Verhängnisvolles Schweigen - Peter Robinson - E-Book
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Verhängnisvolles Schweigen E-Book

Peter Robinson

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Beschreibung

Ein Mantel des Schweigens über den Schatten der Vergangenheit … Als ein Wanderer in den Hügeln der Yorkshire Dales eine bis zur Unkenntlichkeit verweste Leiche findet, muss Inspector Alan Banks in die Schatten der Vergangenheit tauchen. Der ungelöste Mord an einem Privatdetektiv und das mysteriöse Verschwinden einer jungen Frau vor fünf Jahren führen ihn auf eine Spur von Korruption und Gewalt. Unter den eisern schweigenden Verdächtigen ist auch die Familie Collier – die wohlhabendste und einflussreichste Familie in Swainsdale, die Banks unverhohlen Steine in den Weg legt … Band 4 der erfolgreichen Krimi-Reihe um Inspector Banks, in der jeder Titel unabhängig gelesen werden kann – für Fans von Elizabeth George und Nicci French.

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Seitenzahl: 447

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über dieses Buch:

Als ein Wanderer in den Hügeln der Yorkshire Dales eine bis zur Unkenntlichkeit verweste Leiche findet, muss Inspector Alan Banks in die Schatten der Vergangenheit tauchen. Der ungelöste Mord an einem Privatdetektiv und das mysteriöse Verschwinden einer jungen Frau vor fünf Jahren führen ihn auf eine Spur von Korruption und Gewalt. Unter den eisern schweigenden Verdächtigen ist auch die Familie Collier – die wohlhabendste und einflussreichste Familie in Swainsdale, die Banks unverhohlen Steine in den Weg legt …

Über den Autor:

Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.

Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.

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eBook-Neuausgabe Februar 2025

Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1989 unter dem Originaltitel » The Hanging Valley« bei Charles Scribner’s Sons, New York.

Copyright © der englischen Originalausgabe 1989 by Eastvale Enterprises Inc.

Copyright © für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2009

Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)

ISBN 978-3-98952-507-8

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dotbooks ist ein Verlagslabel der dotbooks GmbH, einem Unternehmen der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt: www.egmont.com/support-children-and-young-people. Danke, dass Sie mit dem Kauf dieses eBooks dazu beitragen!

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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].

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Peter Robinson

Ein unvermeidlicher Mord

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Andree Hesse

dotbooks.

Widmung

Für Sheila

Erster TeilBeweglicher Verfall

Kapitel 1

Es war das erregendste Gefühl auf der Welt. Seine Oberschenkel schmerzten, in seinen Waden pochte es, und er bekam kaum noch Luft. Aber er hatte es geschafft. Neil Fellowes, ein bescheidener Lohnbuchhalter aus Pontefract, stand auf dem Gipfel des Swainshead-Berges.

Nicht dass diese Leistung mit der von Sir Edmund Hillary zu vergleichen gewesen wäre, der Berg war schließlich nur 553 Meter hoch. Aber Neil wurde nicht jünger, außerdem hatten sich seine Kollegen in Baxwells Werkzeugmaschinenfabrik über ihn und seine Pläne lustig gemacht, eine Bergwanderung in den Yorkshire Dales zu unternehmen.

»Berge?«, hatte Dick Blatchley, einer der Witzbolde aus der Postabteilung, gehöhnt. »Das wird ‘n Absturz, bevor du oben bist, Neil.« Und die anderen hatten sich gebogen vor Lachen.

Doch jetzt, als er hier oben in der dünnen Luft stand und sein Herz tief in seiner Brust hämmerte wie die Kolben der Dampfmaschinen in der Fabrik, war er derjenige, der zuletzt lachte. Er schob seine metallgerahmte Brille hoch und wischte sich den Schweiß vom Nasenrücken. Danach rückte er die Riemen seines Rucksacks zurecht, die ihm in die Schultern schnitten.

Über eine Stunde war er geklettert; keine zu gefährliche Angelegenheit, keine steilen Anstiege, nichts, wozu man besonders ausgerüstet sein müsste. Eine Bergwanderung war eine Art demokratischer Erholung: nur einfache, harte Arbeit. Und es war ein idealer Tag für eine Wanderung. Die Sonne blitzte immer wieder zwischen den dichten weißen Wolken hindurch, während eine kühle Brise für eine angenehme Temperatur sorgte. Perfektes Frühlingswetter an diesen letzten Maitagen.

Er stand in dem struppigen, unebenen Gras, umgeben von Heidekraut und einer Handvoll Schafe – und die hatten ihm bereits den Rücken zugekehrt und hoppelten in sicherer Entfernung davon. Hier oben war er der König, er setzte sich auf einen verwitterten Kalksteinfelsen und genoss dieses Gefühl.

Am Fuße des Berges konnte er gerade noch die nördlichen Ausläufer des Dorfes Swainshead ausmachen, von wo er losgewandert war. Jenseits des Baches erkannte er problemlos die weißgetünchte Fassade des White Rose, außerdem das moosbedeckte Steindach des Greenock-Gasthauses, wo er nach der gestrigen Wanderung in Wharfedale eine angenehme Nacht verbracht hatte. Bevor er an diesem Morgen losgezogen war, hatte er sich dort auch an einem Frühstück mit Bratwurst, Speck, Blutwurst, geröstetem Brot, gegrillten Pilzen, Tomaten, zwei Spiegeleiern, Tee, Toast und Marmelade gelabt.

Er stand auf, um das ganze Panorama zu betrachten, begann im Westen, wo die Berge allmählich wie in gefrorenen Wellen zum Meer hin abfielen. Im Nordwesten lagen die runden Hügel des Lake Districts. Neil freute sich, dass er Striding Edge bei Helvellyn und gelegentliche Sonnenschimmer auf den Seen Windermere und Ullswater erkennen konnte. Dann blickte er nach Süden, wo die Landschaft in die Pennines überging, dem Gebirgszug, den man das Rückgrat Englands nennt. Der Fels war dunkler dort, hier und da stachen Vorsprünge aus Mühlsteinstaub aus dem glitzernden Kalkstein hervor. Kilometerweit erstreckte sich eine wilde, bedrohliche Moorlandschaft bis nach Derbyshire. Und im Südosten, in der Talsohle, die von hier nicht zu erkennen war, lag schließlich Swainsdale.

Was Neil allerdings am meisten erstaunte, war ein schmales, bewaldetes Tal am östlichen Abhang, genau unter ihm. Die Reiseführer hatten für die Route, die er sich ausgesucht hatte, keine besondere Sehenswürdigkeit erwähnt, und er hatte sie ja gerade deswegen ausgewählt, damit niemand seine Einsamkeit störte. Anscheinend waren die meisten Leute darauf aus, Steingräber, alte Bleiminen und historische Gebäude zu suchen.

Zusätzlich zu seiner Lage und Abgeschiedenheit war das Laubwerk des Tals ungewöhnlich. Es muss sich um eine Lichttäuschung handeln, dachte Neil, denn im Gegensatz zu der frühlingshaften Frische und Farbe der Bäume ringsherum schienen die Blätter der Eschen, Birken und Ahorne unter ihm rostfarben, orange und erdbraun getönt zu sein. Dieses Tal schien ihm geradewegs Tolkiens Herr der Ringe entsprungen zu sein.

Neil überlegte. Es würde zwei, drei Kilometer mehr und eine ungeplante Kletterpartie zurück bedeuten, andererseits sahen die Hänge nicht sonderlich steil aus, und an den schattigen Ufern des Baches könnte er vielleicht einige interessante wilde Blumen entdecken. Also rückte er noch einmal den Rucksack zurecht und zog aus ins verlockende Tal.

Schon bald wich der struppige Untergrund einem weichen Grasboden. Als Neil den Wald erreichte, wirkten die Blätter aufgrund des hindurchscheinenden Sonnenlichtes wesentlich grüner. Der Geruch von Bärlauch erfüllte seine Nase und benebelte ihn. In der leichten Brise wogten Glockenblumen hin und her.

Den Bach hörte er, bevor er ihn zwischen den Bäumen sah, ein leiser, sprudelnder Ton – freudig und heiter. Nicht nur aus der Ferne, sondern auch mittendrin hatte das Tal ganz eindeutig etwas Magisches. Es war üppiger als die Umgebung, die Farne und Sträucher wucherten saftiger und voller, als hätte Gott diesem Flecken Erde eine besondere Gnade zuteilwerden lassen.

