Vegan für alle - Jan Bredack - E-Book

Vegan für alle E-Book

Jan Bredack

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Beschreibung

Jan Bredack sagt selbst: »Veganer waren früher für mich Extremisten, die nicht alle Latten im Zaun haben.« Inzwischen weiß er, wie gut ihm die neue Ernährungs- und Lebensweise tut. Er war auf der Karriere-Überholspur, schon mit 30 Jahren leitender Manager bei Mercedes, daneben eine Familie mit drei Kindern und Triathlon als Hobby. 2008 klappt Bredack zusammen und ändert sein Leben daraufhin komplett. Er, der bis dahin alles in sich reingeschaufelt hat, was ihm auf den Teller kam, wird Veganer. 2011 steigt er bei Daimler aus und gründet in Berlin den veganen Supermarkt Veganz, aus dem gerade eine europaweite Kette wird. Anhand Bredacks persönlicher Geschichte erzählt das Buch viel Wissenswertes über die vegane Lebensweise und liefert erschütternde Fakten, die für ihre ökologische wie ökonomische Notwendigkeit sprechen. Ein Impulsbuch, das nicht missioniert, sondern inspiriert und zum Nachdenken bringt!

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Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

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ISBN 978-3-492-96677-1

© 2014 Piper Verlag GmbH, München

Covergestaltung: Favoritbuero, München

Datenkonvertierung: Tobias Wantzen, Bremen

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Vorwort

Ich bin ein Verkäufer. Ich habe mit Autos gehandelt, jetzt handle ich mit Lebensmitteln. Das ist mein Metier. Und ich will Ihnen etwas verkaufen.

Ich verkaufe Ihnen eine Idee.

Diese Idee macht Sie gesund, glücklich und zufrieden. Diese Idee rettet die Welt, sie beseitigt den Hunger und schafft Frieden. Und das Beste daran ist: Sie müssen nur umdenken. Klingt gut? Nun, es ist nicht meine Idee. Ich bin nur einer von vielen, die den Traum von einer besseren Welt teilen. Das ist naiv? Keine Sorge, ich bin nicht naiv. Ich war ein ziemlich ausgebuffter Karrierist. Vom kleinen Ossi zum Millionär. Ich war ein Tierquäler, verantwortungsloser Familienvater, Angeber und Vertilger von Massentierfleisch vor dem Herrn.

In diesem Buch erzähle ich meine Geschichte. Nicht, weil ich mich für etwas Besonderes halte, sondern weil ich mit Ihnen teilen möchte, was ich erlebt und erfahren habe. Ich will Sie auch nicht missionieren. Wenn Sie meine Geschichte gelesen haben, wissen Sie, warum. Aber nach zahlreichen Irrwegen und Irrtümern in meinem Leben fühle ich mich jetzt so viel besser, und vielleicht wird es Ihnen genauso gehen.

Haben Sie aber keine Sorge. Sie müssen nicht von heute auf morgen Ihr Leben komplett umkrempeln und auf alles verzichten, was Sie häufig und gerne zu sich nehmen. Es reicht vollkommen, wenn Sie sich langsam von Ihrer gewohnten Ernährung verabschieden. Wenn Sie Ihrem Körper Schritt für Schritt keine tierischen Fette und Enzyme mehr zumuten, keine Milch, Eier, aber auch weniger Zucker und Weißmehl. Wenn Sie sich – nicht sofort, aber irgendwann – für den veganen Weg entscheiden. Dann werden Sie körperliche Zustände erreichen, von denen Sie nicht zu träumen wagten. Das kann ich Ihnen garantieren. Sie werden sich fühlen, als wären Sie ein Olympionike.

Wir stehen an der Schwelle zu einer neuen Zeit. Und wir werden umdenken müssen, wenn wir als Menschheit überleben wollen. Die Tage der Massentierhaltung sind gezählt.

Sie haben sich für dieses Buch entschieden und damit bereits eine Tür aufgestoßen. Ich würde mich sehr freuen, wenn meine Geschichte dazu beitragen könnte, Ihnen die Idee eines veganen Lebens näherzubringen. Und sie Ihnen vielleicht ein wenig die Augen für die klaren Fakten öffnet, die für die ökologische, aber auch ökonomische Notwendigkeit der veganen Lebensweise sprechen. Denn nur wenn wir uns ändern, können wir die Welt zum Besseren verändern. Wie Victor Hugo es schon so treffend gesagt hat: Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.

I. Die Initialzündung: Wir sind arme Schweine, die arme Schweine essen

Fleisch gleich Tier gleich Töten

Im September 2008 wurde ich von einem Tag auf den anderen Vegetarier.

Schuld daran waren ein Burn-out und Hannah. Damals hatte ich mich bereits von meiner Frau getrennt. Über Jahre hatte mein Job uns auf schleichende Weise voneinander entfernt, bis wir schließlich wie Fremde unter einem Dach lebten. Dabei ging es uns eigentlich gut. Wir wohnten außerhalb der Stadt, in einer Villa mit Swimmingpool und großem Garten. In der Garage standen stets die neuesten Mercedes-Modelle. Das Leben glich einem Traum, und unsere Nachbarn waren grün vor Neid. Obwohl sie mich gar nicht kannten. Sie bekamen mich kaum zu Gesicht, denn ich verließ das Haus im Morgengrauen und kehrte erst spät in der Nacht zurück. Ich arbeitete als Manager für Mercedes-Benz. Ich war 36 Jahre alt und verantwortlich für einen Milliardenumsatz. Ich hatte einen luxuriösen Dienstwagen, ein repräsentatives Büro und einen persönlichen Parkplatz vor dem Haupteingang. Ich verdiente sehr viel Geld, hatte Macht und wurde respektiert.

