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Mein Name ist Lena Müller, fünfundzwanzig Jahre alt, ledig, liiert, keine Kinder und eine selbsternannte Workaholicerin. Bis zu jenem Zeitpunkt, als ich unerwartet meinen Job verlor. Am Boden zerstört und Kopf leer wurden Ratlosigkeit sowie Ängste über meine Zukunft und Existenz lauter. Frustriert beschloss ich, der Situation zu entfliehen. Der einzige Ausweg aus der Misere – Urlaub! Ich flog alleine in ein mir bislang unbekanntes Land, gewann neue Eindrücke von der Mentalität, der Küche, der Menschen. Vor allem fand ich durch die Auszeit zu mir selbst und erkannte erst dadurch, was ich wollte und was nicht. Durch diese Feststellung erlangte ich zu meinem ganz persönlichen Glück. Ein sarkastisches, ironisches, aber auch ernstgemeintes Buch über eine Urlaubsgeschichte, welche die erlebten Situationen vor Ort in den direkten Vergleich zu alltäglichen Lebenssituationen stellt, aufgreift und bewertet.
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Seitenzahl: 449
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Anne Wunderlich
Urlaub - jetzt komm ich!
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel
Urlaub
Einleitung
Kollegium
1. Tag
1. Tag - Flughafen
1. Tag – Flugzeug
1. Tag – Endlich da!
1. Tag - Ankommen
1. Tag - Abendprogramm
2. Tag
2. Tag - Mittag
2. Tag - Informationsveranstaltung
2. Tag - Abend
3. Tag
3. Tag - Plateau
3. Tag - Ausruhen
3. Tag - Kaufverhalten
4. Tag
4. Tag – Massage
4. Tag – Strand
4. Tag - Kamelritt
4. Tag - Strand
4. Tag – nach dem Abendessen
5. Tag
5. Tag - Plateau
5. Tag - Strandspaziergang
5. Tag - Abend
6. Tag
6. Tag - Quadtour
6. Tag - Bazar
6. Tag - Abendessen
7. Tag
7. Tag - Strand
7. Tag - Mittag
7. Tag - Abend
8. Tag
8. Tag - Landung
Resümee
Nachwort
Impressum neobooks
Urlaub
Ich packe meinen Koffer ein,denn schon bald werde ich im Urlaub sein.In den Süden fliege ich,ganz alleine, ohne dich.Die Auszeit von dem Alltag gilt nur mir,natürlich bleibe ich in Gedanken bei dir,doch nun gilt es erholen, ausruhen und genießen,die schönen Eindrücke für immer in meinen Herzen einzuschließen.
So stehe ich vor dem Flughafengebäude,überall um mich herum ganz viele Leute.Schnell den richtigen Check-in-Schalter gesucht,hin- und hergerannt, dabei ganz viel geflucht.Zahlreiche Blicke geerntet, die Papiere vorgezeigt, den Koffer abgeben,die restlichen Sachen auf das Gebäckband legen,die Personenkontrolle überstehenund dann kann es auch schon losgehen.
Ich bin schon ganz gespannt auf meine große Reise,werde sie voll und ganz auskosten, auf meine Weise.
Das Flugzeug startet und bringt mich an mein Ziel,ich hoffe auf Sonne, Meer und Palmen – von allem ganz viel.
Voller Euphorie stehe ich nun da,der Traum, hier zu sein, ist nun wahr. Nun kann ich alles auskosten und nutzen,brauche die nächsten Tage nicht kochen oder putzen.Einfach faul sein, relaxen und die Seele baumeln lassen,kulinarisch genießen und den warmen Sand anfassen.Fühlen, hören, schmecken, tasten - alle Sinne kommen zum Einsatzund schließe die Wahrnehmungen ein wie ein Schatz.
Nun liege ich am Strand,unter mir der warme, weiße Sand,vor mir das türkisblaue Meer mit seinem Wellenrauschen -am liebsten würde ich gar nicht mehr aufhören, zu lauschen.Umgeben von Palmen und in der Hand eine Kokosnuss,gibt mir das mediterrane Flair einen Kuss.Ich bleibe für immer hier,denn hier gefällt es mir.Leider endet der schönste Urlaub irgendwann,doch die Erinnerungen bleiben, ich glaube fest daran.
Ich tröste mich, denn schon bald heißt es wieder:Urlaubszeit, Koffer packen und einsteigen in den Flieger.
Ich, Lena Müller, fünfundzwanzig Jahre alt, ledig, liiert, keine Kinder, stand beruflich noch am Anfang meiner Karriere und war dennoch mittendrin. Die Ausbildung zur Industriekauffrau absolvierte ich erfolgreich und mein Ausbildungsbetrieb bot mir die Chance zur Übernahme nach bestandener Prüfung. Zuerst für zwei Jahre. Danach erhielt ich aufgrund einer Projektbetreuung einen Vierjahresvertrag, in dem ich mich gerade befand. Die jeweiligen Befristungen störten mich persönlich nicht und nahmen keinerlei Einfluss auf meine Arbeitsweise oder Arbeitseinstellung. Ich ging dem nach, was mir Spaß machte und war dabei sehr zielstrebig und voller Enthusiasmus. In der Firma war ich etabliert und angekommen. Ich galt als eine geschätzte, erfahrene und fleißige Angestellte und erfreute mich bei meinen Kollegen großer Beliebtheit. Das Projekt forderte mich sehr, in welchem ich gleichzeitig aufging. Zu jeder Zeit konnte ich mich beweisen und zeigen, welche Fähigkeiten in mir steckten. Gerne nahm ich Überstunden in Kauf, welche Gang und Gebe waren. Selbst die Wochenenden verbrachte ich am Laptop. Mein Büro mutierte immer mehr zu meinen Zweitwohnsitz. Der Job rückte in den Vordergrund, gefolgt von meinem Freund. Erst dann kam meine Familie und Hobbys. Eine Selbstverständlichkeit für mich. Freizeit zählte in meinem Wortschatz unter die Rubrik Fremdwörter. Außenstehende bezeichneten mich nicht als krank, zumindest noch nicht, und dennoch war ich kurz davor, das Verhalten eines Süchtigen aufzuweisen. Behielten sie Recht, würde mir die Inanspruchnahme einer psychologischen Behandlung bevorstehen, für die ich allerdings keinerlei Zeit hatte. Immerhin war ich mit Arbeiten beschäftigt. Ein Teufelskreis! Auf eine halbe Stunde Therapie mal zwischendurch in der Mittagspause oder beim Durchforsten der Aktenberge, darauf konnte ich gut und gerne verzichten.
Trotz der wenigen Zweisamkeit stand mein Freund Michael voll und ganz hinter mir. Ironisch gemeint, stichelte er immer wieder: „Du verwandelst dich zu einer Workaholicerin, aber ich liebe dich trotzdem.“ Michael arbeitete im 3-Schicht-System und empfand die Situation, dass wir uns oftmals tagelang überhaupt nicht sahen, als vorteilhaft. Somit konnte er ungestört nach der Spätschicht ausschlafen beziehungsweise sich vor der Nachtschicht in Ruhe ein paar Stunden Schlaf gönnen. Daher machte es für unsere Beziehung keinen Unterschied, ob ich bis spät abends im Büro saß oder eben nicht. Wären wir bereits damals ehrlich zueinander gewesen, hätten wir uns selbst einstehen müssen, dass wir zu diesem Zeitpunkt schon nebeneinanderher gelebt haben und dies auf Dauer nicht funktioniert. Manchmal kommt die Einsicht aber erst Jahre später.
Michael und ich führten eine langanhaltende Beziehung. Wir kannten uns bereits von klein auf, besuchten gemeinsam die Grund- und später die Realschule. Zwischen uns gab es nie Streit oder Hänseleien.
