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Die schwelenden Geheimnisse der Vergangenheit holten ihn ein … Archäologe Harold Steadman ist allseits beliebt, unauffällig und vollkommen seiner Forschung verschrieben – umso rätselhafter ist es, als seine Leiche gefunden wird, halb vergraben in den Hochmooren des Swainsdale. Auf der Suche nach einem Motiv muss Detective Chief Inspector Banks Licht in die Schatten einer Vergangenheit werfen, die von den Bewohnern des nahe gelegenen Dorfs Helmthrope fest unter Verschluss gehalten wird … »Diese Geschichte lässt verstehen, warum Leser süchtig nach Genre-Mysterys werden – wenn sie gut sind, sind sie sehr, sehr gut.« Booklist Band 2 der erfolgreichen Krimi-Reihe um Inspector Banks, in der jeder Titel unabhängig gelesen werden kann – für Fans von Elizabeth George und Nicci French.
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Seitenzahl: 456
Veröffentlichungsjahr: 2024
Über dieses Buch:
Archäologe Harold Steadman ist allseits beliebt, unauffällig und vollkommen seiner Forschung verschrieben – umso rätselhafter ist es, als seine Leiche gefunden wird, halb vergraben in den Hochmooren des Swainsdale. Auf der Suche nach einem Motiv muss Detective Chief Inspector Banks Licht in die Schatten einer Vergangenheit werfen, die von den Bewohnern des nahe gelegenen Dorfs Helmthrope fest unter Verschluss gehalten wird …
Über den Autor:
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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eBook-Neuausgabe November 2024
Die kanadische Originalausgabe erschien erstmals 1988 unter dem Originaltitel »A Dedicated Man« bei Penguin Canada, Toronto.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1988 by Eastvale Enterprises Inc.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-558-0
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Bei diesem Roman handelt es sich um ein rein fiktives Werk, das vor dem Hintergrund einer bestimmten Zeit spielt oder geschrieben wurde – und als solches Dokument seiner Zeit von uns ohne nachträgliche Eingriffe neu veröffentlicht wird. In diesem eBook begegnen Sie daher möglicherweise Begrifflichkeiten, Weltanschauungen und Verhaltensweisen, die wir heute als unzeitgemäß oder diskriminierend verstehen. Diese Fiktion spiegelt nicht automatisch die Überzeugungen des Verlags wider oder die heutige Überzeugung der Autorinnen und Autoren, da sich diese seit der Erstveröffentlichung verändert haben können. Es ist außerdem möglich, dass dieses eBook Themenschilderungen enthält, die als belastend oder triggernd empfunden werden können. Bei genaueren Fragen zum Inhalt wenden Sie sich bitte an [email protected].
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Peter Robinson
Eine respektable Leiche
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Elke Bahr
dotbooks.
Harold Steadman wird als Archäologe und Leiche hoch eingeschätzt.
Emma Steadman hält sich lieber im Hintergrund.
Jack Barker hat eine brutale Phantasie und schwache Nerven.
Doc Barnes begleitet die Menschen in die Welt und aus der Welt.
Teddy Hackett hat ein Händchen für Geld und ein Herz für Frauen.
Penny Cartwright singt sich in die Herzen mancher Männer.
Major Cartwright liebt seine Tochter und haßt ihren Beruf.
Michael Ramsden ist ein echter Romantiker.
Mr. Tavistock sucht ein Schaf und findet einen Toten.
Sally Lumb liebt Kevin und Geheimnisse.
Constable Geoff Weaver muß noch eine Menge lernen.
Det. Seargeant Jim Hatchley ermittelt besonders gern in Kneipen.
Det. Chief Inspector Alan Banks schlägt sich nicht nur mit seiner Pfeife herum.
Als die Sonne hoch genug stand, um die Schieferdächer auf der gegenüberliegenden Straßenseite in Licht zu tauchen, stahlen sich langsam die ersten Strahlen durch den Spalt in Sally Lumbs’ Fenstervorhängen und ließen eine Strähne goldblonden Haars aufblitzen, das sich über ihre Wange ringelte. Sally träumte. Minotauren, Bankbeamte, Gazellen und Gnome hüpften ausgelassen durch die weiten Kornspeicher, die eleganten Maisonettewohnungen und die gotischen Schlösser ihrer Phantasie, doch als sie wenige Stunden später erwachte, war nichts geblieben außer dem bizarren Bild einer Katze, die sich mit äußerster Vorsicht einen Weg bahnte durch die spitzen Glasscherben auf einer hohen Mauer. Träume, nichts als Träume. Bilder, an die sie sich meist nicht einmal mehr erinnerte, die nichts zu tun hatten mit den weit wichtigeren Phantasien, die sich auch ohne Schlaf jederzeit abrufen ließen. Träume, in denen sie ein glänzendes Examen ablegte und in die Marion Boyars Academy of Theatre Arts aufgenommen wurde. Träume, in denen sie Schauspielunterricht nahm, aber realistisch genug blieb, um auch Kurse als Fotomodell und Visagistin zu belegen. Für den Fall, daß ihr Talent nicht ausreichte zu einer zweiten Jessica Lange oder Kathleen Turner, wollte sie der glitzernden Welt des Glamours wenigstens am Rande angehören.
Als sie sich endlich rekelte und streckte, war der Sonnenbalken bereits weitergewandert zum Fußboden neben ihrem Bett und warf sein streifiges Licht auf das Knäuel von Kleidern, die sie in der Nacht zuvor einfach hatte fallen lassen. Unten in der Küche klapperte Geschirr, und der satte Bratendunst von frischem Roastbeef wehte bis herauf in ihr Zimmer. Sally stand auf. Zweifellos war es taktisch klüger, nicht erst zu warten, bis Mutters nervtötendes »Zu Tisch!« ertönte, sondern gleich nach unten zu gehen und ein bißchen beim Gemüseputzen zu helfen. Immerhin konnte sie ihren guten Willen zeigen und vielleicht erreichen, daß das Verhör über ihr langes nächtliches Ausbleiben nicht allzu peinlich ausfiel.
