Unter den Augen Tzulans - Markus Heitz - E-Book
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Unter den Augen Tzulans E-Book

Markus Heitz

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Beschreibung

Nach der grausamen Schlacht von Telmaran befürchtet man in Ulldart, dass sich die alte Prophezeiung endgültig bewahrheitet. Denn Lodrik ist noch immer dem Einfluss dämonischer Kräfte ausgeliefert, und seine alten Verbündeten fristen ihr Dasein in den Gefängnissen von Tarpol. Da taucht überraschend ein Junge auf: Es ist Lodriks Sohn Lorin, dem es vorherbestimmt ist, sich gegen die Mächte der Finsternis zu stellen. Doch kommt seine Hilfe zu spät?

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      ISBN 978-3-492-95055-8 Januar 2017

Erstmals erschienen:

Ullstein Heyne List GmbH & Co. KG, München 2003

© Piper Verlag GmbH, München 2005

Umschlagkonzeption: semper smile, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München nach einem Entwurf

von Nele Schütz Design, München

Umschlagabbildung: Ciruelo Cabral, Barcelona

Karten: Erhard Ringer

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck  

ULSAR

LODRIK BARDRI¢: Kabcar von Tarpol

ALJASCHA RADKA BARDRI¢: Großcousine Lodriks, Vasruca von Kostromo und Gemahlin

MORTVA NESRECA: Berater

HEMERÒC: Handlanger Nesrecas

PAKTAÏ: Handlangerin Nesrecas

GOVAN, ZVATOCHNA, KRUTOR: Drillingskinder Lodriks

TOKARO: Rennreiter im Dienst Lodriks

OPPOSITION

STOIKO: Freund, Vertrauter und Diener des Kabcar

WALJAKOV: Freund und Leibwächter des Kabcar, ehemaliger Scharmützelkämpfer und K’Tar Tûr

LORIN: Sohn Lodriks und Norinas

HETRÁL: turîtischer Meisterschütze, Verteidiger von Windtrutz

BRUDER MATUC: Mitglied des Ulldrael-Ordens

BELKALA: Priesterin des Gottes Lakastra

NERESTRO VON KURASCHKA: Mitglied des Angor-Ordens der Hohen Schwerter

TORBEN RUDGASS: Freibeuter

VARLA: Piratin, seine Geliebte

FAJTA: Schicksalsleserin

SOSCHA: Medium

KÖNIG PERDÓR: Herrscher von Ilfaris

FIORELL: Hofnarr und Vertrauter Perdórs

MOOLPÁR DER ÄLTERE UND VYVÚ AIL RA’AZ: kensustrianische Botschafter

KALISSTRON

BLAFJOLL: Walfänger

KALFAFFEL: Cerêler (Bürgermeister)

TJALPALI: Kalfaffels Frau

STÁPA: Stadtälteste

JAREVRÅN: Stápas Nichte

ARNARVATEN: Geschichtenerzähler

KIURIKKA: Kalisstra-Priesterin

WEITERE

PASHTAK: Sumpfkreatur und Inquisitor

SINURED: Kriegsfürst

OSBIN LEOD VARÈSZ: Stratege Sinureds

WIDOCK: Handlanger von Varesz

Kontinent Ulldart, Königreich Aldoreel, fünf Meilen nördlich von Telmaran, Winter 443/444 n. S.

Langsam löste sich der halb volle Silberpokal aus der erschlaffenden Hand und fiel mit einem dumpfen Poltern auf die gestampfte Erde der großen Halle. Er rollte ein wenig zur Seite, wobei sich der letzte Rest des Weins auf den Boden ergoss, und lag dann still. Rot wie Blut sammelte sich der vergorene Traubensaft in kleinen Lachen, den schwachen Schein der erlöschenden Flammen reflektierend.

Die beinahe zu Asche verbrannten Baumstämme im offenen Kamin spendeten nur noch ein kraftloses Glühen, das nicht ausreichte, den riesigen Raum zu erhellen. Knackend und Funken sprühend brachen die schwarzen Trümmer in sich zusammen.

Die zusammengesunkene Gestalt in dem Sessel vor der Feuerstelle reagierte nicht.

Der Kopf mit den blonden Haaren hing auf der Brust, die Augen waren geschlossen, der rechte Arm pendelte von der Lehne herab. Die linke Hand umklammerte eine leere Flasche Wein, zu den Füßen des Mannes lagen drei weitere neben dem unordentlich abgelegten Brustharnisch.

Der Schläfer murmelte etwas, dann zuckte sein Stiefel nach vorne. Klirrend stießen die getroffenen Flaschen aneinander, aber auch dieser Laut weckte ihn nicht aus dem gnadenlosen Traum. Ein Traum, der ihm die Gesichter der vielen namenlosen Toten, die er verschuldet hatte, vor Augen hielt. Er hörte die Schreie der Brennenden, der Ertrinkenden, die Hilferufe und die Verwünschungen, die seinen Namen für alle Ewigkeiten verfluchten.

Eine zweite, völlig verdreckte Gestalt kam lautlos hinter einer Säule zum Vorschein.

Vorsichtig sah sie sich im dunklen Raum um, immer auf der Hut vor einem möglichen Wächter oder einem überraschenden Angriff.

Sie verzichtete darauf, näher an den Stuhl mit dem blonden, jungen Mann heranzugehen, nahm stattdessen einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Millimeter für Millimeter zog der Schütze die geflochtene Schnur zurück und visierte das Herz des Schlafenden an. Als er sich ganz sicher war, dass die Spitze ihr Ziel nicht verfehlen würde, gaben seine Finger die Sehne frei.

Zischend durchschnitt das Geschoss die Luft und stieß eine Armlänge vor der ungeschützten Brust gegen ein unsichtbares Hindernis. Der Pfeil hing für einen Lidschlag bewegungslos und fiel dann zu Boden.

Im gleichen Moment öffnete der Mann im Sessel die dunkelblauen, vom Alkohol getrübten Augen.

»Ihr hättet in Granburg auf mich schießen sollen«, sagte Lodrik mit schwerer Zunge in die Schatten. »Nun werdet Ihr kein Glück mehr haben, Meister Hetrál. Meine Magie ist zu mächtig, als dass eine Stahlspitze mir gefährlich sein könnte.«

Ein zweiter Pfeil flog heran und erlitt das gleiche Schicksal wie der erste.

Schwankend erhob sich der Kabcar von Tarpol und Tûris. »Oh, wie dankbar wäre Euch heute Ulldart, wenn Ihr damals den Auftrag Kolskois angenommen und mich ermordet hättet, als ich noch ein kleiner Junge war. Ein Gouverneur.« Lodrik lachte leise und stieß geräuschvoll Luft aus. »Und nun seht, was ich heute bin, Meister Hetrál. Ein Held. Ein Herrscher, der sein Volk ein weiteres Mal vor anmaßenden Angreifern gerettet hat. Und vermutlich die Dunkle Zeit brachte, samt Sinured.« Er zog sein Henkersschwert, die Gravuren blitzten auf. »Nun denn. Ich gebe Euch die Gelegenheit, mich im Zweikampf zu stellen. Nur Ihr und ich. Obwohl es ein Verräter wie Ihr nicht verdient hat.«

Der junge Mann taumelte in Richtung des Turîten, die Schneide schleifte über die Erde.

Hetrál warf den Bogen zur Seite und zückte ebenfalls seine Waffe. Als er den jungen Telisor vor wenigen Stunden gegen die Übermacht stürmen sah, wusste er, das Geeinte Heer würde einen zweiten Aufgang der Sonnen nicht mehr erleben. Und er hatte bemerkt, dass sich Lodrik in die Soldatenstadt zurückzog. Er war ihm, von den Wachen unbemerkt, gefolgt, anstatt sich in einen sicheren, sinnlosen Tod zu stürzen. Vielleicht ließe sich weiteres Unglück verhindern.

Aufmerksam verfolgte er die Bewegungen des Betrunkenen.

»Ich weiß, was Ihr denkt, Meister Hetrál«, lallte Lodrik und strich sich die offenen Haare aus dem Gesicht. »Ihr denkt, wenn Ihr mich nun tötet, bevor das Jahr 444 beginnt, wird die Dunkle Zeit nicht anbrechen. Und Ihr hofft auf ein Wunder von Ulldrael.« Der Kabcar gluckste. »Der Gerechte, wie das Volk ihn nennt.« Er fixierte mit schwerem Blick die braunen Augen des stummen Meisterschützen. »Nennt Ihr das gerecht, was sich ein paar Meilen von hier ereignet hat? Und warum hat Euch Euer Gott nicht beigestanden, wenn Ihr doch für das Gute siegen wolltet?« Er schlug ungezielt nach Hetrál, die Wucht riss ihn nach vorne und ließ ihn stolpern. »Wo war Euer Gott?«, spie er ihn an. »Ich wollte euch gehen lassen, und ihr Wahnsinnigen rennt gegen meine Soldaten an, die nur darauf gewartet haben, das Blut fließen zu lassen.« Der Kabcar lehnte sich an eine Säule. »Ich habe Euch das Leben geschenkt. Wie ein Gott. Und Ihr hattet nichts Besseres damit zu tun, als es wegzuwerfen.« Das Blau seiner Augen bekam einen starren Ausdruck. »Ich bin das Gute. Sonst wäre ich heute der Unterlegene gewesen, oder?« Der Turît sprang vor und stieß zu, geistesgegenwärtig parierte Lodrik den Stich und packte den Schwertarm des Mannes. »Oder?«, schrie er ihm ins Gesicht. »Und wenn ich nicht das Gute bin, warum bin ich nicht vernichtet worden?«

Hetrál rammte dem jungen Kabcar die Schulter ins Gesicht.

