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Nahezu fünftausend Jahrhunderte sind seit der Einführung der multiversalen Hintergrundzeit vergangen. Die Strukturerfassung unseres Heimatuniversums ist so gut wie abgeschlossen. Die Suche nach intelligentem Leben blieb dabei ohne Ergebnis. Das Heimatuniversum gehört alleine dem Menschen. Dann kommt es endlich zum inständig herbeigesehnten ersten Kontakt mit rätselhaften Fremden. Der bevollmächtigte Navigator Ttrebi H*tr wird von ihnen beauftragt, ein Protokoll der Menschheitsgeschichte zu erarbeiten. Diese folgenschwere Auftragsarbeit ist mit einem ausgedehnten Aufenthalt auf dem Planet Tha verbunden, dem bedeutsamsten, aber auch geheimnisvollsten Ort, den Menschen jemals betreten haben. Ttrebi H*tr verfasst ein atemberaubendes Protokoll – und strandet an den Ufern der Wirklichkeit.
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Seitenzahl: 166
Heribert Kurth
Die Niederschriften zum Fonpo-Rätsel
AndroSF 105
Heribert Kurth
UNTER DEN STERNEN VON THA
Die Niederschriften zum Fonpo-Rätsel
AndroSF 105
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© dieser Ausgabe: Juni 2020
p.machinery Michael Haitel
Titelbild: Lothar Bauer
Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda
Lektorat: Michael Haitel
Herstellung: global:epropaganda
Verlag: p.machinery Michael Haitel
Norderweg 31, 25887 Winnert
www.pmachinery.de
für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu
ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 169 3
ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 915 6
Protokollfragmente,
verfasst und konfiguriert
von Ttrebi H*tr
Die letzten Monate haben mir die atemberaubendsten Erkenntnisse jenseits jeglicher Vorstellung beschert. Im folgenden Bericht will ich versuchen, sie noch einmal neu zu betrachten.
Alle Schilderungen, Interpretationen und Überlegungen sind dabei selbstverständlich nur und ausschließlich durch meine eigene Sicht der Dinge geprägt. Sie sind nicht dazu geeignet, sich Überprüfungen auf Vollständigkeit oder Unstimmigkeiten im Detail zu unterwerfen.
Angesichts der Tragweite der uns allen bevorstehenden grundsätzlichen Veränderungen in möglicherweise sämtlichen Aspekten des Lebens sind derartige Prüfungen ohnehin irrelevant.
Verehrter Rezipient und Leser,
benommen und verstört sitze ich hier und es fällt mir schwer, meine Gedanken von dem zu erlösen, was sich erst vor wenigen Augenblicken einer Enträtselung nicht länger verweigert hat. Ja, ich hätte damit rechnen müssen, dass diesem bizarren und äußerst befremdlichen Wort – falls es denn überhaupt eins ist – eine außergewöhnliche Bedeutung zugeordnet war. Wollte ich es doch nicht zuletzt aus diesem Grunde im übergeordneten Titel für meine Protokolle verwenden.
Aber so etwas …?
Ich schaue ein letztes Mal nach oben, vorbei an den scheinbar vergnüglichen blauen Strahlen auf meiner Terrassenkuppel. Zeit, aufzubrechen … und hier und jetzt weiß ich weniger denn je, wie und womit ich beginnen soll.
Es gibt wohl mehr als nur einen Anfang und ich bemühe mich, den richtigen zu finden. Aber auf der Suche nach einem angemessenen Auftakt gehen meine Gedanken im Grunde genommen immer wieder zurück an jenen schicksalhaften Tag, der dazu führte, dass ich mich auf den Vertrag zu dieser mehr als außergewöhnlichen Auftragsarbeit einließ … damals … vor nicht ganz zwölf Monaten multiversaler Hintergrundzeit.
Es erscheint mir allerdings so, als wäre eine kleine Ewigkeit vergangen, seitdem mich die Nachricht, die so vieles – wenn nicht sogar alles – in meinem Leben für immer verändern sollte, über den Dwara-Kommunikator erreichte.