Gerade im Schulalter sind Neckereien ein ganz großes Thema. Nicht nur zwischen Jungs und Mädchen, auch unter den Geschlechtern. Jeder will sich behaupten und vor seinen Mitschülern zeigen, was derjenige kann. Wenn nicht mit schulischen Leistungen, dann mit den neuesten Markenturnschuhen oder dem teuersten Handy. Gesponsert von den Eltern, versteht sich. Prestige ist manchmal alles. „Hast du nichts und kannst du nichts, dann bist du nichts!“ Zu oft habe ich diesen Satz in meiner gesamten Schulzeit von Kindern zu anderen Kindern sagen hören, was ich als schlimm und für Nonsens empfand. Erst recht im Pubertätsalter. Wenn nicht nur die ersten Haare an Körperstellen sprießen, wo man es nie vermutet hätte, sondern auch die ersten Mitesser die Gesichter zieren oder das Silber der Zahnspangen bei jedem Lächeln hervorblinkt, dann fangen die Hänseleien so richtig an. So gerne ich in die Schule ging, umso beruhigter war ich täglich nach Unterrichtsschluss, wenn mich meine Mitschüler von ihren Belustigungen glücklicher Weise verschont hatten. Falls doch jemand das Wort gegen mich erhob, war Michael an meiner Seite und verteidigte mich vehement, fast schon mehr wie ein großer Bruder, statt als Freund. Dies änderte sich schlagartig in der zehnten Klasse, denn da funkte es zwischen uns. Auf einmal spürten wir, dass wir uns gegenseitig nicht mehr als gute Kumpels sahen. Plötzlich waren Gefühle im Spiel. Dies passierte an einem späten Nachmittag, als ich mich für die Schülerzeitung kreativ austobte. Im Klassenzimmer, an meiner Bank sitzend, den Laptop aufgeklappt vor mir und Michael dicht neben mir sitzend, führte ich mit ihm ein Interview bezüglich des Fußballteams der Schule durch. Meine Aufgabe bestand darin, einen Artikel zu schreiben, in welchem ich die einzelnen Spieler vorstellte, der einen Rückblick auf die Spielsaison sowie Informationen der zukünftigen Ziele gab. Als Kapitän des Fußballteams kannte er sich hervorragend aus und versorgte mich mit Insiderwissen. Dies half mir ungemein. Er berichtete, ich schrieb. Mit viel Spaß und großem Eifer kamen wir der Aufgabe nach. Wie so oft, wenn wir zusammen waren. Die Chemie zwischen uns passte einfach.
Vertieft in das Zusammentragen der Fakten und in das Beenden des letzten Satzes des Artikels überkam mich Stolz. Das Werk war vollbracht und ich sehr zufrieden. Vor Freude fiel ich Michael um den Hals. „Wir haben es geschafft!“, jubelte ich und ergänzte weiter „Dank deiner Hilfe!“. Wir hielten einen kurzen Moment inne und als wir uns aus der Umarmung lösten, geschah es. Wir blickten in die leuchtenden und strahlenden Augen des jeweils anderen. Wir verharrten vor Nervosität. Alles und Nichts ging mir gleichzeitig im Kopf umher. Mein Herz raste. Mein Fuß wippte auf und ab. Die Welt um mich herum stand still. Ich traute mich kaum zu atmen, um die Stille und somit den Augenblick nicht zu zerstören. Obwohl ich ihn in- und auswendig kannte und ihn mit verbunden Augen detailliert beschreiben hätte können, musterte ich jede Gesichtspartie und hoffte insgeheim, dass er dies nicht bemerkte. Sein Gesicht war in meinem Gedächtnis eingebrannt und dennoch sah ich ihn gerade so an, als würde ich ihm das erste Mal gegenübertreten. Bewusster. Jede einzelne Wimper, das Farbmuster seiner Augen, die Kontur seiner Lippen, die Form seines Kinns, einfach alles inspizierte ich. Diese bislang flüchtige Wahrnehmung und Einprägung wandelte sich in diesem Augenblick zu einer ausführlichen Untersuchung. Mein Herz schlug noch schneller, als Minuten zuvor. Tief blickten wir uns in die Augen. Was war nur los mit mir? Was geschah in diesem Moment? Michael streifte eine Haarsträhne aus meinem Gesicht hinter das Ohr und verweilte mit seiner Hand in dieser Position. Sanft zog er meinen Kopf zu sich, so dass wir uns immer näher kamen und mein Herzschlag förmlich explodierte. Meine Hände wurden eiskalt und feucht zugleich. So nahe, wie zu diesem Zeitpunkt, sind wir uns vorher noch nie kommen. Bevor ich auch nur ansatzweise in irgendeiner Form hätte reagieren können, presste er auf einmal seine Lippen auf meine. Er küsste mich. Ja, er küsste mich tatsächlich! Sehr überrascht und überrumpelt, ließ ich es dennoch zu. Ich schloss meine Augen und genoss. Mein erster Kuss mit Michael. So schön und gefühlt eine halbe Ewigkeit lang. Mir wurde ganz warm. In meinem Bauch kribbelte es. Seine Lippen waren so weich und er schmeckte so gut. Selbst wenn das Klassenzimmer mit unseren Schulkameraden gefüllt gewesen wäre, hätte ich sie in diesen Sekunden völlig ausgeblendet. Das Ringsherum vergaß ich, bis er sich von mir löste und mich fast schon durchbohrend anschaute. Irgendetwas war anders. Tief in meinem Inneren waren mehr Gefühle vorhanden, als ich bislang angenommen hatte. Eindeutig, meine Hormone mussten verrücktspielen! Eine andere Erklärung gab es bei diesem eher skurrilen Bruder-Schwester-Verhältnis-Kuss nicht. Doch, eine schon: Liebe! Es war um uns geschehen. Wir verbrachten von Beginn bis zur Fertigstellung des neunseitigen Artikels viel Zeit, um genau zu sein drei Wochen, in denen wir uns einfach ineinander verliebten, ohne es zu bemerken. Aus langjährigen Freunden wurde eine gefestigte Beziehung, die nach wie vor anhielt, denn auch nach der Schulzeit trennten sich unsere Wege nicht. Wir fanden beide eine Ausbildung in unserem Heimatort und nach Abschluss unserer jeweiligen Ausbildungen und Übernahme in den Firmen beschlossen wir, zusammenzuziehen. Unsere erste gemeinsame Wohnung. Ich weiß noch, wie aufgeregt wir beide waren, als wir unseren Eltern von unserer Entscheidung erzählten. „Unser kleines Mädchen wird erwachsen“, meinte mein Papa zu meiner Mama. „Habt ihr euch das gut überlegt?“, fragte er immer wieder nach. Ja, das hatten wir! Wir waren zwar jung, aber Michael trat schließlich nicht erst gestern in mein Leben. Unsere Eltern kannten sich ebenfalls schon seit eh und je und von daher bestand keine Frage oder Zweifel in unserer Entscheidung. Wir liebten uns und wir wollten eine gemeinsame Zukunft bestreiten. Etwas wehmütig stimmten beide Elternpaare unserem Plan zu und versprachen, uns in jeglicher Hinsicht zu unterstützen.Ich kann mich noch genau an den Moment erinnern, als Michael den Schlüssel unserer ersten Wohnung im Schloss umdrehte und wir den Schritt in unsere gemeinsame Zukunft gingen. Eine drei Raum Maisonette-Wohnung konnten wir als unsere Eigene bezeichnen. Mit einem großen Balkon mit Blick über die Häuserdächer Richtung Fernsehturm und einer großen Einbauküche mit einer Kochinsel. Die Möbel für unsere Wohnung ergatterten wir im Vorfeld nach stundenlangem Suchen in verschiedenen Möbelhäusern. Pastelltöne zierten die Wände und diverse Grünpflanzen und Dekorationsartikel fanden ihren Platz. Wir hauchten der Wohnung unser Leben und unseren Stil ein. Wir fühlten uns sehr wohl, harmonierten und unser Zusammenleben funktionierte.