Sie stellte sich vor die Spiegeltür des hohen alten Eichenschranks und begutachtete ihren nackten Körper. Alles in allem, fand sie, hatte sie eine prima Figur, wenn man von dem leichten Babyspeck um Hüften und Schenkel mal absah, aber der würde schließlich auch bald verschwinden. Ihre Brüste jedenfalls waren einfach perfekt. Die meisten Leute machten ihr zwar dauernd Komplimente über ihr langes, seidiges Haar, aber die hatten ja auch ihre Brüste noch nicht gesehen. Im Gegensatz zu Kevin. Der hatte. Gerade gestern Abend noch. Er hatte sie gestreichelt und gesagt, sie wären absolut Spitze. Gestern Nacht, da war es fast zum Letzten gekommen, und beim nächsten Mal, schon bald, würden sie’s bestimmt machen, das war klar. Sie sah dem großen Augenblick mit einer Mischung aus Angst und Verlangen entgegen. Nach, allem, was sie in den Zeitschriften und Büchern darüber gelesen hatte, war der Durchbruch zur Ekstase schnell geschafft, und dann begann die große, glutvolle Leidenschaft.
Leise fuhr sie mit der Spitze des Zeigefingers über eine Brustwarze und spürte ein Kribbeln im Bauch, während sich die Brustwarze versteifte. Mit glühenden Wangen wandte sie sich ab und begann sich anzuziehen.
Kevin war große Klasse. Er wußte genau, wie er sie erregte; seit Beginn des Sommers hatte er mit ihrer Lust gespielt, ihre Grenzen bei jedem Mal vorsichtig ein wenig erweitert, und bald würde ihm alles gehören, das ganze Terrain. Obwohl er jung war, wie sie selbst, schien er instinktiv zu wissen, was ihr gefiel, etwa so, wie sie sich das bei einem älteren und erfahrenen Mann vorgestellt hatte. Wahrscheinlich liebte sie ihn sogar, ein bißchen jedenfalls. Aber wenn ein anderer des Weges kam – jemand, der reifer war, wohlhabender, kultivierter, jemand, der in den aufregenden, dynamischen Metropolen dieser Welt zu Hause war – dann, nun schließlich war Kevin im Grunde nichts weiter als ein Landei.
Angetan mit Designer-Jeans und einem schlichten weißen T-Shirt, zog Sally die Fenstervorhänge zurück. Nachdem sich ihre Augen an die plötzliche Helligkeit gewöhnt hatten, sah sie hinaus in einen strahlenden Tag. Es war typisches Swainsdale-Wetter. In der leichten Morgenbrise segelten hier und da ein paar flauschige Wolkentuffs über den tiefblauen Himmel. Einer der Wattebäusche hatte die Form eines Teddybären, ein anderer sah aus wie ein großer Taschenkrebs. Sie schaute hinauf in den Norden, über die weiten Hänge des Tales, über das satte Grün der Wiesen, das da und dort von den dunkleren Flecken des Heidekrauts und den hellen Buckeln des nach oben drängenden Kalksteins durchzogen war, auf die langgezogene Steilwand des Crow Star, wo sie plötzlich etwas sehr Seltsames bemerkte. Zuerst konnte sie nicht genau erkennen, was es war, bis sie die Augen zusammenkniff, sich ganz auf die Stelle konzentrierte und schließlich fünf oder sechs blaue Punkte ausmachte, die sich oberhalb der stillgelegten Straße über den Hang verteilten und sich in einer Art Formation fortzubewegen schienen. Sie legte den Finger an die Lippen und runzelte nachdenklich die Stirn.
Fünfzehn Meilen weiter, in Eastvale, der größten Stadt in diesem Tal, stimmte sich noch jemand auf das sonntägliche Roastbeef mit Yorkshirepudding ein. Detective Inspector Banks lag im Zimmer seines Sohnes platt auf dem Bauch und beobachtete, wie die Modelleisenbahn über die kurvenreiche Strecke flitzte, vorbei an Signalmasten, über kleine Brücken und durch dunkle Tunnel aus Pappmache. Brian selbst war draußen im Park und vergnügte sich mit seinem Fahrrad, da Banks es längst aufgegeben hatte, so zu tun, als spiele er nur seinem Sohn zuliebe mit der Eisenbahn. Nach einigem Zögern hatte er schließlich zugeben müssen, sich bei dieser Art von Freizeitbeschäftigung sogar noch besser entspannen zu können als bei einem heißen Bad.
Er hörte, wie unten in der Diele das Telefon klingelte und kurz darauf seine Tochter Tracy zu ihm hochrief: »Für dich, Daddy!«
Während er die Treppe hinunterhastete, wallte ihm der Bratenduft aus der Küche entgegen und machte ihm den Mund wäßrig. Er bedankte sich bei Tracy und nahm den Hörer auf. Sergeant Rowe, der diensthabende Officer der Eastwaler Hauptwache, war am Apparat.
»Tut mir leid, Sie stören zu müssen, Sir«, meldete er sich, »aber wir hatten gerade einen Anruf von Constable Weaver, drüben aus Helmthorpe. Anscheinend hat einer der Farmer aus der Gegend heute morgen ’ne Leiche auf seinem Acker gefunden.«
»Ich höre«, drängte Banks in unvermittelt offiziellem Ton.