Ich war am Ziel meiner Wünsche – und ziemlich am Ende.

Innerlich war ich ein Wrack, ein Schatten meiner selbst. Ich funktionierte nur noch und lebte angepasst, um mein erreichtes Machtlevel zu halten und abzusichern. Am wahren Leben nahm ich schon lange nicht mehr teil. Ein Leben außerhalb der Mercedes-Welt existierte für mich nicht. Mit Menschen, die keinen Mercedes-Stern trugen, konnte ich mich gar nicht unterhalten, ihre Ansichten interessierten mich nicht, ihre Alltagsprobleme belächelte ich, ihre Fragen und ihr Interesse an meinen Themen ignorierte ich. Ich war alleine und nur mit mir und den imaginären großen Problemen rund um den Stern, den ich rund um die Uhr im Kopf und im Herzen trug, beschäftigt.

Hinter den Kulissen suchte man in der Führungsetage bereits nach einem neuen, weniger exponierten Job für mich. Bis es so weit war, nahm ich wie gewohnt Termine wahr, saß in Meetings und reiste durch die Welt. Während einer Veranstaltungstournee mit leitenden Managern aus der Zentrale und Geschäftsführern diverser Mercedes-Benz-Autohäuser hielt ich die Eröffnungsvorträge. Anschließend zog ich mich mit ausgewählten Gästen zum Kamingespräch zurück und machte ein bisschen auf buddy-buddy; die Kamine dafür hatte man eigens in den Veranstaltungszelten installiert. Eine der Veranstaltungen fand in Siegen statt, und dort begegnete ich Hannah. Sie war Hostess, eine junge, schöne Frau mit einer Stimme, die mich vom ersten Moment betörte. Sie sang auf meinen Wunsch in einem Moment, in dem wir alleine im Zelt waren, ein Lied für mich, nur für mich alleine. Ich verliebte mich sofort. Unsere Begegnung wurde für mich zu einer Initialzündung – in vielerlei Hinsicht.

Bis zu jenem Tag hatte ich gegessen, was auf den Tisch kam. Ohne nachzudenken, hatte ich in mich hineingestopft, was man überhaupt nur essen konnte: Hamburger, Currywürste, blutige Steaks und jede Art von Innereien. Erst, als ich Triathlet wurde, begann ich, bewusster auf meine Ernährung zu achten. Statt Schweinefleisch aß ich Pute, statt Rind Huhn. Geflügel ist gesund, dachte ich, es versorgt deinen Körper mit Eiweiß. Am liebsten aß ich das Fleisch roh, weil ich glaubte, so noch mehr Energie zu bekommen.

»Ich bin Vegetarierin«, sagte Hannah, als wir zum ersten Mal essen gingen. Ich orderte, wie sehr oft, ein Hähnchenbrustfilet, sie bestellte einen Salat mit Tofu. »Ich finde, man sollte Tieren kein Leid zufügen.«

»Leid zufügen?«, fragte ich. »Was meinst du?«

»Das Hähnchen auf deinem Teller wurde getötet, damit du es essen kannst.«

Ich sah sie an, sah auf meinen Teller – und zum ersten Mal dämmerte mir, dass das Stück Fleisch tatsächlich einmal ein Tier gewesen war. Wenn wir Tiere essen wollten, musste sie jemand schlachten. Daran hatte ich noch nie gedacht, wenn ich ein Steak verschlungen hatte. »Stimmt«, sagte ich und kam mir nicht sehr cool vor. Warum hatte ich daran noch nie selbst gedacht? Warum hatte ich mich nie gefragt, woher das, was wir essen, eigentlich kam?

Hannah begann, zu erzählen, warum sie seit 13 Jahren kein Fleisch mehr aß. Es sei ihr wichtig, keinem Lebewesen Gewalt anzutun, sagte sie und stach mit der Gabel in ihren Tofu. Sie wolle nichts essen, was unter Qualen aufgezogen, womöglich misshandelt und schließlich mehr oder weniger grausam getötet worden sei. Ich hörte zu – und fühlte mich, als hätte mir jemand einen Schlag verpasst.

Fleisch gleich Tier gleich Töten?

War die Gleichung wirklich so simpel?

Doch Hannah verzichtete nicht nur auf Fleisch, sie rauchte auch nicht, trank keinen Alkohol, keinen Kaffee, keinen Tee, nahm keine Drogen und spielte nicht. Als Sportler war mir das nicht fremd. Aber auf Kaffee verzichten? Nie wieder Tee trinken? Ich runzelte die Stirn. Hannah erklärte mir: »Kaffee und Tee wirken aufgrund ihres Koffein- beziehungsweise Teeingehaltes anregend, und ich will keine Stoffe zu mir nehmen, die meinen Organismus in irgendeiner Art und Weise beeinflussen.«

Es war eine fremde Welt, die sich vor meinen Augen und Ohren öffnete. Eine Welt mit Werten, denen ich bislang keine große Bedeutung beigemessen hatte. Kein Glücksspiel? Wie oft hatte ich an der Börse gezockt wie ein süchtiger Pokerspieler! Ich hatte mit dem Geld, das ich als Manager verdiente, spekuliert und dabei echt Kohle gemacht und ein kleines Vermögen angehäuft.

Hannah erzählte von einer Gruppe, in der sie sich engagierte, ein Zusammenschluss von Menschen, die für eine bessere Welt kämpften. Eine Welt, in der alle Lebewesen in Liebe zusammenleben. Ich hörte zu, staunte, nickte. Bislang hatte ich mich über Weltverbesserer lustig gemacht. Tierschützer, Vegetarier, Veganer – das waren für mich realitätsfremde Spinner, die in Fußgängerzonen standen und Plakate mit Bildern von toten Robbenbabys hochhielten. Meine Freunde und ich rissen Witze über sie. Wir lachten sie aus – und gingen anschließend ins nächste Steakhaus, denn das blutige Steak zu essen gehörte sich so in unseren Kreisen. Doch ich war beeindruckt von der Vision, die Hannah da in wenigen Worten entwarf. Vieles klang idealistisch, aber auch ungeheuer einleuchtend.