Dabei erinnere ich mich daran, als hätte es sich erst vor wenigen Augenblicken ereignet.
Ich stand kurz davor, die navigationstechnische Verankerung einer von mir neu eingerichteten, multiversalen Verbindungstangente zur Nutzung freizugeben, als der Kommunikator mich mit höchster Dringlichkeit aufforderte, so schnell wie möglich die Projektion zu verlassen.
Es hätte sich Besuch angekündigt und meine sofortige Anwesenheit in der Verwaltungszentrale sei unumgänglich und würde keinerlei Aufschub zulassen.
Ich bitte Sie, verehrter Leser, um Nachsicht, dass ich Ihr Einverständnis voraussetze, wenn ich Ihnen im Folgenden die Rolle eines Kommunikationspartners zuteile. In den kommenden Tagen sollen Sie im Geiste meine einzige Bezugsperson sein und ich werde in dieser Zeit versuchen müssen, einiges noch einmal einer neuen Bewertung zu unterziehen.
Manches von dem, was ich anschließend darlege, wird Ihnen bekannt und bewusst sein – nicht zuletzt aus den Geschichtsdateien – und es wäre für mich nachvollziehbar, wenn Sie sich schon bald fragen, aus welchem Grund ich eine Vielzahl von offensichtlichen Fakten zusammenfasse. Aber lassen Sie sich bitte von dem Umstand, dass ein anfänglicher Teil meines Ihnen vorliegenden Berichtes den Anschein einer bloßen Aufzählung von historischen Ereignissen erweckt, zu keinen voreiligen und unzutreffenden Schlussfolgerungen verleiten. Es handelt sich hierbei um ausgesuchte Originalbestandteile meiner Auftragsarbeit, deren grundsätzliche Struktur von den Auftraggebern vorgegeben wurde und ich wollte in meinem persönlichen Protokoll nicht auf sie verzichten. Jeder einzelne Passus trägt dabei seine eigene Rechtfertigung in sich. Zwar hadere ich mit mir, ob meine unprätentiöse Aufzählung gleich zu Anfang Ihr Interesse in erforderlichem Maße erwecken kann, aber ich hatte keinen Weg gefunden, die ersten Sequenzen meines Protokolls auf andere Weise zu verfassen, als durch diese Abfolge von Informationen. Weiterhin kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht zusagen, dass ich bei meinen Darstellungen dauerhaft eine chronologische Reihenfolge einzuhalten vermag, weil es mir aus unterschiedlichsten Gründen nicht möglich war, meine Recherchen als geordnete Ereigniskette durchzuführen.
An einigen Stellen verweise ich auf eine noch verbleibende Zeit bis zur Übergabe. Bitte leiten Sie aus diesen Angaben keine grundsätzlichen Rückschlüsse auf das eigentliche Entstehungsdatum der jeweiligen Passagen ab. Ich wollte lediglich verdeutlichen, zu welchem Zeitpunkt ich mich entschlossen habe, sie in meinen Bericht aufzunehmen.
Es hat einen unter Umständen erst später erkennbaren Sinn, dass ich meine Ausarbeitung exakt so aneinanderfüge, wie ich es getan habe. Ich hatte das zwingende Gefühl, es sei richtig so und ich glaubte, dass es mir nur auf diese Weise überhaupt möglich sei, jenen Aspekt darzustellen, auf den alles hinauslaufen wird – ebenso unerwartet und unvorhersehbar wie auch … beängstigend.
Ich bin sicher, Sie haben Verständnis dafür, dass ich nicht vorgreifen möchte, weshalb ich Sie an dieser Stelle um ein wenig Geduld bitten muss.
Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit veranlassen mich jedenfalls dazu, mir persönlich noch ein letztes Mal Rechenschaft abzulegen, indem ich meine bisherigen Aufzeichnungen erneut hinterfrage. Dabei protokolliere ich dies alles mittlerweile in vielerlei Hinsicht auch für mich selbst, und bevor Sie jetzt weiterlesen, möchte ich Ihnen aufrichtig versichern, dass ich es als ermutigend und äußerst angenehm empfinde, wenn Sie mich bei der Durchsicht meiner Protokolle begleiten und ich Sie an meiner Seite weiß.