Neil befreite sich von seinem Rucksack und legte ihn ins dichte Gras am Ufer. Während er seine Brille abnahm, beschloss er, einen Moment auszuspannen und vielleicht einen Kaffee aus der Thermoskanne zu trinken, bevor er seinen Weg fortsetzte. Er legte seinen Kopf auf den Rucksack und schloss die Augen. Er dachte an nichts mehr, nahm nur noch den berauschenden Bärlauchduft wahr und die Klänge der Natur um ihn herum: das Lied des Baches, den kühlen Hauch des Windes, der durch die wilden Rosen und Geißblätter wehte, und das Trällern der Feldlerchen, die sich singend der Sonne entgegenschraubten und leicht wie Federn wieder hinabschwebten.

Ausgeruht und tatsächlich mit einem Gefühl wie neugeboren, rieb sich Neil die Augen und setzte seine Brille wieder auf. Als er sich umschaute, entdeckte er eine wilde Blume im Gehölz jenseits des Baches. Von seinem Platz aus betrachtet, schien sie gut dreißig Zentimeter hoch zu sein, mit rotbraunen Kelchen und blassgelben Blütenblättern. Im Glauben, es könnte sich um einen seltenen Frauenschuh handeln, entschloss er sich, hinüberzugehen und sich die Pflanze genauer anzusehen. Der Bach war nicht besonders breit, außerdem gab es genügend zufällig platzierte Steine im Wasserbett.

Als er sich der Blume näherte, drängte sich ein anderer Geruch auf, der wesentlich strenger und gesättigter war als der von Bärlauch oder feuchter Erde. Er verstopfte seine Nase und drang bis in die Bronchien vor. Neugierig, woher der Geruch stammen könnte, schaute er sich um, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Neben der Blume, bei der es sich mit Sicherheit um einen Frauenschuh handelte, lagen ein paar von einem Baum heruntergefallene Äste und blockierten seinen Weg. Um einen besseren Blick zu haben, begann er sie zur Seite zu ziehen.

Doch er kam nicht sehr weit. Dort, nur notdürftig verborgen, lag die Quelle des Gestanks: eine menschliche Leiche. In dem kurzen Augenblick, bevor er sich umdrehte, um sich in die Sträucher zu erbrechen, bemerkte Neil zwei Dinge: Die Leiche hatte kein Gesicht, und sie sah aus, als würde sie sich bewegen – ihr Fleisch schien buchstäblich zu krabbeln.

Er blieb noch einen Moment, um sich im Bach das Gesicht zu waschen und den Mund auszuspülen, ließ seinen Rucksack, wo er war, und rannte so schnell er konnte zurück nach Swainshead.

Ekelhaft, dachte Katie Greenock und hob schleunigst ihre Nase, während sie den Abfalleimer aus Zimmer drei leerte. Man sollte eigentlich meinen, die Leute würden sich schämen, solche Dinge für jeden sichtbar liegen zu lassen. Gott sei Dank sind sie heute Morgen abgereist. Die beiden hatten die ganze Zeit etwas Schmieriges an sich: So wie die sich am Frühstückstisch küssten und betatschten, wie sie immer erst so spät aus ihrem Zimmer verschwanden und so früh schon wieder zurückkehrten. Sie glaubte nicht einmal, dass sie verheiratet waren.

Seufzend fegte Katie eine aschblonde Haarsträhne weg und leerte den Eimer in den schwarzen Plastiksack, mit dem sie von Zimmer zu Zimmer ging. Sie war schon vollkommen erschöpft. Ihr Tag begann um sechs Uhr in der Früh, und an sorglose, ländliche Morgenstunden mit Vogelgezwitscher und Tau war für sie nicht zu denken, für sie gab es nichts als harte Arbeit.

Zuerst musste sie das Frühstück zubereiten und alles genau aufeinander abstimmen, damit die Eier sich nicht schon abgekühlt hatten, wenn der Speck fertig war, und damit der Tee genau in dem Moment frisch war, wenn die Gäste sich entschlossen, nach unten zu kommen. Bei dem Saft und dem Müsli konnten sich die Gäste selbst bedienen, sie musste die Dinge nur frühzeitig bereitstellen – allerdings auch nicht zu früh, damit die Milch nicht warm wurde. Der Toast dagegen durfte so sein, wie er wollte – kalter Toast schien Teil der englischen Frühstückstradition zu sein. Trotzdem freute sich Katie jedes Mal darüber, wenn sie es schaffte, ihn genau zur richtigen Zeit warm zu servieren. Bedankt hatte sich dafür natürlich noch nie jemand.

Dann musste sie die warmen Speisen servieren und dabei noch jedem Gast ein Lächeln schenken, ungeachtet ihrer Quengelei über das Essen und der Angewohnheit ihrer ach so süßen Kleinen, alles, was sie sahen, auf den Fußboden fallen zu lassen oder an die Wände zu werfen. Außerdem wurde sie oft um Rat gefragt, wie und wo man den Tag verbringen könnte. Diesen Teil nahm ihr manchmal Sam ab und unterbrach dafür seinen üblichen, morgendlichen Vortrag über aktuelle Ereignisse, mit denen er die Besucher unterhielt, ob sie nun darum gebeten hatten oder nicht.

Anschließend musste sie die Tische säubern und das Geschirr abwaschen. Immerhin war die Spülmaschine, die Sam ihr endlich gekauft hatte, eine kostbare Hilfe. Tatsächlich sparte sie ihr so viel Zeit, dass sie noch schnell runter in Thetfords Lebensmittelladen an der Helmthorpe Road hasten konnte, um das einzukaufen, was jeden Tag frisch auf den Tisch kam. Bevor Sam die Spülmaschine angeschafft hatte, war das Einkaufen seine Aufgabe gewesen, aber nun hatte er mehr Zeit für verschiedene Geschäftsangelegenheiten, die immer dringend zu sein schienen.

Nachdem Katie das Menü für den Abend zusammengestellt und alle Zutaten dafür eingekauft hatte, war es an der Zeit, die Bettwäsche zu wechseln und die Zimmer zu reinigen. So war es kaum verwunderlich, dass sie um die Mittagszeit fast immer erledigt war. Wenn sie Glück hatte, blieb manchmal am Nachmittag etwas Zeit für die Gartenarbeit übrig.

Katie zögerte den Moment, mit dem nächsten Zimmer weiterzumachen, hinaus, ging rüber zum Fenster und verschränkte ihre Arme auf dem Sims. Es war ein wundervoller Tag in einem schönen Teil der Welt, doch auf sie wirkte die Landschaft wie eine gigantische Falle. Die Berge waren Felsen, die sie einschlossen, die Moorlandschaften Wüsten, die man unmöglich durchqueren konnte. Erst kürzlich hatte sich ein Weg in die Freiheit geöffnet, aber jetzt war es zu spät. Sie konnte nur geduldig ausharren und warten, was sich entwickelte.

Sie schaute hinab auf die grasbewachsenen Ufer beiderseits des sich dahinschlängelnden Flusses Swain und auf die Kinder, die mit ihren selbstgemachten Netzen geduldig dasaßen. Ein Besucherpaar machte ein Picknick, auf der kleinen Steinbrücke tratschten wie gewöhnlich die alten Männer. Obwohl sie das alles sehen konnte, spürte sie nicht die Schönheit, die darin lag.

Und dort, fast genau gegenüber, war das White Rose – erbaut 1605, wie eine Tafel stolz verkündete –, wo Sam zweifellos mit seinen vornehmen Kumpels herumhockte. Dieser Idiot, dachte Katie. Er bildet sich ein, er gehört dazu, dabei haben sie ihn nie richtig akzeptiert, selbst nicht nach all diesen Jahren und allem, was er für sie getan hat. Diese Sorte akzeptiert niemand anderen. Katie war sich sicher, dass sie hinter seinem Rücken über ihn lachten. Und war ihm aufgefallen, wie Nicholas Collier sie andauernd anstarrte? Wusste Sam, wie oft Nicholas versucht hatte, sie anzugrapschen?

Katie erschauderte bei dem Gedanken. Draußen erregte eine plötzliche Bewegung ihre Aufmerksamkeit. Sie sah, dass die Gruppe alter Männer sich teilte wie das Rote Meer und alle mit offenem Mund einer zierlichen Person hinterherstarrten, die über die Brücke gehetzt kam.

