Unschuldige - Ian McEwan - E-Book

Unschuldige E-Book

Ian McEwan

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Beschreibung

Berlin in den 50er Jahren: der ideale Tummelplatz für Geheimdienste und Spione jeglicher Couleur. Leonard Marnham, ein englischer Fernmeldetechniker, kommt 1955 mit 26 Jahren nach Berlin, wo er sowjetische Telefonleitungen anzapfen soll. Außerdem verliebt er sich – naiv und schüchtern, wie er ist – in eine vier Jahre ältere Deutsche. Leonard vergräbt sich immer tiefer und auswegloser in fremde, gefährliche Welten und wird von der hübschen Maria in die verborgenen Winkel menschlicher Beziehungen geführt. Marnham fühlt, wie ihm sein Leben entgleitet – und findet es herrlich …

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Seitenzahl: 440

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Ian McEwan

Unschuldige

Eine BerlinerLiebesgeschichte

Roman

Aus dem Englischen vonHans-Christian Oeser

Titel der 1990 bei

Jonathan Cape Ltd., London,

erschienenen Originalausgabe:

›The Innocent‹

Copyright ©1989, 1990 by Ian McEwan

Die deutsche Erstausgabe

erschien 1990 im Diogenes Verlag

Umschlagfoto von Erich Lessing (Ausschnitt)

Copyright ©akg-images/Erich Lessing

Alle deutschen Rechte vorbehalten

Copyright ©2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22579 2 (10. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60355 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Die Arbeit am Burgplatz erschwerte sich auch unnötig (unnötig will sagen, daß der Bau von der Leerarbeit keinen eigentlichen Nutzen hatte) dadurch, daß gerade an der Stelle, wo der Ort planmäßig sein sollte, die Erde recht locker und sandig war, die Erde mußte dort geradezu festgehämmert werden, um den großen, schöngewölbten und gerundeten Platz zu bilden. Für eine solche Arbeit aber habe ich nur die Stirn. Mit der Stirn also bin ich tausend- und tausendmal tage- und nächtelang gegen die Erde angerannt, war glücklich, wenn ich sie mir blutig schlug, denn dies war ein Beweis der beginnenden Festigkeit der Wand, und habe mir auf diese Weise, wie man mir zugestehen wird, meinen Burgplatz wohl verdient.

Franz Kafka, Der Bau

Nach dem Dinner sahen wir uns einen amüsanten Film an: Bob Hope in Die Prinzessin und der Pirat. Danach setzten wir uns in den Großen Saal und hörten uns auf dem Grammophon einen viel zu langsam gespielten Mikado an. Der PM sagte, er fühle sich ins »Viktorianische Zeitalter« versetzt, »achtzig Jahre unserer Inselgeschichte, die man dem Antoninischen Zeitalter zur Seite stellen wird«. Heute hingegen hingen »die Schatten des Sieges« über uns… Nach diesem Krieg, fuhr der PM fort, würden wir schwach sein, würden kein Geld und keine Kraft haben, sondern zwischen den beiden Großmächten USA und UdSSR liegen.

Dinner mit Churchill auf dessen Landsitz, zehn Tage nach Beendigung der Jalta-Konferenz.

John Colville, The Fringes of Power.Downing Street Diaries, 1939–1955

[7] Eins

Lieutenant Lofting riß das Gespräch gleich an sich. »Schauen Sie her, Marnham. Sie sind gerade eben erst angekommen, es gibt also gar keinen Grund, weshalb Sie Bescheid wissen müßten. Das Problem hier sind nicht die Deutschen oder die Russen. Nicht einmal die Franzosen. Sondern die Amerikaner. Die haben ja keinen blassen Dunst. Was noch schlimmer ist, sie wollen nichts dazulernen, sie lassen sich einfach nichts sagen. So sind sie nun mal.«

Leonard Marnham, Angestellter bei der Post, hatte noch nie in seinem Leben mit einem richtigen Amerikaner gesprochen, sie aber in seinem lokalen Lichtspielhaus eingehend studieren können. Er lächelte mit geschlossenen Lippen und nickte. Er langte in die Innentasche seines Mantels und zog sein versilbertes Zigarettenetui hervor. Wie bei einem Indianergruß hob Lofting abwehrend die Hand. Leonard schlug die Beine übereinander, nahm eine Zigarette heraus und klopfte das Ende mehrmals gegen das Etui.

Lofting ließ seinen Arm über den Schreibtisch hinwegschnellen und streckte ihm sein Feuerzeug entgegen. Während der junge Zivilist den Kopf zur Flamme hinneigte, nahm Lofting den Faden wieder auf: »Sie können sich vorstellen, daß es eine Reihe gemeinsamer Projekte gibt, gemeinsame Geldmittel, Know-how, so etwas halt. Aber [8] glauben Sie etwa, die Amerikaner hätten auch nur die leiseste Ahnung von Teamarbeit? Erst stimmen sie einer Sache zu, und dann handeln sie doch auf eigene Faust. Sie hintergehen uns, halten Informationen zurück, reden mit uns von oben herab, als hätten sie es mit Armleuchtern zu tun.« Lieutenant Lofting rückte den Tintenlöscher gerade, den einzigen Gegenstand auf seinem Stahlschreibtisch. »Wissen Sie, früher oder später wird die Regierung Ihrer Majestät gezwungen sein, andere Töne anzuschlagen.« Leonard wollte etwas sagen, aber Lofting winkte ab. »Ich will Ihnen mal ein Beispiel nennen. Ich bin britischer Verbindungsoffizier für den intersektoralen Schwimmwettkampf nächsten Monat. Niemand kann bestreiten, daß wir hier auf dem Olympiagelände das beste Schwimmbecken haben. Als Austragungsort eignet es sich eindeutig am besten. Die Amerikaner haben schon vor Wochen zugestimmt. Und wo, glauben Sie, soll der Wettkampf auf einmal abgehalten werden? Unten im Süden, in ihrem Sektor, in irgendeinem glitschigen Tümpel. Und wissen Sie, warum?«

Lofting sprach geschlagene zehn Minuten lang weiter.

Als sämtliche Tücken des Schwimmwettbewerbs abgehandelt schienen, sagte Leonard: »Major Sheldrake hatte Ausrüstungsgegenstände und versiegelte Anweisungen für mich. Wissen Sie etwas davon?«

»Darauf wollte ich gerade zu sprechen kommen«, sagte der Lieutenant scharf. Er hielt inne und schien Kraft sammeln zu wollen. Als er weitersprach, konnte er nur schwach einen gereizten Jodellaut unterdrücken. »Wissen Sie, der einzige Grund, weshalb ich hierherbeordert [9] worden bin, war, daß ich auf Sie warten sollte. Als Major Sheldrakes Versetzung durchkam, sollte ich von ihm die ganzen Sachen ausgehändigt bekommen und weiterleiten. Ich kann nichts dafür, daß zwischen der Abreise des Majors und meiner Ankunft achtundvierzig Stunden verstrichen sind.«

Er legte eine Pause ein. Es klang so, als hätte er sich seine Erklärung sorgfältig zurechtgelegt. »Anscheinend haben die Amis mächtig Stunk gemacht. Dabei war die Bahnfracht in einem bewachten Raum verschlossen, und Ihr versiegelter Umschlag lag auf der Stube des Kommandeurs im Panzerschrank. Sie haben darauf bestanden, daß jemand die ganze Zeit für das Zeug unmittelbar haftbar ist. Vom Brigadegeneral kamen Anrufe für die Stube des Kommandeurs, die vom Generalstab ausgingen. Wir konnten nichts mehr ausrichten. Sie kamen mit einem Laster und nahmen alles mit, Umschlag, Frachtgut, einfach alles. Dann traf ich ein. Laut meinen neuen Anweisungen sollte ich auf Sie warten – was ich nun schon fünf Tage tue –, sicherstellen, daß Sie wirklich der sind, der Sie zu sein behaupten, Ihnen die Situation erläutern und Ihnen diese Kontaktadresse übergeben.«

Lofting nahm einen braunen Umschlag aus der Tasche und reichte ihn über den Tisch. Gleichzeitig händigte Leonard ihm sein Beglaubigungsschreiben aus. Lofting zögerte. Er hatte noch eine schlechte Nachricht.

»Die Sache ist die. Da Ihre Sachen, was immer das im einzelnen ist, nun schon einmal den Amis überstellt worden sind, gilt das gleiche auch für Sie. Sie sind jetzt den Amis untergeben. Vorläufig sind die für Sie [10] verantwortlich. Ihre Instruktionen werden Sie also von ihnen entgegennehmen.«

»Geht in Ordnung«, sagte Leonard.

»Tja, da haben wir wirklich Pech gehabt.«

Als er seine Pflicht getan hatte, erhob sich Lofting und schüttelte ihm die Hand.