Glücklich waren wir, bis zu jenem Tag, an dem mich mein Vorgesetzter in sein Büro rief. Aufgeregt und angespannt betrat ich dieses. Einen Fehler gemacht zu haben - dessen war ich mir nicht bewusst. Was wollte er daher mit mir besprechen? Herr Hoyer erwartete mich bereits und bot mir den Platz ihm gegenüber an, den ich mit einer ganz unschuldigen Miene einnahm. Er setzte seine Brille ab und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf die Unterlagen, welche sich vor ihm auf dem Schreibtisch befanden. Im Anschluss blickte er wieder zu mir auf. Ich hingegen spielte nervös an meinem Kugelschreiber, den ich in den Händen hielt. Dessen Mine klickte ich rein und raus und wieder rein und raus. Dies war bestimmt nervig für mein Gegenüber, aber es lenkte mich von meiner Aufregung ab und das war das Einzige, was in diesem Moment für mich zählte. „Frau Müller, schön, dass Sie so schnell meiner Einladung gefolgt sind“, eröffnete er das Gespräch. „Natürlich“ erwiderte ich ihm und dachte insgeheim: „Ich habe ja auch keine andere Wahl.“„Wie Sie wissen, war ich in der Vergangenheit mit Ihrer Arbeit immer sehr zufrieden ...“ Da musste ich ihm nickend zustimmen. Das war er und das sagte er mir auch immer wieder. Herr Hoyer zählte zu den Chefs, die mit Lobhymnen um sich warfen, wenn dies aufgrund der Leistung seiner Angestellten berechtigt war. Wertschätzung - eine ausgesprochene tolle Sache! Umso verunsicherter war ich jetzt, was mich erwarten würde. Eins stand fest, wenn Herr Hoyer das Gespräch so begann, verhieß das nichts Gutes. Dafür war ich bereits lange genug hier tätig, um sein Verhalten und diese Situation einschätzen zu können, was mich gerade sehr unruhig stimmte. „... Sie haben wirklich hervorragende Arbeit geleistet und das Projekt hat viel Zuspruch bekommen, nur leider ...“ Er machte erneut eine kurze Pause, holte tief Luft und fuhr mit einem bedauernden Klang in seiner Stimme fort.„... wurden die Fördermittel für das Projekt unerwartet gestrichen.“ Ich wollte schlucken, aber mir blieb sprichwörtlich ein Kloss im Hals stecken. „Und das bedeutet?“, fragte ich misstrauisch nach.„Frau Müller, ich muss aufgrund der Tatsache und der generellen Sachlage Ihren Arbeitsvertrag auslaufen lassen und kann diesen somit nicht verlängern. Ich sehe derzeit leider keine anderen Möglichkeiten einer Einstellung, da alle Planstellen besetzt sind. Es tut mir wirklich leid. Ich verliere Sie nur ungern als Mitarbeiterin, aber ich sehe selbst nach Rücksprache mit dem Personalrat keinerlei andere Optionen.“ Wieder machte er eine kurze Pause und zog ein Blatt Papier aus seinen Aktenberg hervor. „Sie haben noch einige Tage Urlaubsanspruch sowie zahlreiche Überstunden. Ich bitte Sie, diese alle ab sofort zu nehmen.“ Er drehte das weiße Blatt Papier mit vielen schwarzen Zahlen zu mir um, so dass ich einen Blick darauf riskieren konnte. „Wenn Sie ihren Anspruch wahrnehmen, kommen Sie genau bis zum Vertragsende hin und somit erübrigt sich eine vorzeitige außerordentliche Kündigung. Bedenken Sie, das macht sich in Ihrem Lebenslauf besser und außerdem wird Ihr Lohn fortgezahlt.“ Er stand auf und reichte mir das Blatt Papier. „Hier haben Sie noch einmal die Aufstellung. Ich bitte Sie, heute noch Ihren Schreibtisch zu beräumen und morgen erwarte ich Ihren Büroschlüssel sowie alle betriebseigenen Dokumente und Materialen zurück.“ Dann zeigte er mir mit seiner rechten Hand zur Tür. Mir fehlten die Worte. Ich war sprachlos. Herr Hoyer führte erfolgreich sein Entlassungsgespräch, bei welchem er keine Luft ranließ und selbst wenn ich mich hätte äußern wollen, mir die Chance für einen Einwand oder Nachfragen somit verweigerte. Er ließ keinen Raum dafür. Ich saß da. Ich saß einfach nur da. Wie benommen war ich. Fassungslos. Das war ein schlechter Scherz, oder? Irrte ich mich im Monat und heute war der erste April? Skeptisch und verwirrt suchten meine Augen einen Punkt im Büro, der mir Aufschluss geben konnte. Nur fand ich diesen nicht. So bliebt nur das verdutzte Starren auf das Blatt Papier. „Das war´s? Einfach so?“, dachte ich. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Das konnte doch gar nicht wahr sein! Von jetzt auf gleich sollte ich meinen Job verlieren? Ich habe erst gestern noch bis zwanzig Uhr in der Firma gesessen und an dem Projekt gearbeitet. Jetzt sollte alles vorbei sein? Herr Hoyer wusste wohl gestern noch nicht, dass die Fördermittel gestrichen werden! Und warum überhaupt? Fast vier Jahre habe ich erfolgreich daran gearbeitet, warum werden nun, kurz vor Beendigung die Mittel gestrichen? Hatte ich etwas übersehen? Wurden die Auflagen nicht ordnungsgemäß erfüllt? Wenn dies der Fall wäre, warum hatte mein Vorgesetzter nicht eher mit mir das Gespräch gesucht? Und was wird mit meinen anderen Kollegen? Werden sie auch alle entlassen? Ich wurde wütend und zornig zugleich. „Bestimmt habe ich das geträumt. Ja, das wird es sein“, dachte ich. Garantiert lag ich noch in meinem warmen Federbett zu Hause und schlummerte vor mich hin. Einen ziemlich schlechten und fiesen Traum. So kam es mir zumindest vor. Ein Alptraum. Nur leider war es keiner. Ich vernahm anfangs eine leise Stimme, die immer lauter wurde und mich aus meinen Gedanken riss. „Frau Müller? Frau Müller? Frau Müller?“ Ich blickte auf. Herr Hoyer stand vor mir und zeigte immer noch gen Tür. Die Realität holte mich ein. Er hatte dies alles tatsächlich gerade gesagt und das Schlimme war, auch so gemeint. Ich erhob mich mit zittrigen Knien, nahm das Blatt Papier und den Kugelschreiber. Langsam trottete ich zur Tür, sah beim Vorbeigehen noch einmal in das ernste und gleichzeitig mitleidige Gesicht meines Chefs und schloss im Anschluss hinter mir die Tür. Im wahrsten Sinne. Diese Tür schloss sich, jedoch öffnete sich keine Neue. Ich stand wie benebelt da. Immer noch fassungslos. Ungläubig. Mein zu Boden starrender Blick war leer. Meine Arme hingen fast schon leblos an meinem Körper hinunter. Das Papier glitt mir aus der Hand und segelte zu Boden, genauso wie mein Gemüt, nur das dieses in ein tiefes dunkles Loch segelte. In Gleiches fiel ich soeben. Ohne Halt. Vor wenigen Stunden arbeitete ich noch voller Tatendrang an dem Projekt, hatte gute Innovationen und nun hatte ich - Nichts. Ab jetzt war ich ohne Beschäftigung und hatte keine Zeit, mich vorher seelisch und moralisch darauf vorzubereiten. Ich verlor meinen ach so geliebten Job. Es zog mir sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Ich konnte es nicht verstehen. „Warum nur?“, fragte ich mich immer wieder selbst. Mit einer Festeinstellung oder Vertragsverlängerung spekulierte ich bislang, mit dem kompletten Gegenteil hatte ich nicht gerechnet. Angst überkam mich. Zukunftsängste, aber auch Scham. Von der angesehenen Kollegin zur Gekündigten oder Entlassenen oder zu der, bei welcher der Vertrag ausläuft. Egal, wie ich es bezeichnen wollte, es kam auf ein und dasselbe hinaus – mein Job lag nicht mehr auf der Waagschale, er war weg und ich arbeitslos. Dazu kam eine plötzliche innere Leere. Was sollte mein Kollegium von mir denken? Was sollte ich Michael erzählen? Ich war ratlos, ideenlos und völlig durcheinander.
Natürlich ist es ein deutlich schwerwiegenderes Schicksal mit wesentlich mehr Konsequenzen, wenn zum Beispiel Eltern ihr eigenes Kind verlieren oder ein Familienangehöriger, Freunde oder ferne Bekannte plötzlich einer schlimmen oder lebensbedrohlichen Krankheit unterliegen, als mein Eigenes. Das steht außer Frage. Blitzartig ändert sich in einer Sekunde auf die andere das gesamte Leben. Existenzen werden vernichtet. Schlagartig lässt der Blick in die Zukunft nichts Positives erahnen und ganz viele Fragezeichen kreiseln bildlich nur noch vor den Augen umher. Das ist wirklich kläglich. Vor allem dann, wenn es den Hauptverdiener der Familie trifft, alleinerziehende Mütter oder die sogenannten Workaholics, die ohne ihre Arbeit einfach nicht sein können und ohne diese nicht so recht wissen, was sie mit der neu gewonnen Freizeit anstellen sollen. So wie ich.