Es war der Mann, der erst vor ein paar Stunden aufgebrochen war, bemerkte Katie, der liebenswürdige Angestellte aus Castleford oder Featherstone oder sonst einem Kaff. Hatte er nicht was davon gesagt, dass er in Richtung Pennines wandern wollte? Und jetzt war er so bleich wie die Fassade des Pubs. Am Ende der Brücke bog er nach links, rannte die letzten paar Meter und verschwand im White Rose.

Katie spürte, wie sich ihr Brustkorb zuzog. Was hatte ihn in diesem Zustand zurückkommen lassen? Was war los? Es wird doch nichts Schreckliches passiert sein in Swainshead? Doch nicht schon wieder.

»Nun ja«, sagte Sam Greenock gerade über die multikulturelle Gesellschaft in England, »die haben ihre Art zu leben, nehme ich an, aber ...«

In dem Moment stürmte Neil Fellowes herein und suchte verzweifelt nach einem vertrauten Gesicht im Pub.

Als er Sam an seinem Stammtisch mit den Collier-Brüdern und John Fletcher sah, hastete Neil hinüber und packte einen Stuhl.

»Wir müssen etwas tun«, sagte er, rang nach Atem und zeigte nach draußen. »Oben auf dem Berg liegt jemand. Tot.«

»Beruhigen Sie sich, mein Freund«, sagte Sam. »Holen Sie erst einmal tief Luft, und dann erzählen Sie uns, was passiert ist.« Er rief den Barkeeper. »Einen Brandy für Mr Fellowes, Freddie. Einen großen.« Als er sah, dass Freddie zögerte, fügte er hinzu: »Keine Sorge, du verdammter Geizkragen, das geht auf meine Rechnung. Und setz dich in Bewegung!«

Als Freddie Metcalfe den Drink zum Tisch brachte, stoppte die Unterhaltung. Neil stürzte den Brandy hinunter und bekam einen Hustenanfall.

»Wenigstens haben Sie jetzt wieder ein bisschen Farbe im Gesicht«, sagte Sam und klopfte Neil auf den Rücken.

»Es war schrecklich«, sagte Neil und wischte den Brandy weg, der ihm vom Kinn getropft war. Er war solche starken Sachen nicht gewöhnt, er genehmigte sie sich nur in Notfällen wie diesem.

»Sein Gesicht war völlig verschwunden, total weggefressen, und das ganze Ding bewegte sich, wie Wellen.« Er führte das Glas erneut an seine schmalen Lippen und trank es leer. »Wir müssen etwas tun. Die Polizei.« Er stand auf und ging mit schnellen Schritten rüber zu Freddie Metcalfe. »Wo genau ist die Polizeistation in Swainshead?«

Metcalfe kratzte sich seinen glänzenden roten Schädel, bevor er langsam antwortete. »Muss ich überlegen ... In Swainshead selbst gibt’s keine Polizei. Die nächste wäre in Helmthorpe, schätze ich. Sergeant Mullins und der junge Weaver. Ist vierzehn bis fünfzehn Kilometer weg.«

Neil bestellte sich selbst noch einen doppelten Brandy, während Metcalfe sein wettergegerbtes Gesicht verzog und nachdachte.

»Die werden uns verdammt noch mal auch nicht weiterhelfen, Freddie«, rief Sam rüber. »Nicht bei so ‘ner Sache. Das ist ‘ne Angelegenheit für die Kriminalpolizei.«

»Ja«, stimmte ihm Metcalfe zu. »Schätze, du hast recht, Sam. In dem Fall, junger Mann«, sagte er zu Neil, »brauchen Sie den Typen aus Eastville. Den, der letztes Mal hier war, als wir ‘n bisschen Ärger hatten. Gristhorpe, Chief Inspector Gristhorpe. Ist allerdings schon Jahre her. Wird wahrscheinlich schon tot sein. Kommen Sie, Junge, Sie können das Telefon hier benutzen, ist ja wohl ‘n Notfall.«

»Chief Inspector« Gristhorpe, mittlerweile Superintendent, war quicklebendig. Als der Anruf einging, sprach er gerade auf einer anderen Leitung mit den Steinbrüchen in Redshaw über eine Lieferung für die Natursteinmauer, an der er baute. Obwohl er sich beim Bau um so viel Sorgfalt wie möglich bemüht hatte, war ein Abschnitt während einer Frostnacht im April eingestürzt. Die Erneuerung der Mauer erschien ihm genau die passende Aufgabe für den Frühling.

So landete der Anruf im Büro des ermittelnden Chief Inspectors Alan Banks, der gerade durch die Kulturseiten des Guardian schmökerte und sich darüber freute, dass die Verbrechensrate in Eastvale in letzter Zeit so abgeflaut war. Schließlich hatte er sich ja auch vor knapp zwei Jahren von London hierher versetzen lassen, um ein bisschen Ruhe und Frieden zu haben. Er mochte die Kriminalarbeit und konnte sich nicht vorstellen, etwas anderes zu tun, aber der hohe, meist unangenehme Druck, den sein Job mit sich brachte, kombiniert mit der ständig zunehmenden Konfrontation zwischen der Polizei und den Bürgern in der Hauptstadt hatten ihn fertiggemacht. Ihm selbst und seiner Familie zuliebe war er hierher gezogen. Ganz so friedvoll, wie er erwartet hatte, war Eastvale dann auch nicht, doch im Moment hatte er es lediglich mit ein paar harmloseren Einbrüchen und dem Nachspiel einer Massenschlägerei im Oak zu tun. Fünf Soldaten aus der Kaserne in Catterick hatten sich über eine Gruppe arbeitsloser Minenarbeiter aus Durham lustig gemacht, und schon ging es los. Drei landeten im Krankenhaus, wobei ihre Verletzungen von geschwollenen Hoden bis zu einem abgebissenen Ohrläppchen reichten, die anderen kühlten sich im Gefängnis ab und warteten darauf, dem Richter vorgeführt zu werden.

»Da will jemand den Superintendent sprechen, Sir«, sagte Sergeant Rowe, als Banks den Hörer abnahm. »Aber bei ihm ist besetzt.«

»In Ordnung«, sagte Banks. »Ich übernehme das.«

Am anderen Ende war eine atemlose, etwas undeutliche Stimme zu vernehmen. »Hallo, spreche ich mit Inspector Gristhorpe?«

Banks stellte sich vor und ermutigte den Anrufer, der seinen Namen mit Neil Fellowes angab, fortzufahren.

»Eine Leiche«, sagte Fellowes. »Oben auf dem Berg. Ich habe sie gefunden.«

»Wo befinden Sie sich jetzt?«

»Im Pub. White Rose.«

»In welchem Ort?«

»Wie? Ach so. In Swainshead.«

Banks schrieb die Einzelheiten auf seinen Notizblock.

»Sind Sie sicher, dass es sich um eine menschliche Leiche handelt?«, fragte er. Mehr als einmal war die Polizei in der Vergangenheit Irrtümern aufgesessen und ausgeschwärmt, um Stapel alter Säcke, tote Schafe oder verrottete Baumwurzeln unter die Lupe zu nehmen.

»Ja. Ja, ich bin mir sicher.«

»Männlich oder weiblich?«

»Ich ... ich habe nicht genau hingesehen. Es war –«

Die nächsten Worte drangen so leise durch die Leitung, dass sie kaum zu verstehen waren.

»In Ordnung, Mr Fellowes«, sagte Banks. »Bleiben Sie einfach, wo Sie sind, wir werden so schnell wie möglich vorbeikommen.«

Gristhorpe hatte sein Gespräch beendet, als Banks an seine Tür klopfte und sein Büro betrat. Bei den überfüllten Bücherregalen und dem gedämpften Licht sah es eher wie ein Studienzimmer als wie der Teil einer Polizeiwache aus.

»Ah, Alan«, sagte Gristhorpe und rieb seine Hände aneinander. »Die haben versprochen, noch vor dem Wochenende zu liefern, also können wir am Sonntag mit den Reparaturen beginnen, wenn es dir recht ist.«

Die Arbeit an der Natursteinmauer, die nichts abgrenzte und nirgendwohin führte, war für den Superintendent und seinen Chief Inspector zu einer Art Ritual geworden. Mittlerweile konnte Banks diese Sonntagnachmittage am nördlichen Talhang über Lyndgarth, wo Gristhorpe allein in seinem Bauernhaus wohnte, kaum noch abwarten. Die meiste Zeit arbeiteten sie in vollkommener Stille, wobei die gemeinsame Beschäftigung eine Verbundenheit zwischen den beiden schuf, die Banks, der immer noch ein Neuling in den Yorkshire Dales war, sehr zu schätzen wusste.