»Behauptet, er hat grade nach ’nem verirrten Schaf gesucht, als er über die Leiche gestolpert ist. Lag an ’ner Mauer, eingebuddelt. Weaver sagt, er hat nur ’n paar Steine hochgehoben, aber darunter issen Toter, klarer Fall. Sieht aus, als hätt ihm einer schwer eins über die Rübe gegeben.«
Banks fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog, wie immer, wenn er von einem Mord erfuhr. Vor einem Jahr hatte er sich von London hierher versetzen lassen, angewidert von der ansteigenden Spirale sinnloser Gewalt in der Hauptstadt, und das alles nur, um spätestens nach dem »Peeping Tom«-Fall feststellen zu müssen, daß die Verhältnisse hier im Norden nicht besser, sondern vielleicht schlimmer waren. Dieser letzte Fall hatte sie beide – seine Frau Sandra und ihn selbst – emotional stark mitgenommen, aber seither schienen sich die Dinge wieder etwas beruhigt zu haben. Er hatte sich lediglich mit ein paar Einbrüchen und einer Betrugsaffäre beschäftigen müssen und sich bereits im Glauben gewiegt, daß Peeping Toms und gemeingefährliche Teenager in einem Ort wie Eastvale doch eher die Ausnahme von der Regel darstellten,
»Sagen Sie Constable Weaver, er soll schnellstens wieder dorthin zurückgehen und so viele Männer mitnehmen, wie er finden kann, um das ganze Terrain abzusperren. Ich wünsche, daß sofort mit einer systematischen Durchsuchung des Geländes begonnen wird, aber ich ordne ausdrücklich an, daß sich niemand näher als höchstens zehn Meter an die Leiche heranwagt. Verstanden?« Das letzte, was er in dieser Situation brauchte, waren Dutzende von Plattfüßen, die den Boden rund um die Leiche flachtraten und alle Spuren, die man dort noch finden mochte, niederwalzten.
»Geben Sie Befehl, daß alle Fundstücke in markierten Plastikhüllen zu verstauen sind«, fuhr er fort. »Das Verfahren sollte allen bekannt sein, aber es wird sicher nicht schaden, die Leute daran zu erinnern. Und wenn ich sage alles, dann meine ich das auch! Alles, gebrauchte Gummis und was auch immer! Benachrichtigen Sie Detective Sergeant Hatchley und Dr. Glendenning. Sie sollen sich sofort auf den Weg machen. Außerdem brauche ich den Gerichtsfotografen und die Mannschaft von der Spurensicherung. Okay?«
»Jawohl, Sir«, bestätigte Sergeant Rowe, wohl wissend, daß Jim Hatchley gerade seinen sonntäglichen Frühschoppen im Oak genoß und es Banks große Genugtuung bereiten würde, ihn bei diesem Vergnügen zu stören.
»Der Super ist doch wohl informiert, wie ich annehme?«
»Genau, Sir. Er hat mir ja gesagt, daß ich Sie anrufen soll.«
»Sehr passend«, beschwerte sich Banks. »Bestimmt ist er gar nicht erst auf die Idee gekommen, daß er selbst seinen Sonntagsbraten verpassen könnte«, fügte er hinzu, allerdings mit einem humorvollen und herzlichen Unterton. In seinem neuen Kollegenkreis war es vor allem Superintendent Gristhorpe gewesen, der ihn bei dem schwierigen Wechsel von der Stadt aufs Land unterstützt und ermutigt hatte.
Banks legte auf und schlüpfte in das abgetragene braune Jackett mit den Lederflicken am Ellbogen. Er war ein mittelgroßer, dunkelhaariger Mann, dessen schlankes Erscheinungsbild eher an die keltischen Ahnen des klassischen Walisers erinnerte und jedenfalls keine Rückschlüsse auf seinen Beruf zuließ.
Während er sich anschickte, das Haus zu verlassen, trat Sandra, seine Frau, aus der Küchentür. »Was gibt’s?« erkundigte sie sich.
»Sieht nach einem Mord aus.«
Sie trocknete sich die Hände an der blaukarierten Schürze ab. »Dann wirst du also nicht mit uns essen?«
»Wohl kaum. Tut mir leid, Liebes.«
»Und es macht vermutlich auch keinen Sinn, dir was warmzuhalten?«
»Ich denke, nein. Ich werd mir irgendwo ein Sandwich besorgen.« Er gab ihr einen flüchtigen Kuß auf die Lippen. »Mach dir keine Sorgen, ich ruf dich an, sobald ich weiß, was los ist.«
Er lenkte seinen weißen Cortina nach Westen und folgte der Straße, die sich am Flußufer durch das Tal zog. Seinem Rang nach hatte er Anspruch auf einen Dienstwagen mit Chauffeur, aber er saß gerne selbst am Steuer und zog es vor, mit sich allein zu sein, wenn er zu einem Fall unterwegs war. Was die Kosten betraf, so wurden sie durch ein großzügiges Kilometergeld mehr als reichlich gedeckt.
Ein Auge auf dem Verkehr und eine Hand am Steuer, durchforstete er mit der freien Hand den wirren Haufen von Kassetten auf dem Beifahrersitz, wählte eine aus und steckte sie in den Schlitz des Tapedecks.
Obwohl er immer noch heilige Eide schwor, daß seine Vorliebe für Opern im Lauf des Winters keineswegs geschwunden war, mußte er doch zugeben, daß er mehr und mehr abschwenkte in die Welt des englischen Liedguts – eine Wandlung, die Sandra aus vollem Herzen begrüßte. Sie hatte Opern ohnehin nie gemocht, und Wagner hatte ihr den Rest gegeben. Am Ende war sie sogar so weit gegangen, sich mit einem Magneten auf eine seiner Aufzeichnungen zu stürzen – ausgerechnet auf ein Band von Siegfrieds Begräbnismarsch, wie sich Banks leidvoll erinnerte. An diesem Punkt war ihm einiges klargeworden, und nun fuhr er am Flußufer entlang unter den Klängen von Dowlands »I saw my Lady weep«, gesungen von Jan Partridge.