Aus diesem Grunde und wohlwissend, wie schwer Ihnen möglicherweise der Zugang zu meinen Aufzeichnungen fallen könnte, rufe ich zunächst noch einmal ins Gedächtnis, dass wir alle seit den frühen Jahren der Multiversalen Gemeinschaft der Menschheit nach unserer Geburt ein Geschenk erhalten. Die Gemeinschaft stellt uns ein persönliches Valutaregister von beträchtlichem Umfang und hohem Wert zur Verfügung, mit dessen Hilfe wir ein unabhängiges und zufriedenstellendes Leben in angemessenen Verhältnissen führen können. Das Register gewährleistet unsere Erziehung und Ausbildung, deckt sämtliche Aufwendungen für unser Domizil sowie unseren Lebensunterhalt und stattet uns mit allen Annehmlichkeiten des obligaten Wohlstandes aus.
Die erforderliche Autorisierung zur Verfügungsberechtigung über unterschiedlich große Valutakontingente erfolgt in mehreren Stufen, verteilt über unsere Lebensspanne. Das Register ist unanfechtbar für die Dauer einer durchschnittlichen Lebenserwartung von hundertneunzig Jahren und wird bei Bedarf entsprechend erweitert.
Es handelt sich nicht um ein Geschenk im ursprünglichen Sinne, sondern um eine grundsätzliche Option, die jedem ein gesichertes Leben ermöglicht. Man könnte sie als Existenzobligation bezeichnen und wir begleichen sie im Laufe unseres Lebens durch unsere persönlichen Leistungen. Das Entrichten einer Regulärleistung für die kumulierte Dauer von lediglich fünfundvierzig Jahren ist erforderlich, um unsere materiellen Verpflichtungen der multiversalen Gemeinschaft gegenüber vollständig abzugelten.
Das Recht auf Regulärleistung gehört zu den Existenzrechten und die multiversale Gemeinschaft stellt Betätigungsfelder und Wirkungsbereiche in nahezu unbegrenzter Auswahl und Anzahl zur Verfügung.
Jeder Person des multiversalen Rechts steht die Möglichkeit offen, ihr Leben über die Bemessungen des obligaten Wohlstandes hinaus zu gestalten. Präziser gesagt kann jeder zu jedem Zeitpunkt seines Lebens entscheiden, die Dauer seiner Regulärarbeit zu erweitern. Ungleich wirkungsvoller ist es, sich zusätzliche Qualitäten oder Kompetenzen anzueignen, die zu speziellen Leistungen befähigen und auf unterschiedlichste Weise den Zugriff auf Sondervaluta rechtfertigen.
Wir alle können weitgehend uneingeschränkt darüber bestimmen, wie wir die Dauer unserer Existenz gestalten möchten und wir leben, was die Freiheit der Auswahlmöglichkeiten anbelangt, im interessantesten und vielseitigsten Abschnitt der Menschheitsgeschichte. Selbstverständlich zweifle ich nicht daran, dass Sie, verehrter Leser, all dies wissen. Aber ich halte es für notwendig, allseits bekannte Fakten anzuführen, um Sie auf meine folgende Feststellung vorzubereiten.
Was Sie nämlich nicht wissen – was niemand wusste oder auch nur im Entferntesten für möglich halten konnte – ist, dass uns bereits seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte spätestens zum Zeitpunkt unserer Geburt ein wahrhaftiges Geschenk zugewiesen wird. Ein Geschenk, gleichermaßen fantastisch wie geheimnisvoll, gänzlich außerhalb unseres Verständnisses und von unvergleichlicher Bedeutung …
Aus welchem Grund ausgerechnet ich dazu berufen bin, diese Dateien zu verfassen? Vermag meine bisherige Lebensführung eine derartige Hervorhebung überhaupt zu rechtfertigen? Ich konnte es zunächst lediglich vermuten – doch scheint es unausweichliche Zusammenhänge zu geben, wie ich im Verlaufe meiner Klausur erkennen sollte, und es bleibt natürlich Ihnen überlassen, zu welcher Schlussfolgerung Sie selbst kommen werden.