Lodrik taumelte gegen den Pfeiler, Blut sickerte ihm aus Mund und Nase. Augenblicklich setzte der Kämpfer nach, die Opfer der Verbotenen Stadt und des Gemetzels vor wenigen Stunden in bester Erinnerung. Den Mund zu einem stummen Schrei geöffnet, hieb er mit beiden Händen zu.

Lodriks Rechte vollführte eine knappe Geste. Dunkelblaue Energieströme entwichen aus den Fingerspitzen und trafen den Turîten mitten auf die Brust. Die magische Kraft hob ihn empor und schleuderte ihn zwanzig Fuß durch den Raum, bevor er schwer zu Boden stürzte. Kleine Blitze umspielten seinen Leib, bevor sie sich in die gestampfte Erde entluden. Die getroffene Körperstelle qualmte, die Kleidung war verbrannt, die Haut darunter schlug Blasen.

»Wenn Ulldrael mich als das Böse sieht, warum verliert Ihr gegen mich?«, fragte der Kabcar düster. »Ihr seid gegen den Falschen geritten. Ihr seid Einflüsterungen eines falschen Gottes erlegen.« In einer Mischung aus Verzweiflung und Wut schleuderte er das Henkersschwert von sich. »Ulldrael der Ungerechte, nicht wahr? Das denkt Ihr doch gerade?«

Hetrál stemmte sich auf die Beine, sein Gesicht war vor Schmerzen verzerrt. Er konnte nicht gegen ihn gewinnen,erkannte er resigniert und suchte nach einem Ausgang. Nicht so, nicht hier.

Die Verbrennungen ließen ihn beinahe keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es schien ihm, als würden sich die Strahlen in seinem Körper weiterfressen. Der Meisterschütze schüttelte den Kopf und wankte auf ein Fenster zu.

»Flucht, Meister Hetrál?«, rief Lodrik voller Hohn. »Habt Ihr Euren Fehler eingesehen? Dann stellt Euch auf meine Seite.« Der junge Herrscher schwankte auf ihn zu, und so etwas wie Hoffnung legte sich auf das Gesicht. »Bitte, Meister Hetrál. Ich bin doch derjenige, der im Recht ist, nicht die anderen. Ich kann Euch die Taten in der Verbotenen Stadt verzeihen. Bleibt bei mir und helft mir, die anderen zu überzeugen.« Lodrik streckte die Hand aus, die rot geäderten Augen sahen ihn bittend an.

Der Turît drückte das Fenster auf, um die große Halle zu verlassen, bevor die Leibwächter des Kabcar erschienen. Er spie Lodrik vor die Füße und lief hinaus in die schützende Nacht.

Mit einem Schrei zog der Kabcar die Pistolen aus dem Gürtel und feuerte sie ab. Krachend zündete das Pulver und schickte Hetrál die Bleikugeln hinterher. In dem Moment stürmten die Wachen in die Große Halle und machten sich auf den Wink ihres Herrn an die Verfolgung des Attentäters. Wie weiße Wattebäusche standen die Qualmwolken im Saal, bevor der Nachtwind sie auflöste.

Bedienstete brachten Fackeln in den riesigen Saal, während der junge Herrscher zurück zu seinem Sessel wankte. Die Schusswaffen klemmte er umständlich in das Polster.

Mortva Nesreca und Osbin Leod Varèsz erschienen, sein Vetter in Uniform, sein Stratege mit der gespaltenen Unterlippe in voller Rüstung und mit neuen, noch blutigen Trophäen am Helm. In ihrem Gefolge befanden sich zahlreiche Krieger sowie ein Dutzend Gefangene, darunter erschöpfte Kämpfer, die recht teure Kleidung trugen.

»Hoher Herr.« Sein Konsultant verneigte sich zur Begrüßung. Dabei fiel sein Blick auf die vier leeren Weinflaschen. »Habe ich eben Schüsse gehört?«

»Nicht so wichtig«, wiegelte der Kabcar ab, sein Ellenbogen rutschte von der Lehne, und unbeholfen richtete er sich wieder auf. Ein Rülpsen entwich ihm. »Ein alter Bekannter, der mich umbringen wollte. Aber ich habe ihn in die Flucht geschlagen. Und wer ist das?«, wollte er gelangweilt wissen.

»Ihr habt gesiegt. Hier bringen wir Euch die Letzten des Geeinten Heeres. Ein paar Offiziere, den Großmeister der Hohen Schwerter und andere.« Die Soldaten zerrten drei Männer unterschiedlichen Alters nach vorne. »Aber das sind die Wichtigsten. Darf ich Euch mit König Tarm von Aldoreel, seinem Sohn Telisor und dem Heerführer Tersions, J’Maal, bekannt machen?« Mortva wich ein wenig zur Seite, um den Blick freizugeben.

»Ach ja. Die Schlacht.« Lodrik stemmte sich aus dem Sitz und nahm sein Henkersschwert, das ihm ein Diener reichte, in die Rechte. Kalt musterte er die dreckigen, teilweise schwer verwundeten Männer, sein Atem kam stoßweise, und ihm war furchtbar schlecht. Es gurgelte gefährlich in seiner Kehle. »Ihr falschen Helden seid mir so gleichgültig«, sagte er nach einer Weile langsam und schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur noch in Frieden leben und vergessen. Und ihr seid mir dabei im Weg.«

»Und deshalb werdet Ihr uns nun töten?«, sagte Telisor verächtlich. »Ihr seid ein feiner Kabcar. Bringt tausendfachen heimtückischen Tod über die, die das Tier aufhalten wollten.«

Lodriks Augen verengten sich. »Ich kenne Euch. Ihr seid der Idiot, der das Geeinte Heer in den Tod getrieben hat.« Nach kurzem Schweigen schlug der Kabcar dem Königssohn die flache Hand ins Gesicht. »Ich beherrsche das Tier. Und Ihr hättet verhandeln sollen. Mehrfach gab ich Euch die Gelegenheit. Aber stattdessen habt Ihr meine Unterhändler umgebracht. Selbst auf dem Schlachtfeld wolltet Ihr meine Gnade nicht annehmen. Kein Wunder, dass Ulldrael der Gerechte nichts, aber auch gar nichts tat, um Euch zu retten. Ihr seid verdorbene, anmaßende Menschen.« Wehleidig sah er zu Mortva hinüber. »Mir ist übel, Vetter. Erledigt das hier für mich.« Mit einem unsicheren Ausfallschritt verhinderte er, dass er zur Seite fiel.

»Wir haben Eure Gesandten nicht …«, widersprach Tarm, dem ein Kolbenhieb die Schulter durch das Kettenhemd zertrümmert hatte, verwundert.

Lodrik legte sich die Hände auf die Ohren und unterbrach ihn. »Seid still, Lügner!«, schrie er. »Ich habe Eure Machenschaften satt. Alle Herrscher auf diesem Kontinent sind verlogen.« Der junge Mann taumelte hinaus und stieß helfende Hände seiner Bediensteten zurück.

»Es ist an der Zeit, dass jemand das Handeln übernimmt, der ehrlich ist«, stimmte Mortva zu. »Und das für alle Menschen auf Ulldart. Damit das Lügen ein Ende hat.«

»Ihr seid verantwortlich für das alles«, sagte ihm Tarm auf den Kopf zu. Der König Aldoreels sah den Konsultanten an. »Ihr müsst Tzulan persönlich sein.«

»Aber nicht doch, Majestät.« Der Mann mit den silbernen Haaren lächelte ihn hintergründig an, das graue und das grüne Auge blitzten auf. »Das wäre zu viel der Ehre. Ein bescheidener Diener, mehr bin ich nicht.«

»Ihr dient wahrlich gut.« Der König Aldoreels ließ den Kopf sinken. »Was wird mit uns geschehen?«

Der Konsultant legte die Arme auf den Rücken und umrundete die Männer. Telisors linke Wange glühte, wo ihn der Schlag des Kabcar getroffen hatte. »Ihr werdet an einen Ort gebracht, wo man Euch behandeln wird. Offiziell seid Ihr natürlich während der Schlacht umgekommen.« Er tippte auf das geronnene Blut an der Schulter Tarms und prüfte es zwischen Daumen und Zeigefinger. »Aber in wenigen Wochen schon werdet Ihr zu Eurem erfreuten Volk zurückkehren und verkünden, wie falsch Eure Vorgehensweise war. Und weil Ihr es eingesehen habt, werdet Ihr abdanken.«

»Niemals!«, rief Telisor und warf sich nach vorne, um sich auf den Ratgeber zu stürzen.

Varèsz trat ihm mit Wucht in den Schritt, worauf der junge Mann stöhnend auf der Erde zusammensank.

Mortva ging in die Hocke. »Und Ihr, Telisor, unterstützt Euren Vater bei der wichtigen Aufgabe, die Menschen zu überzeugen, dass Ihr in einem Irrglauben gegen den Kabcar von Tarpol und Tûris kämpftet. Ihr werdet Euch wundern, wie sehr Ihr schon bald von Eurer Mission eingenommen seid. Mit Inbrunst zieht Ihr durch die Lande, im Büßergewand, und predigt, während sich der Kabcar am unerwarteten Thronerwerb ergötzen darf.« Der Konsultant wischte sich das Blut Tarms an den Fetzen der Kleidung des Prinzen ab, stand auf und wandte sich J’Maal zu. »Und dann haben wir noch einen K’Tar Tur aus Tersion.« Seine Miene wurde nachdenklich. »Ich gestehe, einen Verwendungszweck für Euch zu finden, fällt mir etwas schwer. Mit der gleichen Bestimmung wie König und Thronfolger kann ich Euch nicht zurückschicken. Eure Art ist derzeit zu sehr in Verruf. Aber wer weiß.« Ohne eine weitere Erklärung nickte er den Wächtern zu.