Der Armeefahrer, der Leonard am frühen Nachmittag vom Flughafen Tempelhof abgeholt hatte, wartete auf dem Parkplatz des Olympiastadions. Leonards Quartier lag nur wenige Minuten entfernt. Der Korporal öffnete den Kofferraum des khakifarbenen Kleinwagens, schien es aber nicht für seine Aufgabe zu halten, die Koffer herauszuheben.

Platanenallee 26 war ein Neubau mit einem Aufzug im Hausflur. Die Wohnung lag im dritten Stock und bestand aus zwei Schlafzimmern, einem großen Wohnzimmer, einer Küche mit Eßecke und einem Badezimmer. In Tottenham wohnte Leonard noch im Haus seiner Eltern und pendelte jeden Tag nach Dollis Hill. Er ging von einem Zimmer ins andere und knipste sämtliche Lichter an. Es gab verschiedene Neuheiten, etwa ein großes Radio mit cremefarbenen Tasten und ein Telefon auf einem Satz Couchtische. Daneben lag ein Stadtplan von Berlin. Die Möbel waren die armeeüblichen – eine dreiteilige Polstergarnitur mit verblichenem Blumenmuster, ein Sitzpolster mit Lederquasten, eine nicht ganz lotrechte Stehlampe und an der gegenüberliegenden Wand des Wohnzimmers ein Schreibtisch mit dicken, geschwungenen Beinen. Er schwelgte in der Wahl des Schlafzimmers und packte sorgfältig seine Sachen aus. Eine eigene Wohnung! Er hätte [11] nicht gedacht, daß er soviel Vergnügen daran haben würde. Er hängte seine grauen Anzüge, den besten, den zweitbesten und den Alltagsanzug, in den Einbauschrank, dessen Schiebetür bei der leisesten Berührung auf- und zuglitt. Das mit Teakholz ausgeschlagene, versilberte Zigarettenetui mit seinen eingravierten Initialen, ein Abschiedsgeschenk seiner Eltern, legte er auf den Schreibtisch. Sein schweres Tischfeuerzeug, das wie eine neoklassische Urne aussah, stellte er daneben. Würde er wohl jemals Gäste empfangen?

Erst als alles zu seiner Zufriedenheit eingerichtet war, ließ er sich in den Lehnsessel unter der Stehlampe sinken und öffnete den Umschlag. Er war enttäuscht. Es war ein Stück Papier, von einem Notizblock abgerissen. Keine Adresse, nur ein Name – Bob Glass – und eine Berliner Telefonnummer. Er hatte den Stadtplan auf dem Eßtisch ausbreiten, die Adresse markieren, seine Route planen wollen. Jetzt mußte er seine Instruktionen von einem Unbekannten, dazu noch von einem Amerikaner, entgegennehmen und zum Telefon greifen, einem Apparat, der ihm trotz seines Berufs nicht ganz geheuer war. Weder seine Eltern noch irgendeiner seiner Freunde besaßen ein Telefon, und auf der Arbeit mußte er nur selten Anrufe erledigen. Den Zettel auf dem Knie balancierend, wählte er sorgsam. Er wußte, wie er klingen wollte. Entspannt, entschlossen, Leonard Marnham am Apparat. Ich nehme an, Sie erwarten meinen Anruf.

Sogleich stieß eine Stimme hervor: »Glass!«

Leonards Sprechweise verkam zu genau dem englischen Gestammel, das er in der Unterhaltung mit einem [12] Amerikaner tunlichst zu vermeiden gesucht hatte: »Hm, tja, also, es tut mir schrecklich leid, ich…«

»Sind Sie Marnham?«

»Ja, genau, Leonard Marnham am Apparat. Ich glaube, Sie…«

»Schreiben Sie sich die Adresse auf: Nollendorfstraße 10. Die geht vom Nollendorfplatz ab. Finden Sie sich morgen früh um acht hier ein.«

Während Leonard die Adresse noch in seinem freundlichsten Tonfall wiederholte, wurde bereits aufgelegt. Er kam sich blamiert vor. Allein mit sich, errötete er. Er erblickte sich in einem Wandspiegel und ging hilflos auf sich zu. Seine Brille, die sich von seinen Körperausdünstungen gelblich verfärbt hatte – so jedenfalls lautete seine Theorie –, saß albern auf seiner Nase. Als er sie abnahm, sah sein Gesicht aus, als sei ihm etwas abhanden gekommen. An den Nasenwänden befanden sich rote Druckstellen, regelrechte Dellen im Knochenbau. Eigentlich müßte er auch ohne Brille auskommen. Was er wirklich wahrnehmen wollte, konnte er auch aus allernächster Nähe sehen. Ein Schaltdiagramm, einen Röhrenglühfaden, ein anderes Gesicht. Ein Mädchengesicht. Seine häusliche Ruhe war dahin. Wieder durchmaß er, von einem unkontrollierbaren Verlangen getrieben, seinen neuen Wohnbereich. Schließlich disziplinierte er sich, indem er sich am Eßtisch einem Brief an seine Eltern widmete. Schriftliche Äußerungen dieser Art kosteten ihn Überwindung. Zu Beginn eines jeden Satzes hielt er den Atem an, am Ende stieß er ihn keuchend wieder aus. Liebe Mutti, lieber Vati! Der Flug war langweilig, aber wenigstens ist nichts [13] schiefgegangen! Ich bin heute um sechzehn Uhr angekommen. Ich habe eine schöne Wohnung mit zwei Schlafzimmern und Telefon. Die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, habe ich zwar noch nicht zu Gesicht bekommen, aber ich denke, Berlin wird schon werden. Es regnet, und es ist furchtbar windig. Selbst bei Dunkelheit sieht alles ziemlich zerstört aus. Bisher habe ich noch keine Gelegenheit gehabt, mein Deutsch auszuprobieren…

Bald darauf trieben ihn Hunger und Neugier aus dem Haus. Er hatte sich eine Wegstrecke auf dem Stadtplan eingeprägt und ging in östlicher Richtung auf den Reichskanzlerplatz zu. Bei Kriegsende war Leonard vierzehn gewesen, alt genug, um Namen und Leistungen von Kampfflugzeugen, Kriegsschiffen, Panzern und Kanonen herunterbeten zu können. Er hatte die Großlandung in der Normandie und den Vormarsch quer durch Europa nach Osten ebenso mitverfolgt wie vorher schon den durch Italien nach Norden. Erst jetzt begann er die Namen sämtlicher wichtiger Schlachten allmählich zu vergessen. Für einen jungen Engländer war es unmöglich, sich das erste Mal in Deutschland aufzuhalten, ohne die Gastgeber vor allem für ein besiegtes Volk zu halten oder Stolz über den Sieg zu verspüren. Den Krieg hatte er bei seiner Großmutter in einem walisischen Dorf verbracht, das keine Feindüberflüge gekannt hatte. Er hatte noch nie ein Gewehr in der Hand gehabt und außer auf dem Schießstand auch noch nie einen Gewehrschuß gehört. Trotzdem, und selbst wenn es die Russen gewesen waren, die die Stadt befreit hatten: An diesem Abend – der Wind hatte sich gelegt, und es war wärmer geworden – schritt er mit einem [14] gewissen Besitzerstolz durch den angenehmen Berliner Wohnbezirk, geradeso als klopften seine Füße zu einer Ansprache Churchills den Takt.

Soviel er sehen konnte, hatte es einen intensiven Wiederaufbau gegeben. Man hatte die Bürgersteige neu gepflastert und spindeldürre junge Platanen gepflanzt. Viele Trümmergrundstücke waren geräumt. Der Erdboden war eingeebnet und die alten Ziegelsteine, von denen der Mörtel abgeklopft war, säuberlich aufgeschichtet worden. Selbst den Neubauten haftete, wie seinem eigenen, die Solidität des 19.Jahrhunderts an. Am Ende der Straße schlugen die Stimmen englischer Kinder an sein Ohr. Ein Offizier der Royal Air Force und seine Familie kamen gerade nach Hause – befriedigender Beweis einer eroberten Stadt.

Er erreichte den Reichskanzlerplatz, eine riesige leere Fläche. Im ockerfarbenen Schein der neuerrichteten Straßenlaternen aus Beton erblickte er ein prachtvolles öffentliches Gebäude, das bis auf eine einzige Mauer mit ebenerdigen Fenstern völlig zerstört war. In der Mitte führte ein kurzer Treppenaufgang zu einem großartigen Portal mit kunstvollem Mauerwerk und Giebeldreiecken. Die Tür, die wuchtig gewesen sein mußte, war sauber weggesprengt worden und gab den Blick auf gelegentliche Autoscheinwerfer in der nächsten Straße frei. Es fiel ihm schwer, kein knabenhaftes Vergnügen an den Tausendpfündern zu empfinden, die die Dächer von den Gebäuden abgetragen und deren Inneres zerfetzt hatten, bis nur noch die Fassaden mit ihren gähnenden Fensterhöhlen übrig blieben. Zwölf Jahre früher hätte er womöglich die Arme [15] ausgebreitet, sein Motorengeräusch angestimmt und sich ein, zwei Minuten lang in einen Bomber verwandelt. Er bog in eine Seitenstraße ein und fand eine Eckkneipe.