Am Ende des Abends beschloss ich, auch Vegetarier zu werden.

War ich also über Nacht selbst so ein Spinner geworden? Anfangs fragte ich mich das. Heute, im Rückblick, glaube ich, dass es damals nur eines Anstoßes bedurfte. Zu jener Zeit hatte mich das Leben, beruflich und privat, bereits aus der Kurve getragen. Der Topmanager, der permanent auf der Überholspur lebte, war an seine Grenzen gestoßen. Der Ehemann und Vater stand vor den Trümmern seines Familienlebens. Es war eine Zeit radikaler Umbrüche: Ich wechselte den Job, ich verließ meine Frau, ich verliebte mich in Hannah. Ich änderte mein Leben, krempelte es von Grund auf um. Dabei kam mir zugute, dass ich, wenn es darauf ankommt, schnell Entscheidungen treffen kann. Die Entscheidung, Vegetarier zu werden, war trotzdem eine Entscheidung aus voller Überzeugung. Ohne es zu wissen, hatte ich bereits an der Schwelle zu einem anderen Leben gestanden.

Ich denke, es geht heute vielen – und vielleicht immer mehr – Menschen ähnlich. Auch sie stehen an einer Schwelle. An der Schwelle zu einem anderen Denken, einer neuen Zeit, einem lebenswerteren Leben. Es braucht nur einen Anstoß, eine Initialzündung, um den Weg in die neue Richtung einzuschlagen.

Papa, warum isst du kein Fleisch mehr?

»Papa, warum isst du kein Fleisch mehr?« Wir liefen durch ein Einkaufszentrum, und Philipp und Jakob, meine Söhne, hatten Hunger.

An einem Dönerstand blieben wir stehen. »Seht ihr den Fleischklops an dem Drehspieß dort drüben?«

Meine Jungen, damals drei und zehn Jahre alt, nickten.

»Stellt euch vor, der ist ein Tier. Man hat es gezüchtet, getötet und aufgespießt. Es musste sterben, um zu Döner zu werden.«

Philipp und Jakob sahen mich erschrocken und etwas ungläubig an – und verstanden. Wir gingen weiter, und an einem anderen Imbiss bestellten wir drei vegetarische Döner.

Zu Hause setzten wir uns vor meinen Computer und surften durchs Internet. »Fleisch zu essen ist nicht gesund«, erklärte ich. »Außerdem schadet die Fleischproduktion der Umwelt.«

»Warum?«, fragte Jakob.

»Weil die Zucht von Rindern und Schweinen viele Ressourcen verbraucht. Und der Transport verursacht eine Menge Treibhausgase.«

»Was sind Treibhausgase?«, fragte Philipp.

So simpel die Fragen meiner Söhne waren, so erschreckend waren die Antworten, auf die wir stießen. Rund 842 Millionen Menschen auf der Welt hungern. Alle fünf Sekunden stirbt laut UNICEF ein Kind an Unterernährung. Gleichzeitig verzehrt ein Mensch im Durchschnitt 42,5 Kilo Fleisch im Jahr, in Deutschland sind es sogar 60 Kilogramm. Allein in Deutschland werden 60 Prozent der Getreideernte als Viehfutter verwendet. Um ein Kilo Rindfleisch zu produzieren, braucht man 16 Kilo Getreide. Der durch die Massentierhaltung bedingte Ausstoß von CO2, Methan und Stickoxid ist riesig. Würde man sich überall auf der Welt so ernähren, wie wir es tun, hätten 3,2 Milliarden Menschen etwas zu essen, und 3,7 Milliarden müssten hungern. Würden wir dagegen auf Fleisch verzichten, könnte die globale Ernte vier Milliarden Menschen mehr satt machen. Ein einzelner Fleischesser produziert siebenmal mehr Treibhausgase als ein Veganer.

Als wir ein paar Tage später einen Film über Milch sahen, begriff ich, dass es mit dem Verzicht auf Fleisch nicht getan war. Auch Milchkühen wird permanent Leid zufügt. Ich hatte nicht gewusst, dass die Milch, die wir trinken, eigentlich für Kälber bestimmt ist. Dass man Kühe ständig schwängert, damit sie ein Kalb nach dem anderen gebären und Milch produzieren. Ich wusste nicht, dass man ihnen ihre Jungen unmittelbar nach der Geburt wegnimmt, sie mit Kraftfutter und Antibiotika füttert, damit sie noch mehr Milch geben. Dass man sie schnell wieder schwängert und ihnen auch diese Kälber wegnimmt. Dass die Kälbchen hochgezüchtet und geschlachtet werden. Oder selbst zu Milchkühen werden, die geschwängert werden. Es ist ein endloser Kreislauf. Doch wer sagt, dass eine Kuh keine Muttergefühle hat? Man mag mich für naiv oder ignorant halten, aber bislang hatte ich in der Vorstellung gelebt, eine Kuh stehe mehr oder weniger glücklich auf der Weide, fresse Gras und gebe Milch. Ich hatte nicht gewusst, dass wir Menschen, wie sonst keine Spezies, anderen Lebewesen die Muttermilch stehlen, um sie selbst zu trinken.

In den folgenden Wochen sahen Philipp, Jakob und ich uns immer wieder Filme an. Meine Jungen waren neugierig geworden, sie stellten Fragen über Tierschutz, Massentierhaltung und vegetarische und vegane Ernährung. Doch je länger wir vor dem Bildschirm saßen, desto mehr brachten die Filme, die ich aus pädagogischen Gründen meinen Kindern hatte zeigen wollen, mich selbst ins Grübeln.