Jetzt, nachdem Sie in den Besitz meiner Aufzeichnungen gelangt sind, denke ich allerdings, dass ich Ihnen eine gewisse Vorwarnung schulde, weil es durchaus möglich ist, dass Ihre Entscheidung weiterzulesen für Sie nicht ohne Folgen bleiben wird.
Sie fragen sich, weshalb ich dramatisiere, wo Sie doch noch nicht einmal annähernd wissen, worum es überhaupt geht?
Nun, es war für mich ein wichtiger Bestandteil meiner Vertragsbedingungen, dass mir gestattet wird, meine Überlegungen festzuhalten und zu einem noch nicht definierten Zeitpunkt nach Fertigstellung der Arbeit weiterzugeben, und ich halte es für möglich und wahrscheinlich, dass meine Protokolle von Ihren Gedanken in ähnlicher Weise Besitz ergreifen werden, wie von meinen eigenen, und dass Sie am Ende zutiefst bedauern, wenn sich herausstellt, dass sie sich jeglicher abschließenden Bewertung entziehen. Ich will zwar versuchen, auf alle sich zwangsläufig ergebenden Andeutungen einzugehen und so viele daraus resultierende Fragen wie möglich zu beantworten, allerdings bin ich nicht sicher, ob mir das immer zu Ihrer Zufriedenheit gelingen wird.
Also wappnen Sie sich, denn jetzt haben Sie die Gelegenheit, es sich anders zu überlegen – später werden Sie es möglicherweise kaum mehr können und es ist Ihr Schicksal, mein Zeuge zu sein, wenn ich den Boden unter Ihren Füßen wegziehe.
Aber sofern Sie weiterlesen, so muss ich an dieser Stelle darauf bestehen, dass Sie dem, was ich zu berichten habe, auch gänzlich unvoreingenommen gestatten, sich zu entfalten, was sicherlich nicht immer ganz einfach sein wird.
Ich gebe Ihnen mein Wort, dass Sie es nicht bereuen sollen, Ihre kostbare Zeit zu investieren – wie Sie schon bald selbst erkennen werden.
Meine Protokolle gehen weit zurück bis in das Jahr 2017 AD. In jene Epochen vor der Einführung der multiversalen Hintergrundzeit.
Ein Rover namens Curiosity der US-Raumfahrtbehörde NASA führte in diesem Jahr im Rahmen des mehrjährigen Flagship-Programms Erkundigungen und Probebohrungen auf der Oberfläche des Mars durch, dem vierten Planeten des Sonnensystems – dem Heimatsystem der Menschheit.
Obwohl diese Nachricht recht unspektakulär erscheint – selbst im Hinblick auf ihr ungeheuerliches Alter – so wünschen meine Auftraggeber dennoch, dass sie den Beginn der Darstellungen markiert.
Seit elf Monaten arbeite ich jetzt daran, historische Fragmente zu einem Protokoll zusammenzustellen und das an einem Arbeitsplatz, der Ihre Vorstellungskraft, geschätzter Leser, womöglich stark in Anspruch nehmen wird.
Sie wissen noch nicht, wo ich mich befinde, während ich diesen Rapport verfasse, und was ich sehe, wenn ich meine Augen nach oben richte … auf den Nachthimmel.
Im Jahr 2017 war die Astronomie in ihren Kinderschuhen, doch die systematische Kategorisierung sichtbarer Objekte befand sich bereits im Aufbau. So wäre jemand, der im Jahr 2017 auf der Erde, dem dritten Planeten des Sonnensystems – dem Heimatplaneten der Menschheit – in den Nachthimmel schaute, mithilfe eines damals gebräuchlichen Teleskops in der Lage gewesen, im Sternbild Zentaur einen hellen Schimmer zu erkennen, den die frühen Astronomen mit dem Namen Shapley-Superhaufen SCI 124 katalogisierten.