Schweigend sahen der Stratege und der Ratgeber zu, wie die Gefangenen hinausgeschafft wurden. Telisor, der sich noch nicht von dem Treffer in die Weichteile erholt hatte, musste über den Boden geschleift werden.

»Auch wenn es der Hohe Herr im Moment noch nicht zugeben kann, es war eine exzellente Arbeit, die Ihr am Wasserfall vollbracht habt«, lobte Mortva den obersten Feldherrn Sinureds. »Ohne Euch wäre es schwieriger geworden. Die Entscheidung ist rechtzeitig gefallen. So brauchten wir nicht einmal die magischen Fähigkeiten des Hohen Herrn. Und die Zahl der Todesopfer war weitaus höher. Tzulan wird zufrieden sein.«

»Der Gebrannte Gott hat sein Angesicht bereits gezeigt«, meinte Varèsz grinsend, der Spalt in der Unterlippe klaffte weit auseinander. »Es geschieht, wie es geschehen muss. Nur der Hohe Herr scheint noch etwas … empfindlich.«

»Das wird noch. Er ist auf dem besten Wege.« Der Mann mit den silbernen Haaren sah zum Fenster hinaus. »Lasst Eure Männer ausruhen. Ich schätze, der Kontinent ist vom Ausgang der Schlacht so überrascht, dass sich niemand gegen Tarpol oder Tûris erhebt. Die Menschen werden zu sehr mit ihren Zweifeln an ihrem Gott beschäftigt sein. Und in der Zwischenzeit wird Verstärkung aus Tzulandrien kommen.«

»Wie sehen die weiteren Pläne aus?«, erkundigte sich der Stratege interessiert und wischte sich einen Tropfen Blut aus dem Gesicht, der von einem frischen Stück Kopfhaut auf dem Helm stammte.

Angewidert beobachtete Mortva den Kämpfer. »Ihr solltet Euch diese Art von Trophäensammlung abgewöhnen. Wenn Ihr eins Tages nach Ulsar kommen müsst und die Bewohner sehen Euch so, werden sie davonlaufen.« Er bemerkte die beiden Pistolen des Kabcar im Sessel und nahm sie an sich. »Es werden nun vorerst die diplomatischen Verhandlungen aufgenommen. Gleichzeitig, so lautet meine Bitte, sucht die zweitausend besten Reiter aus Eurer Truppe aus und teilt sie in jeweils Gruppen von fünfzig Mann auf. Sie werden schon bald zum Einsatz kommen, um die Unterredungen zu beschleunigen.«

Varèsz machte ein neugieriges Gesicht.

»Räuber können eine Plage für ein schutzloses Land sein«, erklärte Mortva. »Wer will ihnen nun in Hustraban, Aldoreel oder Serusien Einhalt gebieten, wo die meisten Krieger in der Schlacht fielen?«

»Der Kabcar, vermute ich.« Der Stratege lachte aus vollem Hals.

»Exakt, geschätzter Mann«, sagte der Konsultant. »Und sobald eine Einigung erreicht wurde, werden die ›Räuberhorden‹ schlagartig ausgelöscht. Das heißt, Eure Leute ziehen sich, ein wenig marodierend, zurück. Und damit macht sich der Kabcar wieder beliebter.«

Die gute Laune von Osbin Leod Varèsz verflog. »Ihr habt den Hohen Herrn wirklich so weit unter Eurem Einfluss, dass er nichts tut, was unserer Absicht entgegenlaufen wird, Nesreca? Eine solche Gelegenheit erhalten wir niemals wieder, vergesst das nicht.«

»Ihr führt Krieg auf dem Schlachtfeld, ich führe den Krieg am Verhandlungstisch«, belehrte Mortva den Feldherrn Sinureds freundlich, aber kalt zugleich. »Zerbrecht Euch nicht meinen Kopf. Ich weiß sehr wohl, was auf dem Spiel steht, sollte der Hohe Herr nicht das machen, was wir von ihm verlangen. Aber seine Cousine ist eine große Hilfe bei der Angelegenheit.«

»Dann wünsche ich Euch viel Glück und die Bosheit, die Ihr braucht.« Der Stratege verabschiedete sich.

»Danke vielmals«, rief Mortva dem Mann hinterher. »Glück benötige ich nicht. Und Bosheit ist genügend vorhanden.«

Er schlenderte zum Fenster und beobachtete verzückt den Sternenhimmel, an dem Arkas und Tulm in voller Pracht funkelten und glitzerten. Zwei Kometen zogen knapp unter dem Doppelgestirn ihre Bahnen, und beinahe sah es so aus, als bildeten die übrigen Gestirne den Umriss eines Gesichts. Welche Freude, Tzulan. Bald, bald wirst du wieder auf Erden wandeln können. Hab noch ein wenig Geduld, Gebrannter Gott. Der Tag ist nicht mehr allzu fern, und der Anfang ist bereits gemacht.

»Die Seherin wuchs im düsteren, von der Hand des wahnsinnigen Arrulskhán regierten Borasgotan auf, zog in ihrer frühsten Kindheit mit dem fahrenden Volk durch die Lande. Seitdem sie denken und sprechen konnte, vermochte sie das mögliche Schicksal anderer Menschen durch einen Blick in die Augen, in den Spiegel eines jeden Sterblichen Seele, zu ergründen. Ihre Gabe wurde geschätzt und hoch angesehen.
Es trug sich zu, dass ihr Weg nach Tarpol, in die Provinz Granburg führte.
Dort, während eines Festes, traf sie den Mann, den später alles Volk auf Ulldart fürchten sollte.
Und sie erkannte seine Bestimmung.«

DAS BUCH DER SEHERIN

Kapitel I

… Winter 443/444 n. S.

Matuc erwachte durch sein eigenes Zähneklappern. Er fror erbärmlich, Sand knirschte in seinem Mund, und kaltes Wasser umspülte seinen linken Fuß. Die Luft roch nach Meer, Salz und Algen. Vögel schrien unaufhörlich, mal näher, mal weiter entfernt, und die See rauschte im immer gleich bleibenden Rhythmus. Etwas Leichtes hüpfte auf ihm herum.

Vorsichtig hob er den Kopf und schaute auf einen kleinen, flachen Strand, über den morgendliche Nebelschwaden zogen. In wenigen Metern Entfernung erhoben sich schwarze Felsen in die Höhe, die Kante konnte er aus seiner jetzigen Position nicht sehen.

Mit einem Seufzen senkte er sein Haupt wieder in den kühlen Sand. »Ulldrael der Gerechte, ich danke dir für meine Rettung. Lass es nun in all deiner Güte auch die anderen geschafft haben.«

Der Mönch drehte sich auf den Rücken und richtete sich auf. Zeternd suchten zwei Möwen, die auf ihm gesessen hatten, das Weite.

»Verschwindet! Ich bin nicht tot«, stotterte er undeutlich, so weit es ihm die schnell aufeinander schlagenden Kiefer erlaubten. Er bemerkte, dass jemand trockene Frauenkleider über ihn gebreitet hatte, damit er nicht erfrieren sollte.

Das waren Norinas Sachen, erkannte er und wollte aufstehen. In seiner Hast und Ungeduld übersah er, dass ihm sein Holzbein fehlte, und er stürzte zurück in den Sand. Neben sich sah er die Abdrücke von Schuhen, die von der Größe her durchaus zur Brojakin passten.

Er angelte nach einem Stück Planke, klemmte es sich unter die Achsel und humpelte eilig damit den Strand entlang. In einigem Abstand hatte er die Truhe ausgemacht, in die sie Norina in jener stürmischen Nacht samt ihres Sohnes verfrachtet hatten. Der Deckel stand offen.

Was genau an Bord der Grazie vorgegangen war, wusste Matuc nicht. Er erinnerte sich, wie das Beiboot in die Tiefe geschossen war und die herabstürzende Rahe ein breites Loch in den Rumpf geschlagen hatte, als habe der Sturm nicht schon ausgereicht, die Nussschale zu versenken. Wenige Lidschläge später trieben sie alle im eiskalten Wasser. Zwischen all der Gischt, den Wellen und dem Schaum verlor er Fatja aus den Augen, und wenn er sich noch halbwegs die Geschehnisse ins Gedächtnis zurückrufen konnte, hatte er sich in einem Trümmerstück des Beibootes zusammengekauert.

Während er auf das Gepäckstück zulief, sah er zu den unbewachsenen Steilhängen hinauf, immer in der Hoffnung, Menschen oder das Stück einer Inselfestung der Rogogarder auszumachen. Der Strand mit dem dunklen Sand, der von Trümmerstücken und Wrackteilen übersät war, zog sich wie ein schmales Band scheinbar endlos lang, bis er in weiter Entfernung mit einem scharfen Knick nach links abbog. Die kreischenden Vögel um ihn herum waren jedoch die einzigen Lebewesen.

Keuchend vor Anstrengung und bibbernd vor Kälte, der Atem wurde als weiße Wolke sichtbar, kniete er sich neben die Truhe. Auf den ersten Blick schien sie leer.

Vorsichtig tastete er umher, bis er auf leichten Widerstand stieß. Behutsam zog er den einfachen Unterrock zur Seite. Darunter lag Norinas Kind, zum Schutz gegen die Temperaturen dick in Kleidungsstücke eingewickelt, schlafend. Nur von der Mutter fehlte jede Spur. Matuc entdeckte ihre Fußspuren, die von dem riesigen Behälter weg führten.

Als er die Abdrücke mit den Augen verfolgte, blieb sein Blick an etwas hängen, das er zunächst für ein Stück Holz gehalten hatte. Doch es bewegte sich.

»Norina!«, brüllte er, die nackten Wände ließen seine Stimme widerhallen.

Augenblicklich erwachte das Kind und fing erschrocken an zu weinen.