Das Lokal hallte wider vom Stimmengewirr alter Männer. Zwar war niemand hier unter sechzig, aber als er sich setzte, wurde er nicht weiter beachtet. Die Lampenschirme aus vergilbtem Pergament und Schwaden dichten Zigarrenqualms garantierten ihm Ungestörtheit. Er sah dem Wirt dabei zu, der das Bier zapfte, das er mit seinem sorgfältig eingeübten Sprüchlein bestellt hatte. Der Wirt füllte das Glas, streifte den aufsteigenden Schaum mit einem Spatel ab, füllte nach und ließ das Glas stehen. Dann wiederholte er den Vorgang. Es vergingen beinahe zehn Minuten, bevor man sein Getränk für genießbar befand. Auf einer bescheidenen Speisenkarte in Sütterlinschrift entzifferte er Bratwurst mit Kartoffelsalat und bestellte. Er verhedderte sich mit den Wörtern. Der Kellner nickte und ging sogleich wieder davon, als könne er es nicht ertragen, daß seiner Sprache in einem neuerlichen Anlauf noch mehr Gewalt angetan würde.

Leonard war noch nicht soweit, daß er in die Stille seiner Wohnung zurückkehren konnte. Nachdem er seine Mahlzeit verzehrt hatte, bestellte er ein zweites Bier, danach ein drittes. Während er vor sich hintrank, hörte er der Unterhaltung dreier Männer, die am Tisch hinter ihm saßen, zu. Sie hatte an Lautstärke zugenommen. Er konnte nicht umhin, den dröhnenden Stimmen zu lauschen, die da aufeinanderprallten, nicht mit Widerworten, sondern, wie es schien, einzig in dem Bemühen, dasselbe Argument wirkungsvoller vorzubringen. Zunächst vernahm er nur [16] die übergangslosen Aneinanderreihungen komplizierter Vokale und Silben, die unwiderstehlichen stockenden Rhythmen, das langsame Auffalten deutscher Sätze. Als er sein drittes Glas leerte, wurde sein Deutsch langsam besser, und er konnte einzelne Wörter unterscheiden, deren Bedeutung ihm nach und nach aufging. Beim vierten Bier hörte er schon einzelne Wendungen, die sich ihm auf Anhieb erschlossen. Da er sich ausrechnen konnte, wie lange der Zapfvorgang dauern würde, bestellte er gleich noch einen Halben. Während dieses fünften Biers nahmen seine Deutschkenntnisse rapide zu. Unmißverständlich waren die Worte ›Tod‹, etwas später ›Zug‹ und dann das Verb ›bringen‹. Er hörte, wie in eine Gesprächspause hinein müde das Wort ›manchmal‹ eingeworfen wurde. Manchmal war das eben nötig.

Das Tempo der Unterhaltung erhöhte sich wieder. Es war eindeutig, daß sie von wechselseitigem Auftrumpfen angetrieben wurde. Wer stockte, wurde beiseite gefegt. Die Unterbrechungen klangen brutal, die Stimmen wurden immer heftiger und rechthaberischer, jeder protzte mit noch schöneren Beispielen als sein Vorredner. Das Bier, das zweimal so stark war wie englisches Ale und in Gläsern serviert wurde, die kaum weniger als ein englisches Pintmaß enthielten, erleichterte ihnen ihr Gewissen. Diese Männer schwelgten in Erinnerungen, wo sie vor Entsetzen hätten schaudern sollen. Sie schrien ihre blutigen Untaten in die Schankstube. Mit meinen bloßen Händen! Jeder einzelne schlug sich eine Bresche in den Anekdotentaumel, bis seine Kumpanen ihn niedermachten. Es gab wegwerfende Bemerkungen, böse hingeknurrte Zustimmung. [17] Die anderen Kneipengäste, übers eigene Gespräch gekrümmt, zeigten sich unbeeindruckt. Nur der Wirt blickte von Zeit zu Zeit zu ihnen hinüber, zweifellos nur, um den Bierpegel in ihren Gläsern zu prüfen. Eines Tages werden mir alle dafür dankbar sein. Als Leonard aufstand und der Wirt herüberkam, um die Bleistiftstriche auf seinem Bierdeckel zusammenzurechnen, konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sich umzudrehen und einen Blick auf die drei Männer zu werfen. Sie waren älter, gebrechlicher, als er sie sich vorgestellt hatte. Einer von ihnen nahm ihn wahr, und die beiden anderen wandten sich auf ihren Stühlen zu ihm um. Der erste hob sein Glas mit dem bemüht lustigen Augenzwinkern eines alten Säufers: »Na, junger Mann, bist wohl nicht aus dieser Gegend, wie? Komm her und trink einen mit uns. Ober!« Aber Leonard zählte dem Wirt seine Markstücke in die Hand und tat so, als habe er nichts gehört.

Am nächsten Tag war er schon um sechs Uhr auf, um zu baden. Bei der Wahl seiner Kleidung ließ er sich Zeit und hielt sich mit verschiedenen Grautönen und weißen Geweben auf. Er zog seinen zweitbesten Anzug an, dann zog er ihn wieder aus. Schließlich wollte er nicht so aussehen, wie er am Telefon geklungen hatte. Der junge Mann, der in der Unterhose und dem extradicken Unterhemd, die ihm seine Mutter eingepackt hatte, dastand und die drei Anzüge und das Tweedjackett im Kleiderschrank anstarrte, hatte eine ungefähre Vorstellung von der Macht amerikanischen Stils. Er ahnte, daß seine steifen Manieren lächerlich wirken mußten. Sein englisches Wesen wollte ihm nicht mehr so recht den Trost verschaffen, der noch der [18] vorgehenden Generation vergönnt war. Er kam sich wehrlos vor. Amerikaner hingegen fühlten sich, so wie sie waren, frei und ungezwungen. Er wählte das Sportjackett und eine hellrote Strickkrawatte, die unter seinem handgestrickten hochgeschlossenen Pullover mehr oder weniger verborgen blieb.

Nollendorfstraße 10 war ein hohes, schmales Gebäude, das gerade renoviert wurde. Die Arbeiter, die das Treppenhaus anstrichen, mußten ihre Leitern beiseiteräumen, um Leonard die schmale Treppe hinaufzulassen. Das oberste Geschoß war bereits fertiggestellt und mit Teppichen ausgestattet. Drei Türen gingen auf den Treppenabsatz hinaus. Eine von ihnen stand einen Spaltbreit offen, und Leonard konnte ein Summen hören. Das Geräusch übertönend, rief eine Stimme: »Sind Sie’s, Marnham? Kommen Sie doch herein, Herrgott.«

Er trat ein. Der Raum diente teils als Büro, teils als Schlafzimmer. An einer Wand hing ein großer Stadtplan, darunter stand ein ungemachtes Bett. Glass saß an einem chaotischen Schreibtisch und stutzte sich mit einem elektrischen Rasierapparat den Bart. Mit der freien Hand rührte er Pulverkaffee in zwei Becher mit heißem Wasser. Auf dem Boden stand ein elektrischer Wasserkocher.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Glass. »Werfen Sie das Hemd da aufs Bett. Zucker? Zwei?«

Den Zucker löffelte er aus einer Papiertüte, die Trockenmilch aus einem Glas. Er rührte so heftig, daß der Kaffee auf danebenliegende Papiere schwappte. Sobald die Getränke zubereitet waren, schaltete er den Rasierapparat aus und reichte Leonard seinen Becher. Als Glass sein [19] Hemd zuknöpfte, erhaschte Leonard einen Blick auf einen stämmigen Körper mit drahtigem schwarzem Haarwuchs, der ihm bis über die Schultern reichte. Um einen dicken Nacken knöpfte er einen engen Kragen. Vom Schreibtisch griff er sich einen fertig geknoteten Schlips, dessen Elastikband er im Stehen zuschnellen ließ. Er tat keine Bewegung zuviel. Er nahm sein Jackett von einer Stuhllehne und ging, während er es sich überzog, auf die Wandkarte zu. Der dunkelblaue Anzug war zerknittert und an einigen Stellen so abgetragen, daß er glänzte. Leonard sah ihm zu. Es gab eine Art, Kleider zu tragen, daß diese völlig unerheblich wurden. Man konnte sich alles erlauben.