Ich bin Ossi. In der Schule in der DDR bekamen wir als Kinder Schulmilch, kleine pyramidenförmige Tüten mit einem halben Liter Milch darin. Zu Hause gaben unsere Eltern uns Milchgeld mit, die Lehrer sammelten es ein und verteilten in den Pausen die Milchtüten – ein fest im Alltag verankertes Ritual. Sie meinten es gut. Milch war gesund, und wir Kinder waren im Wachstum. Wir sollten groß und stark werden. Für mich als Stadtkind war Milch also etwas Gutes, etwas Nahrhaftes und Positives. Morgens fuhr ich immer mit der Straßenbahn von Berlin-Marzahn nach Friedrichshain zur Schule, die Fahrt dauerte eine Stunde. Eines Tages endete der Unterricht früher als üblich, und ich ging zur Straßenbahnhaltestelle. Wie immer hatte ich in der Pause meine Milch getrunken, doch auf einmal bekam ich furchtbare Bauchschmerzen. Mein Magen verkrampfte sich, mein Darm rebellierte, und ich musste dringend auf die Toilette. Ich biss die Zähne zusammen und zählte die Stationen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und machte in die Hose.

Es war mir unwahrscheinlich peinlich.

Dreißig Jahre später, als ich mit meinen Söhnen durchs Netz surfte, erinnerte ich mich an diesen Tag. Und plötzlich wurde er zu einer Art Schlüsselerlebnis. Ich las Berichte, die erklärten, wie Milch den Körper verschleimt, ihn übersäuert, den Knochen Kalzium entzieht, statt sie damit zu versorgen. Ich verstand, dass ich die Milch damals schlicht nicht vertragen hatte. Und ich war nicht allein. Viele Menschen leiden unter einer Laktoseintoleranz. Und die meisten begreifen erst mit der Diagnose, warum ihnen so oft übel wird.

Warum also geben wir unseren Kindern weiterhin Milch zu trinken?

Warum handeln wir wider besseres Wissen?

Weil man uns mit Milch regelrecht gefüttert hat, im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn. Im Westen war das nicht anders als im Osten. Die Milch macht’s, lautet ein beliebter Werbeslogan. Er suggeriert, dass Milch direkt vom Bauern kommt, dass sie frisch und gesund ist und kleine Kinder groß, stark und glücklich macht. Ein Schokoriegelhersteller wirbt mit dem Slogan: Der schwimmt sogar in Milch. Schokolade mit extra viel Milch ist bis heute ein Renner.

Es war absurd. Je tiefer ich in die Materie eintauchte, desto mehr verstand ich, dass alles, was ich als Kind über Ernährung gelernt hatte, falsch war. Ja, dass angeblich Gesundes sogar krank machen kann! In den USA beispielsweise darf die Werbung nicht mehr behaupten, Milch sei gesund.

Stück für Stück fügten sich Informationen und Erkenntnisse wie Bausteine zusammen. Wir Menschen sind Lemminge. Wir nehmen als gottgegeben, was überliefert und in den Medien gepriesen wird. Dabei geht es um unsere Gesundheit – das wichtigste Gut im Leben. Wir leiden unter Bauchweh, Erbrechen und Ausschlägen, unter Schwindel, Schweißausbrüchen und Schlafstörungen – und glauben weiterhin, Milch sei gut für uns. Warum stellen wir die vermeintliche Tatsache nicht einmal infrage? Warum schlucken wir, was schon Generationen vor uns geschluckt haben? Wir entwickeln die tollsten Smartphones und schicken Roboter auf den Mars, doch wenn es um unsere Ernährung geht, unsere Gesundheit, unser Leben, handeln wir, ohne nachzudenken, desinteressiert, ignorant geradezu.

Warum?

Am nächsten Wochenende, an dem die Kinder mich besuchten, gingen wir in einen Supermarkt. Wir stellten uns vor, wir müssten uns vegan ernähren.

»Nur so zum Spaß«, sagte ich.

»Was können wir denn dann noch essen?«, fragte Philipp.

Wir liefen durch die Regalreihen und packten ein, was wir gern aßen. Dann sahen wir uns die Listen der Inhaltsstoffe an und sortierten aus. Am Ende war der Einkaufskorb leer – nichts entsprach auch nur halbwegs veganen Standards. In Quark, Käse und Schokolade war Milch. Kekse, Kuchen und Pizza enthielten tierische Substanzen – tierische Fette, Eiweiß, außerdem Enzyme, Zucker und ungesundes Weißmehl. Inzwischen hielt ich mich für einen lupenreinen Vegetarier, aber von wegen: Ich musste erkennen, dass ich noch immer Tiere ausnutzte. Ich belog mich schlicht, wenn ich Lebensmittel in den Einkaufswagen legte, die irgendwelche tierischen Zutaten enthielten.

Das musste anders werden. Ich musste meine Ansprüche und Absichten viel radikaler umsetzen.

Wieder zu Hause, begann ich, mich über eine konsequent vegane Ernährung zu informieren. Dabei hatte ich Veganer vor Kurzem noch für Extremisten gehalten! Für Idioten, die sich in eine seltsame Ideologie verrannten. Mit meinen Kollegen bei Mercedes hatte ich mir das Maul über diese Körnerfresser zerrissen. Nun nahm ich Anlauf, um über meinen Schatten zu springen. Ich hinterfragte meine eigenen Kauf- und Essgewohnheiten und machte mir mehr und mehr Gedanken darüber, was auf meinem Teller liegt, und vor allem, wie es da hinkommt. Was sind die Ursachen von Krankheiten, warum gibt es in unserer zivilisierten und hoch entwickelten westlichen Welt so viele »Zivilisationskrankheiten«, die es in weniger entwickelten Ländern nicht gibt?