»Ja«, antwortete er. »Sehr gern. Pass auf, gerade kam ein ziemlich wirrer Anruf von einem Typ namens Neil Fellowes herein. Er schwört, auf dem Berg bei Swainshead eine Leiche gefunden zu haben.«

Gristhorpe lehnte sich in seinem Stuhl zurück, verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und runzelte die Stirn. »Irgendwelche Einzelheiten?«

»Nein. Der Mann hörte sich immer noch ziemlich mitgenommen an. Soll ich hinfahren?«

»Wir werden beide hinfahren.« Entschlossen stand Gristhorpe auf. »Das ist nicht das erste Mal, dass im Head eine Leiche auftaucht.«

»Im Head?«

»Ja, wie der Kopf. So nennen die Einheimischen die ganze Gegend um Swainshead, weil dort der Fluss Swain entspringt, der Ursprung des ganzen Tals.« Er schaute auf seine Uhr. »Es sind ungefähr fünfundvierzig Kilometer, aber so wie ich Freddie Metcalfe kenne, schaffen wir es bestimmt noch vor Schankschluss.«

Banks war verdutzt. Dass sich Gristhorpe derart an einer Ermittlung vor Ort beteiligte, war ungewöhnlich. Als Leiter der Kriminalpolizei von Eastvale konnte er seine Rolle in einem Fall nach eigenem Ermessen gestalten. Theoretisch konnte er, wenn er wollte, an Durchsuchungen und Befragungen von Haus zu Haus teilnehmen, aber selbstverständlich tat er das nie. Zum einen deshalb, weil seine Aufgabe in der Organisation bestand. Er delegierte die Arbeit an den Fällen und überwachte die Durchführung vom Büro aus. Der Grund dafür war nicht Faulheit, wie Banks bemerkte, sondern die Tatsache, dass Gristhorpes Talente mehr im Denken und in der Planung lagen als im Handeln und in der Vernehmung. Gristhorpe vertraute seinen Untergebenen und gewährte ihnen weit mehr Spielraum bei ihren Fällen als allgemein üblich. Doch diesmal wollte er dabei sein.

Es war ein ungleiches Paar, das zum Parkplatz auf der Rückseite marschierte: der große, massige Gristhorpe mit seinem wilden Büschel grauer Haare, seinem borstigen Schnauzbart, seinem pockennarbigen Gesicht und buschigen Augenbrauen neben dem hageren, zierlichen Banks mit seinen kantigen Zügen und den kurz geschorenen schwarzen Haaren.

»Ich verstehe nicht, warum du immer noch deinen Wagen benutzt, Alan«, sagte Gristhorpe, als er sich auf den Beifahrersitz des weißen Cortina niederließ und sich mit dem Sicherheitsgurt herumschlug. »Du kannst dir eine Menge Verschleiß sparen, wenn du ein Fahrzeug von der Wache nimmst.«

»Haben die einen Kassettenrecorder?«, fragte Banks.

»Kassetten? Du weißt verdammt genau, dass sie keine haben.«

»Eben.«

»Was: Eben?«

»Ich höre beim Fahren gerne Musik. Das weißt du genau. Ich kann dabei besser denken.«

»Ich nehme an, jetzt willst du mir auch welche aufdrängen?«

Banks war immer wieder überrascht, dass ein so belesener und kultivierter Mensch wie Gristhorpe nicht das geringste Interesse an Musik hatte. Für Klänge war der Superintendent völlig taub, selbst die engelhafteste Arie von Mozart bedeutete für seine Ohren nur Schmerz.

»Wenn du keine Musik willst, fahren wir ohne«, sagte Banks und musste lächeln. Ihm war klar, dass er auch nicht würde rauchen können. Gristhorpe war militanter Nichtraucher – nachdem er zwanzig Jahre lang täglich ein Päckchen konsumiert hatte.

Banks fuhr auf das Kopfsteinpflaster des Marktplatzes, bog nach links in die North Market Street und fuhr dann weiter in Richtung der Hauptverkehrsstraße von Swainsdale, die parallel zum Fluss durch die Talsohle führte.

Gristhorpe knurrte und klopfte auf die Apparatur neben dem Armaturenbrett. »Wenigstens hast du dich mit dem Polizeifunk ausgestattet.«

»Was hast du da vorhin gesagt?«, fragte Banks. »Das ist nicht die erste Leiche, die in Swainshead gefunden wurde?«

»Das war vor deiner Zeit.«

»Wie fast alles.« Banks bog scharf nach Westen ab, bald waren sie außerhalb der Stadt und fuhren an den Flussauen entlang.

Gristhorpe öffnete sein Fenster und atmete geräuschvoll die frische Luft ein. »Ein Mann mit eingeschlagenem Schädel«, sagte er. »Es war Mord, ohne Zweifel. Und wir haben ihn nie aufgeklärt.«

»Was war passiert?«

»Eine Gruppe Pfadfinder hat die Leiche in einem alten Minenschacht am Berghang gefunden, ein paar Kilometer nördlich des Dorfes. Der Doc meinte, sie hätte dort schon über eine Woche gelegen.«

»Wann war das?«

»Vor ungefähr fünf Jahren.«

»War es ein Einheimischer?«

»Nein. Das Opfer war ein selbständiger Ermittler aus London.«

»Ein Privatdetektiv?«

»Genau. Er hieß Raymond Addison. Er arbeitete allein. Wahrscheinlich einer der Letzten seiner Zunft.«

»Hast du herausgefunden, was er da oben wollte?«

»Nein. Wir haben natürlich sein Büro durchsucht, aber in keiner der Akten gab es eine Verbindung zu Swainsdale. Scotland Yard hat alle seine Freunde und Bekannten befragt – waren nicht viele –, aber sie haben nichts rausgekriegt. Wir dachten, er könnte auf Urlaub gewesen sein, aber wer fährt im Februar zur Erholung nach Yorkshire?«

»Wie lange war er denn schon im Dorf?«

»Er war ziemlich spät an dem Tag angekommen und hatte sich im Gästehaus eines Typen namens Sam Greenock einquartiert. Der hat uns erzählt, dass Addison außer ein paar Bemerkungen über das Wetter kaum was gesagt hat. Nach dem Abendessen machte er sich, dick eingepackt gegen die Kälte, zu einem Spaziergang auf. Das war das letzte Mal, dass ihn irgendwer lebend sah. Wir stellten Nachforschungen an, aber Fehlanzeige. Als er rausging, war es natürlich schon dunkel, und selbst die alten Männer, die bei jedem Wetter auf der Brücke rumhängen und quatschen, waren zu dem Zeitpunkt schon reingegangen.«

»Und soweit du herausfinden konntest, hatte er überhaupt keine Verbindung zu der Gegend?«

»Keine. Und du kannst mir glauben, wir haben keinen Stein auf dem anderen gelassen. Entweder wusste wirklich niemand was, oder, was wahrscheinlicher ist, irgendjemand hat uns absichtlich etwas verschwiegen. Addison war früher beim Militär, deshalb haben wir auch ehemalige Armeekumpels überprüft, all solche Sachen. Schließlich sind wir von Haus zu Haus gegangen und haben das gesamte Dorf befragt. Nichts. Der Fall ist immer noch ungeklärt.«

Banks nahm den Fuß vom Gaspedal, denn sie kamen durch Helmthorpe, einem der größten Dörfer des Tals. Dahinter war ihm die Landschaft nicht mehr vertraut. Obwohl das Tal dank eines Gletschers von teilweise titanischen Ausmaßen breiter war als die meisten anderen, schien es sich, je näher man dem Kopf kam, leicht zu verengen. Außerdem stiegen die Wiesen an den Hängen steiler hinauf. Hier gab es keine der langen Kalksteinnarben, die für den östlichen Teil Swainsdales so typisch waren, die Hügel erhoben sich entschlossen und besaßen auf ihren abgerundeten Gipfeln eine moorige Heidelandschaft.