Ähnlich wie die größeren und bekannteren Yorkshire Dales zieht sich auch das Swainsdale mehr oder weniger gradlinig – mit einer leichten Neigung in südliche Richtung – von West nach Ost, bis sich der schmale Flußlauf endgültig im Ouse verliert. An seiner Quelle bei Swainshead, hoch oben in den Penninischen Bergen, besteht der Swain nur aus einem dünnen Rinnsal sprudelnden klaren Wassers, aber auf seinem langen Weg nach unten in die Nordsee hat er sich tiefer und tiefer durch die Gletscher und die geologischen Schichten gegraben und mit deren Hilfe ein langgestrecktes malerisches Tal entstehen lassen, das sich zum Vale of York hin immer weiter öffnet. Im Osten, am äußersten Ende, thront die Hauptstadt Eastvale mit ihrem normannischen Burgfried über dem Dale und blickt hinaus auf eine üppige, fruchtbare Ebene. Und bei klarem Wetter sind in der Ferne die Hambleton Hills und die Hochmoore von North York zu erkennen.
Am nördlichen Flußufer, in der Nähe der düsteren Ruinen der Abtei von Devraulx, tauchte Lyndgarth auf, während Banks langsam durch das friedliche Fortford fuhr, wo man auf einem Hügel jenseits der Gemeindeanlagen immer noch an der Freilegung der Überreste eines römischen Forts arbeitete. Weiter vorn zu seiner Rechten sah er bereits das helle Weiß der Kalkklippen von Crow Star aufragen, und im Näherkommen bemerkte er ein halbes Dutzend Polizisten, die ein von unregelmäßigen Steinwällen gesäumtes Feld absuchten. Das Weiß der Felswand schimmerte im Sonnenlicht, und die niedrigen Steinwälle zeichneten sich vor den satten Wiesen ab wie Perlenketten auf einem smaragdgrünen Samtkissen.
Um an den Tatort heranzukommen, mußte Banks erst den Ort Helmthorpe durchqueren – das Zentrum des Markttreibens im ganzen Tal –, an der Brücke dann nach rechts abbiegen in die Hill Road und von dort wieder nach rechts auf einen schmalen Fahrweg, der sich in zahllosen Kurven an den Hängen hoch durch das halbe Tal schlängelte. Es war ein reines Wunder, daß man diese Strecke überhaupt asphaltiert hatte. Vermutlich ein Zugeständnis an die zu erwartenden Touristenscharen, überlegte Banks, nur leider schlecht für die Suche nach Reifenspuren.
Eher an die Straßen der Großstadt als an ländliches Terrain gewöhnt, schlug er sich beim Überklettern der niedrigen Mauer das Knie auf und stolperte mühsam über die dicken Grasbuckel hügelan. Völlig außer Atem hatte er sich schließlich zu der etwa fünfzig Meter entfernten Stelle am Hang vorgearbeitet, wo ein Beamter in Uniform – vermutlich der besagte Constable Weaver – auf einen finster blickenden alten Farmer einredete.
Neben der in nordsüdlicher Richtung verlaufenden seitlichen Begrenzungsmauer lag die Leiche unter einer lockeren Schicht aus Erde und Steinen, die man unterdessen so weit abgetragen hatte, daß sich der Körper ohne weiteres als der eines Mannes identifizieren ließ.
Sein Kopf lag auf der Seite, und als sich Banks neben ihm hinkniete, stellte er fest, daß die Nackenhaare des Toten getränkt waren von Blut. Eine plötzliche Übelkeit stieg in ihm hoch, aber er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle, während er sich in Gedanken die Szene einprägte. Als er wieder auf den Beinen stand, war er einen Moment lang wie erschlagen von dem krassen Gegensatz zwischen diesem herrlichen, heiteren Tag und der blutigen Leiche zu seinen Füßen.
»Alles unverändert geblieben?« erkundigte er sich bei Weaver, während er vorsichtig über das Absperrseil zurückkletterte.
»Weitgehend, Sir«, entgegnete der junge Beamte. Er sah bleich aus, und der säuerliche Geruch seines Atems deutete darauf hin, daß er sich vermutlich hatte übergeben müssen. Nur zu begreiflich, dachte Banks. Sicher war es die erste Leiche für Weaver.
»Mister Tavistock hier«, meinte Weaver und deutete auf den schnurrbärtigen Farmer, »sagt, er habe nur ein paar Steine oben am Kopf weggeräumt, um festzustellen, wonach sein Hund scharrte.«
Banks sah hinüber zu Tavistock, dessen grimmige Miene verriet, daß ihm der Tod keineswegs neu war. Sicher war er Soldat gewesen und anscheinend alt genug, um in beiden Weltkriegen gedient zu haben.
»War grade hinter dem Schaf her«, erklärte Tavistock in einem gemächlichen, breiten Yorkshire-Tonfall, »und da hab ich gesehn, daß die Mauer ramponiert ist. Hab schon gedacht, sie wär zusammengekracht.« Er legte eine Pause ein und kratzte sich die grauen Bartstoppeln. »Darf eigentlich nich passieren bei ’ner Bessthwaite- Mauer. Hat’s noch nie gegeben, die ganzen Jahre nich. Egal, jedenfalls fing der olle Ben an zu buddeln. Erst hab ich mir nicht groß was bei gedacht, aber dann ... « Er zuckte mit den Achseln, als sei damit alles Notwendige gesagt.
»Was haben Sie getan, nachdem Ihnen klar war, was da lag?« wollte Banks wissen.
Tavistock kratzte sich den schrumpligen Hals und spuckte kräftig auf den Boden. »Nur ’n Blick drauf geworfen, sonst nichts. Dachte, ’s wär vielleicht ’n Schaf, das einer abgemurkst hat. Kommt schon mal vor, so was. Dann bin ich nach Hause geflitzt« – er deutete auf einen Bauernhof, der etwa eine halbe Meile entfernt lag – »und hab den jungen Weaver hier angerufen.«
Banks war leicht skeptisch, was das »Flitzen« betraf, aber doch immerhin froh, daß Tavistock offenbar schnell gehandelt hatte. Er wandte sich ab, um dem Fotografen und den Leuten von der Spurensicherung seine Instruktionen zu erteilen. Dann zog er das Jackett aus, lehnte sich mit dem Rücken gegen die sonnenwarme Mauer und sah den Männern vom Erkennungsdienst bei der Arbeit zu.