Glass schlug mit dem Handrücken auf den Plan. »Haben Sie sich schon umgetan?«

Leonard, der sich immer noch nicht zutraute, über sein »Hm, tja, eigentlich nicht« hinwegzukommen, schüttelte den Kopf.

»Ich habe soeben einen Bericht gelesen. Darin steht unter anderem – und es handelt sich um eine reine Vermutung – daß zwischen fünf- und zehntausend Individuen in dieser Stadt nachrichtendienstlich tätig sind, Hintermänner nicht eingerechnet. Allein die Jungs vor Ort. Spione.« Er neigte den Kopf und wies mit dem Bart auf Leonard, bis er mit dessen Reaktion zufrieden war. »Die meisten von ihnen sind freie Mitarbeiter, Halbtagskräfte, junge Burschen, Hundert-Mark-Jungen, die in Bars herumlungern. Für ein paar Bier verkaufen die Ihnen eine Story. Aber sie sind auch Abnehmer. Sind Sie schon im Café Prag drüben gewesen?«

»Nein, noch nicht.«

Glass ging mit großen Schritten wieder an seinen [20] Schreibtisch. Schließlich hatte er für den Stadtplan gar keine Verwendung gehabt. »Da geht’s zu wie auf dem Viehmarkt von Chicago. Sie sollten sich’s mal anschauen.«

Er war etwa einssiebzig, fünfzehn Zentimeter kleiner als Leonard. In seinem Anzug wirkte er wie aufgestaut. Er lächelte, sah dabei aber so aus, als könne er jeden Moment alles kurz und klein schlagen. Als er sich setzte, haute er sich schallend aufs Knie und sagte: »Also, willkommen!« Auch sein Haupthaar war drahtig und dunkel. Die Haare setzten tief in der Stirn an und wallten weit zurück, was ihm das geschraubte Aussehen eines Wissenschaftlers verlieh, der gegen einen starken Wind ankämpft – eine Karikatur. Sein Bart hingegen war unbeweglich und fing das Licht in seinem Gewöll. Er stand keilförmig ab, wie der Bart eines holzgeschnitzten Noah.

Durch die offene Tür gegenüber drang der urinartige Geruch verbrannten Toastbrots herüber, den man von weitem riecht. Glass federte hoch, stieß die Tür zu und kehrte zu seinem Stuhl zurück. Er nahm einen großen Schluck von dem Kaffee, der Leonard selbst zum Schlürfen fast noch zu heiß war. Der Kaffee schmeckte nach gekochtem Grünkohl. Der Trick bestand darin, sich auf den Zucker zu konzentrieren.

Glass lehnte sich in seinem Stuhl vor. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

Leonard berichtete ihm von seiner Besprechung mit Lofting. Seine Stimme hörte sich für ihn zimperlich an. Aus Respekt vor Glass sprach er seine t weicher aus und flachte seine a ab.

[21] »Sie wissen also nicht, was das für Ausrüstung ist oder worin die Test bestehen, die Sie durchführen sollen?«

»Nein.«

Glass lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Dieser blöde Sheldrake. Konnte seinen Arsch nicht still halten, als seine Beförderung durchkam. Jetzt ist niemand da, der für Ihre Sachen verantwortlich ist.« Glass blickte Leonard mitleidig an. »Diese Briten. Es läßt sich einfach nicht erreichen, daß die Jungs vom Stadion auch nur irgend etwas ernst nehmen. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, den Gentleman zu mimen. Kommen ihren Aufgaben nicht nach.«

Leonard sagte nichts. Er glaubte, sich loyal verhalten zu müssen.

Glass hob ihm seinen Becher Kaffee entgegen und lächelte. »Aber ihr Techniker seid da anders, nicht wahr?«

»Vielleicht.«

Während er sprach, klingelte das Telefon. Glass griff nach dem Hörer. Er hörte eine halbe Minute zu und sagte dann: »Nein. Bin schon auf dem Weg.« Er legte den Hörer auf, erhob sich und schob Leonard zur Tür. »Von dem Lagerhaus wissen Sie also nichts? Niemand hat Ihnen gegenüber Alt-Glienicke erwähnt?«

»Leider nicht.«

»Da fahren wir jetzt nämlich hin.«

Sie standen auf dem Treppenabsatz. Glass brauchte drei Schlüssel, um seine Tür abzuschließen. Er schüttelte den Kopf und lächelte in sich hinein, als er murmelte: »Diese Briten, dieser Sheldrake, dieser blöde Sack.«

[22] Zwei

Das Auto war eine Enttäuschung. Auf dem Weg von der U-Bahn zur Nollendorfstraße hatte Leonard einen pastellfarbenen amerikanischen Wagen mit Heckflossen und Zierleisten aus Chrom gesehen. Dieser hier war ein graubrauner, kaum ein Jahr alter Käfer, der allem Anschein nach ein Säurebad hatte über sich ergehen lassen müssen. Der Lack fühlte sich rauh an. Aus dem Wageninneren waren sämtliche Annehmlichkeiten ausgebaut worden: die Aschenbecher, der Fußbodenbelag, die Plastikschalen an den Türgriffen, sogar der Knauf des Schaltknüppels. Der Auspufftopf war defekt, oder es hatte sich jemand daran zu schaffen gemacht, um den Eindruck eines ernstzunehmenden militärischen Fahrzeugs zu verstärken.

Durch ein kreisrundes Loch im Fußboden sah man den Straßenasphalt vorbeihuschen. In dieser alten, dröhnenden Blechkiste schoben sie sich knatternd unter den Brücken des Anhalter Bahnhofs hindurch. Glass’ Fahrweise bestand darin, in den vierten Gang zu schalten und den Wagen wie einen Automatic zu behandeln. Bei dreißig Stundenkilometern vibrierte der Rahmen. Glass drosselte deswegen aber das Tempo nicht, sondern legte erst recht zu: Mit beiden Händen umklammerte er das Lenkrad und musterte grimmig Fußgänger und die anderen Fahrer. Sein Bart stand in die Höhe. Er war Amerikaner, und dies war der amerikanische Sektor.

[23] Als sie auf der breiteren Trasse der Gneisenaustraße entlangfuhren, beschleunigte Glass auf vierzig Stundenkilometer und ließ das Steuerrad mit der Rechten los, um den Stiel des Schaltknüppels zu ergreifen.

»Nun denn«, rief er aus, wobei er sich wie ein Jetpilot tiefer in den Sitz sinken ließ. »Wir fahren Richtung Süden nach Altglienicke. Genau gegenüber dem sowjetischen Sektor haben wir eine Radarstation errichtet. Haben Sie von AN/APR9 gehört? Nein? Das ist ein hochentwickelter Empfänger. Nebenan in Schönefeld haben die Sowjets einen Luftwaffenstützpunkt. Wir fangen ihre Signale auf.«

Leonard fühlte sich beklommen. Er kannte sich mit Radar nicht aus. Sein Fachgebiet war die Fernmeldetechnik.

»Ihre Sachen sind in einem der Räume dort. Sie werden Testgeräte haben. Falls Sie etwas brauchen, geben Sie mir Bescheid, okay? Sie wenden sich an niemanden sonst. Ist das klar?«

Leonard nickte. Er starrte vor sich hin, ihm schwante ein schrecklicher Fehler. Aber er wußte aus Erfahrung, daß es unklug war, Zweifel an einer Vorgehensweise zu äußern, solange es nicht absolut unumgänglich war. Wer sich zurückhielt, machte weniger Fehler, jedenfalls erweckte er den Anschein.

Sie näherten sich einer Ampel. Glass verringerte seine Geschwindigkeit auf fünfundzwanzig Stundenkilometer, bevor er so lange die Kupplung durchdrückte, bis sie zum Stillstand gekommen waren. Dann schaltete er in den Leerlauf. Er drehte sich halb in seinem Sitz herum, um seinen schweigsamen Passagier zu fixieren. »Nun machen [24] Sie schon, Marnham. Leonard. Um Gottes willen, tauen Sie endlich auf. Reden Sie mit mir. So sagen Sie doch etwas!« Leonard wollte schon bemerken, daß er von Radar nichts verstehe, doch hatte Glass bereits zu einer Reihe ungeduldiger Fragen angesetzt: »Sind Sie verheiratet oder was? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Welche Vorlieben haben Sie? Was denken Sie so?« Erst die umspringende Ampel und die Suche nach dem ersten Gang unterbrachen seinen Redefluß.