»Und das ist nicht alles«, fuhr Gristhorpe nach einem Augenblick der Stille fort. »Eine Woche, bevor Addisons Leiche gefunden wurde – am Tag, nachdem er getötet wurde, soweit der Doc das sagen konnte –, verschwand eine Einheimische. Sie hieß Anne Ralston. Wurde seither nie wieder gesehen.«

»Und du glaubst, dass es da eine Verbindung geben muss?«

»Nicht unbedingt. Als sie verschwand, war die Leiche natürlich noch nicht gefunden worden. Das könnte alles Zufall sein. Außerdem gab der Doc zu bedenken, dass er sich mit der Todeszeit getäuscht haben könnte. Es ist schwer, genau zu sein, wenn die Leiche schon so lange vergraben ist. Trotzdem, wir haben keine Ahnung, was mit ihr passiert ist. Und du musst zugeben, dass es schon merkwürdig ist, wenn man innerhalb einer einzigen Woche im gleichen Dorf mit einer vermissten Person und einem Mord zu tun hat. Sie könnte ermordet und vergraben worden sein, oder sie ist einfach mit einem Freund irgendwohin durchgebrannt. Wir konnten schwerlich alle Häfen und Flughäfen dichtmachen. Außerdem hätte sie, als die Leiche gefunden wurde, überall auf der Welt sein können. Am liebsten hätten wir uns von ihr ein paar Fragen beantworten lassen, damit endlich Ruhe herrscht. So haben wir noch eine Weile in der Landschaft rumgeschnüffelt, aber keine Spuren oder gar eine weitere Leiche gefunden.«

»Glaubst du, sie hat Addison umgebracht und ist dann abgehauen?«

»Wäre möglich. Aber für mich sah das nicht nach der Tat einer Frau aus. Dazu war reichlich Kraft nötig, und Anne Ralston war keine von diesen weiblichen Bodybuildern. Wir haben ziemlich schnell ihren Freund befragt. Stephen Collier, leitender Direktor der Firma, für die sie gearbeitet hat. Stammt aus einer sehr angesehenen, einheimischen Familie.«

»Ja«, sagte Banks. »Von den Colliers habe ich schon gehört. Hat er Probleme gemacht?«

»Nein. Er war kooperativ. Er sagte, sie wären in der letzten Zeit nicht besonders gut miteinander zurechtgekommen, aber er hätte keine Ahnung, wo sie hin ist oder weshalb. Letztlich hatten wir keinen Grund, zu glauben, dass ihr etwas zugestoßen war, also mussten wir annehmen, dass sie einfach den Abflug gemacht hatte. So was kommt vor. Und nach allem, was man hörte, war Anne Ralston ein besonders flatterhaftes Mädchen.«

»Trotzdem ...«

»Ja, ich weiß.« Gristhorpe seufzte. »Nicht gerade befriedigend, oder? Egal in welche Richtung wir ermittelten, wir landeten immer in einer Sackgasse.«

Banks fuhr stumm weiter. Einen offensichtlichen Misserfolg konnte Gristhorpe nur schwer schlucken, wie eigentlich die meisten Kriminalbeamten. Doch dieser Mord, wenn es sich tatsächlich als solcher herausstellen sollte, war ein anderer Fall. Er war fünf Jahre her. Wenn er nur irgendwie konnte, würde er sich bei seinen Ermittlungen nicht von der Vergangenheit durcheinanderbringen lassen. Dennoch konnte es nicht schaden, Raymond Addison und Anne Ralston im Kopf zu behalten.

»Das ist es«, sagte Gristhorpe ein paar Minuten später und deutete auf eine Reihe Häuser vor ihnen. »Das ist Lower Head, wie die Einheimischen sagen.«

»Der Ort scheint mir kaum groß genug zu sein, um ihn in zwei Teile zu teilen«, bemerkte Banks.

»Das ist keine Frage der Größe, Alan. Lower Head ist der neueste Teil des Dorfes, der Teil, der gewachsen ist, seit hier mehr Verkehr durchgeht. Die Leute halten an und bewundern bei einer schnellen Tasse Tee oder einem Glas Bier und einem Pub Lunch den Ausblick. Upper Head ist älter und ruhiger. Ein bisschen vornehmer. Innerhalb des gesamten Tals ist das noch mal ein kleines Nord-Süd-Tal, eingekeilt zwischen zwei Bergen. Es geht auch eine Straße nach Norden hoch, aber hinter dem Dorf und der Schule wird sie ziemlich holprig. Man kommt aber immerhin bis zum Lake District, wenn einem das Geschaukel nichts ausmacht. Die meisten Leute kommen jedoch von der Lancashire-Seite. Bieg hier rechts ab.«

Banks bog ab. Der Hauptteil der dreieckigen Dorfwiese erstreckte sich neben der Hauptstraße, wodurch man aus beiden Richtungen leicht nach Swainshead hineinfahren konnte. Die ersten Gebäude, an denen er vorbeifuhr, waren eine kleine Steinkirche und eine Dorfhalle.

Als Banks die kleine Straße parallel zum schmalen Fluss Swain in Richtung Norden fuhr, konnte er sehen, was Gristhorpe meinte. Zwei Reihen niedriger Häuschen standen einander gegenüber, beide ein Stück abseits vom Fluss und seinem grasbewachsenen Ufer. Die meisten waren Doppel- oder Reihenhäuser, manche davon in Läden umgewandelt. Die einfachen, aber solide wirkenden Häuser waren größtenteils aus Kalkstein errichtet und hier und dort von Moos verfärbt. Viele besaßen eine individuelle Note wie Butzenfenster oder farbige Tür- und Fensterrahmen. Hinter den Häusern stiegen auf beiden Seiten die Wiesen an, manchmal von Natursteinmauern durchzogen, und führten auf steile, mit Heidekraut bewachsene Berge.

Banks parkte den Wagen vor dem weißgetünchten Pub. Gristhorpe deutete auf ein großes Haus die Straße hinunter.

»Dort wohnen die Colliers«, sagte er. »Der alte Mann war einer der reichsten Bauern und Grundbesitzer in der Gegend. Außerdem besaß er den Verstand, sein Geld in eine Lebensmittelfabrik westlich von hier zu investieren. Er ist mittlerweile tot, sein Sohn Stephen leitet jetzt die Firma und teilt sich das Haus mit seinem Bruder. Sie haben es in zwei Hälften geteilt. Ein hässlicher Steinhaufen, oder?«

Banks sagte nichts, doch beinahe bewunderte er die – viktorianische Extravaganz des Hauses, die völlig im Gegensatz zur praktischen Schnörkellosigkeit der Architektur in der restlichen Gegend stand. Ohne Frage war das Haus hässlich: Die obere Hälfte war von Erkern und Türmchen überwuchert, wodurch das gesamte Gebäude kopflastig aussah. Jeder Vordereingang war von einem Steinportal umgeben. Im Garten hatten sie bestimmt einen Pavillon und einen Springbrunnen, vermutete er.

»Und dort ist Raymond Addison abgestiegen«, sagte Gristhorpe und zeigte quer über den Bach. Das Gebäude bestand aus zwei aneinanderstoßenden Doppelhäusern und war von den kleineren Reihenhäusern auf beiden Seiten nur durch wenige Meter getrennt. In dem farbenfrohen, gepflegten Garten hing ein Schild: Greenock Gästehaus.

»Hoch, Jungs«, sagte Freddie Metcalfe, als sie den Pub betraten. »Die Kavallerie ist da.«

»Hallo, Freddie«, sagte Gristhorpe und führte Banks an die Theke. »Schenkst du immer noch nach Sperrstunde aus?«

»Nur für ein paar Auserlesene«, entgegnete Metcalfe stolz. »Was darf ich den Gentlemen anbieten?« Argwöhnisch musterte er Banks. »Ist der schon volljährig?«

»Gerade so«, feixte Gristhorpe.

Freddie brach in einen keuchenden Raucherhusten aus.

»Was hat das auf sich mit der Leiche?«, fragte Gristhorpe.

Metcalfe verzog seine fleischigen Lippen und nickte rüber zum einzigen besetzten Tisch. »Der Kerl da meint, er hätte eine aufm Berg gefunden. Er wird sich garantiert nicht mehr von der Stelle rühren, also kann ich euch Gentlemen auch noch’n Pint zapfen, bevor ihr loslegt.«

Der Superintendent bestellte ein Bitter, und Banks, dem am Zapfhahn das Emblem der Marston-Brauerei aufgefallen war, bestellte ein Pint Pedigree.

»Hat Geschmack, der Mann«, sagte Metcalfe. »Ist er auch stubenrein und so?«

Banks übte sich während des Wortwechsels in kluger Zurückhaltung und machte sich ein Bild von der Umgebung. Die Wände der Wirtschaft waren bis in Hüfthöhe mit dunklem Holz vertäfelt, darüber in einem unaufdringlichen graubraunen Ton tapeziert. Die meisten Tische waren altmodische, runde Modelle mit gusseisernen Beinen, an denen man sich die Kniescheiben stieß, doch in einer Ecke neben der Dartscheibe und der stummen Musikbox standen auch ein paar moderne quadratische.