„Lena, ist bei dir alles in Ordnung?“, wurde ich aus meinen Gedanken gerissen. Ernst stand neben mir und schaute mich mit großen Augen an. Immer noch sprachlos nickte ich, hob das DIN A4-Blatt auf und lief langsam zu meinem Schreibtisch beziehungsweise zu meinem Noch-Schreibtisch. Ich sank auf meinen Bürostuhl und starrte meinen Stunden- und Urlaubszettel an. Viele Zahlen. Ich hatte tatsächlich erheblich viele Überstunden, die mir jetzt zu Gute kamen. Gezwungener Maßen. Für mich hieß es nun Zwangsurlaub. Sollte ich mich darüber freuen, um auf dieser Variante eine vorzeitige Kündigung zu umgehen? Mag sein, dennoch stimmte mich die Tatsache traurig, denn der Vertrag lief so oder so aus. So viel zusätzliche Zeit hatte ich in das Projekt gesteckt und nun sollte alles umsonst gewesen sein? Ich hätte lachen und zugleich weinen und schreien können. Meine Gefühle befanden sich im Zwiespalt. Wie sollte ich mich nun verhalten? Ich konnte es nicht sagen. Zu der in meinem Kopf vorherrschenden Leere und den vielen Fragen, die mir gleichzeitig im Kopf umherschwirrten, machte sich Traurigkeit breit. Langsam fing ich an zu Realisieren und über die Worte von Herrn Hoyer nachzudenken. Ich ließ meinen Blick durch unser Großraumbüro schweifen. Mein Team war nicht mehr mein Team, sondern mein Ex-Team. Innerhalb kürzester Zeit war nichts mehr, wie es war. Mein damaliger Ausbilder wandte zu gerne das Zitat an: „Nichts ist beständiger als die Veränderung!“ Das wussten damals schon die Griechen, aber warum mussten sie alle ausgerechnet damit Recht haben?!Beim Beobachten stellte ich fest, dass sie alle bereits ein Gespräch bei unserem Vorgesetzten hinter sich haben mussten, denn sie verhielten sich dementsprechend. Frau Gersten weinte, Anna schimpfte, Sieglinde stand am Fenster und starrte nach draußen, Herr Beck packte bereits wütend seine privaten Sachen in einen kleinen Karton ein und Herr Schmidt fluchte. Unterschiedlicher konnten die Reaktionen nicht sein. Unser Großraumbüro glich einer Geisterstadt. Die Sätze von Herrn Hoyer fegten wie ein eiskalter Wind durch den Raum, der die Zettel, die auf den Schreibtischen oder in den Akten lose lagen, umherwirbelte und die Arbeit der letzten Jahre nicht nur durcheinanderbrachte, sondern regelrecht orkanartig zerstörte. Ansonsten herrschten eine bedrückte Stimmung und eine benommene Stille. Das Kollegium konnte nur tatenlos und wie in Tranche zusehen. So, als ob sie neben sich standen. Unser Team ähnelte einem kleinen Häufchen Elend. Bekümmernis überkam mich und Tränen schossen mir in die Augen, als ich in die Runde blickte. Jeder Einzelne von ihnen war mir ans Herz gewachsen. Ich kannte sie seit Beginn meiner Ausbildung und nun wurden wir auseinandergerissen. Getrennt. Für immer. Es sollte uns und unsere Arbeit nicht mehr geben. Von jetzt auf gleich. Je bewusster mir die Gegebenheit wurde, umso perplexer stimmte es mich. Herzzerreißend. Ich wusste weder ein noch aus. Ich wusste nicht, wie es morgen weitergehen würde. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Vom Workaholic zum Arbeitslosen, das konnte ich mir nicht vorstellen. Nicht ich! Was sollte ich denn den lieben langen Tag zu Hause machen? Putzen? Wäsche waschen? Shoppen gehen? Und dann? Ich brauchte eine Aufgabe, die mich fordert, bei der ich mich beweisen kann und die mich voll und ganz einnimmt und ausfüllt. Dazu zählte nicht die Hausarbeit. Diese erledigte ich bislang neben meinem Beruf und wie es der Satz ausdrückt, nebenbei. Nun sollte ich hauptberuflich Hausfrau sein? Dafür war ich nicht der Typ. Abgesehen von der Tatsache, dass ein Gehalt wegfiel beziehungsweise sich mein Anteil um ein deutliches in den nächsten Monaten reduziert. Michael und ich könnten vermutlich unseren Lebensstil in gewohnter Weise nicht auf Dauer weiterführen. Ihn aufgeben? Dazu war ich noch nicht bereit! Ich arbeitete doch nicht jahrelang fast rund um die Uhr, um mich nun privat einschränken zu müssen. Das Ziel war das genaue Gegenteil. Ein größeres Auto, ein Eigenheim, eine Weltreise, neue Kleidung, eine Märchenhochzeit, dies waren Dinge, die in absehbarer Zeit auf uns zukommen sollten und nicht das Auslaufen meines Arbeitsvertrages.Herr Beck trat an meine Seite und reichte auch mir einen Karton. „Hier, für dich Lena. Du musst wissen, ich habe gerne mit dir zusammengearbeitet und du sollst wissen, dass dich an der Misere keinerlei Schuld trifft.“ Ich wischte mir die Tränen aus dem Gesicht, warf ihm ein kurzes und mitfühlendes Lächeln zu und nahm die Pappkiste entgegen. Mit leiser Stimme sprach ich zu ihm: „Ich danke dir.“ Herr Beck nickte kurz, lief wieder an seinen Arbeitsplatz und packte weiter. Dieser Handlung folgte ich. Es half ja nichts. Den kleinen, braunen Karton stellte ich auf den Schreibtisch ab, öffnete die Schieber meines Rollcontainers und die Türen des Aktenschrankes und fing an, meine persönlichen Sachen in die Kiste zu packen. Sämtliches Arbeitsrelevantes legte ich auf die Tischplatte. Als ich nach vierzig Minuten fertig war, nahm ich ein letztes Mal auf meinen Bürostuhl Platz und starrte auf den Karton. In dieser kleinen quadratischen Schachtel befanden sich nun alle meine Habseligkeiten der letzten fast neun Jahre. Verrückt und erschreckend erstaunlich zugleich. Der Stapel Hefter und Unterlagen zu meiner Projektarbeit hingegen, den ich neben dem Karton aufgetürmt hatte, erfüllte mich mit Wehmut und Stolz zugleich. Ich starrte darauf. Das war das, was ich in den letzten Jahren geschafft und erreicht hatte. Meine gesamte Energie sowie Freude und Spaß steckte darin und als ich mir dessen bewusst wurde, ereilte mich erneut Traurigkeit und Wut zugleich. Für was dies alles?
Innerlich schimpfte ich und stellte mir selbst erneut die Frage, warum Herr Hoyer uns nicht schon eher etwas gesagt hatte? Wenigstens einen Hauch einer Andeutung wäre nett gewesen! Er wusste wohl nicht, was er uns allen damit antat? Er zerstörte Zukunftspläne, Träume und auch Existenzen. Unser Team, bestehend aus sechs Kollegen, von heute auf morgen alle ohne Arbeit. Das Kollegium war aufgelöst. Es gab weder ein „uns“ noch ein „Team“. Jetzt war jeder für sich selbst verantwortlich. Jeder musste mit der Tatsache leben und für sich selbst einen Weg finden, damit umgehen zu können und auch einen Weg finden, wie es im Leben weitergehen sollte. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zu frisch war die neue Situation. Das Einzige, was ich wusste, war, dass ich wegwollte. Einfach nur weg. Egal wohin. Raus. Mit niemanden reden, niemanden sehen, nichts machen. Einfach nur fort. Von zu Hause, von Allem. Abstand gewinnen. Das alles Revue passieren lassen, verarbeiten und in Ruhe darüber nachdenken, was heute geschah und wie mein weiteres Leben beruflich weitergehen sollte.