Auf seine ordentliche Art handelte Leonard die Fragen der Reihe nach ab. »Nein, ich bin nicht verheiratet. Hab’s nicht mal in Betracht gezogen. Ich wohne noch bei meinen Eltern. An der Universität Birmingham habe ich Elektronik studiert. Gestern abend ist mir aufgegangen, daß ich gern deutsches Bier trinke. Und ich denke, wenn Sie jemanden brauchen, der sich mit Radargeräten befaßt…«

Glass hob die Hand. »Reden Sie nicht weiter. Das geht alles auf Sheldrake zurück, auf dieses Arschloch. Wir fahren zu gar keiner Radaranlage, Leonard. Das wissen Sie genauso gut wie ich. Nur haben Sie noch keine Sicherheitsstufe drei. Also fahren wir doch zu einer Radaranlage. Der richtige Schlamassel, die eigentliche Demütigung, erwartet uns am Tor. Man wird Sie nicht durchlassen wollen. Aber das ist meine Sache. Mögen Sie Weiber, Leonard?«

»Also, ja, eigentlich schon, ja bestimmt.«

»Schön. Dann werden wir heute abend gemeinsam etwas unternehmen.«

Innerhalb von zwanzig Minuten gelangten sie aus den Vororten hinaus aufs Land, eine flache, reizlose Gegend. [25] Große braune Felder wurden von Gräben abgeteilt, die mit durchweichtem, verfilztem Gras verstopft waren. Vereinzelt gab es kahle Bäume und Telegrafenmasten. Die Bauernhäuser kauerten sich mit dem Rücken zur Straße in ihre Ländereien. An schlammigen Wegen standen unfertige Neubauten auf neu erschlossenen Feldern – die neuen Vorstädte. Mitten aus einem Feld erhob sich eine halbfertige Mietskaserne. Weiter hinten, gleich am Straßenrand, befanden sich Baracken aus Holzabfällen und Wellblech, die, wie Glass erläuterte, Übersiedlern aus dem Osten gehörten.

Sie bogen in eine schmalere Straße ein, die sich zu einem Fuhrweg verengte. Links davon führte eine frisch asphaltierte Straße entlang. Glass neigte den Kopf zurück und wies mit dem Bart nach vorn. Zweihundert Meter vor ihnen lag, zunächst wegen der kahlen Formen eines dahinter liegenden Obstgartens als Silhouette nicht gut zu erkennen, ihr Ziel. Es löste sich in zwei Hauptgebäude auf. Eines war zweigeschossig und hatte ein sanft geneigtes Giebeldach, das andere, das mit dem ersten einen Winkel bildete, war niedrig und grau wie ein Zellenkomplex. Die Fenster, die eine Linie bildeten, schienen zugemauert. Auf dem Dach des zweiten Gebäudes befand sich eine Traube von vier Kugeln, zwei großen und zwei kleinen, die so aufgestellt waren, daß sie wie ein feister Mann wirkten, der seine feisten Hände ausstreckt. Nahebei standen Radiomasten, deren schönes, geometrisches Maßwerk sich gegen den grauweißen Himmel abhob. Es gab provisorische Gebäude, eine ringförmige Verbindungsstraße und einen Streifen unebenen Geländes, bevor die doppelte [26] Umzäunung begann. Vor dem zweiten Gebäude standen drei Militärlastwagen und Männer in Arbeitsanzügen, die, vielleicht mit Ausladen beschäftigt, emsig umherliefen.

Glass fuhr aufs Bankett und hielt an. Vor ihnen befand sich ein Schlagbaum, daneben stand ein Wachtposten, der sie musterte. »Ich will Ihnen mal was über Stufe eins erzählen. Der Pionier, der das Ganze gebaut hat, erfährt, daß er ein Lagerhaus errichtet, ein richtiges Armeemagazin. Nun sehen aber seine Instruktionen ein Kellergeschoß mit einer 3,65 m hohen Decke vor. Das ist sehr tief. Es bedeutet ungeheure Mengen Erdbewegung, Kipper, die Erde fortschaffen, einen geeigneten Bauplatz und so weiter. So aber baut die Armee kein Lagerhaus. Also verweigert der Kommandant die Ausführung, bis er eine Bestätigung direkt aus Washington erhält. Man nimmt ihn beiseite, da entdeckt er, daß es verschiedene Sicherheitsstufen gibt, und wird auf Stufe zwei angehoben. In Wirklichkeit baut er nämlich überhaupt kein Lagerhaus, wird ihm gesagt, sondern eine Radarstation, und das tiefe Untergeschoß ist für Sonderausrüstung gedacht. Also macht er sich freudig an die Arbeit. Er ist der einzige auf der Baustelle, der Bescheid weiß, wofür das Gebäude wirklich bestimmt ist. Aber er täuscht sich. Wenn er Sicherheitsstufe drei hätte, wüßte er nämlich, daß er es gar nicht mit einer Radarstation zu tun hat. Hätte Sheldrake Sie voll instruiert, wüßten Sie’s auch. Ich selbst weiß es zwar, bin aber nicht befugt, Ihre Sicherheitsstufe anzuheben. Nur ist die Sache die – jeder glaubt, seine Sicherheitsstufe sei die höchste, die es gibt, jeder denkt, seine Version sei die endgültige. Erst in dem Augenblick, wenn man Ihnen [27] davon erzählt, erfahren Sie von der Existenz einer noch höheren Stufe. Es könnte hier ja auch Stufe vier geben. Ich wüßte zwar nicht wie, würde aber auch erst in dem Augenblick davon hören, wenn ich eingeweiht würde. Aber Sie…«

Glass zögerte. Ein zweiter Wachtposten war aus dem Wachlokal getreten und winkte sie zu sich heran. Glass sprach rasch: »Sie haben Stufe zwei, aber Sie wissen, es gibt Stufe drei. Das ist unvorschriftsmäßig, ein Verstoß gegen die Bestimmungen. Da kann ich Sie auch genausogut einweihen. Aber nicht, ohne mich zuerst gehörig abzusichern.«

Glass fuhr vor und kurbelte sein Fenster herunter. Seiner Brieftasche entnahm er eine Karte, die er dem Wachtposten überreichte. Die beiden Männer im Auto starrten auf die Taillenknöpfe am Uniformmantel des Soldaten.

Daraufhin erschien ein freundliches, grobknochiges Gesicht im Fenster und sprach über Bob Glass’ Schoß hinweg Leonard an: »Sie haben etwas für mich, Sir?«

Leonard zog seine Empfehlungsschreiben von der Forschungsanstalt in Dollis Hill hervor. Aber Glass murmelte: »Um Gottes willen, nein«, und schob die Briefe beiseite, so daß der Wachtposten ihrer nicht habhaft wurde. Dann sagte er: »Bewegen Sie sich, Howie. Ich möchte aussteigen.«

Die beiden Männer gingen auf die Wachstube zu. Der andere Wachtposten, der sich vor dem Schlagbaum aufgestellt hatte, hielt sein Gewehr fast wie in Präsentierstellung vor sich aufgepflanzt. Er nickte Glass zu, als dieser vorüberging. Glass und der erste Wachtposten traten in die [28] Stube. Durch die geöffnete Tür konnte man hören, wie Glass telefonierte. Nach fünf Minuten kehrte er zum Auto zurück und sprach durchs Fenster.

»Ich muß hinein und die Sache erklären.« Er wollte schon losgehen, als er sich anders besann und sich wieder ins Auto setzte. »Noch etwas. Die Jungs am Tor wissen von nichts. Sie wissen nicht einmal etwas von einem Lagerhaus. Man hat ihnen erzählt, daß es sich um eine Hochsicherheitsanlage handelt, und die bewachen sie jetzt eben. Vielleicht wissen sie, wer Sie sind, aber nicht, was Sie tun. Also wedeln Sie nicht überall mit Ihren Briefen herum. Überhaupt, geben Sie sie mal her. Ich schick sie im Büro durch den Reißwolf.«

Glass schlug die Tür fest zu und ging davon. Im Gehen stopfte er Leonards Briefe in seine Tasche. Er bückte sich unter dem Schlagbaum hindurch und ging auf das zweistöckige Gebäude zu.

Dann senkte sich eine gelangweilte Sonntagsstille auf Alt-Glienicke herab. Der Wachtposten stand weiterhin mitten auf der Straße. Sein Kollege saß im Wachlokal. Innerhalb der Umzäunung regte sich nichts. Die Lastwagen waren auf der anderen Seite des niedrigen Gebäudes außer Sichtweite geparkt. Das einzige Geräusch war das unregelmäßige Ächzen sich zusammenziehenden Metalls. Die Blechwände des Wagens zogen die Kälte an. Leonard zog seinen Gabardinemantel fester. Er wollte aussteigen und auf- und abgehen, aber der Wachtposten beunruhigte ihn. Leonard schlug die Hände zusammen, versuchte seine Füße vom Metallfußboden fernzuhalten und wartete.