Wie bei vielen anderen kosmischen Objekten hat auch diese überlieferte Bezeichnung die Zeit überdauert und sie ist heute neben dem offiziellen Begriff Rotationsanker Vier als antike Identifikation durchaus noch gebräuchlich.
Die damaligen althergebrachten Theorien vermuteten, dass die Lokale Gruppe, zu der auch unsere Heimatgalaxie gehört, durch den Gravitationseinfluss eines der bedeutendsten Massezentren unseres Universums mit der Bezeichnung Großer Attraktor in Bewegung versetzt wird.
Gleichzeitig aber hielt man es für möglich, dass eben dieser Shapley-Superhaufen SCI 124 auf das Zustandekommen der damit verbundenen Bewegungsrichtung einen nicht unerheblichen Einfluss ausübt.
Ja, ich kann natürlich an dieser Stelle sagen, dass die Vermutungen nicht unbegründet waren und sich dann auch sehr viel später im Rahmen der navigationstechnischen Strukturerfassungen unseres Heimatuniversums als zutreffend herausstellen sollten.
Weiterhin ist es nicht zu früh, wenn ich Ihnen, geschätzter Leser, gestehe, dass der Shapley-Superhaufen jenen Ort beheimatet, der in meinem Leben seine jetzige beispiellose Bedeutung erlangen sollte.
Meine aktuellen Kontaktkoordinaten in unserem Heimatuniversum verdeutlichen diese Tatsache eindrucksvoll und ich räume gerne ein, dass ich – obwohl diese Koordinaten demnächst wieder eingezogen werden – gleichermaßen Stolz und Würde empfinde, während ich sie jetzt aufliste:
Struktur: Rotationsanker 4 – SCI 124 Shapley
Galaxie: Wun Lia L004
Spiralarm: Pibra 7
System: Gaath
Planet: Tha
Siedlung: Berdonla Sa*ä
Unterkunft: Zuteilung 58A11
Dwara-Code: 3.7945-SW+PGT┤Strang 2
Name: Ttrebi H*tr
Nur eine Handvoll Personen wurde darüber informiert, wo ich mich derzeit befinde. Wer sich im System Gaath aufhalten darf, um den Planeten Tha zu besuchen, macht daraus gerne ein vertrauliches Ereignis und ich habe aufgrund meiner Vertragsbedingungen gute Gründe, ebenso zu verfahren.
Der Vollständigkeit wegen gebe ich zu Protokoll, dass ich von einem Menschen des Planeten Erde im Jahr 2017 AD durch siebenhunderteinundsechzig Millionen Lichtjahre Distanz und nahezu fünfhunderttausend Jahre multiversaler Hintergrundzeit getrennt bin.
Wenn ich meine Augen auf den Nachthimmel richte, dann sehe ich die unermessliche, glitzernde Struktur der Sloan Great Wall und was das auf Planet Tha bedeutet, kann niemand, der es nicht selbst gesehen hat, sich auch nur annähernd vorstellen.
Tha ist der Ausnahmeplanet. Er gehört zu den wenigen bewohnbaren Welten der Galaxie Wun Lia L004 und es ist nahezu unmöglich, hier einen Kontrakt über eine dauerhafte Unterkunft zu schließen.
Mein Kontrakt hat die geradezu unglaubliche Dauer eines Planetenumlaufs um die Sonne Gaath, was ungefähr elf Erdenmonaten entspricht.
Planet Tha ist nicht unbedingt von betörender Schönheit, aber ohne jeglichen Zweifel der exklusivste Ort im uns bekannten Multiversum. Nicht wenige Menschen würden alles geben, um in einer klaren Nacht der Blüteperiode auf Tha die Sloan Great Wall mit eigenen Augen zu betrachten.
