen Stand zukam.
Frau Fürst erklärte die Sehenswürdigkeiten des Ortes, an denen man vorüberkam. „Das ist die protestantische Kirche, und da drüben ist das ‚Quellenhotel’, da der ‚Sprudelhof’ und dort rechts geht es nach dem ‚Schloßberg’.“
Ilse Bertram hörte wohl die Worte, aber sie gingen eindruckslos an ihr vorüber, sie sah die Berge hinter den Häusern aufragen und dachte, ob man dort hoch oben wohl weit in die Welt hinausschauen konnte? Dann wollte sie niemals heraufsteigen, immer sollten sie sich ihren Augen und Sinnen vorbauen, gleich einer Mauer, bis ihr heißes Herz still und friedlich geworden, und ihre Augen zufrieden waren, mit einem so engen Umkreis, wie tausende von Menschen auf der weiten Herrgottserde ihn besaßen.
Renate sagte schüchtern: „Ich bin glücklich, daß Sie zu uns gekommen sind!“
Ilse Bertram blickte erstaunt auf das Kind. Ach ja — da hatte sie wahrhaftig ein Weilchen vergessen, weshalb sie überhaupt hier war. Ihre großen schwarzen Augen wurden glänzender. Das Kind gefiel ihr, ebenso Brigitte, die Gesichter waren unregelmäßig aber fein geschnitten und sehr lebendig. Das Haar von einem ganz verblaßten Gelb war sogar hübsch und eigenartig, besonders im Gegensatz zu den dunklen Grauaugen, aber es war häßlich und steif geordnet, sein Reiz dadurch in das Gegenteil umgewertet.
Frau Fürsts Besitz bestand aus einem zweistöckigen Häuschen, das unten den Laden und Lagerraum sowie das Kontor enthielt, während die Wohn- und Schlafräume im ersten Stock lagen, zu denen noch ein paar bequeme Mansardenzimmer kamen. Die Rückseite des Häuschens war von einem ziemlich großen Garten eingefaßt, der mit dem Hof ineinanderglitt. Vor der Haustür wartete Lina, das langjährige, schon ältliche Dienstmädchen Frau Fürsts und begrüßte die Erzieherin. Nachher kam sie verdutzt zu ihrer Frau gelaufen.
„Frau Fürst, das ist im Leben keine richtige Erzieherin. Gucke Sie doch die von Holzdorfs dagegen an.“
„Frau Bertram kommt aus Berlin und ist jung. Sie hat eben „Schick“, wie man das nennt.“
Lina sagte belehrt: „Na ja, unsereiner versteht das nicht so.“
Brigitte führte Frau Bertram auf ihr Zimmer. Es lag nach dem Garten hinaus und enthielt als Glanzstück einen Korbstuhl mit bunten Kattunkissen. Einfach war die Einrichtung, die Möbel stammten noch von Frau Fürsts Mutter und waren aus Birnbaumholz. — Frische würzige Luft von Wiesen und Aeckern, die unfern begannen, strich durch die weit offenen Fenster und die schneeweißen, etwas zu sehr gestärkten Vorhänge blähten sich wie Segel im Winde. Ein Strauß gelber Narzissen stand in einer dunkelvioletten, Glasvase, eine, wie man sie auf Jahrmärkten kauft. Ilse Bertram lächelte und legte den Hut ab. Sie legte ihn auf die grüne Steppdecke des Bettes und Brigitte verharrte unschlüssig, ob sie nun wohl gehen mußte oder noch bleiben durfte. Frau Bertram gefiel ihr so gut wie ein schönes Bild, sie konnte sich nicht satt an ihr sehen, überhaupt jetzt, wo sie den Hut abgesetzt hatte. Nun zog sie auch den Mantel aus und ein rehfarbenes Kleid mit breitem, losem, gleichfarbenen Seidengürtel kam zum Vorschein. Um Halsausschnitt und Aermel waren weiße Streifen geheftet.