Hervorragend, dachte der Mönch und beeilte sich, den Knaben zu beruhigen. Dabei beobachtete er die zierliche Person, die sich mühsam auf die Beine stemmte und in seine Richtung kam. Und je näher sie kam, desto sicherer wurde der einstige Ordenszugehörige, dass es sich um die kleine Schicksalsleserin handeln musste.

Es war Fatja, nass von oben bis unten, die Zähne stießen beinahe im gleichen Takt wie die des Ulldraelgläubigen zusammen. Sie zog einen Sack hinter sich her.

»Das war knapp«, stammelte sie, die Arme um den Körper geschlungen. »Ich freue mich, dich zu sehen, Matuc.« Sie fiel ihm erleichtert um den Hals. »Wo ist Norina?«

Ratlos zuckte der Mönch mit den Achseln, was auf Grund des allgemeinen Zitterns fast nicht auffiel. »Ich habe sie nicht gesehen. Aber sie muss mich zugedeckt haben und ist dann den Strand entlang gegangen. Vermutlich sucht sie Hilfe.«

»Und lässt ihren Sohn zurück?« Das Mädchen wirkte nicht überzeugt. Sie drückte dem Mann das Kind in die Hände, kramte in der Truhe herum und suchte nach halbwegs passenden Kleidungsstücken. Der Geistliche wirkte etwas überfordert und hielt den schreienden Säugling wie ein Stück hauchdünnes Glas.

»Dreh dich um«, verlangte sie, während sie die ersten durchweichten Sachen auszog und in die viel zu großen Kleider der Brojakin stieg. Matuc kam der Aufforderung nach. »Das solltest du auch tun«, empfahl sie ihm. »Sonst wirst du dir den Tod holen. Ulldrael muss uns beschützt haben, sonst wären wir Eiszapfen.« Sie tippte ihm auf den Rücken als Zeichen, dass er sich ihr wieder zuwenden durfte, und hielt ihm einen trockenen Rock hin.

»Ich soll …«, versuchte er zu protestieren.

Fatja nahm den Neugeborenen behutsam in die Arme und wiegte ihn hin und her. Bald wurde das Geschrei leiser. »Sei vernünftig. Du nützt uns nichts, wenn du dir eine Erkältung einfängst.«

»Ulldrael wird sich vor Lachen ausschütten«, grummelte er und nahm seinerseits den Kleidungstausch vor. Zwar waren ihm die meisten Trachten zu eng, aber wenn er die Verschlüsse offen ließ, konnte er sich damit bewegen. Aus mehreren Stolen und Umhängen formte er ein wärmendes Übergewand für sich und das Mädchen.

»Ich hoffe, Norina findet einen der anderen«, sagte Fatja nach einer Weile und bedachte das schlafende Kind mit einem liebevollen Blick. »Schau, es gefällt ihm bei seiner großen Schwester.« Sie hob den Kopf. Ein breites Grinsen legte sich auf ihr Gesicht, selbst die braunen Augen lachten. »Matuc, du siehst hinreißend aus. Die Piraten werden dich lieben. Nur die Bartstoppeln …«

»Sei still«, meinte er mürrisch. Dennoch war er dankbar, dass ihn das Mädchen zu dem Kleiderwechsel gezwungen hatte. Das Kältegefühl ließ nach. Er sah sich um, aber der Strand vermittelte nach wie vor in beiden Richtungen die Lebendigkeit eines Totenackers. »Ich hoffe inständig, Rudgass und Waljakov konnten dem Meer entkommen.«

»Ich wette mit dir, der Pirat sitzt schon lange im Haus eines seiner Brüder und wärmt sich mit Gewürzwein«, meinte Fatja mit gespielter Zuversicht. Angesichts der zerschlagenen Holzstücke ringsherum verneinte sie das Offensichtliche. Als ihr die erste Träne die Wange herablief, brachen die Dämme der jungen Schicksalsleserin. Sie weinte, den Knaben an sich gedrückt, und Matuc nahm sie in die Arme, breitete die Umhänge aus, um ihr mehr Wärme zu geben.

So saßen sie eine geraume Zeit.

Die Sonnen stiegen höher, es wurde ein wenig wärmer. Der Nebel verzog sich, und ein winterlich grauer Himmel zeigte sich. Über dem unruhigen Meer durchbrach ein einzelner Lichtstrahl die Wolken, ließ die Wellen funkeln und glitzern.

Matuc legte es als Aufmunterungsversuch des Gerechten aus. Auch wenn ihre Lage nicht besonders gut aussah, er blieb zuversichtlich, dass Ulldrael sie zu Höherem berufen hatte und sie nicht einfach am einsamen rogogardischen Strand zu Grunde gehen ließ.

Irgendwann schniefte das Mädchen nur noch und zog lautstark die Nase hoch. »Wollen wir tatsächlich so lange warten, bis Norina mit Helfern zurückkommt?«, erkundigte sie sich. »Vielleicht sind die Rogogarder nicht so freundlich? Oder wenn das nächste Fischernest in der ganz anderen Richtung liegt?«

»Unsinn«, meinte Matuc, dem ein Marsch durch den weichen Sand ein Grauen war.

»Mein kleiner Bruder wird bald Hunger haben, wir werden bald Hunger haben. Wir haben, außer den paar schäbigen Süßknollen in dem Sack und dem bisschen Proviant in der Truhe, nichts zu essen und zu trinken, wenn ich das nur mal erwähnen dürfte.« Fatja ließ nicht locker und wischte sich die Tränen mit dem Ärmel weg. »Du wirst dich nicht auf meinen Visionen ausruhen. Ich sagte doch, dass nicht alles unbedingt festgeschrieben sein muss. Vielleicht sehe ich nur einen möglichen Ausgang. Aber was ist, wenn …«

Der Mönch seufzte. »Na schön. Du hast Recht. Wir werden uns vorsichtshalber ebenfalls auf den Weg machen.«

Das Mädchen half ihm auf, klemmte ihm die Planke unter und band sich ihren Bruder mit Hilfe eines Schals vor den Bauch, unter den wärmenden Umhang.

Sie kamen nur langsam vorwärts, Matuc musste mehr hüpfen als laufen, und als sie endlich die Biegung des Strandes erreichten, stand dem Mann trotz der Kälte der Schweiß auf der Stirn. Die Fußspuren Norinas konnten sie nirgends mehr entdecken.

»Das hat so wenig Zweck«, sah er ein und ließ sich auf einem Stein nieder. »Du bist schneller ohne mich.«

Fatja kniff die Mundwinkel zusammen. Der betagte Mönch merkte ihr an, dass es ihr nicht schmeckte, ihn allein zu lassen. »Wo sind denn die Piraten, wenn man sie mal braucht?«, meinte sie böse. »Die ganze Nordwelt hat Angst vor ihnen, aber blicken lassen sie sich nicht. Rudgass werde ich gehörig die Meinung sagen.«

Matuc packte sie am Umhang und deutete auf die See. »Da ist doch ein Segel, oder täusche ich mich?« Hektisch wedelte er mit der Planke in der Luft. Das Mädchen legte den Knaben zu Boden und hopste, eine gelbe Stola schwenkend, am Strand auf und ab.

Aber die Besatzung des Einmasters schien nicht in ihre Richtung zu schauen. Unbeirrt setzte er seine Fahrt fort, und Enttäuschung machte sich bei dem Mönch und dem Mädchen breit. Auch der Sohn Norinas weinte wieder.

»Er hat Hunger«, schätzte Fatja und hing sich das kleine menschliche Bündel wieder um. Sie kratzte sich am Kopf. »Ich werde wohl besser ohne dich weiterlaufen, Matuc. Ich weiß ja, wo ich dich finde. Und da die Rogogarder ihre Küste wohl besser kennen als ich, werden wir dich ganz schnell abholen können.« Sie drückte ihn vorsichtig, um dem Kind nicht weh zu tun. »Ich lasse dich nicht bei den Möwen verhungern.«

Er strich dem Mädchen über die schwarzen Haare. »Ich begebe mich in die Hand von Ulldrael dem Gerechten. Er hat uns nicht ertrinken lassen, er wird uns weiter vor Unbill bewahren.« Er drückte ihr einen väterlichen Kuss auf die Stirn und entließ sie.

Kaum war sie um die Biegung der Klippen verschwunden, kam sie schon wieder angerannt.

»Direkt da vorne ist der Strand voller Menschen!«, rief sie erfreut und zerrte den überrumpelten Mann in die Höhe. »Sie durchsuchen die Wrackteile. Komm schon.«

Matuc hüpfte los und musste unpassenderweise an eine lahme Möwe denken.

Das Mädchen hatte sich nicht getäuscht. Kaum zwei Steinwürfe von der Ecke entfernt, wo er sich eben noch niederlassen wollte, wimmelte der Sand von Männern und Frauen. Die meisten von ihnen schützten sich mit Pelzen und dicken Lederjacken vor der Kälte, einige wenige trugen darüber Kettenhemden und hielten Speere bereit. Die Bewaffneten sicherten den Strand in alle Richtungen, während die anderen eilig die Schiffsüberreste fledderten. Mehrere große Ruderboote lagen im Sand, mit denen die Menschen wohl angekommen waren.

»Fatja«, rief der Mönch die Schicksalsleserin zurück. »Bleib bei mir. Ich bin mir nicht sicher, wen wir da vor uns haben.«

Auch sie wurden bemerkt. Der Vorderste der Wächter drehte sich nach hinten und ließ eine knappe Warnung erschallen. Er fasste seinen Speer mit beiden Händen und richtete ihn gegen die Neuankömmlinge.

»Das sind ja schöne Sitten, die die Rogogarder haben«, meinte Fatja missmutig.

Zwei weitere bewaffnete Männer stießen hinzu, und sie berieten sich. Dann kam einer von ihnen herüber.