Ich selbst bin in gewisser Weise aus geschäftlichen Gründen hier. Ich erfülle einen Vertrag und meine Aufgabe ist es, innerhalb eines Planetenumlaufs die kosmische Geschichte der Menschheit – ich zitiere – »in kurzen, strukturierten Fragmenten ansprechend und geradlinig« darzustellen. Der dabei zu protokollierende Zeitraum erscheint auf den ersten Blick unüberschaubar, aber ich sollte sehr schnell feststellen, dass auch eine derartige Zeitspanne sich letztlich aus nichts anderem zusammensetzt, als aus den Spuren aufeinanderfolgender Generationen.
Wie gesagt, ich sollte beginnen mit dem anfangs geschilderten Vorgang auf dem Planeten Mars. Meine Auftraggeber wünschten weiterhin, dass ich nach Möglichkeit auf detaillierte technische Hintergrundinformationen verzichte und mich auf den Verlauf der Entwicklung konzentriere.
Dieser Vorgabe komme ich weitgehend nach, zumal ohnehin nur noch Angehörige der wissenschaftlichen Cluster die technologischen Errungenschaften und Erkenntnisse der Forschung überblicken und schlüssig darstellen können. Was nicht bedeutet, dass ich mich nicht auskenne. Das Gegenteil ist eher der Fall.
Für meine Auftraggeber selbst ist eine Darstellung unserer Technologie bedeutungslos.
Ich halte es für unerlässlich, die ersten gemeinsamen Schritte der Menschheit auf dem Weg zur Eroberung des Sonnensystems sowie einige historische Ereignisse aus diesen Zeiten zu Beginn meiner Zusammenfassungen in recht nah aufeinanderfolgenden Passagen aufzuführen. Ihnen wird in späterem Zusammenhang eine nie und nimmer erwartete befremdliche Bedeutsamkeit auferlegt.
Anschließend finden selbstverständlich jene beiden epochalen Entdeckungen, durch die zunächst interstellare und letztlich intergalaktische Reisen möglich werden sollten, den ihnen zustehenden Platz.
Und ich will Sie auch an den bereits angedeuteten Punkt der Ereignisse führen, an dem Sie, werter Leser, feststellen sollen, dass die mir entgegenstürzende Realität sich jenseits dessen befindet, was ich mit meinen eigenen Worten zu beschreiben vermag.
Angesichts der Größe des zusammenzufassenden Zeitraums habe ich mich – wie von meinen Auftraggebern gewünscht – weitestgehend auf die allerwichtigsten Daten konzentriert. Und einige der denkwürdigsten finden sich in meinen Protokollen wieder.
Meine Aufgabe ist so gut wie abgeschlossen und bald werde ich diesen herrlichen Ort verlassen. Die Auftraggeber der Geschichtsschreibung hatten sich vorbehalten, den Fortgang meiner Arbeit von Zeit zu Zeit persönlich in Augenschein zu nehmen, und ihnen war sehr daran gelegen, dass ich mich in einer inspirierenden Umgebung aufhalte.
Mir war dabei natürlich durchaus bewusst, welche Art von Inspiration gemeint war, und Sie, werter Leser, werden es ebenfalls bald wissen oder haben es, da ich den Namen meines Aufenthaltsortes preisgegeben habe, bereits erkannt.
Sie neutralisierten die Registrierungskosten für meinen Aufenthalt auf Tha, was zu den wenigen Dingen gehört, die mir selbst nicht möglich gewesen wären. Im Grunde genommen äußerten sie lediglich den Wunsch, mich dort für die Dauer eines Planetenumlaufs unterzubringen, und dieser Wunsch wurde umgehend, ohne zu fragen und ohne zu zögern erfüllt.
Ein Besuch fand jedoch nie statt, was angesichts des enormen Aufwands, den ihr Eintreffen für die gesamte Umgebung des Systems Gaath bedeutet hätte, durchaus verständlich ist.
Allerdings ermöglichten sie mir eine Vielzahl von neurografischen Audienzen, um mir die Gelegenheit zu Zwischenberichten zu geben und mich ihrerseits mit zusätzlichen Informationen zu unterstützen.