Ilse Bertram fühlte förmlich den Blick des jungen Mädchens, und mit einladender Handbewegung wies sie auf den Korbstuhl. „Setze dich, bitte, Brigitte, ich will mir nur die Hände waschen, dann habe ich Zeit, mich mit dir zu unterhalten.“
Sie entnahm ihrem Handköfferchen allerlei Dinge, die Brigitte mit staunenden Augen musterte, und stellte sie auf dem Waschtisch auf. Einiges kam auch auf die Kommode.
Kristall funkelte, Silber blitzte.
Dann plätscherte Wasser, ein feiner Duft von Seife und Wohlgeruch zog durch das Zimmer.
Nach dem Waschen trat Frau Bertram vor den Spiegel und bürstete über ihr reiches braunes Haar, über dem leichter dunkelkupferner Schimmer lag. Förmlich sehnsüchtig hingen Brigittes Blicke an dem Haar.
Ilse Bertram rief Brigitte zu sich, und während sie über ihren viel zu straff geflochtenen Zopf strich, fragte sie: „Soll ich dir das Haar einmal ordnen, daß es hübsch wird?“ Brigitte erwiderte traurig: „Hübsch wird das niemals. Man verspottet Renate und mich, und Friseur Ullrichs Ria sagt, wir wären Albinos.“
„Unsinn! Albinos sind Menschen oder Tiere, deren Haar, Augen und Haut der Farbstoff fehlt. Wenn man so dunkle Brauen und Wimpern, so dunkelgraue Augen und so lebendige Haut hat wie ihr, ist dieses Wort hinfällig.“
Sie löste den straffen Zopf Brigittes und fuhr mit dem Kamm durch das leichte Haar. Sie zog einen großen Scheitel und flocht zwei Zöpfe, die sie um den schmalen Kopf legte. Lose und weichlockig bauschte sich das Haar nun über Stirn und Schläfen, lag tief, begrenzte die Brauen. Ganz verwandelt sah Brigitte in den Spiegel, und ihr Gesicht ward hell und froh.
„Ach liebe, gute Frau Bertram, machen Sie Renate auch so hübsch, bitte, bitte!“
Ilse Bertram nickte. „Hole Dein Schwesterchen!“
„Renate, Renate!“ rief Brigitte durchs Haus, und die kleine glattgestrählte Renate kam und ward auch so ein weißblondes, süßes, zopfumstecktes Defreggerköpfchen.
Von dieser Stunde an gehörten Ilse Bertram die Herzen der zwei Mädchen.
Später brachte Lina mit Hilfe des Gepäckträgers den Koffer der Erzieherin. Er war ziemlich groß und sah sehr vornehm aus. Frau Fürst hatte auf einen Schließkorb gerechnet. Daß eine Erzieherin so gediegene Sachen besaß! Sie mußte aus einer guten Familie stammen. Gelegentlich konnte man sie ja ein bißchen darüber ausfragen.
Als nach dem Abendbrot die beiden Mädchen schlafen gegangen waren, bat Ilse Bertram Frau Fürst um eine Unterredung. Sie dankte ihr für das bewiesene Vertrauen, sie ohne weitere Rückfragen engagiert zu haben. Doch gerade das, meinte sie, verpflichte sie zu größter Aufrichtigkeit und zu einem ausführlichen Bericht ihres Lebens und der Gründe, die sie zur Annahme der Stellung bewogen hatten.
Frau Fürst wollte zwar nicht neugierig erscheinen, war aber doch voller Spannung, was die neue Hausgenossin berichten würde.