Als Michael von seiner Frühschicht nach Hause kam, staunte er nicht schlecht und wunderte sich gleichzeitig, warum ich schon da sei und ganz untypisch für mich, nachmittags halb vier auf dem Sofa saß. Um diese Uhrzeit und ohne Laptop auf dem Schoß, ein ganz ungewöhnliches Bild. Ich sah fern. Eine weitere Seltenheit. Er bemerkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte. Als er dann noch die voll geschnaubten und mit Tränen getränkten Taschentücher neben mir liegen sah, bestätigte dies seine Annahme. Michael setzte sich fürsorglich an meine Seite und nahm mich in den Arm. „Was ist denn passiert?“, fragte er nach. Schniefend erzählte ich ihm alles. Verständnisvoll hörte er mir zu und versuchte mich zu trösten. „Wir schaffen das gemeinsam, Lena. Irgendwie wird es schon weitergehen.“ Doch das wollte ich in dem Moment nicht hören. Er hätte alles Mögliche zu mir sagen können, es wäre bei mir nicht angekommen. Um ehrlich zu sein, wollte ich auch überhaupt keine guten Tipps, tröstende Worte, motivierende Zukunftspläne oder sonst gut gemeinte Ratschläge, denn all dies gab mir meinen Job nicht zurück. Ein großer Lebensinhalt wurde mir einfach so weggenommen, ohne dass ich irgendeinen Einfluss nehmen konnte. Ich steckte in einer ausweglosen Situation, in einer Sackgasse. Am heutigen Tag brach für mich die Welt zusammen. Vor allem, weil es so unvorhersehbar geschah. Aus dem Nichts heraus. Ohne Vorankündigung. Auch wenn das für viele nicht nachvollziehbar ist, für mich fühlte es sich so an, als wäre ein geliebter Mensch gestorben. Ganz unerwartet. Aus dem Leben gerissen. Die Arbeit war meine Bestimmung und imaginärer Freund zugleich, der plötzlich von mir gegangen ist. Und nun? Nun wird eine Leere entstehen! „Aber wir haben doch uns. Das ist doch das Wichtigste“, meinte Michael. Damit hatte er natürlich voll und ganz Recht, aber das sah ich zu diesem Zeitpunkt nicht und wollte es auch nicht sehen. Von mir selbst überrascht, überrumpelte ich ihn und schlug vor: „Ich muss hier weg. Michael, lass uns in den Urlaub fliegen. Vielleicht kann ich so von dem Geschehnis Abstand erlangen und versuchen, einfach etwas abzuschalten und neue Energie zu tanken. Wenn ich Glück habe, eröffnet sich eine neue Perspektive für mich, an die ich bislang noch nicht einmal gedacht habe.“ Michael streichelte mir über die Wange. „Wie stellst du dir das vor, Lena? Ich weiß nicht, ob ich so kurzfristig Urlaub bekomme. Ich kann lediglich morgen meinen Vorgesetzten fragen, aber es wird schwierig.“Obwohl ich mit dieser Antwort gerechnet habe, war ich enttäuscht. Ein kurzer Lichtschein am Horizont strahlte mir entgegen, war zum Greifen nah und erlosch wieder. Vernichtet. Zerstört. Genauso wie mein Anstellungsverhältnis. Einfach so. Es machte Schnipp und weg war´s. Wo war der Magier, der das Verschwundene wieder herbeizaubern konnte? Wahrscheinlich, wie alle anderen auch, beruflich unterwegs und eingebunden. Wo auch immer, definitiv nicht hier.
Der nächste TagDer nächste Tag mit unveränderter Gefühlslage brach an. Michael erlangte definitiv die Kenntnis, dass er kein Frei bekam und somit bestand für mich lediglich die Alternative, den gewünschten Urlaub allein anzutreten. Mit dieser Gewissheit machte ich mich auf den Weg in das nächstgelegene Reisebüro. Freundlich wurde ich von einer netten Dame, von mir auf Mitte vierzig geschätzt, mit langen, dunkelbraunen Haaren und einer sehr schlanken Figur, empfangen und begrüßt. Nachdem ich ihr gegenüber Platz genommen hatte, bot sie mir einen Kaffee und ein Glas Wasser an. In ihrer Gastfreundlichkeit wollte ich sie natürlich nicht bremsen und meinte: „Sehr gerne. Vielen Dank.“ Prompt stand sie auch schon an dem Kaffeeautomaten und ließ das schwarze Heißgetränk in die Tasse ein. Das Gedeck vervollständigte sie mit einer dekorativen Serviette sowie einem runden Keks und präsentierte es mir anschließend auf einem kleinen Tablett. Dann nahm sie Platz und starrte voller Erwartungen von meiner Person auf ihren Bildschirm und wieder zurück zu mir. Nach einem kurzen Räuspern unterbrach ich den Moment des Schweigens und schilderte ihr mein Anliegen. „Ich möchte irgendwo hin in den Süden, Last Minute, für eine Woche. Der Flug sollte nicht länger als vier Stunden dauern. Das Land ist mir egal, Hauptsache es ist warm, das Hotel liegt direkt am Strand und am Meer. Das Hauptziel der Reise soll für mich Entspannung sein und das ich abschalten kann, aber trotzdem ab und an gut unterhalten werde.“Die nette Dame nickte verständnisvoll und meinte: „Sie haben klare Vorstellungen. Das gefällt mir. Ich werde nachschauen, was sich für Sie finden lässt.“Ich wartete geduldig und trank genüsslich meinen Kaffee. Schließlich hatte ich keinerlei Stress oder Termin- und Zeitdruck. Auf Arbeit musste ich nicht, Michael war zur Frühschicht und kam erst gegen fünfzehn Uhr nach Hause und somit lebte ich heute ganz unbeschwert in den Tag hinein. Leider auch ohne Ziel. Obwohl, im Grunde genommen hatte ich ein Ziel und zwar ein Reiseziel für mich herauszusuchen und zu buchen. Das war es aber auch schon. Melancholisch dachte ich zurück an gestern um die Zeit, als ich noch im Büro saß, an meinem Schreibtisch, links und rechts neben mir die Aktenstapel, vor mir ein großes weißes Blatt, auf dem ich skizzierte und die Daten anschließend in den Computer eingab. Immer wieder wurde ich von dem Klingeln des Telefons unterbrochen oder von Zwischenfragen und Absprachen mit den Kollegen.
Bevor ich in Selbstzweifel und Frustration versank, riss mich die Reisekauffrau rechtzeitig aus meinen Gedanken.„Hier habe ich genau das Richtige für Sie“, meinte die Dame und drehte ihren Bildschirm in meine Richtung. „Können Sie die Bilder gut sehen?“, fragte sie sicherheitshalber nach. Ich blickte gespannt auf den rechteckigen Kasten und nickte. „Gut, also ...“, eröffnete sie ihre Erläuterungen und ich lauschte gespannt. Sie unterbreitete mir einige Vorschläge, die sich von meinen vorgegebenen Rahmenbedingungen sehr ähnelten. Meine Wahl fiel auf Tunesien, Monastir. Das Angebot sprach mich vom Preis-Leistungs-Verhältnis her am meisten an. Die einzige Bedingung war, morgen loszufliegen. Diese Prämisse stellte für mich kein Hindernis dar und ich schlug zu. Ich wäre ja schön blöd gewesen, mir den hoteleigenen Sandstrand und das türkisblaue Meer entgehen zu lassen!
Überglücklich über meinen Entschluss kam ich zu Hause an. „Ich fliege in den Urlaub! Zwar alleine, aber ich fliege. Ab ins Warme! Keine Fragen. Keine Antworten. Kein Nichts. Nur ich und … Urlaub!“, posaunte ich hüpfend durchs Wohnzimmer. Ich freute mich wirklich. Nicht nur über die Tatsache, dass ich der Misere entfliehen konnte oder endlich Urlaub zu haben, sondern darüber, endlich Urlaub zu machen. Zu erleben. So skurril das für einen Workaholic klingen mag.
Die Chance, in weiter Ferne abzuschalten und zu realisieren, stand im Vordergrund. Zu mir selbst sowie zu einer neuen Aufgabe zu finden, ebenfalls. Mein Plan stand. Nun hoffte ich nur noch, dass dieser glückte. Auf dem Gebiet des Verreisens und alles damit im Zusammenhang Stehende, bezeichnete ich mich eher als Laie. Kaum zu glauben, aber mein letzter Urlaub lag bereits ganze neun Jahre zurück. Abschlussfahrt der zehnten Klasse, wenn man dies überhaupt als Urlaub bezeichnen kann. Seitdem nie wieder. Abgesehen von verschiedenen Wochenendtrips mit Michael, aber diese verbuche ich unter den Begriff Kurztrip. Zugegeben, den Drang arbeiten zu müssen und zu wollen, hat mich oft von einer längeren Erholungsphase abgehalten. Bereits am Wochenende, egal, ob ich alleine oder mit Michael zusammen war, ob wir zu Hause oder in einem SPA-Hotel waren, mich überkam spätestens Sonntagnachmittag eine gewisse Unruhe. Unruhe, der Sucht der Arbeit nachzugehen. Wenn ich dieser Aufgabe nicht nachkommen konnte, stimmte mich das schlecht gelaunt. Missmutig. Ich war genervt und bereits nach kurzer Zeit auch mein Umfeld.Natürlich sprang ich nun in ein sehr riskantes Abenteuer. Eine Woche lang Nichtstun. Keine Verpflichtungen. Versuchen, den Gedanken freien Lauf zu lassen. Ein Wagnis für mich. Dennoch überwog die Freude und Lust, mich darauf einzulassen und dem, ich nenne es mal zwangsweißem Dahingammeln zu Hause zu entkommen. Das eine Woche nicht der unendlich lange Urlaub ist und die Welt verändern würde, dessen war ich mir bewusst, aber eine Woche ist länger als zwei oder drei Tage und für mich als Arbeitssüchtige eine halbe Ewigkeit. Und dann noch alleine? Auf einmal wurde ich unsicher. Traute ich mir dies tatsächlich selbst zu? In einem fremden Land, dessen Sprache ich nicht mächtig war? „Oh Gott, jetzt ist alles schon gebucht!“, sprach ich laut aus. „Lena, Du bist eine taffe und selbstbewusste Frau. Was soll denn schon schief gehen?“ Diese Frage konnte ich mir selbst mit „Nichts“ beantworten und zog ein Fazit meiner Zweifel der letzten Minuten: Es wird eine sehr amüsante Erfahrung, sich alleine auf eine Reise mit ungewissen Vorstellungen, Zielen und Kenntnissen zu begeben. Jedoch bin ich auch fest der Meinung, dass mir ausschließlich als Alleinreisende Dinge widerfahren, die ich sonst garantiert nicht erleben würde. Es beginnt bereits mit den Blicken am Flughafen, aber eins nach dem anderen.