Ich sagte es bereits, Sie können sich nicht annähernd vorstellen, was es bedeutet, auf Tha in den Nachthimmel zu schauen. Ich konnte es vor meiner Ankunft ebenfalls nicht. Sie erheben die Augen und haben das Gefühl, Ihren Schöpfer anzuschauen. Der Anblick zieht Sie in seinen Bann und es ist nahezu körperlich schmerzhaft, sich von ihm zu lösen.
Noch heute, nach einem fast vollendeten Planetenumlauf, sitze ich Abend für Abend ehrfürchtig und dem Anblick verfallen in der Terrassenkuppel meiner Unterkunft und schaue um Fassung ringend nach oben.
Die letzten Tage meines Aufenthalts auf Tha werde ich wohl hauptsächlich damit verbringen, die von mir erstellten Dateien ein weiteres Mal zu überarbeiten, bevor ich sie den Auftraggebern überreiche.
Ja, sie werden zur Übergabe nach Tha kommen. Eine verbindliche Ankündigung liegt vor und es sind bereits entsprechende Vorbereitungen getroffen worden.
Spiralarm Pibra 7 wird zwar von multiversalen Linienkreuzern und intergalaktischen Sternenschiffen angesteuert, es gibt aber auf Planet Tha lediglich einen einzigen planetarisch begrenzten Transportgenerator, und die Option, aus einem Raumschiff heraus per Transmissionsfeld auf die Oberfläche zu gelangen, wurde kurz nach der Entdeckung des Planeten dauerhaft blockiert.
Wer in seinem Raumkreuzer nicht über ein Landungsschiff mit integrierter Gravitationsspirale verfügt, hat keine Möglichkeit, die Oberfläche von Tha zu erreichen oder von dort wieder zu starten.
Allerdings erhalten ohnehin lediglich Regierungsschiffe und die Transportgesellschaft der Lizenzgeber eine Genehmigung zur Landung. Die geringste Lizenzstufe gilt für einen Aufenthalt von vier Tagen, und sofern es sich nicht um einen offiziellen Forschungsauftrag handelt, ist Privatpersonen hierfür die Entrichtung eines Gegenwertes von zwanzig Jahren Regulärleistung auferlegt. Der Aufenthalt für Privatpersonen ist jedoch ausschließlich außerhalb der Blüteperiode möglich und die Lizenz dazu kann nur dann auch tatsächlich erworben werden, wenn vorher eine Zuteilung durch die Regierung verfügt wurde.
Meine Auftraggeber werden mich auf die gleiche Weise abholen, wie sie mich gebracht haben.
Mit einer ihrer rätselhaften Raumgondeln.
Anfangs dachte ich, meine Übersicht über die Menschheitsgeschichte könnte zu Schulungszwecken auf allen von ihnen besiedelten Objekten zur Veröffentlichung kommen, was für mich persönlich natürlich eine große Ehre darstellen würde.
Ich sehe das mittlerweile anders und erst zum Zeitpunkt der Übergabe werde ich hierüber wohl endgültige Klarheit erhalten und auch erfahren, weshalb ihre Wahl für diese Aufgabe auf mich gefallen ist.
Obwohl ich befürchte, es bereits zu ahnen.
Die Übergabe findet statt am siebzehnten Tag des elften Monats im Jahr 19263 nach der Entdeckung von Planet Tha – dem 24. Dezember 499999 AD multiversaler Hintergrundzeit.
Ich bedauere zutiefst, dass ich Tha bald verlassen werde, andererseits gefällt mir die Vorstellung, nach Hause zurückzukehren und möglicherweise mein gewohntes Leben weiterzuführen, mit berauschenden Erinnerungen an meinen langen Aufenthalt.
Was darüber hinaus geschehen könnte, muss ich in diesen Tagen aus meinen Gedanken verbannen.
Zu Hause, das ist die Antlia-Zwerggalaxie, die zu einer kleinen Untergruppe mit der urzeitlichen Klassifizierung NGC 3109 gehört – heute natürlich besser bekannt als Silberspiegel, wie wir Antlianer unsere Heimat am äußersten Rand der Lokalen Gruppe nennen.