Diese begann ihre Erzählung mit einer kurzen Darstellung ihrer Jugend auf dem Gute des Vaters in Schleswig-Holstein. Die Mutter hatte sie schon jung verloren. Darum hatte der Vater sie in ein gutes Pensionat in der Stadt gegeben, wo sie ihre Schulausbildung und anschließend ihr Lehrerinnenexamen gemacht hatte, ohne daran zu denken, daß sie es je praktisch verwenden würde. Zurückgekehrt auf das väterliche Gut hatte sie ihren späteren Mann kennengelernt, der ein Gut in der Nähe besaß. Die beiden jungen Menschen hatten sich leidenschaftlich ineinander verliebt und das Gerücht, das über den Leichtsinn des schönen Benno mancherlei verbreitete, hatte die junge Ilse nicht abschrecken können. Sie vertraute auf die Kraft ihrer Liebe und war überzeugt, den künftigen Gatten von seinen Schwächen heilen zu können, wenn sie ihm nur ein harmonisches Heim, liebevolles Verständnis und ihr Interesse für seinen Beruf und seine Liebhabereien bieten würde. Erst zu spät gewahrte sie, welch einem verhängnisvollen Irrtum sie zum Opfer gefallen war, denn Benno war nicht nur leichtsinnig und schwach, sondern ein unverbesserlicher Spieler, der nicht ruhte, ehe er nicht restlos sein Hab und Gut verspielt hatte. Mehrfach war Ilses Vater helfend eingesprungen, bis sein eignes Gut verschuldet und er aus Gram einem Herzschlag erlegen war.
Nach dem Tode des Vaters begann ein unstetes Wanderleben für Ilse, denn ihr Mann war überzeugt, durch einen großen Coup am Spieltisch das verlorene Vermögen wieder erwerben zu können.
Willenlos und verzweifelt hatte die junge Frau sich von ihrem Gatten von einer Metropole in die andere schleppen lassen. Wo hoch gespielt wurde, tauchte das junge Paar auf; sie gewann Sympathie durch ihre melancholische Schönheit und Zurückgezogenheit, in der sie lebte, während man sich von ihm sehr bald fern hielt. Da sie zu stolz war, mit irgendeinem Menschen über ihr Unglück zu sprechen, wurde sie immer einsamer und verschlossener. Nach außen wirkte sie zwar als elegante weltsichere Frau, doch niemand sah die Verzweiflung ihres Herzens. Ohne Widerstand folgte sie ihrem Mann von Ort zu Ort. Bald lebten sie in größtem Luxus, wenn ihm das Glück am Spieltisch hold war, dann wieder gab es Zeiten der Armut und Kargheit, in denen der oberflächliche und heitere Spieler mit umdüsterter Miene herumlief und Ilse ihm kaum zuzureden wagte. Sie ertrug schweigend jeden Wechsel des Geschickes, bis sie eines Tages die entsetzliche Entdeckung machen mußte, das ihr Mann nicht nur ein haltloser Abenteurer, sondern ein Verbrecher war, dem jeder Ehrbegriff abhanden gekommen war.
Da raffte sich Ilse zusammen um sich aus dem Abgrund zu retten, sie drang auf Scheidung; wenn auch Benno als der allein schuldige Teil dastand, so war es für sie selbstverständlich, keinerlei Ansprüche an ihn zu machen. Sie wollte nur eins — ihn nie wiedersehen und sich selbst ein neues, reines Leben aufbauen. Allein, und fast mittellos stand sie mit ihren 26 Jahren in der Welt, denn die Zinsen ihres kleinen Vermögens, daß Benno nicht hatte angreifen können, reichten nicht zum Lebensunterhalt.
In dieser Notlage hatte sich die junge Frau auf ihr Lehrerinnenexamen besonnen, ihre Annonce in die Zeitung gesetzt und nun war sie hier und hoffte aus tiefster Seele, die Vergangenheit zu vergessen und einen neuen Beginn zu finden.