Banks zündete sich eine Silk Cut an und trank sein Bier. Aus Respekt vor Gristhorpe hatte er im Wagen nicht geraucht, aber jetzt, an einem öffentlichen Ort, nutzte er die Gelegenheit und qualmte nach Herzens- und Lungenlust.

Mit ihren Gläsern in der Hand gingen sie rüber zu dem Tisch.

»Jemand hat einen Todesfall gemeldet?«, fragte Gristhorpe und betrachtete mit seinen unschuldigen blauen Augen die fünf Männer, die dort saßen.

Fellowes musste aufstoßen und hob seinen Arm in die Luft. »Ich war’s«, sagte er und rutschte von seinem Stuhl auf den Steinboden.

»Gott, der ist ja sturzbetrunken«, sagte Banks und sah Sam Greenock ärgerlich an. »Konnten Sie nicht aufpassen, dass er nüchtern bleibt, bis wir hier sind?«

»Schieben Sie nicht mir die Schuld in die Schuhe«, erwiderte Sam. »Er hatte gerade so viel, um wieder ein bisschen Farbe zu kriegen. Ich kann nichts dafür, wenn er nichts verträgt.«

Zwei der anderen halfen Fellowes wieder hoch auf den Stuhl. Freddie Metcalfe eilte mit etwas Riechsalz herbei, das er für solche und ähnliche Notfälle hinter der Theke aufbewahrte.

Fellowes stöhnte auf und stieß das Riechsalz beiseite, dann sank er zurück und schielte Gristhorpe an. Er war eindeutig nicht in der Verfassung, sie zum Tatort zu führen.

»Schonn in Ordnung, Inschpecktor«, lallte er. »Der Kreischlauf, dasis alles.«

»Können Sie uns sagen, wo Sie die Leiche gefunden haben?« Gristhorpe sprach so langsam wie zu einem Kind.

»Am Schwainsheadberg, da gibt’s ein wunderschönes Tal. Ganz in Herbstfarben. Können Sie nicht verpassen, genau unter dem Weg, der zum Gipfel führt. Gerade runtergehen bis zum Bach, dann rübersteigen ... ganz einfach. Neben dem Frauenschuh.«

»Frauenschuh?«

»Genau. Die Orschidee, nicht dschu verwechseln mit dem Schwedenklee. Sehr selten. Die Leiche liegt gleich neben dem Frauenschuh.«

Dann drehte er sich auf seinem Stuhl halb um und bog seinen Arm auf den Rücken.

»Ich hab meinen Rucksack vergessen«, sagte er. »Dacht ich’s mir doch. Dann isses gleich bei meinem Rucksack. Der Rucksack markiert die Schtelle.« Dann überfiel ihn wieder der Schluckauf und seine Augen klappten zu.

»Weiß jemand, wo er wohnt?«, fragte Banks die Gruppe.

»Er hat in meinem Gästehaus gewohnt«, erklärte Sam. »Ist aber heute Morgen ausgezogen.«

»Wenn Sie noch ein Zimmer frei haben, dann nehmen Sie ihn besser wieder mit. Weg kann er in seinem Zustand nicht mehr, außerdem würden wir später gerne mit ihm sprechen.«

Sam nickte. »Ich glaube, Zimmer fünf ist noch frei, wenn nicht jemand angekommen ist, als ich weg war. Stephen?« Er sah den Mann neben ihm an, der ihm half, Fellowes auf die Beine zu stellen.

»Sie sind Stephen Collier, stimmt’s?«, fragte Gristhorpe und wandte sich dann an den Mann gegenüber Greenock. »Und Sie sind Nicholas. Erinnern Sie sich, vor ein paar Jahren habe ich mit Ihnen über Anne Ralstons Verschwinden und diesen mysteriösen Tod gesprochen?«

»Ja, genau«, antwortete Nicholas. »Sie kannten auch Vater, wenn ich mich richtig erinnere?«

»Nicht besonders gut, aber wir hatten ein-, zweimal miteinander zu tun. Ein guter Mann.«

»Ja, das war er«, sagte Nicholas.

Draußen beobachteten Banks und Gristhorpe, wie Sam und Stephen Neil Fellowes über die Brücke halfen. Die alten Männer gingen zur Seite und starrten ihnen stumm hinterher.

Gristhorpe schaute den Berghang hinauf. »Wir haben ein Problem«, sagte er.

»Wieso?«

»Das wird eine mühsame Kletterpartie. Wie zum Teufel sollen wir Glendenning und das Team von der Spurensicherung da hinauf kriegen? Und vor allem, wie soll ich da hochkommen? Ich bin nicht mehr der Jüngste. Und du rauchst wie ein Schlot. Du schaffst keine zehn Meter.«

Banks folgte Gristhorpes Blick und kratzte sich am Kopf.

»Tja«, sagte er, »ich schätze, wir sollten es einfach versuchen.«

Gristhorpe verzog das Gesicht. »Ja«, meinte er, »ich hatte befürchtet, dass du das sagst.«

Kapitel 2

»Gibt’s Probleme, Gentlemen?«, fragte Nicholas Collier, als er aus dem White Rose kam und sah, wie Banks und Gristhorpe deprimiert den Berg hinaufstarrten.

»Nicht im Geringsten«, entgegnete Gristhorpe. »Wir bewundern nur die Aussicht.«

»Darf ich einen Weg vorschlagen, der Ihre Schuhsohlen etwas schont?«

»Sehr gern.«

»Sehen Sie die schmale Linie, die den Berg diagonal durchkreuzt?« Nicholas deutete Richtung Hang und verfolgte den Verlauf der Linie mit dem Zeigefinger.

»Ja«, sagte Gristhorpe. »Sieht aus wie irgendein alter Weg.«

»Stimmt genau. Da oben am Hang lag früher mal ein Gehöft. Es gehörte meinem Vater, bis er es an Archie Allen vermietete. Mittlerweile ist es vollständig verfallen, doch die Straße hinauf existiert noch. Sie ist natürlich in keinem guten Zustand und möglicherweise zugewachsen, aber bis auf halbem Weg müsste man mit dem Wagen noch hochkommen, wenn Ihnen das eine Hilfe ist.«

»Vielen Dank, Mr Collier«, sagte Gristhorpe. »Bei meiner Figur ist jede gesparte Anstrengung ein Segen.«

»Sie müssen diese Straße drei Kilometer weiterfahren bis zur nächsten Brücke, um auf den Weg zu kommen, aber er ist kaum zu verfehlen«, erklärte Nicholas und machte sich mit einem Lächeln auf den Heimweg.

»Komischer Vogel, oder?«, bemerkte Banks. »Ganz anders als sein Bruder.«

Während Stephen das elegante, weltmännische Äußere eines Dandys besaß, wirkte Nicholas mit seinem bleichen Teint, der langen Nase und den hervorstehenden Vorderzähnen etwas tölpelhaft. Die einzige Ähnlichkeit lag in ihren ungewöhnlich leuchtenden, blauen Augen.

»Nicholas kommt nach seinem Vater«, sagte Gristhorpe. »Und Stephen nach seiner Mutter – eine der schönsten Frauen, die ich jemals in der Gegend gesehen habe. Nicht wenige Männer ertranken ihren Kummer im Suff, als Ella Dinsdale Walter Collier heiratete. Hielt allerdings nicht lange. Armes Mädchen.«

»Was ist passiert?«

»Kinderlähmung. Bevor die Schutzimpfung eingeführt wurde. Komm, lass uns losgehen und einen Blick auf diese Leiche werfen, bevor sie aufsteht und abhaut.«

Problemlos fand Banks die Brücke und den Weg, und obwohl die alte Straße holprig war, schafften sie es ohne ernsthafte Schäden am Wagen bis zu dem verfallenen Gehöft.

Ein wenig weiter links sahen sie den Pfad, den Neil Fellowes genommen hatte, und folgten ihm den Hang hinauf. Obwohl sie den größten Teil des Weges gefahren waren, kam Banks auf dem steilen Pfad schnell außer Atem und wünschte, er wäre Nichtraucher. Auch wenn sein Gesicht rot anlief, schien der Anstieg dem schweren Gristhorpe leichter zu fallen. Banks vermutete, dass ihm die Landschaft vertrauter war. Immerhin lag auch sein eigenes Häuschen auf halber Höhe eines Talhanges.