Der Wächter war, wie alle am Strand, etwas kleiner als Matuc. Er streifte die Kapuze ab, und langes, schwarzes Haar wehte im Wind. Die Gesichtszüge wirkten fremdartig, etwas kantiger als die des Mönchs, beinahe wie die eines Jengorianers. Die Haut schien von Natur aus blass zu sein, zwei durchdringend grüne Augen musterten sie aufmerksam. Besonders auffällig fand der Ulldraelgläubige den kunstvoll ausrasierten Knebelbart, in den ein Muster barbiert worden war.

Das war kein Rogogarder. Als der Fremde die ersten unverständlichen Worte an ihn richtete, bestätigte sich sein Verdacht.

Fatja sah den Unbekannten mit großen Augen an. »Was hat er gesagt?«

»Woher soll ich das wissen?«, gab der Mönch ein wenig ratlos zurück.

»Du bist doch der Gebildete von uns.« Die Schicksalsleserin lächelte den Mann mit dem Speer vorsichtshalber gewinnend an. »Tu doch was«, zischte sie durch die Zähne.

Der Wächter brüllte etwas über die Schulter, ohne die Augen von den beiden zu wenden. Ein Zweiter rannte herbei, dessen Statur beinahe gleich war, soweit man das durch die Kleidung beurteilen konnte. Auch er trug besondere Formen in seinem Bart.

»Verstehst du uns?«, sagte das Mädchen langsam und laut zu ihm. Neugierig wartete sie eine Antwort ab.

Der zweite Bewaffnete musste lächeln. »Ich bin nicht taub. Aber im Gegensatz zu den anderen verstehe ich Ulldart.«

»Und was machst du auf Rogogard? Die Piraten werden nicht sonderlich erfreut sein, wenn Fremde ihre Strände plündern«, plapperte Fatja drauflos, was den Mann wieder zu einem schallenden Heiterkeitsausbruch veranlasste.

»Mädchen, du bist nicht bei den Seeräubern. Du bist in Kalisstron.« Der Schicksalsleserin klappte der Unterkiefer nach unten, Matuc stöhnte auf. »Daher können wir die Strände auch in aller Ruhe absuchen. Mein Name ist Blafjoll, Wächter oder Walfänger, je nach Bedarf. Ich nehme an, das ist euer Schiff gewesen?«

»Ich bin Matuc, das ist Fatja«, stellte der Geistliche in aller Eile vor. Etwas konfus zeigte er auf den Neugeborenen. »Und das ist … das Kind. Habt Ihr noch andere Überlebende gefunden? Es ist wichtig. Wir suchen eine junge Frau, seine Mutter.« Er beschrieb Norina, anschließend Torben Rudgass und Waljakov.

Blafjoll sagte etwas auf Kalisstronisch zu seinem Nebenmann, der daraufhin den Kopf schüttelte. »Nein, wir haben niemanden entdeckt. Auch keine Leichen, die so aussahen. Es wäre aber möglich, dass sie mitgenommen wurden.« Er machte eine einladende Geste in Richtung der Boote. »Wollt ihr euch nicht erst einmal stärken? Dann darfst du mir auch erklären, weshalb du als Mann die Kleider eines Weibes trägst.«

Das Blut schoss Matuc in den Kopf. Knallrot hüpfte er den Sandstrand entlang, während die Männer und Frauen kicherten und mehr oder weniger offen ihre Belustigung über den seltsamen Mann zeigten. Blafjoll blieb an ihrer Seite, die Wachen begaben sich auf die alten Posten zurück.

»Wir sind Bürger aus Bardhasdronda«, erklärte der Walfänger, während sich Fatja und Matuc heißhungrig über zwiebackähnliches Brot, eingelegten Fisch und Marmelade hermachten. »Das ist eine Fischerstadt einige Ruderstunden von hier. Unser Aussichtsposten sah die Wracks, und wir machten uns auf den Weg, um zu holen, was die See nicht verschlungen hat.«

»Was meintet Ihr vorhin, als Ihr sagtet, sie könnten mitgenommen worden sein?«, erkundigte sich der Mönch mit vollem Mund. »Ulldraels Segen übrigens für die Gaben und Eure Freundlichkeit.«

»Wir bevorzugen Kalisstras Gnade, wenn es Recht ist«, sagte Blafjoll ein wenig kühl. »Andere Götter sind bei uns nicht gern gesehen.«

Matuc schluckte.

»Was deine Frage angeht: Wir sind nicht die einzigen, die sich auf die Suche machen. Es gibt noch andere, ähnliche Menschen wie die Rogogarder, die sich bedienen und alles mitnehmen, was sie finden. Auch Überlebende. Und diese werden gegen gutes Geld oder andere Sachen verkauft.« Fatja wirkte bereits, als würde sie jeden Augenblick aufspringen und losrennen. Aber Blafjoll hatte ihre Reaktion bemerkt. »Keine Angst. Wir machen so etwas nicht. Die Lijoki aber sind gefährlich, und deshalb sichern wir die Umgebung.« Er schulterte seinen Speer. »Gerne nehmen wir euch mit in unsere Stadt. Vielleicht weiß man dort mehr.«

Der Mönch erinnerte sich an das Segelschiff, das er vorhin gesehen hatte. »Und wo leben diese Menschen?«

»Meinst du, sie könnten das Weib aufgegriffen haben?« Der Walfänger machte ein nachdenkliches Gesicht. »Dann wird es schwer werden, sie zu finden. Gewöhnlich verkaufen sie ihre Beute nicht an dieser Küste, sondern fahren damit weiter nach Süden.«

Der Mönch schloss die Augen. »Verdammt!«

»Na, es ist nicht gesagt, dass sie das Weib entdeckten«, versuchte Blafjoll die schlimmsten Befürchtungen zu dämpfen. »Wir nehmen euch mit, damit das Kind schnell Milch bekommt. Wir haben sowieso schon alles durchsucht. Kalisstra war nicht besonders freigiebig.«

Tatsächlich machten sich die Männer und Frauen daran, die Boote teilweise zu besetzen. Nur wenig gefundenes Gepäck befand sich an Bord, und Matuc konnte nicht einmal sagen, welches der beiden havarierten Schiffe es bis an die kalisstronische Küste verschlagen hatte.

»Wenn wir in Bardhasdronda sind, bringe ich euch zu unserem Bürgermeister. Er muss entscheiden, ob ihr bleiben dürft oder nicht.« Der Walfänger hob den Mönch ins Boot.

»Versteht er uns denn?«, wollte Fatja wissen, die sehr vorsichtig mit den schlafenden Knaben um den Bauch in das Gefährt stieg.

»Kalfaffel spricht viele Sprachen. Ich war mal als Seemann auf einem palestanischen Schiff, bis es von den Seeräubern versenkt wurde, deshalb verstehe ich euch. Aber sonst gibt es nur wenige, die das Ulldart beherrschen. Ihr werdet also lernen müssen.«

»Und wenn wir gar nicht bleiben wollen?«, fragte die kleine Schicksalsleserin ein wenig trotzig.

Blafjoll lachte wieder. »Wenn ihr ein Schiff findet, das euch nach Ulldart bringt, nur zu. Aber in der Zeit der Winterstürme wird sich niemand finden, der für Fremde sein Leben aufs Spiel setzt. Und nach Rogogard segelt niemand. Wir sind auf die Seeräuber nicht gut zu sprechen. Wir reden später, ich muss helfen.«

Die Frauen kamen an Bord, noch immer prusteten und lachten sie, wenn sie zu Matuc sahen. Demonstrativ zog er sich die Stola fester um den ergrauenden Kopf und zupfte am Rocksaum.

Mit vereinten Kräften reichten die Frauen kindgroße, massive Holzräder hinaus, die nach und nach an kleinen Halterungen am Rumpf der großen Boote mit Splinten befestigt wurden.

»Was wird das denn?«, staunte Fatja und lugte über die Bordwand, um das Treiben der Männer zu beobachten.

»Der Wind steht günstig, also können wir uns das Rudern ersparen«, erklärte der Walfänger, während sich in den Booten plötzlich Maste erhoben, die aus Rudern zusammengesteckt worden waren. Am Bug befestigten Helfer eine Lenkachse, die mittels zweier Seile bedient wurde. »Alle an Bord, und los geht’s!«

Blafjoll sprang ins Boot, eine Rahe samt gesetztem Segel surrte am Mast in die Höhe, und das Gefährt setzte sich in Bewegung. Zunächst rollte es langsam an, aber die Böen frischten zunehmend auf, und immer schneller schoss das zum Fahrzeug umfunktionierte Boot über den Sandstrand.

Die Schicksalsleserin jauchzte, als ihr der Fahrtwind um die Nase wehte. Matuc zog seine behelfsmäßige Mütze fester um den Kopf. Auch er konnte ein Grinsen nicht unterdrücken, dafür machte die Fahrt zu viel Spaß.

»Wie seid ihr denn auf diesen praktischen Einfall gekommen?«, wollte der Mönch von Blafjoll wissen und musste seine Stimme erheben, damit sie das Knattern der vom Wind gefüllten Leinwand übertönte.

»Was auf dem Meer funktioniert, gelingt auch auf der Erde, wenn man es ein bisschen anpasst«, führte der Walfänger nicht weniger leise aus. »Das Prinzip des Segelns ist das Gleiche. Wir haben diese Boote in verschiedenen Größen, auch unsere Milizen nutzen sie, um schneller entlang der Küste vorwärts zu kommen. Es gibt sie auch ohne diese Bootform, nur als ein paar zusammengezimmerte Holzverstrebungen, die mit Drachen gezogen werden. Aber das ist nur etwas für Wahnsinnige. Viel zu schnell. Es gibt bei den Rennen immer wieder Tote und Verletzte.« Blafjoll zeigte nach vorne, wo sich die Umrisse einer Stadt zeigten. »Da ist Bardhasdronda.«

Matuc wurde, je näher die Stadt rückte, bewusst, dass er nicht die leiseste Ahnung von der Kultur Kalisstrons hatte. Sicher, es gab irgendwann einmal Kontore der Palestaner und Agarsiener, aber wirklich um diesen Kontinent gekümmert hatte sich der Mönch noch nie. Er wusste nicht einmal, ob die Menschen von Königen regiert wurden oder welche Herrschaftsform es sonst womöglich gab.