Empört knallte Sally Messer und Gabel auf den Tisch und schrie ihren Vater an: »Nur, weil ich mal mit einem Jungen ausgehe, heißt das noch lange nicht, daß ich mich rumtreibe und ein Flittchen bin oder so was!«
»Sally!« sagte Mrs. Lumb vorwurfsvoll. »Hör auf, deinen Vater anzuschreien! Du weißt genau, daß er das nicht so gemeint hat.«
»Es hat sich aber so angehört«, antwortete Sally mit unverändert finsterer Miene.
»Er hat dich nur warnen wollen«, fuhr ihre Mutter fort. »Du mußt vorsichtig sein. Manche Jungs legen es eben darauf an, ein Mädchen auszunutzen. Vor allem, wenn es so hübsch ist wie du«, fügte sie mit einer Mischung aus Stolz und Sorge hinzu.
»Ihr könnt mich doch nicht behandeln wie ein kleines Kind«, protestierte Sally, »ich bin schließlich schon sechzehn.« Leicht mitleidig sah sie kurz hinüber zu ihrer Mutter, bedachte dann ihren Vater erneut mit einem bitterbösen Blick und wandte sich wieder ihrem Roastbeef zu.
»Jawohl«, meinte Mr. Lumb bestimmt, »und du machst gefälligst, was man dir sagt, solange du noch keine achtzehn bist. So steht’s nun mal im Gesetz.«
In Sallys Augen war dieser Mann, der ihr da am Tisch gegenübersaß, die Wurzel allen Übels, und natürlich paßte Charles Lumb geradezu ideal in das Bild, das sich seine Tochter von ihm gemacht hatte – ein altmodischer, engstirniger Bauerntölpel, dem bei allem, was neu und interessant war, immer nur ein Gegenargument einfiel: »Was für deinen Vater und davor für dessen Vater gut genug war, ist auch gut für dich, junges Fräulein.« Er hatte einen ausgeprägten Hang zum Konservativen, wie man ihn nur bei Leuten findet, deren Familie seit Menschengedenken am gleichen Ort gewohnt hat. Charles Lumb war ein Traditionalist, und als solcher pflegte er häufig darüber zu klagen, daß das Dale, wie er es gekannt und geliebt hatte, dahinstarb. Er wußte, daß der Jugend keine andere Chance blieb, als von hier wegzugehen, und das betrübte ihn. Schon sehr bald, dessen war er sicher, würden auch die letzten Dorfbewohner dem National Trust, der English Heritage oder der Open Spaces Society gehören und wie seltene Tiere in einem Zoo gehalten werden, wo man sie dafür bezahlte, ihre exotischen Lebensformen in einer Art Freilichtmuseum (live) vorzuführen. Anders konnte man die Dinge wohl nicht sehen, wenn man als Enkel eines Möbeltischlers heute bereits als Fabrikarbeiter in einer Großmolkerei gelandet war. Das Handwerk starb aus, weil es unrentabel geworden war, und nur der Tourismus hielt hier und da noch einen Faßbinder, einen Hufschmied oder Wagenbauer am Leben.
Dennoch, er blieb ein echter Yorkshire-Mann, durch und durch, mit einer angeborenen Neigung zu bissigen Sticheleien, die von einem lebenshungrigen jungen Mädchen wie Sally leicht zu ernst genommen werden konnten. Er gab die abenteuerlichsten Behauptungen und Meinungen über die Interessen und Träume seiner Tochter zum Besten, und zwar in einem derart trockenen Ton, daß es niemandem vorzuwerfen war, wenn er den freundlichen Spott nicht erkannte, der sich dahinter verbarg. Wäre Lumb weniger sarkastisch gewesen – und seine Tochter weniger egozentrisch –, hätten beide vielleicht erkannt, wie sehr sie einander liebten.
Das Problem war nur, daß Charles Lumb gerne etwas mehr gesunden Menschenverstand in seiner Tochter entdeckt hätte. Sie war intelligent, zweifellos, und sie hatte bestimmt keine Schwierigkeiten, auf die Universität zu kommen, um Ärztin zu werden oder Rechtsanwältin. Jedenfalls verdammt viel weniger Schwierigkeiten als er selbst, zu seiner Zeit. Aber nein, es mußte unbedingt diese alberne Akademie sein, und er konnte beim besten Willen nicht erkennen, wozu man lernen mußte, sich das Gesicht zu bemalen und sich im Badeanzug zu produzieren. Sicher wäre er etwas zugänglicher gewesen, wenn er wenigstens geglaubt hätte, daß Sally das Zeug hatte zu einer großen Schauspielerin. Aber dem war nicht so. Vielleicht lag er falsch – hoffentlich –, das würde sich herausstellen mit der Zeit. Vielleicht kam sie wenigstens eines Tages ins Fernsehen, das war ja auch schon was.
Nachdem ein paar Minuten vergangen waren, in denen Sally pflichtgemäß geschmollt hatte, fand sie es an der Zeit, das Thema zu wechseln. »Habt ihr die Männer gesehen, drüben am Berg?« fragte sie. »Möchte wissen, was die da machen.«
»Würde mich nicht überraschen, wenn sie was suchen«, lautete die trockene Antwort ihres Vaters, der sich noch nicht ganz von dem Streit erholt zu haben schien.
Sally ignorierte ihn. »Scheinen von der Polizei zu sein. Man kann sehen, wie die Uniformknöpfe in der Sonne blitzen. Ich geh mal rüber nach dem Essen. An der Straße stehen schon jede Menge Leute.«
»Dann sieh zu, daß du wenigstens vor Mitternacht wieder hier bist«, empfahl ihre Mutter. Damit war die Luft wieder geklärt, und der Rest der Mahlzeit verlief in friedlicher Stimmung.