Schließlich standen beide schnaufend und schwitzend auf dem Gipfel, von wo Fellowes ein paar Stunden früher die Szenerie betrachtet hatte. Nachdem sie wieder zu Atem gekommen waren, zeigte Gristhorpe auf das herbstliche Tal unter ihnen.

»Sieht bezaubernd aus, oder?«, sagte er, als sie den Hang hinunter in Richtung Wald liefen. »Sieh mal, da ist der Rucksack.«

Wie beschrieben überquerten sie den Bach und suchten den Frauenschuh bei den heruntergefallenen Zweigen. Als sie die Leiche rochen, sahen sie sich an. Beide kannten diesen Gestank, er war untrüglich.

»Kein Wunder, dass Fellowes in einer solchen Verfassung war«, sagte Banks. Er holte ein Taschentuch hervor und hielt es sich vor die Nase. Vorsichtig zog Gristhorpe weitere Zweige beiseite.

»Lieber Himmel, daran wird Glendenning seine wahre Freude haben«, sagte er und wich dann zurück. »Bei der Sauerei unterhalb der Rippen können wir von einem Mordfall ausgehen. Wahrscheinlich eine Stichwunde. Männlich, würde ich sagen.«

Banks stimmte zu. Obwohl Kleingetier an Teilen der Leiche gewesen war und sich Maden eingenistet hatten, hob sich der dunkle Fleck genau links unterhalb des Brustkorps deutlich von dem weißen Hemd ab, das der Mann trug. Fellowes hatte recht, was die Bewegung anbetraf. So wie sich die Maden unter den Kleidern entlangschlängelten, entstand der Eindruck, die Leiche würde gekräuselt wie Wasser in einer Brise.

»Beweglicher Verfall«, brummelte Gristhorpe vor sich hin. »Ich frage mich, wo der Rest seiner Ausrüstung ist. So wie die Stiefel aussehen, war er garantiert Wanderer.«

Banks musterte so genau wie möglich das Gummiprofil. »Außerdem sehen sie neu aus«, sagte er. »Kaum abgenutzt.«

»Er muss noch mehr Zeug bei sich gehabt haben«, sagte Gristhorpe und rieb sich sein stoppeliges Kinn. »Die meisten Wanderer haben wenigstens einen Rucksack mit ein paar getrockneten Datteln, Kompass, Landkarten, Taschenlampe und Wechselklamotten dabei. Irgendjemand muss ihn mitgenommen haben.«

»Oder vergraben.«

»Ja.«

»Er trägt auch keine wasserdichten Sachen«, stellte Banks fest.

»Das könnte bedeuten, dass er wusste, was er tat. Nur Amateure tragen die ganze Zeit wasserdichte Sachen. Erfahrene Wanderer wechseln je nach Wetter ihre Klamotten. Wenn das alles war, was er trug, als er ermordet wurde, dann geben vielleicht die Wetteraufzeichnungen Aufschluss über die grobe Todeszeit.«

»Das Wetter war ziemlich beständig während der letzten paar Wochen«, stellte Banks fest. »Frühlingsende, aber jetzt sieht es aus wie Sommeranfang.«

»Stimmt. Trotzdem, womöglich findet die Spurensicherung doch noch was heraus. Wir sollten das Team hier hochschaffen, Alan.«

»Auf dem Weg, den wir genommen haben? Das wird nicht einfach.«

Gristhorpe dachte für einen Moment nach. »Vielleicht gibt es einen besseren Weg«, sagte er schließlich. »Wenn mich meine Ortskenntnisse nicht täuschen.«

»Und zwar?«

»Wenn ich mich nicht irre, ist dies der Bach, der in Rawley Force an der Straße nach Helmthorpe endet, ungefähr anderthalb Kilometer östlich von Swainshead. Dies ist ein Hängetal.«

»Wie bitte?«

»Ein Hängetal«, wiederholte Gristhorpe. »Ein Seitental, das im rechten Winkel ins Haupttal Swainsdale mündet. Der Gletscher war hier zu klein, um das Tal genauso zu vertiefen wie der größere Gletscher, der das ganze Haupttal ausgefräst hat, deshalb hängt es wie ein Quereinschnitt über der Haupttalsohle. Das Wasser erreicht den Hauptfluss normalerweise über Wasserfälle, Rawley Force ist so einer. Ich dachte, du hättest dich in die regionale Geologie eingelesen, Alan.«

»So weit bin ich noch nicht gekommen«, brummte Banks. Tatsächlich hatte er das Geologiebuch zugunsten eines neuen Geschichtsbuches über Yorkshire, das ihm seine Tochter Tracy empfohlen hatte, nach nur zwei Kapiteln beiseitegelegt. Sein Problem bestand darin, eine Menge wissen und lernen zu wollen, aber kaum Zeit zum Lesen zu finden, so dass er von einem Thema zum anderen sprang, ohne wirklich etwas im Gedächtnis zu behalten.

»Wie auch immer«, fuhr Gristhorpe fort, »Rawley Force ist nur ungefähr dreißig Meter hoch. Wenn wir uns an die Bergwachtstation in Helmthorpe wenden und sie dazu kriegen, eine Seilwinde aufzubauen, dann können wir das Team hier ohne Probleme rauf- und runterschaffen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass Glendenning hier so hochkraxelt wie wir. Es wird ein unglaubliches Hin und Her geben. Außerdem müssen wir auch die Leiche irgendwie runterkriegen. Eine Winde könnte die Lösung sein. Müsste problemlos funktionieren. Die Höhlenforschervereine aus Craven und Bradford bauen für die Touristen jedes Jahr eine am Gaping Gill auf – und der ist um einiges tiefer.«

»Klingt gut«, sagte Banks skeptisch. Er erinnerte sich an die Schaukelpartie hundert Meter den Gaping Gill hinab, der sich zu einer Höhle öffnete, so riesig wie das Innere der Kathedrale von York. Ein Erlebnis, das er ungern wiederholen wollte. »Aber wir sollten lieber loslegen, sonst ist es dunkel, bevor alle hier sind. Brauchen wir Sergeant Hatchley?«

Gristhorpe nickte.

»Richmond auch?«

»Noch nicht. Warten wir erst mal ab, was wir rausfinden, bevor wir hier das ganze Personal anrücken lassen. Richmond kann solange auf der Wache die Stellung halten. Ich werde hierbleiben, während du zum Auto zurückgehst und über Funk die Leute rufst. Sag dem Doc lieber gleich, in welchem Zustand die Leiche ist. Vielleicht braucht er besondere Ausrüstung.«

Banks blinzelte hinab auf die Leiche, dann schaute er Gristhorpe an.

»Bist du sicher, dass du hierbleiben willst?«

»Das ist keine Frage des Wollens«, sagte Gristhorpe.

»Jemand muss hierbleiben.«

»Sie hat hier lange genug allein rumgelegen. Auf eine halbe Stunde mehr oder weniger kommt es auch nicht mehr an.«

»Jemand muss hierbleiben«, wiederholte Gristhorpe.

Banks wusste, wann man besser den Mund hielt. So verließ er den wie Buddha unter einer Esche am Bach sitzenden Superintendent und begab sich zurück durch die Wälder zu seinem Wagen.

»Was ist los?«, fragte Katie Greenock, als Sam und Stephen mit Fellowes in ihrer Mitte hereinwankten.

»Er hat ein bisschen über den Durst getrunken, das ist alles«, sagte Sam. »Mach Platz, Frau. Ist Nummer fünf noch frei?«

»Ja, aber –«

»Keine Angst, er wird schon nicht auf deine kostbaren Laken kotzen. Er braucht nur Schlaf.«

»Na gut«, sagte Katie und biss sich auf die Lippe. »Dann bringt ihn lieber hoch.«

Als sie an ihr vorbeigingen und sich die Treppen hochkämpften, lächelte Sam sie entschuldigend an. Schließlich luden sie ihre Last auf der Tagesdecke ab und ließen Katie allein mit ihm im Zimmer. Zuerst rührte sie sich nicht vom Fleck. Sie stand am Fenster und schaute Fellowes erschrocken an. Sam wusste ganz genau, wie sehr sie Betrunkene hasste und fürchtete. Und wie sehr sie sich vor ihnen ekelte. Und dabei hatte Mr Fellowes einen so netten und vernünftigen Eindruck gemacht.