Es war ein Prozess, und er zog sich über mehrere Wochen. Am Ende fuhr ich mit Philipp, Jakob und Hannah über Silvester ins Riesengebirge. Tagsüber liefen wir Ski und fuhren Snowboard, abends saßen wir in unserer Hütte vor dem Kamin. Am Abend des 31. Dezembers gingen wir ins Restaurant. Wir bestellten gebackenen Camembert mit Preiselbeeren. Es sollte das letzte Mal sein, dass Hannah und ich Käse aßen. Wir zelebrierten es. Dabei haben wir weder Jakob noch Philipp animiert oder gar gezwungen, künftig auch vegan zu essen. Kurz vor Mitternacht stiegen wir in meinen Mercedes-G-Klasse-Geländewagen und fuhren den Berg hinauf. Wir schossen Raketen in die Luft – und begrüßten das neue Jahr 2009 als Veganer.

Moskau – (k)ein Paradies

Im Dezember 2009 zog ich nach Moskau. Nach meinem Burn-out hatte man meine Aufgaben und meine Macht im Unternehmen immer mehr beschnitten. Ich ging weiterhin ins Büro, war aber auf der Abschussliste. Ich streckte selbst die Fühler aus, hörte mich nach anderen Jobs um. Aber ich spürte auch, wie ich mich entfremdete, wie ich immer mehr an dem System, nach dem ein großer Konzern funktioniert, zweifelte. Worin liegt der Sinn dieser massenhaften Produktion von immer neuen Gütern, der Verschwendung von Ressourcen? Warum reduzieren wir Menschen auf ihre Arbeits- und Kaufkraft?

Mitten in die Suche nach einer neuen Perspektive platzte die Nachricht, dass Daimler ein Joint Venture mit dem russischen Lkw-Hersteller Kamaz gründen wollte. Kamaz war in Russland Marktführer und suchte einen deutschen Partner. Die Daimler AG wollte sich auf dem dortigen Lkw-Markt besser positionieren und kaufte sich ein. Mir bot man die Geschäftsführung dieses neu zu gründenden Unternehmens an. Ich sollte das Werk aufbauen und später Produktion, Vertrieb und Service verantworten. Die Zentrale war in Moskau, aber die Niederlassung würde am Stammsitz von Kamaz entstehen, in Naberezhny Chelny, einer Industriestadt etwa 1000 Kilometer östlich von Moskau, am äußersten Rand Europas, umgeben von nichts als Wiesen und Matsch.

Ich zögerte nicht lange. Denn trotz meiner Zweifel: Der Job war eine einzigartige Herausforderung. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass ich der Versuchung nicht erlag.

Drei Wochen später landete ich mit Hannah und unserem neugeborenen Kind auf dem Flughafen Domodedowo. Ein Fahrer empfing uns und fuhr uns ins Hotel. Als die Limousine am Kreml, dem Weißen Haus und der Christ-Erlöser-Kirche, am Bolschoitheater und der Lomonossow-Universität vorbeirollte, kamen Erinnerungen hoch. Meine Eltern waren beide Russischlehrer und begeistert von der Sowjetunion. Diese Begeisterung war früh auf mich übergesprungen. Zum ersten Mal war ich im Frühjahr 1980 kurz vor den Olympischen Spielen in Moskau gewesen, und seitdem hatte mich die Dynamik dieser Stadt fasziniert. Nun war ich seit 25 Jahren nicht mehr hier gewesen, doch ich fühlte mich sofort wieder zu Hause in dieser magischen Stadt.

Tagelang ließen wir uns, bei minus 24 Grad, durch Moskau fahren, auf der Suche nach einer Bleibe. Da ich Manager bei Mercedes war, rollte jeder Makler den roten Teppich vor mir aus. Vom Budget, das mein Vertrag fürs Wohnen vorsah, hätten wir einen Palast mieten können, und wir besichtigten Schlösser und Residenzen mit 800 Quadratmetern Wohnfläche und Häuser, in denen Wasserfälle über mehrere Etagen in die Tiefe stürzten. Wir fühlten uns wie Alice im Wunderland. Alles war so anders als in Deutschland. Alles war irgendwie unwirklich. Und trotz meiner Zweifel am System des Immer-mehr-und-immer-größer war ich empfänglich für die Pracht. Qua meiner Position und Macht gab man mir zu verstehen, dass ich wichtig war, ein ganz Großer, ein König! Man hofierte mich, und ich genoss es, durch all die Villen und Schlösser zu wandeln, in die ich, egal, was sie kosteten, sofort hätte einziehen können.

Am fünften Tag beschlossen wir, uns in einer Anlage am Rand der Hauptstadt ein Haus bauen zu lassen. Das Gelände hieß Otrada, was so viel wie »Erholung« bedeutet, und wurde bewacht wie Fort Knox. Hier lebten die Reichen und Schönen Russlands und viele Ausländer. Unser Nachbar war der Russlandchef von BMW. Es gab Pferdeställe und Reithallen, ein Fünfsternehotel, eine Eislaufbahn, Tennisplätze, Badeseen, eine Schwimmhalle, Saunen und einen Helikopterlandeplatz. Ich hatte schon einiges gesehen und erlebt, doch Otrada war top of the world. Es übertraf alles.

»Jan«, sagte Dimitrij, der Besitzer der Anlage und einer der hundert reichsten Männer Russlands. »Ich lasse dir das Haus deiner Träume bauen. Bis es fertig ist, wohnt ihr in meinem Hotel. Fünf Sterne, es wird euch an nichts fehlen!«

Das Leben im Hotel war äußerst komfortabel. Dimitrij umwarb mich wie einen Zaren, er lud mich zu Empfängen und Essen ein, mein Russisch wurde von Tag zu Tag besser, und ich freundete mich mit anderen Hotelgästen an. Und ich genoss es, vegan zu leben.