Sogleich löcherte er den Walfänger, doch der schien seiner Aufgabe als Fremdenführer überdrüssig geworden zu sein und verwies ihn nur noch an das Stadtoberhaupt. Mit dem sollte Matuc alles bereden.

Die Rahen mit den Segeln polterten vor den Toren, die zum Hafen führten, zu Boden, augenblicklich verringerte sich die Geschwindigkeit. Geschickt manövrierten die Lenker die Fahrzeuge so, dass sie in einer Reihe vor dem breiten Durchgang standen.

Blafjoll sprang aus dem Boot und trabte zu den Wachen, die am Tor standen, und erklärte ihnen die Lage. Dann winkte er ihnen zu. Die Männer und Frauen halfen den Fremden, die Gefährte zu verlassen.

Als Matuc das Grinsen der Wachen sah, als sie bemerkten, dass er Frauenkleider trug, wurde er schon wieder rot wie ein gekochter Krebs. »Kann mir denn niemand hier passende Sachen ausleihen?«, fragte er leise und sah den Walfänger bittend an. Doch Blafjoll ging darauf nicht ein.

Er verschwand kurz in der Menge und kehrte mit einem Schubkarren zurück, in den er den Mönch scheuchte, damit er nicht mit der Planke unter der Achsel bis zum Bürgermeisterhaus humpeln musste, sondern sich schonen konnte. Außerdem brachte er einen Lederschlauch mit Ziegenmilch mit. Fatja konnte ihren kleinen Bruder unterwegs mit der lebensnotwendigen Flüssigkeit versorgen. Gierig machte sich der Neugeborene über die angebotene Nahrung her.

Der Kalisstrone erregte mit seiner merkwürdigen Fracht zunächst allerlei Aufmerksamkeit in den Gassen von Bardhasdronda, und irgendwann legte sich Matuc den Schal vors Gesicht, um den neugierigen Blicken zu entgehen.

Damit erlosch das Interesse der Menschen, denn nun wurde der Mönch für eine Frau gehalten. Die Schicksalsleserin wollte gar nicht mehr aufhören zu lachen, und Blafjoll machte sich laut Gedanken über das, was man sich bald in der Stadt über ihn und sein neues einbeiniges »Weib« erzählen würde.

Der Geistliche nutzte die für ihn bequeme Art der Fortbewegung, um sich einen Eindruck von der fremden Stadt und ihren Bewohnern zu machen. Die Leute glichen sich von der Statur und dem übrigen Körperbau alle, überall sah der Mönch nur schwarze Haare, in erster Linie grüne Augen, nur vereinzelt entdeckte er braune oder gräuliche. Der Kleidungsstil variierte sehr, offenbar hing er mit dem sozialen Status des Trägers oder seinem Beruf zusammen. Großen Wert schienen die Männer auf die kunstvolle Rasur ihrer Bärte zu legen, wobei Matuc sich nicht vorstellen konnte, wie das mit einem herkömmlichen Barbiermesser möglich sein sollte. Die Frauen flochten sich die Haare unterschiedlich, Perücken schienen völlig unbekannt zu sein. Hinweise auf Palestaner oder Agarsiener fand er nicht.

Die mehrstöckigen Häuser, gebaut aus Fachwerk und grauen Steinen, standen so eng wie möglich beieinander, die breiteste Straße erlaubte gerade einmal zwei Fuhrwerken das Passieren. Dann mussten die Menschen rechts und links des Kopfsteinpflasters aber schon zur Seite springen, um nicht zerquetscht zu werden. Das Fachwerk zeigte wunderbare Schnitzereien, vereinzelt kamen unterschiedliche Farben bei den Balken ins Spiel und durchbrachen so das triste Bleierne der Steine. Ein eisiger Wind blies durch die Gassen, zarte Schneeflocken rieselten aus dem grauen Himmel. Das Mädchen fing ein paar mit dem Mund auf und grinste dabei.

Die Beengtheit änderte sich erst, als sie sich wohl dem Zentrum näherten. In Richtung der Marktplätze und der Stadttore, die nach draußen führten, war genügend Platz. Und die Behausungen wurden prachtvoller, bunter, aufwendiger. Hier wohnten die Kaufleute und Reichen von Bardhasdronda, die es sich leisten konnten, ihr Fachwerk aus Walfischbein schnitzen zu lassen. Kalisstraheiligtümer in Form von kleinen Tempeln und Betnischen bemerkte Matuc an allen Ecken und Enden. Überall fanden sich Opfergaben, demnach stufte der Mönch die Bewohner als sehr gläubig ein. Außerdem hatten sie unterwegs ein halbes Dutzend Tore durchfahren müssen. Offenbar wollte man es möglichen Angreifern so schwer wie möglich machen, bis ins Innere der Stadt vorzudringen. Die jeweiligen inneren Mauern erhoben sich bis weit über die Dächer der umstehenden Häuser.

Was dem Ulldarter noch aufgefallen war: Die Kalisstri wirkten sehr ernst. Lautes Lachen hörte er auf dem Weg zum Bürgermeister eher selten, Zeichen oder Symbole, die auf Wirtshäuser hindeuteten, konnte er nirgends entdecken.

Vor einem eher unscheinbaren Haus im Zentrum hielt der Walfänger an. »Wir sind da. Hier lebt Kalfaffel. Wenn ihr Glück habt, ist er zu Hause.« Er half dem Mönch aufzustehen und klopfte an die eisenbeschlagene Tür.

Zu Matucs Erstaunen öffnete eine Cerêlerin mit kurzen grauen Locken, unschwer erkennbar an dem kleinen Wuchs und dem zu großen Kopf.

Augenblicklich verneigte sich Blafjoll ehrerbietig. »Herrin Tjalpali, ich bringe Kalfaffel Schiffbrüchige, die eine Zeit lang in unserer Stadt bleiben möchten. Sie sollen sich dem Bürgermeister erklären. Ist er da?«

Die kleinwüchsige Frau musterte die Fremden mit gütigen Augen. »Mein Gatte ist da. Und er hat ein wenig Zeit, die er gerne den Gestrandeten widmet.« Ihr Ulldart war fehlerfrei.

»Ich bin Fatja«, sagte die Schicksalsleserin eilig und machte einen Knicks, während sie den Knaben hin und her wiegte. »Das ist Matuc. Es ist ein Mann, auch wenn er im Moment aussieht wie eine Frau.«

Und schon wieder schoss dem Mönch das Blut ins Gesicht. »Ich kann es Euch erklären.«

Tjalpali nickte und trat einen Schritt zurück. »Sicher kannst du das. Kommt herein und nehmt Platz. Ich werde dem Bürgermeister Bescheid geben. Eine solche Abwechslung wird ihm willkommen sein.«

Der Ulldraelgläubige humpelte in die Wohnung, die nicht besonders protzig eingerichtet war, wie er es im Vergleich von einem tarpolischen Stadtoberhaupt oder einem Ratsmitglied erwartet hätte. Das borasgotanische Mädchen und der Walfänger folgten. Schweigend hockten sie sich auf die Stühle und warteten.

Es dauerte nicht lange und Kalfaffel, der Bürgermeister Bardhasdrondas, erschien. Auch er war Cerêler, sein kleiner Körper steckte in wärmenden Fellgewändern, Matucs Rock nicht unähnlich. Die Neugier stand dem Heiler ins Gesicht geschrieben.

»Aha«, machte er sofort. »Ulldarter, wenn ich mich nicht sehr täusche.« Er reichte jedem die Hand, Blafjoll verneigte sich wieder, diesmal noch ehrfürchtiger und ergebener. »Dann erzählt mir eure Geschichte.« Er steckte sich eine Pfeife an, seine Frau reichte ein heißes Getränk aus einer abenteuerlich anmutenden Kanne.

Das, was bei dem Mönch in der Tasse schwamm, roch süß und stark zugleich. Vorsichtig nippte er, und seine Augen wurden groß.

»Es ist ein Aufguss aus meinen selbst angebauten Kräutern«, erklärte Kalfaffel. »Sie wirken belebend auf ermüdete Körper. Und auf den Geist, natürlich.«

Matuc kostete ein zweites Mal und spürte, wie sich der intensive Geschmack in seinem Mund ausbreitete. Er hatte unterwegs beschlossen, aus Angst davor, dass Hilfe versagt würde, nicht die ganze Wahrheit preiszugeben. So erklärte er dem aufmerksam lauschenden Cerêler und seiner Gemahlin lediglich, dass sie unterwegs nach Ulldart gewesen waren, dabei vom Kurs abgewichen und von unbekannten Piraten hartnäckig verfolgt worden waren, bis sie ein Sturm zum Kentern gebracht hatte.

»Noch fehlen uns drei liebe Freunde, darunter die Mutter des Knaben«, schloss er seine Ausführungen. »Wir befürchten, dass die Frau von den … Lijoki mitgenommen wurde. Wir fanden ihre Spuren im Sand, die abrupt endeten. Um ihr Schicksal zu erkunden, müssten wir, mit Eurer Erlaubnis, länger in Bardhasdronda bleiben. Dabei wären wir jedoch auf Eure Unterstützung angewiesen. Außer dem Sack Süßknollen haben wir nichts mehr.«

Kalfaffel stieß einen Rauchkringel zur Decke. »Das sollte keine Schwierigkeiten bereiten. Bardhasdronda ist nicht unbedingt eine reiche Stadt, aber wir können es uns schon leisten, in Not geratene Fremde aufzunehmen.« Der Bürgermeister zwinkerte mit den Augen. »Wenn Kalisstra euch drei schon überleben ließ, was ein Wunder ist, sollt ihr in unserem Land und der Stadt willkommen sein.«

»Ich denke, es war die Gnade Ulldraels, die uns bewahrte«, widersprach Matuc freundlich.