Kurz darauf marschierte Sally bereits die Straße hoch und bog hinter den letzten Cottages nach rechts ab. Eilig kletterte sie den Hügel hoch, legte mitunter ein paar Tanzschritte ein, zupfte hier und da eine Handvoll Gräser ab und warf sie hoch in die Luft.
Neben dem Acker standen ein paar Wagen und blockierten die Straße. Was aus der Entfernung wie eine größere Menschenmenge ausgesehen hatte, erwies sich bei näherem Hinsehen als ein knappes Dutzend neugieriger Touristen, bewaffnet mit Kameras, Rucksäcken und Wanderstiefeln. Schließlich war man hier auf offenem Land, wie Sally wußte, fast schon im freien Moor, ungeachtet der Steinwälle, die sich kreuz und quer durch das Gelände zogen und ihm einen Anstrich von Ordnung und System gaben. Diese Mauern waren allesamt sehr alt, und nur die Farmer aus der Umgebung mochten wissen, wer sie errichtet hatte.
Auf dem Feld selbst herrschte ein reges und für einen derart abgelegenen Ort höchst ungewöhnliches Treiben. Uniformierte Polizisten krochen auf allen vieren durch das wild wuchernde Gras, das Areal an der Trockenmauer war von Pfosten umgeben und mit Seilen eingezäunt. Innerhalb der Absperrung stand ein Mann mit einem Fotoapparat, ein anderer mit einer schwarzen Tasche und ein dritter – eher klein und drahtig –, der die Oberaufsicht über das Ganze zu haben schien. Sein braunes Jackett hatte er locker über die Schultern geworfen, und darunter konnten Sallys scharfe Augen eine Andeutung von Schweißflecken in den Achselhöhlen erkennen.
Sie fragte ihren Nachbarn, einen Spaziergänger mittleren Alters, ob er wisse, was hier passiert sei. Ein Mord wahrscheinlich, meinte der Mann. Genau, das mußte es sein, keine Frage. Man kannte das ja, aus dem Fernsehen.
Banks schaute hinüber zur Straße. Er nahm eine Bewegung wahr, ein kurzes Flackern, aber es war nur die Sonne, die einen Moment lang in den blonden Haaren eines jungen Mädchens aufblitzte. Unterdessen hatte sich Dr. Glendenning, der hochgewachsene, weißhaarige Gerichtspathologe, offenbar lange genug an dem Toten zu schaffen gemacht, dessen Gliedmaßen verrenkt und ihm das Thermometer in sämtliche Körperöffnungen geschoben. Die unvermeidliche Zigarette im Mundwinkel, stand er da, murmelte etwas von der lauen Nacht, die man jüngst gehabt habe, und kritzelte irgendwelche Berechnungen in sein rotes Notizbuch.
Es war ein Glücksfall, überlegte Banks mit einem Blick zu den neugierigen Gaffern, daß die Beamten der Spurensicherung zuerst den Straßenrand abgesucht hatten. Man hatte zwar nicht viel gefunden – keine Reifenspuren auf dem Asphalt, keine klaren Fußabdrücke auf der Grasnarbe –, aber doch deutliche Anzeichen dafür, daß ein schwerer Gegenstand über die Straße auf das freie Feld gezogen worden war.
Glendennings Untersuchungen bestätigten, daß das Opfer irgendwo anders getötet und später wie ein Haufen Müll auf dieses abgelegene Plätzchen gekippt worden war. Das machte die Sache problematisch. Solange der Tatort unbekannt war, wußte man auch nicht, wo man mit der Suche nach dem Mörder ansetzen sollte.
Während der Arzt weiter vor sich hin murmelte und seine Zahlenkolonnen aufeinander abstimmte, sog Banks genüßlich die frische Luft ein und fand erneut, daß dieser Tag viel zu schön und dieser Platz viel zu idyllisch war für ein so unerfreuliches Geschäft wie Mord. Auch Peter Darby, der junge Polizeifotograf, schien ähnlich zu empfinden. Während er die Leiche aus allen Blickwinkeln ablichtete, verkündete er, daß er an einem solchen Tag normalerweise unterwegs sei, um die Wasserfälle von Rawley Force zu fotografieren – mit einer sehr weiten Blende natürlich – oder sich irgendwelche Blumen mit dem Teleobjektiv vor die Linse zu holen und zu beten, daß sich eine Biene oder ein Schmetterling lange genug auf den Blütenblättern niederläßt, damit er zum Schuß kommt. Banks wußte, daß der junge Mann nicht zum ersten Mal eine Leiche vor der Linse hatte und von daher an den unschönen Anblick gewöhnt war. Dennoch, es lagen Welten zwischen diesem Bild und dem von Schmetterlingen und Wasserfällen.
Glendenning blickte von seinem Notizbuch auf und blinzelte im Sonnenlicht, während sich ein langer Streifen Asche von seiner Zigarette löste und auf den Boden rieselte. Banks überlegte, ob der Doktor wohl auch beim Sezieren die Zigarette im Mund behielt und die Asche in den geöffneten Leichnam fallen ließ. Hier am Tatort war das Rauchen selbstverständlich strengstens verboten; aber es hatte noch niemand gewagt, Dr. Glendenning darauf hinzuweisen.
»Es war ziemlich warm letzte Nacht«, sagte er zu Banks mit einem leichten schottischen Singsang in seiner kratzigen Raucherstimme. »Ich kann also nicht präzise sagen, wann der Tod eingetreten ist. Aber es muß irgendwann zwischen Einbruch der Dunkelheit und Sonnenaufgang gewesen sein.«
Na, wunderbar! dachte Banks. Wir haben zwar keine Ahnung, wo der Mann gestorben ist, aber wir wissen immerhin, daß es in der Nacht passiert ist.
»Tut mir leid«, fügte Glendenning mit einem Blick auf Banks’ Miene bedauernd hinzu.