Das muss ich wohl ein bisschen erklären. Der Russe an sich ist ein Fleischesser. Zu jedem denkbaren Anlass gibt es Fleisch, selbst zu einem einfachen Wodka reicht man eine Schweineschwarte. Allerdings kann sich nicht jeder Fleisch leisten, schon gar nicht jeden Tag. Zudem fasten orthodoxe Russen von Februar bis Ostern. In dieser Zeit leben sie praktisch vegan – ohne Fleisch, ohne Milch, ohne Fisch, ohne irgendein tierisches Produkt. Das Fasten ist Teil des russisch-orthodoxen Glaubens, der sich seit dem Ende der Sowjetzeit wieder stark verbreitet. Für Veganer wie mich ist das Land also ein Paradies. In jedem Restaurant gab und gibt es – zumindest von Februar bis Ostern – eine vegane Speisekarte. Und auch außerhalb der Fastenzeit hat jeder Kellner und Koch Verständnis für eine vegetarische und vegane Lebensweise. Es ist sehr einfach, in Russland vegan zu leben. Zudem sind dort Obst und Gemüse sehr gesund. Russland ist eines der Länder mit dem höchsten Produktionsanteil an biologisch angebautem Obst und Gemüse. Sechzig Prozent der jährlichen Ernte entsprechen hohen Bio-Standards. Es wird nicht gesprüht, nicht gedüngt, die Bauern verwenden keine Pestizide, die natürlichen Fruchtfolgen werden eingehalten. Russisches Obst ist so gesund wie das aus Omas Garten. Zwar ist ein Bio-Apfel nach drei Tagen verschrumpelt – aber er ist noch ein echter Apfel!

Hinzu kommt, dass vor allem in den Großstädten wie Moskau und St. Petersburg viele Menschen mit sehr viel Geld leben. Sie schicken ihre Kinder auf Schulen in Europa und den USA, und von dort bringen die Jugendlichen einen modernen Lifestyle mit nach Hause, in dem Körperbewusstsein, Schönheit und eine gesunde Ernährung eine große Rolle spielen; nirgends auf der Welt habe ich mehr Schönheitssalons gesehen als in Moskau. Da die vegane Küche in New York, Los Angeles und London immer beliebter wird, ernähren sich also auch junge reiche und nicht orthodoxe Russen vegan. Der Veganismus ist in Moskau mindestens so verbreitet wie in Berlin.

Eines Tages nahm Dimitrij mich beiseite. »Am Wochenende wird es ein bisschen laut im Hotel«, sagte er und sah mich mit etwas undurchsichtigem Blick an. »Am besten, du bleibst auf deinem Zimmer.«

»Kein Problem«, sagte ich.

Am späten Sonnabendvormittag sah ich, wie draußen ein Bus vorfuhr. Eine Schar junger Mädchen stieg aus, 18, höchstens 20 Jahre alt und ziemlich attraktiv. Wie eine Schar Models auf dem Weg zum Fotoshooting. Nachmittags reiste eine Band an, und draußen im Garten wurde ein Grill aufgebaut. Abends trafen vier Limousinen ein, schwarze Mercedes-S-Klasse-Modelle. Fünf Männer stiegen aus, gefolgt von bewaffneten Leibwächtern. Irgendwann gingen wir ins Bett.

Mitten in der Nacht fuhr ich aus dem Schlaf. Ein Mann stand in unserem Zimmer, volltrunken und mit einem jungen Mädchen, das er auf unser Bett warf. Hannah schrie auf.

»Raus hier!«, brüllte ich.

Der Mann starrte mich an wie ein Gespenst. Dann packte er das halb nackte Mädchen und stieß es vor sich her aus dem Zimmer. Ich sprang auf und verriegelte die Tür hinter ihnen.

Am Tag darauf zog Dimitrij mich beiseite. Sein Blick flackerte, und er war kreidebleich. »Eine Katastrophe«, stammelte er. Es dauerte eine Weile, bis er mit der Geschichte herausrückte: Die fünf Männer hatten das gesamte Hotel gebucht. Sie waren Manager einer Öl- und Gasfirma, Geld spielte keine Rolle, wenn sie wilde Partys feierten. Doch ich hätte ihnen niemals begegnen dürfen.

Mich schockierte vor allem die Dekadenz.

Inzwischen hatte ich mich auch mit einigen Angestellten in Otrada angefreundet. Anfangs waren sie misstrauisch gewesen. Mit der Zeit begannen sie mir zu vertrauen, auch weil ich inzwischen fließend Russisch sprach. Ich erfuhr, dass das Personal in Abbruchhäusern und Baracken lebte, viele teilten sich zu zehnt ein Zimmer, ohne Toiletten und fließendes Wasser, im Innenhof gab es ein vereistes Plumpsklo. Wie Hühner in einer Legebatterie, dachte ich, die Lipizzaner drüben in den Reitställen werden besser behandelt. Viele der Kellner, Köche und Zimmermädchen schufteten von früh bis spät, für 500 Euro im Monat. Sie waren wütend auf die reichen Leute, die sie bedienen mussten, und verachteten sie. Sie taten mir leid. Als ich dann auch noch sah, wie junge Mädchen feisten Geldsäcken zugeführt wurden wie eine beliebige Ware, wurde mir vollends übel. Einige wenige auf dieser Welt konnten sich mit viel Geld alles kaufen – andere prostituierten sich und hatten trotzdem kaum genug zum Leben. Auf dieser auf Hochglanz polierten Insel des Wohlstands lebten Menschen in unvorstellbarem Luxus, an ihren Rändern hausten andere unter unwürdigen Bedingungen. Auch sie waren freie Menschen – doch ihre Armut zwang sie, sich wie Tiere behandeln und ausbeuten zu lassen.