Der Name der Sonne ist Mentbrega 3. Mein Heimatplanet heißt Wernloga und ich wurde dort geboren und ausgebildet.
Wird es mir gelingen, rechtzeitig zurück zu sein, um an den Feierlichkeiten der fünfhundertsten Jahrtausendwende AD multiversaler Hintergrundzeit teilzunehmen? Daran darf ich jetzt nicht denken, denn es ist an der Zeit, dass ich Ihnen, werter Leser, die einführende Sequenz in einen ersten historischen Überblick öffne.
Dreihunderteins Nächte
bis zur Übergabe
2017
Die US-Raumfahrtbehörde NASA erforscht seit nahezu fünf Jahren mit ihrem Rover namens Curiosity den Planeten Mars. Untersuchte Proben enthalten Spuren von Metallen aus der Gruppe Seltene Erden. Das könnte zukünftigen Missionen zum Mars eine wirtschaftliche Vertretbarkeit verleihen.
2025
Die nächste unbemannte Forschungsmission zum Mars wird von der NASA geplant und vorbereitet, scheitert aber völlig unerwartet an politischem Konsens.
2029
Die CNSA in China plant eine eigene unbemannte Mission zum Mars. Der Name der Mission ist Shenzhou 16.
2034
Die bemannte chinesische Sonde Shenzhou 12 landet auf dem Mond.
2049
Shenzhou 16 kollidiert mit einem Meteoriten und explodiert einundneunzig Stunden nach Verlassen der Erdatmosphäre auf dem Weg zum Mars.
2064
Die neuen G10-Staaten vereinbaren, die Erforschung des Sonnensystems von nun an gemeinsam durchzuführen.
2089
Alle Staaten der Erde beschließen erneut dokumentiert, dass sämtliche Objekte im Weltall, die außerhalb der Erde zum Sonnensystem gehören, als allgemeines Eigentum der gesamten Menschheit betrachtet werden.
2106
Unbemannte Rover der neuen G10-Staaten erkunden den Mars und identifizieren große Vorkommen von Seltenen Erden. Einige Elemente aus der dritten Gruppe des Periodensystems sind mittlerweile wertvoller als Gold oder Platin.
2117
Die Erforschung des Sonnensystems wird unter die Verantwortung der Vereinten Nationen gestellt.
2135
Es gelingt, auf dem Mond Helium 3 zu extrahieren und anschließend zur Erde zu transportieren.
2161
Die Helium-3-Gewinnung auf dem Mond wird industrialisiert.
Wenig später nimmt man auf der Erde mehrere Helium-3-Fusionsreaktoren in Betrieb.
2196
Die erste bemannte UN-Mission zum Mars startet. Die Rakete wird von einem Fusionsreaktor angetrieben. Die Menschheit nimmt den Planeten Mars offiziell in Besitz.
2245
Luna Stadt ist die erste dauerhafte Niederlassung der Menschheit auf dem Mond. Einwohnerzahl zweihundertneunzig.
2281
Die Länder der Erde bilden für jeden Kontinent eine eigene Regierung. Innerhalb der Kontinente gibt es keine Staaten mehr. Jeder Kontinent behält seine Währungshoheit.
2295
Erbmaterial der gesamten Fauna der Erde sowie Samenvorräte der Flora werden konserviert und auf dem Mond gelagert.
2303
Luna Stadt beherbergt jetzt zehntausend Einwohner.
2317
Siebzehn Milliarden Menschen bevölkern die Erde.
Chromosomenbrand entwickelt sich zur verheerendsten Krankheit der Menschheitsgeschichte und löscht innerhalb von drei Jahren mehr als zwei Drittel der Menschheit aus. Die Population reduziert sich auf fünf Milliarden Menschen. Die Katastrophe ist von unbeschreiblichem Ausmaß. Alle Überlebenden sind gegen die Krankheit immun.
2348