Sogleich verfinsterte sich das freundliche Gesicht des Cerêlers. »Ich weiß, dass ihr Ulldrael den Gerechten als Euren Schutzgott gewählt habt. Hier dagegen ist die Bleiche Göttin die Schöpferin des Landes, und ich bitte dich, das zu respektieren.«

»Ich achte alle Götter, die an der Schaffung unserer Welt beteiligt waren.« Der Mönch blieb hartnäckig. »Doch ich bin, damit Ihr es wisst, ein Mann des Glaubens. Nach einer langen Zeit des Haderns und Zweifelns führte mich Ulldrael zurück auf den Pfad, indem er mir durch sein Eingreifen das Leben bewahrte. Ihr werdet verstehen, dass ich ihn als ein bekennender Mönch nicht einfach zur Seite räumen kann.«

»Matuc, was soll das?«, zischte Fatja böse und zupfte an seinem Rock. »Wenn du so weiterredest, werden sie uns rausschmeißen.«

Doch Kalfaffel schien nicht beleidigt zu sein. Er beugte sich ein wenig nach vorne. »Matuc, du wirst große Schwierigkeiten bekommen, wenn du an Ulldrael festhältst. Du hast die vielen Kalisstra-Heiligtümer gesehen? Die Göttin sorgt für uns, schickt uns Fischschwärme, lässt die Winter nicht zu hart werden und sendet uns die Menge an Tieren, die wir benötigen, um zu überleben. Ulldrael lässt nicht einmal den Weizen auf den Feldern gedeihen. Wir müssen unser Korn für teures Geld kaufen. Der Gerechte zählt nur wenig. Kalisstra nicht zu achten, bedeutet für viele der Menschen, die Bleiche Göttin zu schmähen.« Er bedachte die Borasgotanerin mit einem beruhigenden Blick. »Ich werde euch bestimmt nicht aus der Stadt werfen. Aber denkt immer daran, dass die Kalisstri nicht in ihrer Gesamtheit tolerant eingestellt sind.«

Der Mönch schaute an sich hinab. »Ich wollte die Frauenkleider gegen eine Robe tauschen, die ich anfertigen lassen möchte.«

»Ich rate dir davon ab«, sagte Tjalpali freundlich. »Manche würden darin eine Herausforderung sehen.«

Kalfaffel sah aus dem Fenster. Dicke Schneeflocken fielen aus dem Himmel und bedeckten rasch Hausdächer und Straßen. »Es gibt eine kleine Kate an der äußersten Stadtmauer, die wir an Tagelöhner verleihen. Dort werde ich euch drei vorerst unterbringen. Es ist nichts Großes, aber die Hütte ist sauber. Wenn ihr aber länger in Bardhasdronda bleiben möchtet, werdet ihr euch eine Tätigkeit suchen müssen. Und die Sprache lernen. Nur wenige sprechen Ulldart. Wir haben mit den Händlern keine guten Erfahrungen gemacht, deshalb wundert euch nicht, wenn nicht alle Bürger zunächst freundlich auf euch reagieren.«

»Ich kann euch unterrichten«, sagte Tjalpali begeistert. »Kalisstronisch ist nicht besonders schwer, und innerhalb weniger Wochen werdet ihr das Wichtigste sprechen können. Zum Schreiben kommen wir später.« Sie schenkte die Tassen voll. »Endlich habe ich auch mal wieder eine Aufgabe«, strahlte sie. »Und ich werde euch alles über das Land erklären, was ihr wissen wollt.«

»Wissen müsst«, verbesserte ihr Gatte. »Es gibt Regeln, die ihr noch nicht kennt. Sie zu befolgen, erleichtert das Leben in der Stadt.«

»Ihr geht davon aus, dass wir länger bleiben, nicht wahr?«, erkundigte sich Matuc.

»Es wird euch nichts anderes übrig bleiben.« Der Bürgermeister saugte an dem Mundstück der Pfeife. Doch sie war erloschen. Der Mönch reichte ihm einen glimmenden Span vom Kamin herüber. »Das Meer wird unbefahrbar. Kein Schiff kann innerhalb der kommenden vier Monate große Strecken zurücklegen. Ich empfehle euch daher, in Bardhasdronda zu bleiben. Ihr dürft aber auch gerne weiterziehen.«

»Mit dem Neugeborenen?« Fatja schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. Mein kleiner Bruder könnte sich erkälten. Er ist ohnehin sehr schwach.«

»Darf ich das Kind mal sehen?« Die Cerêlerin streckte die Arme aus. »Ein wenig Heilkraft hat noch keinem Säugling geschadet.« Zögernd übergab das Mädchen den schlafenden, gesättigten Jungen an Tjalpali.

Ein grünes Leuchten ging von den Händen der Frau aus und kroch vorsichtig über den Neugeborenen. Dann veränderte sich das Strahlen, flackerte und wurde teilweise blau. Das cerêlische Schimmern stob wie erschrocken auseinander und löste sich auf.

Alle starrten schweigend auf den friedlich schlummernden Jungen, der das Wunder anscheinend verursacht hatte.

»Was«, sagte Tjalpali nach einer Weile benommen und reichte das Kind an Fatja zurück, »war das? Was hat er gemacht?«

Ihr Gatte wirkte nachdenklich und betrachtete den Knaben. Die Borasgotanerin drückte ihn beschützend an sich, als fürchtete sie, dass Kalfaffel ihm etwas antun könnte.

»Was immer es war«, begann der Bürgermeister nach einer Weile, »es wird unser Geheimnis bleiben. Blafjoll, du schweigst ebenfalls. Aber ich sage dir, Matuc, gib gut auf das Kind Acht. Es scheint etwas Besonderes zu sein. Und ich weiß noch nicht, ob das gut oder schlecht ist.« Hastig zog er an der Pfeife, um den Tabakdunst einzuatmen.

»Soll ich sie zur Hütte bringen?«, fragte der Walfänger etwas unsicher. Die grünen Augen huschten von einer Person zu anderen. »Bevor das Schneetreiben noch dichter wird, meine ich.«

»Ja, mach das.« Der Bürgermeister war vor lauter Rauch fast nicht mehr zu sehen. »Ich schicke im Laufe des Tages einen Schneider bei euch vorbei. Er wird Sachen mitbringen, damit du endlich aus den Weibersachen schlüpfen kannst. Und nun entschuldigt mich, ich muss noch ein paar Dokumente durchsehen.«

Kalfaffel stand auf und watschelte in dem den Cerêlern eigenen Gang hinaus. Seine Gattin warf dem Neugeborenen einen irritierten Blick zu, dann nickte sie in die Runde und verschwand ebenfalls. Bald hörten die drei eine leise geführte Unterhaltung auf Kalisstronisch. Matuc ahnte, dass es um das Ereignis von eben ging.

Blafjoll zog sich die Kapuze über und schritt zum Ausgang. »Machen wir uns auf den Weg, damit ich euch unterwegs noch ein paar Sachen kaufen und noch schnell Feuer im Ofen anzünden kann. Der Schnee wird so rasch nicht mehr aufhören. Und die Nächte sind kalt.«

Wieder ging es durch die Gassen und Tore, mit Matuc im Schubkarren, während Fatja übermütig durch das Wintertreiben hüpfte. Dem Kind an ihrem Bauch schien das nichts auszumachen.

Mit der Hilfe des Walfängers erstanden sie eine Krücke, Windeln, Milch und andere Nahrungsmittel, um am ersten Abend in der Fremde nicht hungrig ins Bett zu müssen.

Die Kate, vor der Blafjoll den Schubkarren absetzte, war nicht abgeschlossen und bot genügend Platz. Im unteren Bereich befand sich ein großer Raum mit einer Küche. Über eine schmale Stiege kletterte Fatja nach oben in die Schlafräume. Der Walfänger setzte den Mönch vor dem Ofen ab und entzündete ein wärmendes Feuer.

Matuc beobachtete ihn. »Ich danke Euch für Eure Sorge, Blafjoll.« Ein wenig unglücklich legte er die Hände in den Schoß. »Ich hoffe, wir können es eines Tages zurückzahlen.«

Der Kalisstri grinste und rieb sich durch den Bart. »Ich bin mir sicher, dass ihr das könnt. Und wenn es nur Geschichten aus Ulldart sind. Wir lieben Märchen und Erzählungen.«

»Darin bin ich sehr gut«, rief die Borasgotanerin von oben herunter. »Ich kenne so viele Legenden, dass ein Winter nicht ausreicht, sie alle zu erzählen.«

Er rieb sich die Hände an seiner Jacke ab und schritt zur Tür. »Ich gehe morgen zum Bürgermeister und sehe gleich im Anschluss bei euch dreien nach dem Rechten. Kalisstra sei mit euch.« Der Walfänger verschwand hinaus, ein paar vorwitzige Schneeflocken flogen in das Häuschen und schmolzen, als sie in die Nähe des Ofens kamen.

Die Schicksalsleserin kehrte mit einem Korb zurück, den sie wohl in den Unterkünften gefunden hatte. Sorgsam legte sie ihn mit Stoff aus und bettete den Knaben darin. »Wie winzig mein kleiner Bruder ist«, sagte sie zärtlich, als dessen Händchen sich in einem Reflex um ihren Zeigefinger schlossen. »Er hat noch keinen Namen.«

Verblüfft sah Matuc sie an. »Bei Ulldrael dem Gerechten! Das ging in diesem ganzen Durcheinander vollkommen verloren.« Er schaute vorsichtig in die improvisierte Wiege. »Wie wäre es mit … Lorin?«

Fatja hielt den Trinkschlauch mit der Ziegenmilch bereit, der Säugling gab erste Geräusche von sich, um seinen Durst zu melden. »Wie kommst du darauf?«

»Es ist eine Mischung aus den Namen seiner Eltern«, erklärte der Geistliche.