Sie hatte kein klares Bild mehr von ihrem Vater, denn er starb gemeinsam mit ihrer Mutter bei einem Feuer, als Katie erst vier Jahre alt war, aber er war Alkoholiker gewesen, und sie zweifelte nicht daran, dass daher ihre Abneigung kam. Das einzige, undeutliche Bild, das sie von ihrem Vater im Kopf hatte, war das eines großen, ordinären Mannes, der sie mit seiner lauten Stimme, seinen Bartstoppeln und seiner Grobheit verängstigte.

Einmal, als ihre Eltern sich unbeobachtet wähnten, hatte sie beobachtet, wie er ihrer Mutter im Schlafzimmer weh tat und sie derart zum Stöhnen und Strampeln brachte, dass es Katie Schauer über den Rücken jagte. Später wurde ihr natürlich klar, was ihre Eltern wohl in Wahrheit getan hatten, trotzdem war diese frühe Erinnerung so fest in ihr verankert und so tief verwurzelt wie ein Krebsgeschwür. Außerdem erinnerte sie sich daran, wie ihr Vater einmal hinfiel und sie Angst hatte, dass er sich verletzt haben könnte. Doch als sie zu ihm ging, um ihm zu helfen, stieß er sie um und beschimpfte sie. Sie hatte schreckliche Angst, dass er ihr das Gleiche antun könnte, was er mit ihrer Mutter getan hatte. Doch sosehr sie sich auch bemühte, mehr war ihr von dem Vorfall nicht in Erinnerung geblieben.

Auch die Erinnerung an das Feuer hatte sie verdrängt, nur hin und wieder suchte das Prasseln und Knistern züngelnder Flammen sie noch in ihren Alpträumen heim. Laut ihrer Großmutter war auch Katie damals im Haus gewesen, doch hatte die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle, bevor das Feuer auf ihr Zimmer übergegriffen hatte. Katie sei durch die Gnade Gottes gerettet worden, sagte ihre Großmutter, während ihre Eltern, die Sünder, von den Flammen der Hölle verschluckt worden seien.

Eine brennende Zigarette im Bett war die Brandursache, was ihre Großmutter mit besonderer Befriedigung zu erfüllen schien. In dieser Ironie sah sie ein Zeichen der göttlichen Macht, eine Antwort auf ihre Gebete. Es war Gottes Wille gewesen, Seine Gerechtigkeit, und Katie war dazu verpflichtet, ihr Leben in Dankbarkeit und demütiger Diensteifrigkeit zu verbringen.

Katie atmete tief ein, rollte Fellowes vorsichtig zur Seite und zog die Laken zurück. Die konnten einfach gewaschen werden, die gesteppte Tagesdecke dagegen nicht. Dann schnürte sie seine Wanderstiefel auf und stellte sie auf einen Zeitungsbogen vor das Bett. Sie waren zwar nicht schlammbeschmiert, aber in dem Profil der Sohle steckte jede Menge Erde.

»Sauberkeit kommt gleich nach Frömmigkeit«, hatte ihre Großmutter ihr eingeschärft. Und sie ist weit leichter zu erzielen, hätte Katie hinzugefügt, wenn sie sich getraut hätte. Abgesehen von einer unglaublich langen Liste von Pflichten und »Du sollst nicht«-Sätzen, die ungefähr alles einschlossen, womit sich die meisten normalen Menschen gern die Zeit vertrieben, lag Frömmigkeit für Katie in unerreichbarer Ferne. In letzter Zeit hatte sie häufig darüber nachgedacht und sich die strengen Worte und »notwendigen« Bestrafungen ihrer Großmutter in Erinnerung gerufen: das Mundauswaschen mit Seife für eine Lüge; eine Weile im Kohlenkeller für »schamlose Bewegungen« zu einem Stückchen Musik, das aus dem Radio des Nachbarhauses herübergeweht war. Und jede dieser Strafmaßnahmen begleitet von den Worten: »Das tut mir mehr weh als dir.«

Fellowes regte sich wieder und holte Katie aus ihren Träumereien. Für einen Augenblick öffneten sich seine grauen Augen, und er griff nach ihrer Hand. Sie spürte, wie Angst und Verwirrung von seinen knochigen Fingern durch ihr Handgelenk flossen.

»Sie bewegt sich«, nuschelte er vor sich hin, dann fiel er wieder in einen trunkenen Schlaf. »Bewegt sich ...«

Speichel sammelte sich in seinen Mundwinkeln und tropfte auf sein Kinn. Katie schreckte zurück. Sie ließ ihn allein und eilte die Treppen hinab. Sie hatte noch das Abendessen vorzubereiten, außerdem musste der Garten gejätet werden.

Banks beugte sich über die Kante von Rawley Force und beobachtete, wie Glendenning mit der Seilwinde nach oben gezogen wurde. Ein amüsanter Anblick. Der große, weißhaarige Rechtsmediziner saß aufrecht und versuchte so viel Würde zu bewahren, wie er konnte. Wie üblich baumelte eine Zigarette in seinem linken Mundwinkel, seine braune Tasche hatte er fest gegen seinen Bauch gepresst.

Glücklicherweise hatte es während der letzten Wochen kaum geregnet, so dass der Wasserfall rechts vom Doc zu einem Rinnsal verkümmert war. Die Belegschaft der Bergwacht war mehr als hilfsbereit gewesen und sofort ausgezogen, um innerhalb kürzester Zeit die Winde aufzubauen. Jetzt konnte das Polizeiteam langsam, einer nach dem anderen, heraufkommen. Gemäß seiner Stellung war Glendenning als Erster an der Reihe.

Schnaufend befreite er sich aus den Gurten, nickte Banks kurz zu und zog die Bügelfalte seiner Anzugshosen gerade. Banks führte ihn einen halben Kilometer durch das bewaldete Tal zum Tatort, wo Gristhorpe immer noch allein dasaß.

»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, sagte der Superintendent zu Glendenning, stand auf und staubte sich den Hosenboden ab. Jeder im Präsidium der regionalen Kriminalpolizei von Eastvale erachtete es als angemessen, dem Doktor höflich, ja sogar respektvoll zu begegnen. Denn obwohl er ein ruppiges, altes Arschloch war, war er einer der besten Rechtsmediziner im Land, und alle waren froh, dass er sich Eastvale als Heimat ausgesucht hatte.

Mit dem Stummel der alten zündete sich Glendenning eine neue Zigarette an. »Und wo ist sie?«, fragte er.

Gristhorpe zeigte auf den Zweighaufen. Als er auf den wackeligen Steinen den Bach überquerte, fluchte der Doktor vor sich hin. Gristhorpe wendete sich an Banks und zwinkerte. »Sind alle da, Alan?«

»Sieht so aus.«

Als Nächstes kam Peter Derby, der junge Fotograf, auf sie zugeeilt und versuchte Glendenning zu überholen, bevor der Doktor mit seiner Arbeit beginnen konnte. Banks fand, dass er viel zu unerfahren und unschuldig für seinen Job wirkte, doch nach allem, was er wusste, hatte Derby niemals auch nur mit der Wimper gezuckt, egal was es zu fotografieren gab.

Nach ihm kam Sergeant Hatchley, dem der kurze Weg von Rawley Force durch das Tal bereits das Gesicht gerötet hatte. Wie Gristhorpe war der blonde Sergeant ein kräftiger Mann, doch obwohl zwanzig Jahre jünger, hatte sich seine Muskelmasse schnell in Fett umgewandelt. Er sah aus wie ein Rugbystürmer und war in seinem Lokalverein auch tatsächlich mal einer gewesen, bis Zigaretten und Bier ihren Tribut an seiner Kondition zollten.

Banks versorgte ihn mit den Einzelheiten, während Gristhorpe sich mit den Leuten von der Spurensicherung beschäftigte.

Glendenning kniete neben der Leiche und verscheuchte die anderen wie einen Schwarm Fliegen. Schließlich packte er seine Tasche und balancierte wie ein Seiltänzer mit ausgestreckten Armen zurück über den Bach. Mit der einen Hand umklammerte er seine braune Tasche, in der anderen hielt er ein Reagenzglas.

»Verdammt ungünstiger Ort, um eine Leiche aufzuspüren«, brummte er, als wäre der Superintendent persönlich dafür verantwortlich.

»Tja, nun«, entgegnete Gristhorpe, »leider können wir uns das in unserer Branche nicht aussuchen. Ich nehme nicht an, dass du uns vor der Autopsie schon viel sagen kannst?«