Leider weiß ich bereits jetzt, dass ich die schönen, aber auch negativen Erlebnisse und Momente mit niemanden teilen kann. Abgesehen von der lauernden Tücke des nicht Zurechtfindens. Dies könnte zu einer großen Herausforderung für mich werden.
Liebe Leser und Leserinnen, sind Sie bereit, alleine zu verreisen und sich somit auf ein spannendes und unterhaltsames Abenteuer einzulassen? Der Gewohnheit zu trotzen und Neues auszuprobieren? Lohnenswerte Erfahrungen zu sammeln, um am Ende des Urlaubs garantiert ein positives Resümee zu ziehen? Ich schon!
Das soll nicht heißen, dass ich meinen Freund nicht liebend gerne an meiner Seite gehabt hätte, aber selbstverständlich akzeptierte ich, dass er so kurzfristig kein Frei bekam. Abgesehen davon, war ich nur eine Woche weg und nicht Monate oder für immer. Außerdem war ich aus vorbenannten Gründen meiner Überlegungen froh darüber. Selbstfindung funktioniert einfach nicht, wenn ständig mich jemand nicht mich selbst sein lässt! Mit schlechter Laune hätte ich Michael vermutlich die komplette Urlaubsstimmung ruiniert. Genau deswegen ließ er mich alleine in den Urlaub ziehen. Er wusste, wenn er dagegen redet und ich mich ihm zuliebe umentscheide und hierbleibe, ich nur grüble, mich in meinem Bett tief unter die Decke verkrieche und Trübsal blase. Insgeheim hoffte Michael, dass seine Freundin nach einer Woche Distanz nach Hause kommt, die Welt mit anderen Augen sieht, gut gelaunt und motiviert ist. Seine Lena sollte wieder so hergestellt sein, wie er sich in sie verliebt hatte. Tief in meinem Inneren hoffte ich das auch von mir selbst. Somit war meine ganz persönliche Auszeit auch gleichzeitig ein Ansporn an mich selbst. Zeit für mich. Zeit zum Nachdenken, neue Pläne zu schmieden, zum Erholen und Entspannen und es war eine kleine Auszeit von Michael. In gewissermaßen unsere kleine Auszeit voneinander, welche meiner Meinung nach einer Beziehung nie schadet. Im Gegenteil, denn dann bemerkt der Andere, ob und was ihm fehlt und die Freude, den Partner wieder in seine Arme zu schließen, ist umso größer. Ich jedenfalls freute mich auf meinen Urlaub und auf das Wiedersehen mit Michael.
1. TagMein Koffer war gepackt und der Rucksack sehr gut gefüllt. Obwohl das Reiseziel im Warmen lag, hatte ich allerhand Klamotten eingepackt. Vom Bikini über Sportsachen, schicke Abendgarderobe, bis hin zum Pullover und lange Jeans. Man weiß ja nie, wie die Temperaturen sind und was ich zum Anziehen benötige. Dementsprechend packte ich auch reichlich Schuhe in den Koffer ein, denn viele Anziehsachen bedeuteten viele Schuhe. Für jeden Anlass das passende Outfit, so lautete meine Devise. In meinem Rucksack hingegen befand sich mehr oder weniger Freizeitbeschäftigung. Ein Buch, eine Rätselzeitung und eine Illustrierte mit dem neuesten Klatsch und Tratsch, aber auch Notwendiges wie mein Portemonnaie, das Handy, die Digitalkamera und die entsprechenden Ladekabel. So war ich gut gewappnet. Im Normalfall gehörte ich zu der Sorte, die ein Handy nicht mit in den Urlaub nehmen oder ins Kino, auch nicht in ein Fitnessstudio oder sonst irgendwo hin, aber da ich diesmal ganz alleine unterwegs war, bestand Michael darauf, dass ich es einpacke. „Falls doch mal irgendetwas mit dir ist, kannst du sofort anrufen oder eine Nachricht schicken. Außerdem bist du für mich erreichbar.“ Sicher ist sicher. Dennoch nahm ich mir vor, mein Mobiltelefon ausgeschaltet und gut verwahrt im Safe des Zimmers zu lassen. Immerhin wollte ich meine Ruhe haben und abschalten.
„Sobald du angekommen bist, meldest du dich bei mir, ja!?“, redete Michael mir ins Gewissen, als wir vor der großen Drehtür des Abreiseterminals am Flughafen standen. Ich nickte und dann fielen wir uns zum Abschied in die Arme. Ein leidenschaftlicher Kuss folgte. Michael wollte mich nicht in das Gebäude begleiten. Abschiednehmen, auch nur für eine kurze Zeit, war generell nichts für ihn und versuchte es weitestgehend zu vermeiden. Obwohl er ein Gefühlsmensch ist, war er dafür einfach nicht geschaffen oder gerade deswegen. Es erinnerte ihn immer so an Trennung und damit verbundenen Schmerz. Ein lang gehütetes Kindheitstrauma, wie ich vermutete oder er wollte als Mann mir gegenüber einfach keine Schwäche mit einem vermeidlichen Tränenausbruch zeigen. Ich war ihm nicht böse. Ich besaß die Gewissheit, dass er mich ungern alleine gehen ließ und mich sehr vermissen würde, auch wenn er es in der Situation nicht zugegeben und sagen konnte.„Ich liebe dich Michael“, flüsterte ich ihm ins Ohr.„Und ich dich, wie verrückt. Pass gut auf dich auf, hörst du Lena?“, erwiderte er.Er machte sich große Sorgen um mich. Das fand ich niedlich. Vor Rührung schossen mir die Tränen in die Augen. Eine letzte Umarmung, dann wurde es auch schon Zeit. Um nicht den alten Lederkoffer meiner Eltern, den ich für die Reise als Meinen bezeichnet durfte, durch das große Flughafenterminal schleppen zu müssen, hievte Michael diesen sowie den Rucksack auf einen der Gepäckwagen. Dieses große braune Rechteck verfügte zwar über Räder, so dass ich diesen bequem hinter mir herziehen konnte, jedoch spürte ich bei jeder Berührung des Leders den Inhalt des Koffers. Jeder Absatz meiner Schuhe verwandelte sich in einen Dolch, die Ecken der Kosmetiktasche zu Nadelspitzen, welche lediglich von meiner langen Jeans abgehalten worden, sich direkt in meinen Beinen zu verewigen. Nicht nur blaue Flecke wären jetzt garantiert!„Warum genau kaufte ich mir bislang noch keinen Hartschalenkoffer mit Rädern? Wer behauptete bislang, dies rentiere sich nicht? Richtig, ich vergaß, ich selbst!“. Wie sehr ich das in diesem Moment bereute! Zum Glück gab es Gepäckwagen. Ich danke dem Erfinder! Ein letzter Kuss und dann stieg Michael in sein Auto ein. „Ich wünsche dir viel Spaß und erhole dich, mein Schatz“, rief er mir noch zu, bevor die Autotür ins Schloss fiel. Er startete den Motor und dann brauste er rasant davon. Wäre heute im Radio ein Gewinnspiel ausgerufen worden, nach dem Motto „Wer fährt am schnellsten von dem Flughafengelände? Derjenige bekommt fünfhundert Euro geschenkt, cash auf die Hand“, hätte er den Gewinn schon mal sicher gehabt. Wie bereits erwähnt, Abschiede waren einfach nichts für Michael und schon gar nicht von seiner Freundin. Durch die Heckscheibe sah ich ihn noch winken und dann hupte er kurz, bevor er um die Kurve vor und aus meiner Sichtweite verschwand.