Bald darauf tat sich in dem niedrigen Gebäude eine [29] Seitentür auf, und zwei Männer traten heraus. Einer von ihnen wandte sich um und schloß die Tür hinter sich ab. Beide Männer waren mindestens einsachtzig groß. Sie trugen Bürstenschnitt und graue T-Shirts, die ihnen aus den losen Khakihosen heraushingen. Gegen die Kälte schienen sie unempfindlich. Sie hatten einen orangefarbenen Rugbyball bei sich, den sie einander zuschleuderten, während sie sich voneinander entfernten. Sie liefen immer weiter auseinander, bis der Ball eine unwahrscheinlich weite Strecke zurückzulegen hatte, wobei er sich in hohem Bogen elegant um seine Längsachse drehte. Es war kein beidhändiger Rugbyeinwurf, sondern ein einhändiger Pitch, eine geschmeidige, peitschenartige Bewegung über die Schulter hinweg. Leonard hatte noch nie ein amerikanisches Fußballspiel gesehen, nicht einmal eine Beschreibung davon gehört. Diese Routine, mit der die Fänger ziemlich weit oben, dicht am Schlüsselbein, zupackten, erschien ihm zu überschwenglich, zu selbstverliebt, als daß sie eine ernsthafte Form von Training darstellte. Es handelte sich um eine aufdringliche Zurschaustellung körperlicher Tüchtigkeit. Um erwachsene Männer, die angeben wollten. Ihr einziges Publikum, ein Engländer in einem eiskalten deutschen Kraftwagen, schaute ihnen empört und doch fasziniert zu. Es war wirklich nicht nötig, die ausgestreckte Linke kurz vor dem Wurf so übertrieben zur Geltung zu bringen oder beim Wurf des Mitspielers wie ein Blöder zu johlen. Aber was den orangenen Ball in die Lüfte steigen ließ, war eine jubelnd sich abspulende Kraft, und die Klarheit seiner Fluglinie durch den weißen Himmel, die parabolische Symmetrie seines Aufstiegs und [30] Falls, die Gewißheit, daß er sicher aufgefangen würde, grenzten ans Wunderbare, eine zwanglose Unterminierung der Umgebung – des Betons, des Doppelzauns und seiner zweckmäßigen Y-förmigen Pfähle, der Kälte.

Daß sich zwei Erwachsene in aller Öffentlichkeit so verspielt aufführen konnten, fesselte ihn ebenso wie es ihn irritierte. Zwei britische Feldwebel mit einem Faible für Cricket würden ein ordnungsgemäß angekündigtes Mannschaftstraining abwarten oder selbst aus dem Stegreif ein richtiges Spiel organisieren. Hingegen war dies hier Angeberei, die reinste Kinderei. Sie spielten weiter. Nach fünfzehn Minuten blickte einer der beiden auf seine Uhr. Sie schlenderten zu der Seitentür zurück, schlossen auf und traten ein. Für eine Minute beherrschte ihre Abwesenheit noch den Streifen zwischen dem Zaun und dem niedrigen Gebäude mit dem letztjährigen Unkraut. Dann verblaßte auch dies.

Der Wachtposten ging den gestreiften Schlagbaum entlang und warf einen Blick auf seinen Kameraden in der Wachstube, kehrte zu seiner Ausgangsstellung zurück und stampfte mit den Füßen auf den Beton. Nach zehn Minuten kam Bob Glass aus dem zweigeschossigen Gebäude herausgeeilt. Neben ihm lief ein Captain der amerikanischen Armee. Sie bückten sich unter den Schlagbaum und passierten den Wachtposten zu beiden Seiten. Leonard wollte aussteigen, aber Glass bedeutete ihm, das Fenster herunterzukurbeln. Den Mann stellte er als Major Angell vor. Glass trat zurück, und der Major beugte sich herein und sagte: »Willkommen, junger Mann!« Er hatte ein langes, eingefallenes Gesicht, dem die kurzrasierten [31] Stoppeln eine grünliche Färbung verliehen. Er trug schwarze Lederhandschuhe und reichte Leonard seine Papiere: »Die habe ich vor dem Reißwolf gerettet.« In gespielter Vertraulichkeit senkte er die Stimme: »Bob war ein bißchen übereifrig. Tragen Sie sie aber in Zukunft nicht mehr mit sich herum. Verwahren Sie sie lieber zu Hause. Wir werden Ihnen einen Passierschein ausstellen.« Das Rasierwasser des Majors zog durch das kalte Auto. Es roch nach Zitronensorbet. »Ich habe Bob autorisiert, Sie herumzuführen. Ich bin nicht befugt, Unbedenklichkeitserklärungen außer der Reihe übers Telefon durchzugeben: deswegen bin ich gleich mitgekommen, um selber mit den Jungs hier zu sprechen.«

Er ging auf die Wachstube zu. Glass setzte sich hinters Steuer. Der Schlagbaum hob sich, und als sie darunter durchfuhren, salutierte der Major komisch, indem er nur einen Finger an die Schläfe führte. Leonard wollte schon winken, doch dann kam er sich albern vor, ließ die Hand fallen und zwang sich zu einem Lächeln.

Sie parkten vor dem zweigeschossigen Gebäude neben einem Armeelastwagen. Von irgendwoher drang der Lärm eines Dieselgenerators um die Ecke. Statt Leonard zum Eingang zu führen, lotste Glass ihn am Ellbogen ein paar Schritte übers Gras hinweg zum Zaun und deutete hindurch. Hundert Meter querfeldein beobachteten zwei Soldaten sie durch Feldstecher. »Der sowjetische Sektor. Die Grenzpolizisten observieren uns bei Tag und bei Nacht. Sie interessieren sich sehr für unsere Radarstation. Die tragen alles und jeden in ein Logbuch ein, das ganze Kommen und Gehen. Jetzt haben sie Sie erstmals zu Gesicht [32] bekommen. Wenn sie Sie regelmäßig kommen sehen, erhalten Sie möglicherweise sogar einen eigenen Namen.« Sie gingen wieder zum Wagen zurück. »Also, als allererstes müssen Sie sich einprägen, sich jederzeit so zu verhalten wie der Besucher einer Radarstation.«

Leonard wollte ihn nach den Männern mit dem Ball befragen, aber Glass führte ihn um das Gebäude herum und rief ihm über die Schulter hinweg zu: »Ich wollte Sie zuerst zu Ihren Geräten bringen, aber was soll’s! Ebensogut können Sie auch gleich sehen, was hier gespielt wird.« Sie bogen um eine Ecke und liefen zwischen zwei lärmenden Generatorenwagen hindurch. Glass hielt Leonard eine Tür auf, die auf einen kurzen Korridor führte, an dessen Ende sich eine Tür mit der Aufschrift »Zutritt für Unbefugte verboten!« befand. Es war also doch ein Lagerhaus, eine riesige betonierte Fläche, schwach beleuchtet von Dutzenden nackter Glühbirnen, die von Stahlträgern herabhingen. Trennwände aus verschraubten Metallrahmen teilten die Waren, hölzerne Kisten und Kästen, ab. Ein Ende des Lagerhauses war leer, und Leonard konnte einen Gabelstapler sehen, der auf dem ölverschmierten Boden hin und her fuhr. Er folgte Glass dorthin durch einen Gang mit Kisten, die die Aufschrift »Zerbrechlich!« trugen.

»Ein paar von Ihren Sachen sind noch hier«, sagte Glass. »Aber das meiste befindet sich schon in Ihrem Raum.«

Leonard stellte ihm keine Fragen. Glass genoß ganz offensichtlich, den Schleier eines Geheimnisses nur Schritt für Schritt zu lüften. Auf der freien Fläche blieben sie stehen und sahen dem Gabelstapler zu. Wo er angehalten [33] hatte, lagen säuberliche Stapel gebogener Stahlteile, etwa 30cm breit und einen Meter lang. Jede Menge, vielleicht sogar Hunderte. Einige davon wurden jetzt angehoben.

»Das sind die Stahleinlagen. Sie sind mit Gummilösung besprüht worden, damit sie keinen Lärm machen. Wir können hinterhergehen, nach unten.« Sie liefen hinter dem Gabelstapler her, der über eine Betonrampe ins Kellergeschoß hinabfuhr. Der Fahrer, ein muskulöser kleiner Mann in einem Armeedrillich, wandte sich um und nickte Glass zu. »Das ist Fritz. Bei uns heißen sie alle Fritz. Einer von Gehlens Leuten. Sie wissen doch, wen ich meine?« Leonards Antwort wurde von dem Gestank erstickt, der ihnen von unten in die Nase stieg. Glass fuhr fort: »Fritz war Nazi. Das waren zwar die meisten von Gehlens Männern, aber dieser Fritz hier war ein richtiges Ungeheuer.« Dann nahm er, ganz der geschmeichelte Gastgeber, mit einem abwehrenden Lächeln Leonards Reaktion auf den Geruch zur Kenntnis: »Jaja, das ist eine lange Geschichte. Ich erzähle Ihnen später davon.«

Der Nazi hatte seinen Gabelstapler in eine Ecke des Kellergeschosses gefahren und den Motor abgestellt. Leonard blieb mit Glass am Fuß der Rampe stehen. Der Geruch kam von einem Erdhügel, der zwei Drittel des Kellerbodens bedeckte und bis zur Decke gehäuft war. Leonard dachte an seine Großmutter, freilich nicht so sehr an sie selbst als vielmehr an den Abtritt, der unter einem Pflaumenbaum am Ende ihres Gartens stand. Darin war es genauso düster wie hier. Die hölzerne Klobrille hatte sich am Rand abgenutzt und war fast weißgeschrubbt. Durch die Öffnung stieg der gleiche Geruch herauf, gar nicht [34] einmal übermäßig unangenehm, außer im Sommer. Erde, eine dunkle Feuchtigkeit und Scheiße, die auch Chemikalien nicht ganz neutralisiert hatten.