Wir gingen mit Menschen nicht anders um als mit Tieren.

Und vielleicht hing das auch alles zusammen – die weltweite Armut, die Ausbeutung von Menschen, das Halten von Tieren unter inakzeptablen Bedingungen?

Ich schämte mich. Bald würde ich mit meiner Familie in einem 200-Quadratmeter-Haus leben, die Terrasse komfortabel im eigenen Wald gelegen. Ich würde 12000 US-Dollar Miete im Monat bezahlen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ich begann, die Kaste der Wohlhabenden und Reichen, zu der ich selbst gehörte und zu der ich lange Zeit mit allen Mitteln hatte gehören wollen, zu verachten.

Heute im Rückblick denke ich, dass sich damals die Idee in mir formte, auszusteigen und etwas völlig anderes zu machen. Tagsüber berechnete ich Budgets, bewegte Millionen und schmiedete Allianzen, um meinem Arbeitgeber den größtmöglichen Nutzen zu verschaffen. Ich stellte Menschen ein, die für wenig Geld arbeiten und einen Konzern und seine Shareholder reicher machen sollten. Nachts lag ich dann im Bett und sehnte mich nach einer Tätigkeit, die ich mit meinen Werten und Vorstellungen von einer besseren Welt für alle vereinbaren konnte. Nach etwas, das meinem Leben wirklich einen Sinn gab.

Rohköstler sind energetischer, oder wie ich ein neues Werk aus dem Boden stampfen soll

Wenn ich von Moskau nach Naberezhny Chelny flog, hockte ich in alten Jakowlev Jak-42 und Tupolew-Maschinen, die noch aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Es gab nicht einmal einen Flughafen, wir landeten auf einem Rollfeld inmitten von Matsch und Wiesen. Als Westeuropäer fühlt man sich in Moskau recht aufgehoben. Je näher man dem Ural kommt, umso fremder wird einem die Welt.

In Naberezhny Chelny lebten 500000 Menschen. Wobei »leben« nicht das richtige Wort ist, viele vegetierten vor sich hin. Sie arbeiteten in dem russischen Lkw-Werk oder für Zuliefererfirmen und hausten in tristen Neubauten, die lieblos hochgezogen wurden, auf wenig Raum, ohne jeden Komfort. Die ganze Stadt glich einer Betonwüste und existierte nur wegen der Lkw-Fabrik. Der Altersdurchschnitt betrug 34 Jahre. Es gab keine Kultur, keine Freizeitangebote. Das beliebteste Freizeitangebot – und größte Problem – war der Wodka.

An meinem ersten Arbeitstag stand ich in einem leeren Büro in einem leicht maroden Gebäude. Es gab keine Heizung und nicht einmal einen Computer. Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich die alte Baracke, die möglichst bald die neue Produktionshalle unseres Joint Venture werden sollte. Wo in neun Monaten die ersten Lkws vom Band rollen sollten. Und ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie. Geschweige denn von Produktion. In Berlin hatte man nur gesagt: Bredack, mach mal, das schaffst du schon.

Ich krempelte die Ärmel hoch. Ich beauftragte ein Bauunternehmen. Ich stellte Arbeiter ein; sie würden kaum mehr verdienen als die Angestellten in Otrada und waren darauf angewiesen, nach Schichtende einen zweiten Job anzunehmen, Taxi zu fahren oder als Aufpasser vor dem örtlichen Supermarkt zu stehen. Die Halle, die wir ausbauten, war eisig kalt. Es stank nach Diesel und Abgasen. Die Luft war schwarz, manchmal sah man die Hand nicht mehr vor Augen. Die deutschen Werkplaner weigerten sich, darin zu arbeiten.

Doch mein Budget war begrenzt. Anders als bei meiner persönlichen Unterbringung musste ich beim Aufbau des Werkes scharf rechnen. Ich beugte mich den Vorgaben aus der Konzernzentrale und hielt die Klappe. Darum habe ich die schlechten Arbeitsbedingungen für meine Mitarbeiter vor Ort mit zu verantworten. Heute schäme ich mich dafür.

Die Bauarbeiten kamen voran. Unter anderem errichteten wir auch eine Lackiererei. Als sie fertig war, funktionierte die Entlüftung nicht. Auch die Belüftung funktionierte nicht. Nichts entsprach westlichen Standards, alles war schnell hochgezogen und irgendwie hingefummelt. Drei Tage nachdem wir mit der Arbeit begonnen hatten, hatte einer unserer Lackierer Ausschlag am ganzen Körper. Bald darauf war er richtig krank. Nun endlich stellte ich mich auf die Hinterbeine. Im Konzern setzte ich durch, dass eine Lackiererei nach neuesten europäischen Standards gebaut wurde, auch wenn dies den Investitionsrahmen sprengte. Es war das erste Mal, dass ich selbstbewusst menschliche Interessen über die wirtschaftlichen Interessen des Konzerns stellte.

In Russland habe ich viele Beispiele eines menschenverachtenden Kapitalismus kennengelernt. Eine Taxifahrerin bot mir Sex an, weil sie Geld brauchte, um Essen für ihr Kind zu kaufen. Ich traf Menschen, die bereit waren, alles zu tun, um zu überleben. Das moderne Russland hält uns aber nur einen Spiegel vor Augen – der Kapitalismus ist hier unverblümter, grausamer als in Europa. Doch grundsätzlich anders funktioniert er inzwischen im Rest der Welt auch nicht.