Da stand ich nun, in der einen Hand mein Flugticket, in der anderen umklammerte ich den Griff des Kofferwagens. Ich, eine junge Frau, allein, vor dem riesigen Gebäude auf weiter Flur. Erneut überkam mich ein kurzer Zweifel. Hatte ich den richtigen Entschluss getroffen? Sollte ich tatsächlich alleine verreisen? Und dann auch noch ins Ausland? Ich hoffte, ich hatte mir das gut überlegt und das alles gut ginge. „Nein, das war eine gute Entscheidung.“ Schnell schob ich die schlechten Gedanken beiseite und meine Vorfreude auf diese Reise hielt wieder Einzug. „Ab in den Süden“, dachte ich. Jetzt begann MEIN Urlaub.Staunend und beeindruckt von der großen Flughafenhalle bewegte ich mich auf der Rolltreppe Richtung der Schlange am Check-in-Schalter zu. Kurz zuvor musste ich meinen ach so nützlichen Kofferwagen abstellen, schnallte mir somit meinen Rucksack auf den Rücken und hievte und zerrte den Koffer über den Fliesenboden des Gebäudes und reihte mich in die endlos lange Warteschlange ein. Mein Gepäck fand neben mir Platz, darauf meine Jacke, das Flugticket und alle weiteren Papiere, die später von der Dame am Schalter benötigt wurden. Nun war Warten angesagt und Geduld haben. Ich schaute mich um. Genügend Zeit dazu blieb immerhin. In der Schlange hatten sich zahlreiche ältere und jüngere Pärchen sowie Familien eingereiht, die mehr oder weniger ausdauernd auf den Beginn ihres bevorstehenden Urlaubs warteten. „Ich glaube, ich bin die Einzige, die alleine reist“, dachte ich. „Oder ich bin im falschen Komplex?“ Im Businessterminal wäre ich unter den zahlreichen Geschäftsleuten gar nicht aufgefallen, aber hier im Urlaubsterminal erntete ich bereits jetzt schon die ersten seltsamen Blicke. Während ich versuchte, mich mit Lesen der Anzeigetafel abzulenken, rückte die Schlange und somit auch ich, hin und wieder tatsächlich und exakt einen Millimeter vor. Dabei stellte ich immer deutlicher fest, wie ich von den anderen Passagieren mit kritischen und abwertenden Blicken begutachtet und gemustert wurde. Von oben bis unten und wieder zurück. „Oje, das kann ja heiter werden“, dachte ich. „Naja, das Abenteuer beginnt. Mit allen Unannehmlichkeiten.“ Ich redete mir ein, dass sie wahrscheinlich ganz zufällig in meine Richtung schauten, als ich mich ihnen zuwandte. Somit probierte ich krampfhaft, die Blicke der Anderen zu ignorieren und scannte regelrecht jeden Winkel der Halle mit meinen Augen ab. Irgendwann erschöpfte auch diese Ablenkung. Nun blieb nur noch das Zurückmustern der Fremden. Egal in welche Richtung ich blickte, überall trafen mich Blicke der Mitreisenden. Langsam fühlte ich mich wie ein kleines Mäuschen, welches von hungrigen Katzen mit ausgefahrenen Krallen umkreist wird und angsterfüllt darauf lauert, dass sie alle über das verängstigte, schüchterne Tierchen herfallen. Warum gerade ich? Unwohlsein überkam mich. Ich wurde nervös und hoffte insgeheim, dass mein Deodorant mir die Treue erwies und jetzt nicht versagen würde. Keine Angriffsfläche für die Lästermäuler bieten!„Was ist?“, wollte ich am liebsten Herausbrüllen. „Habe ich einen großen Fleck auf meiner Hose, der jedem auffällt, nur mir bislang nicht? Habe ich Schokolade im Gesicht verschmiert oder doch einen Kaugummi im Haar kleben?“ Irgendetwas musste an mir dran sein, was ich bislang nicht bemerkt hatte, aber dem Anschein nach alle Blicke auf mich zog und lenkte. „Stopp! Heute keine Fleischbeschauung!“Meine Gegenoffensive scheiterte. Ich versuchte mich wenigstens so zu verhalten, als würde ich die Begutachtungen überhaupt nicht bemerken, doch das funktionierte nicht im Ansatz. Nächste Option, die Suche nach einem neutralen Punkt auf dem Fußboden. Dies glückte, doch ich wusste und sah auch im Blinkwinkel, dass ich die Hauptattraktion in dieser Räumlichkeit war. Die Frau in der Warteschlange nebenan empfand dies offensichtlich auch so. Seit dem Moment ich mich zu den Warteten eingereiht hatte, beobachtete sie mich. Obwohl, beobachten ist nicht das richtige Wort, für das, was sie machte. Sie zog mich schon förmlich aus, so penetrant starrte sie. Es störte mich und das musste ich ihr irgendwie nonverbal begreiflich machen. Es gab keinen Grund, dass ich mich wegen so einer Sonnenbank Gebräunten unwohl fühlte. Nein, ich gab mir einen Ruck, holte tief Luft und starrte sie genauso an, wie sie mich. Fast schon erschrocken reagierte sie, wandte ihren Blick mit einer Peinlichkeit ab, drehte sich zu ihrem Mann um und tuschelte. Die beiden grinsten kurz und machten eine abwertende Kopfbewegung. „Was soll das heißen?“, fragte ich mich selbst. Was soll ich von so einer Reaktion halten? Das kann ja noch spaßig werden! Ich wünschte mir jetzt schon Michael oder eine Freundin als seelische und moralische Unterstützung an meiner Seite. Dann hätte ich selbstbewusster den Mitreisenden die Stirn geboten und sämtliche Angriffsfläche zum Lästern meiden können. Naja, so sorgte ich wenigstens für Gesprächsstoff und Unterhaltung der Anderen. Bitte, gern geschehen, liebe Mitwartenden!Ich wandte mich der Sonnenbankliebhaberin und ihren Mann ab. Immerhin wussten sie jetzt, dass ich ihre Abneigung mir gegenüber bemerkt hatte. Meine Aufmerksamkeit lenkte ich auf mich und stellte fest, dass ich noch nicht einmal im Flugzeug saß, aber schon sehnsüchtig an Michael und Anna dachte. Nein, ich musste selbstbewusst und entschlossen sein! Immerhin freute ich mich so sehr auf meinen Urlaub, auf meine persönliche Auszeit und auf das Abschalten meiner Gedanken. Die Entscheidung hatte ich getroffen und dazu musste ich jetzt stehen, stark und motiviert. Komme, was wolle. „Nur bitte lass die Warteschlange zügig vorrücken, so dass ich schnell im Flugzeug sitze!“, betete ich zu Gott.Mein Flehen und Betteln wurde erhört. Die Schlange rückte mit einem Schlag einige Schritte vor und ich war endlich an der Reihe. Es gibt doch ein Wesen, ganz weit oben im Himmel, der gerade ein Erbarmen mit mir hatte und mich von meinem Leid der Blicke erlöste. Danke! Die Dame hinter dem Schalter schaute auf und lächelte mich freundlich an. „Reisen Sie alleine?“, erkundigte sie sich sicherheitshalber. Skeptisch prüfte ich, ob jemand unerlaubter Weise den Sicherheitsabstand nicht einhielt und sich direkt hinter mich geschmuggelt hatte, so dass die Dame davon ausging, dass ich in Begleitung war. Da war niemand, also nicht direkt hinter oder neben mir. Mit runzelnder Stirn blickte ich die Flughafenangestellte an und meinte in einem ruhigen Tonfall: „Ja, ich reise alleine“ und stellte meinen Koffer auf das Laufband links neben dem Schalter.In dieser Situation hätte ich auch anders reagieren können, denn ihre Frage fand ich sehr unangebracht. Sie nahm mich seit über eineinhalb Stunden wahr und konnte feststellen, dass ich ohne Begleitung reiste. Zu den abwertenden und kritischen Blicken kam nun so eine Frage. Ihr Glück, dass ich mich beherrschen konnte und ruhig geblieben bin. Anderenfalls wäre das Szenario bestimmt folgendermaßen abgelaufen:
„Sie reisen alleine?“, fragte mich die nette Dame am Schalter. Ich überlegte, ob sie dies ernst meinte und brüllte mit rasenden Puls lautstark durch die Halle: „Naja, klar oder sehen Sie hier noch jemanden neben mir stehen?! Ist das denn so ungewöhnlich? Bin ich denn der einzige Mensch auf der Welt, der alleine reist? Und Ihr alle hinter mir in der Schlange und die, die bereits von der Warteschlange nebenan eingecheckt haben – was klotzt Ihr mich eigentlich so blöd an?“.