»Ist ja nicht Ihre Schuld. Sonst noch etwas?«
»Um es einmal laienhaft auszudrücken und Ihnen den langweiligen Medizinerjargon zu ersparen – ein Schlag auf den Hinterkopf. Ein recht kräftiger allerdings. Der Schädel ist aufgesprungen wie ein Ei.«
»Irgendeine Vorstellung von der Tatwaffe?«
»Der berühmte stumpfe Gegenstand. Mit ein paar scharfen Kanten, wie bei einem Schraubenschlüssel oder einem Hammer. Genaueres kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen, aber ein Ziegel oder ein schwerer Stein läßt sich wohl ausschließen. Dafür ist die Wunde zu sauber, ich konnte keinerlei Restpartikel entdecken. Exakte Angaben sind natürlich erst nach der Autopsie möglich.«
»Ist das alles?«
»Ja. Sie können ihn jetzt in die Anatomie überführen lassen, wenn Sie mit den Aufnahmen durch sind.«
Banks nickte und bat einen der Uniformierten, die Ambulanz zu rufen, während Glendenning seine Tasche packte.
»Weaver! Sergeant Hatchley! Kommen Sie doch einen Moment zu mir rüber!« rief Banks und beobachtete, wie sich die beiden Beamten in Trab setzten. »Haben Sie irgendeine Idee, um wen es sich bei dem Toten handelt?« erkundigte er sich bei Weaver.
»Jawohl, Sir«, antwortete der immer noch bleichgesichtige Constable. »Sein Name ist Harry Steadman. Er wohnt hier im Dorf.«
»Verheiratet?«
»Ja, Sir.«
»Dann sollten wir wohl besser seine Frau informieren. Sergeant – würden Sie jetzt bitte mit Mr. Tavistock zu seinem Hof gehen und seine Aussage zu Protokoll nehmen?« Hatchley nickte bedächtig.
»Gibt es hier in Helmthorpe ein einigermaßen anständiges Lokal?« erkundigte sich Banks bei Weaver.
»Ich trinke mein Bier gewöhnlich in The Bridge, Sir.«
»Wie ist das Essen?«
»Nicht schlecht.«
»In Ordnung.« Banks wandte sich wieder an Hatchley. »Wir werden Mrs. Steadman einen Besuch abstatten, während Sie sich um Tavistock kümmern. Danach sollten wir uns in diesem Lokal treffen und einen Happen essen. Okay?«
Hatchley nickte zustimmend und trottete mit Tavistock davon.
Mit einem gemütlichen Essen zu Hause war angesichts der Umstände nicht mehr zu rechnen. Überhaupt würde es wohl nur noch zu wenigen Mahlzeiten am heimischen Herd kommen, solange der Fall nicht gelöst war. Banks wußte aus Erfahrung, daß es kaum ein Halten gab und nur wenige Verschnaufpausen für einen Rest von Familienleben, wenn die Ermittlungen zu einem Mord erst einmal begonnen hatten. Das Verbrechen drängte sich in den ganzen Tagesablauf, war allgegenwärtig beim Essen, beim Waschen und im Schlaf; es beherrschte jedes Gespräch und errichtete eine unsichtbare Barriere zwischen dem Polizisten und seiner Familie.
Gedankenvoll sah er hinunter auf das Dorf, auf die im Sonnenlicht schimmernden grauen Schieferdächer der Häuser, die sich um die Biegung des Flusses ausbreiteten. Die Uhr an der Spitze des quadratischen Kirchturms zeigte bereits auf halb eins. Er seufzte, warf Weaver ein aufforderndes Nicken zu und machte sich mit ihm auf den Weg zu seinem Wagen.
Ohne die zaghaften Fragen des Lokalreporters zu beachten, bahnten sie sich einen Weg durch die kleine Ansammlung von Zuschauern und kletterten in den Cortina, wo Banks seine Kassetten vom Beifahrersitz schaufelte, um für Weaver Platz zu schaffen.
»Was wissen Sie über diesen Steadman, erzählen Sie«, forderte Banks seinen Begleiter auf, während er rückwärts in einen Weg fuhr und den Wagen wendete.
»Wohnt erst ungefähr anderthalb Jahre im Ort«, begann Weaver. »Hatte wohl immer schon ’n Narren gefressen an der Gegend und kam regelmäßig in den Ferien her. Schließlich hat er seinen Vater beerbt und sich hier niedergelassen. Scheint Professor gewesen zu sein, an der Uni von Leeds. Mächtig gebildet, der Bursche, aber überhaupt nicht arrogant. Ungefähr Anfang Vierzig, knapp über einsachtzig, hellbraunes Haar. Sieht noch ziemlich jung aus. Wohnen in Gratly, die beiden.«
»Hatten Sie nicht gesagt, daß die Steadmans hier im Ort leben?«
»Ist im Grunde dasselbe, Sir, Tatsache«, erklärte Weaver. »Gratly ist nur ’n winziges Kaff mit ’n paar alten Häusern, etwas weiter weg von der Straße. Hat nicht mal ’n eigenen Pub. Und wo jetzt die Neubauten immer höher geklettert sind am Berg, sind die zwei Käffer so dicht zusammengerückt, daß im Grunde alles eins ist. Die Hiesigen legen allerdings noch Wert auf die alten Namen. Wegen der Unabhängigkeit, nehm ich mal an.«
Während Banks talwärts auf die Brücke zusteuerte, deutete Weaver nach vorn auf die andere Flußseite und sagte: »Das da drüben ist Gratly, Sir.«
Banks erblickte eine Reihe von Neubauten, die zum Teil noch nicht fertiggestellt waren; dann folgte eine etwa hundert Meter lange unbebaute Fläche bis zu den Querstraßen, an denen sich die älteren Cottages erstreckten.
»Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Banks. Zumindest hatte man Geschmack bewiesen bei den Neubauten, indem man sie dem Stil der alten Häuser angepaßt und mit den traditionellen Baumaterialien errichtet hatte.