Tief aufatmend beendete sie ihren Bericht und sah ängstlich zu Frau Fürst auf, die ihr schweigend gegenüber saß. Diese herzensgute Frau war so ergriffen, daß ihr Tränen in den Augen standen. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr, daß das Bekenntnis ehrlich war und Ilse Bertram unschuldig, so daß sie ihr die Erziehung ihrer Kinder ruhig anvertrauen könne. Aber durch diese Kenntnis der Mitmenschen war ihr auch klar, daß Ilses Stellung, sowie ihr eigener Ruf in der bürgerlichen Kleinstadt gefährdet wären, wenn jemand etwas über das abenteuerliche Geschick ihrer Erzieherin wüßte.
Sie sagte dies auch offen der jungen Frau und bat sie, sich als Witwe auszugeben. Schließlich ging das Privatleben der jungen Erzieherin niemand etwas an und es war nur eine halbe Lüge. Für sie war ihr Gatte tot und kein Band knüpfte sie mehr an die Vergangenheit. Ilse fügte sich wortlos der Bitte, deren Grund und Berechtigung sie einsah.
*
Ilse Bertram unterrichtete die Schwestern jeden Vormittag. Bei schönem Wetter in der Gartenlaube, bei schlechtem im Wohnzimmer, und die beiden hingen an ihrem Munde, der tausend interessante Dinge nebenher erzählte. Man vergaß ganz, daß man in einer Lehrstunde war. In der Geographiestunde gewannen die Orte und Länder Leben. In der Schule hatte man allerlei Zahlen und Namen auswendig lernen müssen, die man stets vergaß, jetzt behielt man alles von selbst, weil es war, als reise man selbst. Die Mädchen staunten: „O, Frau Bertram, wo sie schon überall gewesen sind!“
Sie lächelte eigen. Die Kinder ahnten nicht, welche Gedanken hinter diesem Lächeln standen. Ja, die Welt kannte sie, in vieler Herren Länder war sie gewesen und sprach 3 Sprachen wie ihre Muttersprache, aber all der Glanz und Luxus, der um sie gewesen war, alle Bequemlichkeiten waren erkauft mit Sorgen und Gewissensqualen. Die vornehmsten Bäder Europas kannte sie und das Luxusleben der Hauptstädte, aber die Ruhelosigkeit war ihre stete Begleiterin gewesen. — — —
Nun hatte sie etwas Frieden gefunden. Ihre Tage spannen sich hier gleichmäßig und sacht ab, einlullend war das und tat ihrer Abgehetztheit unendlich wohl. Nur des Nachts schreckte sie zuweilen aus irgendeinem Traum empor, der sie in die Vergangenheit geführt hatte, die sie vergessen wollte. Dann lag sie lange schlaflos, und durch die stille Nacht kamen die Gespenster der Vergangenheit und grinsten sie mit widerlichem Lächeln an: „Weißt du noch?“ Ein schlanker Mann war darunter, der hatte tiefgründige Augen und um seine Lippen hing ein Zug von Genußsucht.
Dann atmete die schöne Ilse Bertram schwer und bedrängt, und nur der einzige Wunsch war in ihr, ihn niemals im Leben wiederzusehen, ihn, den sie von ganzen Herzen geliebt und vor dem ihr nun graute, weil er alles, was gut und rein und edel in ihr gewesen, unter die Füße getreten, weil der die Schuld trug, daß ihre schönen Jugendideale von Liebe und Glück irgendwo draußen im Staube der Straße lagen.
Aber je länger sie in Königstein weilte, desto besser schlief sie in den totenstillen Nächten, die das kleine Taunusnest in einen Mantel behaglicher, spießiger Sicherheit einhüllten. Wenn es 11 Uhr schlug, brannte kaum ein Licht mehr. Nur Ilse saß manchmal auf, in ein Buch vertieft. Sie las unten aus der Leihbibliothek, deren Benutzung ihr Frau Fürst zur Verfügung gestellt, ziemlich wahllos, und zuweilen dachte sie, ihr bisheriges Leben war fast bunter als der bunteste Roman.