Glass sagte: »Das ist noch gar nichts gegen früher.«

Der Gabelstapler stand am Rand einer gut ausgeleuchteten Grube von etwa sieben Meter Tiefe und ebenso viel Durchmesser. An einem der Spundpfähle, die in den Boden des Schachts gerammt worden waren, hatte man eine Leiter mit eisernen Sprossen festgeschraubt. Am unteren Ende der Schachtwandung hatte man ein schwarzes rundes Loch ausgehoben, den Eingang zu einem Tunnel. Von oben führten diverse Kabel und Drähte hinein. Es gab ein Belüftungsrohr, das an eine direkt vor der Kellerwand aufgestellte lärmende Pumpe angeschlossen war, Telefondrähte, ein dichtes Gewirr von Elektrokabeln und einen mit Zement bespritzten Schlauch, der zu einer anderen, kleineren Maschine führte, welche lautlos neben der ersten stand.

Am Rand der Grube hielt sich eine Gruppe von vier oder fünf jener kräftig gebauten Männer auf, die Leonard später als Tunnelsergeanten kennenlernen sollte. Einer von ihnen widmete sich einer am Rand aufgestellten Winde, ein anderer sprach in ein Feldtelefon. Er hob träge seine Hand in Glass’ Richtung, dann wandte er sich wieder um und sprach weiter: »Du hast gehört, was er gesagt hat. Du befindest dich genau unter ihren Füßen. Nimm das Ding langsam auseinander, aber um Himmels willen, schlag nicht damit an.« Er lauschte und fuhr dem anderen ins Wort: »Wenn du – hör mir zu, hör mir zu, nein, hör zu, hör zu – wenn du verrückt spielen willst, dann komm [35] hoch und reg dich hier oben ab.« Er legte den Hörer auf und sagte über die Grube hinweg zu Glass: »Die Scheißwinde klemmt schon wieder. Zum zweiten Mal heute morgen.«

Glass machte Leonard nicht mit den Männern bekannt, und diese zeigten sich an seiner Gegenwart auch nicht weiter interessiert. Als er um den Schacht herumstieg, um besser sehen zu können, war er wie unsichtbar. So sollte es immer sein, und bald machte er es sich selbst zur Gewohnheit, die Leute nicht anzusprechen, es sei denn, ihre Arbeit hing mit seiner eigenen zusammen. Diese Vorgehensweise speiste sich teils aus Sicherheitserwägungen, teils entsprang sie, wie er später herausfand, einer gewissen mannhaften Verherrlichung von Kompetenz, die es einem gestattete, an Unbekannten vorüberzueilen und an ihnen vorbeizureden.

Er war am Rand der Grube entlanggegangen und wurde Zeuge eines Wortwechsels. Aus dem Tunnel war eine kleine Lore im Schacht aufgetaucht, auf der eine mit Erde gefüllte rechteckige Holzkiste stand. Der bis zur Taille nackte Mann, der den Wagen schob, hatte dem Mann an der Winde etwas zugerufen, dieser hatte sich jedoch geweigert, das Stahlkabel mit dem Haken hinabzulassen. Er rief hinunter, daß es sinnlos sei, die Stahleinlagen zur Tunnelöffnung hinabzuschicken, wenn die hydraulische Winde klemme. Der Gabelstapler im Kellergeschoß könne nicht entladen und daher könne auch nicht die Kiste mit Erde fortgeschafft werden, falls man sie heraufhole. Da könne man sie ebensogut dort stehen lassen, wo sie war.

Der Mann im Schacht, von den Lampen geblendet, die auf ihn herabgleißten, kniff die Augen zusammen. Er hatte [36] nicht richtig verstanden. Der Mann an der Winde wiederholte seine Erklärung. Der Tunnelgraber schüttelte den Kopf und stemmte seine Hände, die sehr groß waren, in die Hüften. Die Kiste könne durchaus hochgewinscht und so lange abgestellt werden, bis der Gabelstapler soweit sei.

Der Windenmann hatte seine Antwort parat. Er wolle die Zeit dazu nutzen, das Getriebe der Winde nachzuprüfen. Der Mann in der Grube sagte, das könne er doch, verflucht noch mal, auch tun, wenn die Kiste oben sei. Nein, das könne er eben verdammt nochmal nicht.

Der Tunnelarbeiter drohte, er werde gleich mal raufkommen; dem Windenmann war es egal, er stehe ihm zur Verfügung.

Der Mann in der Grube starrte aus halbgeschlossenen Augen zornig zur Winde empor. Dann kam er gelenkig die Sprossen hochgeklettert. Bei dem Gedanken an eine Prügelei wurde Leonard schlecht. Er sah Glass an. Dieser hatte die Arme verschränkt und hielt den Kopf geneigt. Der Mann war am oberen Ende der Leiter angelangt und ging hinter der Ausrüstung am Grubenrand entlang auf die Winde zu. Der Mann an der Winde dachte überhaupt nicht daran, von seiner Arbeit aufzublicken.

Langsam und scheinbar zufällig schoben sich die anderen Sergeanten in den geringer werdenden Zwischenraum, der die beiden Männer noch trennte. Ein besänftigendes Stimmengewirr erhob sich. Der Tunnelgräber schleuderte dem Windenmann, der mit einem Schraubenzieher am Motor herumhantierte und nichts erwiderte, eine Reihe von Flüchen entgegen: das Ritual zur Entladung der Spannung. Der aufgebrachte Mann ließ sich von den anderen [37] überreden, die Windenpanne zu seinem eigenen Vorteil zu nutzen und eine Pause einzulegen. Schließlich trollte er sich in Richtung Rampe, brummelte immer noch vor sich hin und trat gegen einen losen Stein. Sein Abgang löste keine Reaktion aus. Der Mann an der Winde spuckte in den Schacht.

Glass faßte Leonard beim Ellbogen. »Die schuften schon seit letztem August, Acht-Stunden-Schichten rund um die Uhr.«

Durch einen Verbindungsgang liefen sie zum Verwaltungsgebäude. Vor einem Fenster hielt Glass an und deutete erneut auf den Beobachtungsposten hinter der Umzäunung. »Ich will Ihnen zeigen, wie weit wir schon gekommen sind. Sehen Sie dort, hinter den Grenzposten befindet sich ein Friedhof. Unmittelbar dahinter stehen Militärfahrzeuge. Sie parken auf der Hauptstraße, der Schönefelder Chaussee. Wir graben genau unter ihnen und sind eben dabei, die Straße zu unterqueren.«

Die ostdeutschen Lastwagen waren etwa dreihundert Meter entfernt. Auf der Chaussee konnte Leonard Verkehr ausmachen. Glass ging weiter, und Leonard war erstmals verärgert über seine Methoden.

»Mr.Glass…«

»Bob, bitte.«

»Wollen Sie mir bitte sagen, was das alles soll?«

»Aber gewiß doch. Das geht Sie schließlich am meisten an. Im Straßengraben auf der anderen Seite der Straße sind die Erdkabel der Sowjets verbuddelt, die sie mit ihrem Oberkommando in Moskau verbinden. Sämtliche Ferngespräche zwischen den osteuropäischen Hauptstädten werden über Berlin abgewickelt. Ein Überbleibsel des alten [38] Reichspostzentralamts. Ihre Aufgabe ist es, nach oben zu graben und die Leitungen anzuzapfen. Wir sorgen für den Rest.« Glass ging weiter und trat durch zwei Pendeltüren in einen mit Neonbeleuchtung und einem Coca-Cola-Automaten ausgestatteten Aufenthaltsraum, in dem Schreibmaschinengeklapper zu hören war.

Leonard zupfte Glass am Ärmel. »Schauen Sie, Bob. Ich kenne mich nicht aus mit Gräben, und was das eigentliche Anzapfen angeht… und den Rest…«

Glass juchzte vor Schadenfreude. Er hatte einen Schlüssel hervorgeholt. »Sehr komisch! Ich meine doch die Briten, Sie Nulpe! Hier drin ist Ihre Arbeit.« Er schloß die Tür auf, griff hinein, knipste das Licht an und ließ Leonard den Vortritt.