Nach neun Monaten stand die neue Produktionshalle. Zur feierlichen Einweihung reiste der halbe Kreml an. Scharfschützen lagen überall, alles war sauber, hell und frisch gestrichen, und kurz vorher wurde noch einmal gründlich gelüftet. Typisch Osten, dachte ich, zur Parade wird alles poliert und auf Hochglanz getrimmt.

In der Konzernzentrale stand ich wieder dicke da. Innerhalb eines Dreivierteljahres hatte ich aus dem Nichts ein Werk aus dem Boden gestampft. Täglich liefen Lkws vom Band – und Daimler konnte der Welt verkünden, dass man neben Indien, Brasilien und China auch in Russland einen weiteren wichtigen Zukunftsmarkt erschlossen habe. Eine prima Show. Wie es hinter den Kulissen aussah, spielte keine Rolle.

Als die Offiziellen und die Scharfschützen wieder abgereist waren, flog ich nach Moskau. Ich hatte Geburtstag, ich wurde 39 Jahre alt. Ich gab eine Party. Eine Smoothie-Party. Meine Mitarbeiter hatten sich immer gewundert, dass ich mit zwei Literflaschen geheimnisvoller grüner Flüssigkeit ins Büro kam. Bis heute ist es mein morgendliches Ritual, mir einen frischen Smoothie aus den folgenden Zutaten zuzubereiten: 2 Orangen, 1 Zitrone, frischer Ingwer, 2 Äpfel, 2 Bananen, frisches Moringa Pulver, Ginko Pulver, Maka Pulver, 1 Esslöffel Kokosöl sowie frische Wildkräuter oder Spinat.

An diesem Tag also brachte ich einen Mixer mit, frisches Obst und Gemüse. Ich hielt einen kurzen Vortrag über Smoothies und vegane Ernährung. Dann warf ich den Mixer an und nahm ein paar dicke Sträuße Minze, Kokosnüsse, Spinatblätter, Datteln, Orangen, Kiwis und Zitronen.

»Wie in der Südsee«, sagte meine Sekretärin.

Zwischen Sekt und Coca-Cola – beides hatte ich natürlich auch gekauft – baute ich die frisch gemixten Obstsäfte auf. »Bitte, das Büfett ist eröffnet!«

Eher zögernd griffen einige nach den bunten Getränken. Üblicherweise wird bei Feiern in Russland Wodka serviert oder, in den besseren Kreisen, Champagner. Und natürlich kommt Fleisch auf den Tisch. Stattdessen hatte ich vegane Pizza bestellt. Ich glaube, einige meiner Mitarbeiter hielten mich für einen durchgeknallten Spinner. Andere probierten die Smoothies und die Pizza und lobten sie.

Zu dieser Zeit war ich überzeugter Rohköstler. Ich lebte von Tomatensuppen, Obst und Gemüsesäften, von Rohkostkäse und selbst dehydriertem Rohkostbrot aus Leinsamen. Ich fühlte mich gut wie nie zuvor in meinem Leben. Bis heute habe ich Phasen, in denen ich mich ausschließlich von Rohkost ernähre. Einige Wochen oder Monate im Jahr esse ich ausschließlich Obst und Gemüse. Zwar bekommt man nicht überall ein reines Rohkostessen, aber die Mühe nehme ich auf mich. Es macht mir nichts aus, denn ich fühle mich gut dabei – so wie andere, wenn sie fasten oder in einen Yoga-Retreat gehen. Dann wieder gibt es Phasen, in denen ich Smoothies nicht mehr sehen kann und die grünen Dinger einfach nicht runterkriege. Dann steige ich um auf Fast Food, auf Pizza und Burger, natürlich vegan, aber mit ebenso viel Weizen und Kohlenhydraten – auch veganes Fast Food ist, in Mengen gegessen, nicht besonders gesund. Irgendwann ist wieder Schluss, und ich steige um auf Rohkost, reinige meinen Körper und entgifte mein System. Anfangs verschlechtert sich das Hautbild, doch bald wird es jeden Tag reiner und strahlender. Meine Augen leuchten, mein Haar glänzt. Ich fühle mich dynamisch und voller Energie, auch meine Wirkung auf die Außenwelt ist eine andere, ich platze vor Elan und Lebensfreude. Ich brauche wenig Schlaf und wache trotzdem morgens erholt auf. In Rohkostphasen werde ich nie krank. Ich fühle mich großartig und wünsche mir, dass dieser Zustand nie wieder aufhört. Es ist, als wäre ich auf Droge. Mit jeder Faser meines Körpers spüre ich, dass Ernährung der Schlüssel zum Wohlbefinden ist. Ich finde, Rohköstler und Veganer sind ruhiger und ausgeglichener und energetischer. Eine Aura von Energie und Glück umgibt sie, etwas, was man nicht vortäuschen oder sich mittels seiner gedanklichen Kraft einbilden kann. So eine Ausstrahlung wirkt nur, wenn sie echt ist. Und dann steckt sie andere Menschen an.

Obwohl es mir zu dieser Zeit also körperlich sehr gut ging, stand für mich fest, dass ich bei Mercedes nicht mehr allzu alt werden würde. Seit dem Burn-out war ich nicht mehr verbissen auf Karriere fixiert. Ich würde meinen Vertrag in Moskau und Naberezhny Chelny erfüllen. Doch danach musste es eine Veränderung geben. Ich spürte, dass meine Zweifel immer größer wurden, wie es mich immer mehr anstrengte, meine Rolle in dem großen Gefüge zu spielen. Ich malte mir eine andere, eine neue, bessere, sinnvollere Existenz aus – frei von alten Zwängen. Etwas, in dem sich die Veränderungen in meinem Leben, die neuen Überzeugungen und Werte widerspiegelten.

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