Gut war es, nun fern dem Schauplatz der vielen Aufregungen zu sein und nur zuweilen lauschend aufzuhorchen, wenn ein halbverwehter Klang aus jener Welt ihrer Vergangenheit über die Taunusberge herüberscholl in ihr engbegrenztes Jetzt.
Sie war zufrieden mit dem Jetzt, aber die Königsteiner begriffen nicht, wie sich so eine schöne Person, der man die Herkunft aus bester Familie auf den ersten Blick ansah, hierhin in die Abgeschiedenheit und in das Häuschen der verwitweten Frau Fürst gekommen war. So eine repräsentable Erscheinung hätte doch einer erstklassigen Familie zur Zierde gereicht. Ein Rätsel war das. Und da man in dem Städtchen viel Zeit hatte, fanden sich eine Menge Leute, die das Rätsel zu lösen versuchten. Ilse Bertram verstand es aber vorzüglich, an neugierigen Fragen vorbeizuhören oder geschickt vorbeizuantworten, bis man sich schließlich an ihre Anwesenheit in Königstein gewöhnt hatte.
Frau Fürst besaß einen Umgangskreis, in den die Erzieherin unwillkürlich ein bißchen mithineingezogen wurde, und da sie ja eine Frau war, mußte sie bei den Kaffeekränzchen, die sich bei Frau Fürst oder bei Bekannten zusammenfanden, teilnehmen. Es machte ihr Spaß dabei, zuweilen die kleinen engen Geister aufeinanderplatzen zu sehen, und zuweilen gelang es ihr dann mit ihrem Urteil die Gemüter zu beruhigen. So war auch eines Tages, der Juli brütete schon über dem schuhverderbenden spitzen Steinpflaster Königsteins, bei Kaffee- und Kuchengenuß eine Meinungsverschiedenheit entstanden über das Thema: Haftet einer geschiedenen Frau ein Makel an?
Die Debatte ging hin und her, nur Ilse Bertram saß still, hing allerlei Gedanken nach, bis die Frau Apotheker Melber mit ihrer harten Stimme sagte: „So oder anders, ob aus diesem oder jenem Grunde geschieden, eine Schande bleibt es für die Frau. So weit darf man es nicht kommen lassen. Ist der Mann der sogenannte schuldige Teil, hätte die Frau rechtzeitig die Augen aufmachen und ihr Eheschiff in gutes Fahrwasser lenken sollen, ist sie aber der schuldige Teil, so ist sie verächtlich. Eine geschiedene Frau ist auf jeden Fall ein Wesen, das nicht in anständige Gesellschaft gehört, ich wenigstens setze mich nicht mit ihr an einen Tisch.“
Ilse Bertram wollte eine Erwiderung geben, Frau Fürst sah es und warf ihr einen bittenden Blick zu, der um Schweigen bat. Ilse Bertram erschien sich klein und feige, aber sie ließ sich doch von dem beinahe flehenden Blick beeinflussen und schwieg. Frau Fürst meinte fast schüchtern, denn die Apothekerin war ihrer Schroffheit wegen beinahe berüchtigt: „Ich finde, man soll das Kind nicht mit dem Bade ausschütten und die schuldlose Frau nicht verurteilen, sie kann doch nichts dafür, wenn der Mensch sich in der Ehe brutal oder gemein benimmt.“
„Eine Frau kann aus einem Mann machen, was sie will“, fiel es hart von den Lippen der Frau Apotheker, und ein überlegenes Lächeln zog ihre Mundwinkel aufwärts. „Man soll nicht aus der Schule plaudern, das eine aber möchte ich noch äußern: Mancher Mann wäre ein Windhund geworden, wenn nicht der Zufall eine Lebensgefährtin ihm beschert, die durch unermüdliche Wachsamkeit den leicht Strauchelnden an jedem Stein am Wege vorbeigeführt hätte.“
Ihre fahlen, kaum sichtbaren Wimpern zwinkerten, und ihr grobknochiges, aderngesprenkeltes Gesicht trug einen hochmütigen Ausdruck.