Der Raum war groß und fensterlos. Vor die eine Wand hatte man zwei Zeichentische geschoben, auf denen einfache Strommeßgeräte und ein Lötkolben lagen. Den Rest der Fläche nahmen identische Pappkartons ein, die sich in Zehnerreihen bis unter die Decke stapelten.

Glass versetzte dem vordersten Karton einen leichten Tritt. »Einhundertundfünfzig Ampex-Magnettongeräte. Ihre erste Aufgabe besteht darin, die alle auszupacken und die Kartons loszuwerden. Draußen steht eine Verbrennungsanlage. Sie werden dazu zwei bis drei Tage benötigen. Als nächstes brauchen Sie für jedes Gerät einen Stecker, danach muß es getestet werden. Ich werde Ihnen zeigen, wie man Ersatzteile bestellt. Verstehen Sie etwas von Signalaktivierung? Gut. Die Dinger müssen nämlich alle umgestellt werden. Dazu werden Sie eine Weile brauchen. Danach könnten Sie dabei helfen, die Schaltkreise an [39] die Verstärker anzuschließen. Dann die Installierung. Wir sind immer noch beim Graben, also lassen Sie sich ruhig Zeit. Bis April wollen wir die Sache aber in Gang kriegen.«

Unerklärlicherweise fühlte Leonard sich beschwingt. Er hob ein Ohmmeter auf, ein deutsches Fabrikat, mit braunem Bakelit verkleidet. »Für niedrige Widerstände brauche ich aber ein präziseres Meßgerät. Und Belüftung. Schwitzwasserbildung könnte hier drinnen zum Problem werden.«

Glass hob wie zum Zeichen der Anerkennung seinen Bart und gab Leonard einen leichten Klaps auf den Rücken. »So ist’s recht! Stellen Sie nur unverschämte Forderungen. Wir alle werden Sie dafür zu schätzen wissen.«

Leonard sah auf, um seinen Gesichtsausdruck nach Ironie abzusuchen, doch Glass hatte bereits das Licht ausgeschaltet und hielt ihm die Tür auf.

»Morgen früh fangen Sie damit an. Punkt neun Uhr. Jetzt setzen wir erst einmal unseren Rundgang fort.«

Leonard sah nur noch die Kantine, in die aus einer nahegelegenen Kaserne warme Mahlzeiten herbeigeschafft wurden, Glass’ Büro und schließlich die Duschräume und die Toiletten. Die Vorführung dieser Einrichtungen bereitete dem Amerikaner mindestens ebenso großes Vergnügen. Feierlich warnte er davor, daß die Toiletten sehr leicht verstopft seien.

Sie blieben vor den Urinalen stehen, und Glass erzählte ihm eine Geschichte, die er, sobald jemand eintrat (was zweimal passierte) geschickt in belangloses Geplauder übergehen ließ. Aufklärungsflüge hatten ergeben, daß der Grund und Boden, der am gründlichsten entwässert war [40] und sich damit für eine Untertunnelung am besten eignete, jenseits des Friedhofs auf der Ostseite lag. Nach langen Erörterungen wurde die geplante Tunnelstrecke aufgegeben. Früher oder später würden die Russen den Tunnel entdecken. Es war unsinnig, ihnen zu einem Propagandasieg zu verhelfen: Horrorgeschichten von Amerikanern, die deutsche Gräber entweihten. Und den Sergeanten war auch nicht gerade daran gelegen, daß direkt über ihren Köpfen Särge zu Staub zerfielen. Also legte man den Tunnel nördlich vom Friedhof an. Aber dann stieß man während des ersten Grabungsmonats auf Wasser. Die Ingenieure sprachen von einem hohen Grundwasserspiegel. Die Sergeanten sagten, kommt doch runter und riecht selbst. Bei dem Versuch, den Friedhof zu umgehen, hatten die Planer den Tunnel genau durch die Sickerzone ihrer eigenen Fäkaliengrube geleitet. Aber für eine Kursänderung war es da schon zu spät.

»Sie glauben ja nicht, durch was für Scheiße wir uns hindurchbuddeln mußten, und noch dazu unsere eigene! Ein verwesender Leichnam wäre nichts dagegen gewesen. Na, die Wutausbrüche hätten Sie mal hören sollen.«

In der Kantine, einem hellen Saal mit langen Reihen von Resopaltischen und Zimmerpflanzen unter den Fenstern, aßen sie zu Mittag. Glass bestellte für jeden von ihnen ein Steak mit Pommes frites – die größten Fleischstücke, die Leonard jemals außerhalb eines Fleischerladens gesehen hatte. Seines hing über den Tellerrand; am nächsten Tag sollte ihm sein Kiefer immer noch wehtun. Als er um Tee bat, rief er Bestürzung hervor. Man war schon drauf und dran, eine Suche nach Aufgußbeuteln einzuleiten, die der [41] Koch unter den Beständen vermutete, da schützte Leonard eine Sinnesänderung vor. Er nahm das gleiche wie Glass – eiskalte Limonade, die er wie sein Gastgeber aus der Flasche trank.

Später, auf dem Weg zum Auto, fragte Leonard, ob er die Schaltpläne für die Ampex-Geräte mit nach Hause nehmen dürfe. Er stellte sich schon vor, wie er sich auf dem Armeesofa zusammenrollte und im Schein der Lampe vor sich hin las, während sich die Düsternis des Nachmittags auf die Stadt herabsenkte. Sie wollten gerade das Gebäude verlassen.

Glass war ernstlich verärgert. Er blieb stehen, um sich unmißverständlich auszudrücken. »Sind Sie verrückt? Nichts, aber auch gar nichts, was mit Ihrer Arbeit zu tun hat, wandert zu Ihnen nach Hause. Verstanden? Kein einziger Schaltplan, keine Notizen, nicht mal ein Scheißschraubenzieher. Ist das klar?«

Die vulgäre Sprache ließ Leonard zusammenzucken. In England nahm er sich die Arbeit mit nach Hause, hatte sie sogar, wenn er mit seinen Eltern Radio hörte, auf dem Schoß liegen. Er schob die Brille wieder hoch. »Ja, selbstverständlich. Entschuldigung!«

Als sie ins Freie traten, blickte Glass sich um, um sicherzugehen, daß niemand in der Nähe war. »Diese Operation kostet die Regierung, die US-Regierung, zig Millionen Dollar. Eure Leute leisten einen nützlichen Beitrag, besonders beim Schachtbau. Ihr habt auch die Glühbirnen geliefert. Aber wissen Sie was?«

Sie standen auf beiden Seiten des Käfers und blickten sich über das Dach hinweg an. Leonard fühlte sich dazu [42] verpflichtet, seinem Gesicht einen fragenden Ausdruck zu verleihen. Er wußte es nicht.

Glass hatte die Fahrertür noch nicht aufgeschlossen. »Ich will’s Ihnen verraten. Alles Politik. Meinen Sie denn, wir könnten die Leitungen nicht selbst anzapfen? Glauben Sie etwa, wir hätten nicht selbst Verstärker? Daß wir euch mitmachen lassen, ist doch reine Politik. Angeblich haben wir ja mit euch ein Verhältnis besonderer Art!«

Sie stiegen ein. Leonard sehnte sich danach, allein zu sein. Die Anstrengung, höflich zu sein, empfand er als drückend, Aggressivität kam für ihn aber nicht in Frage.

Er sagte: »Es ist sehr nett von Ihnen, Bob. Danke.« Die Ironie kam nicht an.

»Sie brauchen mir nicht zu danken«, sagte Glass und ließ den Motor an. »Aber bringen Sie uns bloß nicht unser Sicherheitssystem durcheinander. Geben Sie acht, was Sie sagen, mit wem Sie verkehren. Denken Sie an Ihre Landsleute Burgess und Maclean.«

Leonard wandte sich ab und sah aus dem Fenster. Er spürte, wie sein Hals und sein Gesicht vor Ärger glühten. Sie passierten das Wachlokal und tuckerten auf die offene Straße hinaus. Glass kam auf andere Dinge zu sprechen – gute Restaurants, die hohe Selbstmordrate, die neueste Entführung, die Berliner Leidenschaft fürs Okkulte. Leonard schmollte und antwortete nur einsilbig. Sie fuhren an den Flüchtlingsbaracken und an den Neubauten vorbei, und bald waren sie wieder in der verwüsteten Stadt des Wiederaufbaus. Glass bestand darauf, ihn bis zur Platanenallee zu bringen. Er wollte die Strecke kennenlernen und fühlte sich »aus beruflichen und [43] technischen Gründen« bemüßigt, die Wohnung in Augenschein zu nehmen.