»Er gefällt mir«, meinte das Mädchen. »Das lassen wir uns gefallen, nicht wahr, kleiner Bruder?«

Matuc nahm die Krücke und hüpfte zum Fenster. Durch den Kitt spürte er den eiskalten Windhauch, draußen wirbelten die weißen Flocken unaufhörlich zu Boden. Knöchelhoch lag der Schnee bereits auf dem Kopfsteinpflaster, die Menschen hatten die Kapuzen ihrer Mäntel und Jacken übergestülpt, um sich gegen die frostige Pracht zu schützen. Niemand nahm Notiz davon, dass hinter dem Fenster der Kate Licht brannte.

Er seufzte. Wie es wohl den anderen erging? Ulldrael möge verhindern, dass sie tot in der See trieben. Wenn sie Ulldart retten wollten, brauchten sie alle.

»Wir lange bleiben wir wohl in Kalisstron?«, verlangte das Mädchen in seinem Rücken zu wissen, als habe es seine Gedanken gelesen.

Tief atmete der Geistliche ein. »Ich weiß es nicht«, gestand er. »Der Gerechte wird uns helfen. Wir sind sicher hier, das ist ein großer Vorteil. Und ich möchte nicht eher von hier weg, bis wir Norinas Schicksal erkundet haben. Der Junge braucht seine Mutter, und auch in deiner Vision spielte Norina eine wichtige Rolle. Vielleicht möchte Ulldrael, dass ich seine Worte auf dem Kontinent verbreite.«

»Und uns die Bewohner dafür mit Schlägen aus der Stadt treiben?«, unterbrach ihn die Schicksalsleserin. »Das wirst du schön bleiben lassen. Wohin sollen wir denn?«

Matuc schwieg und verschränkte die Arme vor der Brust. Um ein Haar hätte er das Gleichgewicht verloren, und eilig hielt er sich am Fensterrahmen fest. »Keine Angst, Fatja. Ich werde die Kalisstri nicht verärgern. Es ist nichts Schlechtes, den Namen des Gerechten zu verkünden, während wir auf der Suche nach unseren Freunden sind. Und den göttlichen Beistand haben wir allemal nötig.«

»Vielleicht macht es mehr Sinn, wenn wir uns an Kalisstra wenden?«, warf sie vorsichtig ein. »Immerhin ist das der Kontinent, den sie schuf.«

»Ich nicht«, sagte der Mönch hart. »Du kannst die Bleiche Göttin gerne verehren, aber ich halte Ulldrael die Treue, wie er sie mir gehalten hat und halten wird.«

»Ist ja gut«, beschwichtigte das Mädchen. »Es wird ausreichen, wenn ich an den Heiligtümern Kalisstras bete. Und so hat mein kleiner Bruder wenigstens eine Person, die sich um ihn kümmert, wenn die Menschen dich aus Wut zurück ins Meer geworfen haben. Und jetzt komm her. Ich zeige dir, wie man eine Windel wechselt.«

Gehorsam kehrte der Mann zurück, froh darüber, dass der Gegenstand der Unterhaltung ein anderer war.

»Was hatte das vorhin zu bedeuten? Dieses blaue Schimmern?« Fatja machte sich an Lorins Unterwäsche zu schaffen. »Bah, das riecht ja zum Übergeben!« Sie drückte das verschmutzte Leinen dem Mönch in die Hand.

Angewidert streckte Matuc die verdauten Überreste von sich und schaute sich um, wohin er den Inhalt entsorgen konnte. »Ich habe keine Ahnung«, log er. Er vermutete, dass es etwas mit den magischen Fähigkeiten vom Vater des Neugeborenen zu tun hatte. »Aber es sollte uns nicht weiter beunruhigen. Nur ein Zufall, weiter nichts.«

Die Borasgotanerin blickte ihn strafend an, der Mönch wich ihren braunen Augen aus. »Das glaubst du doch selbst nicht. Dürfen Geistliche denn lügen?«

Matuc hob die Hand mit der Windel. »Ich schwöre bei diesem Gestank, dass ich nicht weiß, was genau im Zimmer des Bürgermeisters geschehen ist. Aber, nun ja, Lorin wird vermutlich magisch begabt sein. Das Erbe seines Vaters, wie ich annehme.«

Fatja schien beruhigt. »Mein kleiner Bruder hat aber mächtig was auf dem Kasten, wenn er die Heilkräfte eines Cerêlers irgendwie verändert.«

»So soll es sein«, sagte der Mönch. »Wenn es Ulldraels Wille ist, dass er eines Tages die Dunkelheit besiegt, muss er wohl so stark sein.«

»Und er hat die gleichen Kräfte wie die Dunkelheit«, murmelte die Borasgotanerin, die sich an ihre Vision im Gasthaus in allen Einzelheiten erinnern konnte.

Beide betrachteten den halb nackten Jungen, ohne ein Wort zu sagen.

»Ich habe das Gefühl, dass uns da noch einiges bevorsteht«, meinte Fatja und reinigte das Kind zu Ende, bevor sie ihm mit zahlreichen Knoten eine neue Windel anlegte. »Wir machen es so: Du betest zu Ulldrael, ich bete vorsichtshalber zu Kalisstra.« Sie hob den Jungen hoch und musterte ihn. »Und du, kleiner Bruder, sorgst dafür, dass das Gute siegt.«

Der frische, aber zu locker geschnürte Stoff rutschte Lorins Beine hinab und landete auf dem Holztisch.

»Es ist doch schwieriger, als man annimmt«, sagte Matuc amüsiert.

Das Mädchen bedachte ihn mit einem bösen Blick und machte sich an den nächsten Versuch, die Windel richtig zu binden. Stolz präsentierte sie das Ergebnis.

Der Mönch beugte sich hinunter und schnupperte prüfend. »Gute Arbeit. Aber du kannst gleich wieder von vorne beginnen. Dein kleiner Bruder hat sich eben wieder erleichtert.«

Gespielt böse kitzelte Fatja den Säugling. »Du kleiner Stinker. Warte nur, wenn du groß bist, werde ich dich alle meine Botengänge machen lassen.«

Lorin schien zu lächeln.

Ulldart, Königreich Aldoreel, Telmaran, Winter 443/444 n. S.

Nerestro saß auf einem Baumstumpf, die Beine von sich gestreckt, die Arme auf die Parierstange der aldoreelischen Klinge gestützt, die er in den Boden gerammt hatte, und starrte geistesabwesend in die Flammen des Lagerfeuers.

Nur bekleidet mit einem wattierten Waffenrock und Unterwäsche, voller getrocknetem Schlamm vom Fuß bis zu den kurzen braunen Haaren auf dem Schädel, hockte er in einem unbekannten Waldstück, in dem er vor wenigen Stunden erwacht war. Über den Flammen hingen mehrere gehäutete, ausgenommene kleine Tiere, die in der Hitze garten und einen angenehmen Geruch verbreiteten. Um ihn herum gaben die Nachttiere ihr Konzert.

Der Ordensritter der Hohen Schwerter war in Gedanken bei der Schlacht, die für ihn nicht stattgefunden hatte. Nach dem wunderlichen Ereignis am Wasserfall wurde er, wie die vielen anderen des Geeinten Heeres, einfach von den hereinbrechenden Fluten mitgerissen und wie Unrat davongespült. Durch die Kollision mit einem treibenden Wagen brach er sich das rechte Bein. Irgendwann war er in dem dreckigen Nass untergegangen, aber auf welchem Weg er zwischen die Stämme der mächtigen Eichen gelangt war und wer seine Verletzung geschient hatte, daran konnte er sich nicht erinnern. Doch es beschlich ihn eine dunkle Ahnung.

Die Ungewissheit über den Verlauf des weiteren Tages, der unweigerlich in einen Kampf münden musste, ließ ihn fast rasend werden. Das vorsichtige Belasten seines Beins brachte ihm jedoch die Einsicht, dass er mit seinen geborstenen Knochen nicht weit kommen würde. Außerdem wäre es, sollten die Truppen des Kabcar gewonnen haben, Selbstmord, in diesem Zustand gegen sie anzutreten. Was er auch nicht beabsichtigte.

Nerestro glaubte mehr und mehr, dass es ein Fehler gewesen war, sich gegen den jungen Herrscher zu stellen. Wann immer sie unter der Führung von Matuc eine Gelegenheit gehabt hatten, den Jungen umzubringen, verpassten sie diese oder sie retteten den Herrscher stattdessen. Die Vision seines Gottes Angor, die ihm befahl, den Kabcar zu töten, wenn er zu einer Gefahr werden sollte, hielt er für ein Blendwerk der Lakastra-Priesterin.

Dafür sprach seiner Ansicht nach vor allem der Grund, dass sich Angor in die Belange von Ulldrael einmischte. Und das war sehr unwahrscheinlich. Dass ausgerechnet die Frau, die ihn die ganze Zeit über betrogen und getäuscht hatte, ihm nun wahrscheinlich noch das Leben bewahrte, grämte ihn umso mehr.

Dazu kam die vernichtenden Niederlage am Repol-Fall. Angor hatte sie bestraft. Sonst hätte er sie davor bewahrt, so unwürdig unterzugehen.

Seine Zweifel an der grundsätzlichen Schlechtigkeit Lodriks bekamen neue Nahrung. Er sah sich als Opfer von falschen Einflüsterungen. Einflüsterungen, die von dem Wesen stammten, das er einmal aus vollem Herzen geliebt hatte und für das er alles getan hätte.