Ilse Bertram wußte nichts davon, daß diese Frau mit dem schroffen unnachsichtigen Urteil ihren Mann um jede kleine Erholung, sogar in Gestalt eines Besuches am Biertisch brachte, aber sie dachte doch: Armer Apotheker von Königstein!
Später sagte Frau Fürst zu Ilse: „Wie bin ich froh, daß Sie sich mit der Apothekerin in keinen Disput einließen, denn die würde schließlich herausgehört haben, wie es um Sie steht, und wenn die böse Sieben erfahren hätte, daß sie keine Witwe sind, für die Sie sich aus Klugheitsgründen ausgegeben, sondern eine geschiedene Frau, wären Sie in Königstein unmöglich gewesen. Wessen Namen sie einmal auf ihrer Klatschzunge hat, der ist geliefert.“
Ilse Bertram wußte, die andere sagte das alles, weil sie unter dem Einfluß eines gewissen Wohlwollens für sie stand, noch mehr aber, weil sie ihren zwei Töchtern die Lehrerin zu erhalten wünschte, an der beide sehr hingen. Und sie war froh, die Verteidigungsrede, die sie der als schuldlos geschiedenen Frau hatte halten wollen, heruntergeschluckt zu haben, sonst wäre es bald mit dem Asyl, das sie hier in dem Städtchen gefunden hatte, aus gewesen; und sie sehnte sich nicht fort. Sie war froh in in der Stille, die sie wohlig einspann. Unwirklich schien ihr hier, was sich einmal ereignet, wie hinter immer mehr und mehr sich verdichtenden Nebelschleiern schwand Vergangenes ihrem Blick.
*
Frau Fürst stellte eine Vase mit duftenden Frühlingsrosen und Flieder auf den schneeweiß gedeckten Frühstückstisch und sagte lächelnd zu ihren Töchtern, die eben ins Zimmer traten:
„Sieht es heute nicht festlich bei uns aus?“
Brigitte nickte. „Fein, Muttel — ach — du hast heute auch unseren besten Schatz, die vergoldeten Kaffeelöffel herausgetan und das silberne Milchkännchen.“
Renate zupfte an ihrem Haar, das entzückend leicht über der schmalen Stirn flockte.
„Muttel, ich meine fast, Frau Bertram sei schon immer bei uns gewesen, ich kann mir gar nicht vorstellen, daß wir sie erst vor zwei Jahren von der Bahn abholten.
Brigitte seufzte. „Wenn Sie nur immer bei uns bliebe.“
„Aber Kind, das geht doch nicht.“ Frau Fürst ordnete noch etwas am Tisch, der durch einen schön goldbraun gebackenen Napfkuchen besonders festlich wirkte.
„Einmal wird sie natürlich fortgehen. Vielleicht in zwei Jahren, oder drei — — —“
Brigitte war ganz blaß.
„Mutter, es wäre schrecklich, wenn unsere liebe Frau Bertram nicht bei uns bleibt. Ehe sie kam war alles so öde — und nun —“
Sie warf einen heimlichen Seitenblick in den hohen Stehspiegel, vor dem sie zufällig stand. Sie gefiel sich und die junge Eitelkeit wußte ganz genau, sie gefiel auch andern. Aber erst seit Frau Bertram sich ihres Aeußeren angenommen hatte. Seit ihre steifen Zöpfe verschwunden und Frau Bertram der Schneiderin angab, wie ihre Kleider zu machen waren. Renate hatte sich in den zwei Jahren ebenfalls gewandelt.
Auch Frau Fürst hatte Augen zum Sehen und Ohren zum Hören. Sie war jetzt stolz auf ihre zwei Mädchen. Jetzt waren die verspotteten „Weißköpp“ die hübschesten Mädchen in Königstein geworden.