Ich denke, mit dieser Variante hätte ich mich nicht nur bei der Check-in-Frau unbeliebt gemacht, auch bei den anderen Passagieren. Ein Anlass mehr zum Tuscheln, Mustern und mich wahrscheinlich für verrückt erklären zu lassen. Am liebsten hätte ich mir Luft gemacht und das, was mir die gesamte Zeit über auf der Zunge lag, von der Seele schreien wollen. Ich appellierte an meine Vernunft, kontrollierte meine zwiespältigen Gefühle und entschied mich für das erste und ruhigere Szenario.
Die Dame scannte das Flugticket ein, überprüfte meinen Ausweis und klebte die Banderole um die Kofferschlaufe. Nun ging dieser auf Reisen und ich wusste, ich folgte ihm in ein paar Minuten. Das Handgepäck führte ich mit mir.„Einen guten Flug“, wünschte mir die Frau und händigte mir all meine Papiere mit einem freundlichen Grinsen wieder aus. Erlösung! Nun war der Weg frei zur Personenkontrolle, die ich mit Bravour bestand. Nachdem der Metalldedektor keinerlei Alarm schlug und der Rucksack nichts Auffälliges aufwies, winkten mich die Luftsicherheitsassistenten freundlich durch und wünschten mir ebenfalls einen angenehmen Flug.
Der Blick auf die Uhr verriet mir, dass bis zum Boarding noch reichlich Zeit blieb. Daher nahm ich auf einen Sitz der Stuhlreihen in der Wartehalle Platz. Von hier aus konnte ich die zum Abflug bereitstehenden Flugzeuge betrachten. Auch das Rollfeld hatte ich im Visier. Hier saß ich wirklich gut. Ich machte es mir bequem und genoss die Aussicht. Das rege Treiben in und außerhalb der Halle beobachtete ich. Flugzeuge landeten und starteten, Passagiere gesellten sich zu mir und verschwanden wieder. Das reinste Durcheinander. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaute ich erneut auf meine Armbanduhr. Ich erschrak. Es waren erst sieben Minuten vergangen. Und nun? Immer noch viel zu viel Zeit bis zum Aufruf und bis der Flieger endlich starten konnte. Mein Blick ließ ich erneut durch den riesigen Bereich des Terminals schweifen, diesmal auf der Suche nach einer Beschäftigung, um die Wartezeit zu überbrücken. Mein im Rucksack mitgeführtes Buch wollte ich nicht herausholen und anfangen zu lesen. Dieses sollte erst auf meiner Liege am Strand zum Einsatz kommen.Apropos, weit hinter mir auf der rechten Seite erspähte ich einen Buchladen. Kurz entschlossen nahm ich mein Hab und Gut und steuerte das Geschäft zielstrebig an. Dort angekommen, durchblätterte ich diverse Zeitschriften, Bücher, betrachtete Postkarten und kleine Verkaufsartikel, die im Kassenbereich präsentiert wurden. Eigentlich interessierte mich das alles gar nicht, denn ich wollte nur die Zeit bis zum Abflug überbrücken, aber gebildet und intelligent sah ich bestimmt beim Stöbern aus und um einige Informationen und Neuigkeiten aus der Welt der Schönen und Reichen war ich ebenfalls schlauer. Ich schlug zwei Fliegen mit einer Klappe, wie es sprichwörtlich so schön heißt und nahm im Anschluss, bewandeter als vorher, in der Sitzreihe vor dem Buchladen Platz.Mittlerweile, das heißt nach weiteren zwanzig Minuten, war ich vom vielen Warten etwas gelangweilt und wenn eine Lena gelangweilt ist, dann überkommt sie schnell schlechte Laune. Da es aber in den Urlaub ging, war diese total fehl am Platz! Nun hieß es, ablenken. Nur womit? Mein Handy hatte ich bereits ausgeschaltet und ganz weit unten in meinem Rucksack verstaut. Den Buchladen hatte ich ja auch schon durchgestöbert. Etwas essen oder trinken? Ach nein, kein Bedarf. Auf Toilette gehen? Das geht als Frau immer! Mit langem Händewaschen hinterher und nochmal die eine oder andere Haarsträhne richten, ja, da kann ich auch noch ein paar Minuten Zeit schinden. Außerdem lag die Toilette am anderen Ende der Halle. Wenn ich ganz langsam hinlaufe, vergeht auch noch etwas Zeit. „Ja, das ist eine gute Idee“, bestätigte ich selbst meine Strategie und machte mich auf den Weg. Doch dann plötzlich, auf halber Strecke, ertönte durch die Lautsprecher ein Gong, gefolgt von dem Aufruf zum Boarding. Meine Flugnummer. Endlich, es konnte losgehen! Ich war total aufgeregt. Freudig aufgeregt. Endlich ging es aus dem verregneten Deutschland ins Warme. Dorthin, wo die Sonne immer lacht. Ach, war ich auf einmal mit Glückshormonen geflutet. Ausgerechnet jetzt hätte ich wirklich auf Toilette gemusst, aber man muss im Leben Prioritäten setzen und bei der Wahl zwischen einem Toilettengang oder das Flugzeug zu verpassen und somit den Urlaub des Jahrhunderts, da fiel die Entscheidung nicht schwer. Erneut stellte ich mich an. Diesmal am Boardingschalter. Hier rückte die Schlange deutlich schneller weiter. Die benötigten Unterlagen zeigte ich vor, welche der junge Mann in Uniform einscannte und freundlich meinte: „Guten Flug.“ Ich bedankte mich höflichst, verließ das Terminal über den Flugsteig und betrat die Gangway, welche deutlich zu kühl klimatisiert war. Zum Glück trug ich meine Jacke bei mir und zog sie schnell an. Voller Vorfreude lief ich die Fluggastbrücke entlang. Ein Blick nach draußen wurde leider allen Passagieren verwehrt, da diese eine der geschlossenen Variante war, also ohne Fenster. Der Vorteil daran, alle Flugreisenden mussten nach dem Verlauf des Boarding nicht mehr das Flugfeld betreten und gelangten direkt in die Maschine. Gerade bei schlechtem Wetter optimal, wie ich finde. Nun kam ich mich vor, als würde ich als Winzling durch eine Wasserrutsche gehen, nur ohne Wasser und ohne zu rutschen und dass die Wände eckig waren statt rund. Am Ende der Rutsche plumpste ich auch nicht in das kühle Nass, sondern wurde von zwei freundlich lächelnden Stewardessen begrüßt. Wie im jetzigen Moment, als ich den Flieger betrat. Eine der beiden Flugbegleiterinnen reichte einen Korb mit Bonbons. Natürlich griff ich zu, ich wollte schließlich nicht unhöflich sein. Außerdem erfüllte das süße Naschwerk einen nützlichen Zweck. Irgendwie musste ich den Druckunterschied auf meine Ohren beim Start und der Landung ausgleichen. Warum die eigenen Bonbons dafür verschwenden, wenn mir hier welche so freundlich angeboten worden und dann auch noch gratis? Zugreifen, hieß meine Devise. Mitnehmen, was ich bekommen und tragen kann! Auf der Suche nach meinen Sitzplatz lief ich den schmalen Gang entlang und kämpfte mich mit Lesen oberhalb der Sitze einundzwanzig A, einundzwanzig B, einundzwanzig C, zweiundzwanzig A und so weiter durch die Reihen. Gefunden. Den Fensterplatz konnte ich als den Meinen bezeichnen. Ja gut, wenn man von den abgenutzten und abgewetzten Sitzbezügen absieht, die einst bestimmt in einem kräftigem Grün leuchteten, nun aber mit einem graubraunen Film überzogen waren, war der Platz ganz annehmbar. Jetzt nur noch schnell den Rucksack und die Jacke über den Sitzen verstauen, Platz nehmen und die Maschine mustern. So ähnlich, wie es vorhin die anderen Passagiere in der Warteschlange bei mir angewandt hatten, so war nun der Flieger an der Reihe. Meine eigene Qualitätskontrolle. Ich saß gut, der Sitz war widererwartend bequem. Eine gute Aussicht wurde mir geboten. Genau auf die Tragfläche. Zu meiner Erleichterung sah ich keinen Rost und die Fenster, die waren zwar dreckig, aber hoffentlich dicht.