Unterdessen hielt Weaver das Gespräch in Gang, offenbar in dem Bemühen, sich über den Anblick seiner ersten Leiche hinwegzuhelfen.
»Die neuen Häuser von Helmthorpe liegen samt und sonders auf dieser Seite vom Dorf. Im Osten findet man praktisch nichts, was neueren Datums ist. Diese gelehrten Typen haben nämlich rausgefunden, daß sich die ersten Siedler im Osten niedergelassen haben. Wikinger, Sachsen, Römer und solche Leute. Heutzutage sieht man natürlich nicht mehr viel davon, aber anscheinend dehnt sich das Dorf immer noch nach Westen aus.« Er dachte einen Moment über das Gesagte nach und fügte dann mit einem Lächeln hinzu. »Ziemlich langsam allerdings, das muß man schon sagen, Sir.«
Normalerweise immer dankbar für jeden Einblick in die Geschichte des Landes, hatte Banks längst den Faden von Weavers Erzählung verloren, als er über die flache Steinbrücke fuhr und die Hauptstraße von Helmthorpe überquerte. Innerlich fluchend, wurde ihm plötzlich klar, daß heute Sonntag war, dazu noch Nachmittag, und nach allem, was er rundum sehen konnte, war das die Stunde, wo der brave Dörfler sein Auto wusch. Überall in den Einfahrten standen die Männer vor den offenen Garagen, hatten die Hemdsärmel aufgerollt und sich mit Eimern voll Seifenwasser bewaffnet. Nasse Autodächer glänzten, von Türen und Stoßstangen tropfte das Wasser, und die polierten Chromleisten blitzten. Eines war klar: Wenn man Harold Steadman in einen dieser Wagen verfrachtet hatte, waren inzwischen auch die letzten Spuren dieser grausigen Reise auf die selbstverständlichste Weise getilgt worden – eingeseift, weggeschwemmt, glattpoliert und abgesaugt.
Steadmans Haus lag am Ende eines kurzen Blocks, der sich links von der Straße erstreckte. Es war größer, als Banks vermutet hatte, solide gebaut und von außen hinreichend verwittert, um ihm den Anschein von geschichtlicher Bedeutung zu geben. Was vermutlich auch hieß, daß man einen bedeutenden Preis dafür erzielen würde, überlegte Banks. An der Ostseite hatte man eine Doppelgarage angebaut, der weitläufige Garten war von einer niedrigen Mauer eingefaßt und bestand vorwiegend aus einer gutgepflegten Rasenfläche mit einem farbenprächtigen Blumenbeet in der Mitte und Büschen von Rosen entlang der Hausfront und dem Zaun zum Nachbarn. Banks ließ Weaver im Wagen, marschierte über die Mosaikfliesen zur Haustür und klingelte.
In der Tür erschien eine Frau mit einer Teetasse in der Hand, deutlich überrascht, einen Fremden vor sich zu sehen. Sie wirkte eher hausbacken mit ihrem strähnigen, mattbraunen Haar und der übergroßen, wenig kleidsamen Brille. Dazu trug sie eine beigefarbene, formlose Strickjacke über einer sackartigen karierten Hose. Banks hielt es durchaus für möglich, daß er vielleicht die Reinemachefrau vor sich hatte, und formulierte seine Begrüßung vorsichtshalber als Frage: »Mrs. Steadman?«
»Ja«, antwortete die Frau, leicht zögernd und mit einem argwöhnischen Blick durch ihre Brillengläser. Er stellte sich vor und spürte, wie sich das vertraute, flaue Gefühl im Magen regte, als sie ihn in ihr Wohnzimmer bat. Es war immer dasselbe, trotz aller Erfahrung. Man konnte sich einfach nicht wehren gegen dieses Zerren in den Eingeweiden, gegen das plötzliche Mitleid, das sich im Gefolge der beschönigenden Erklärungen, der nutzlosen Trostworte und der leeren Gesten einstellte. Banks hatte immer das Gefühl, einen Schatten über sich zu haben, der ihm sagte: Es könnte deine Frau sein, es könnte jemand sein, der von deiner Tochter spricht. Ähnlich erging es ihm beim ersten Blick auf das Opfer eines Mordes. Der gewaltsame Tod und dessen langwierige Aufarbeitung waren ihm nie zur Routine geworden, sondern ein Gegenstand des Abscheus geblieben, eine Mahnung an die sinnlose Grausamkeit, zu der der Mensch fähig war.
Abgesehen von der allgemeinen Unordnung – einem Haufen Zeitschriften auf einem flachen Tisch, dem achtlos auf einen Stuhl geworfenen Strickzeug und dem Sammelsurium von Schallplatten und leeren Hüllen neben der Stereoanlage – war das Zimmer auffallend sauber. Draußen vor den Sprossenfenstern sah man die roten und gelben Blütenköpfe der Rosen, und durch die fleckenlos geputzten Scheiben strömte das Sonnenlicht herein. Über einem großen offenen Kamin hing eine Landschaftsidylle des Swainsdale, wie es vor über hundert Jahren ausgesehen haben mochte. Es hatte sich nicht allzu viel geändert inzwischen, trotzdem wirkten seine Farben auf dem Gemälde irgendwie üppiger und strahlender und die Konturen klarer und plastischer.
»Worum geht’s?« fragte Mrs. Steadman und schob Banks einen der Sessel zurecht. »Hat es einen Unfall gegeben? Ist irgendwas passiert?«
Während er die schlechten Nachrichten übermittelte, wechselte ihr Gesichtsausdruck in rascher Folge von ungläubigem Erstaunen zu plötzlichem Schock, bis sie schließlich still zu weinen begann, ohne auch nur den leisesten Schluchzer von sich zu geben. Sie starrte einfach nur mit leerem Blick geradeaus, während die Tränen lautlos über ihre fahlen Wangen flossen und auf die zerdrückte Strickjacke tropften. Als ob sie Zwiebeln geschnitten hätte, dachte Banks, einigermaßen beunruhigt von der absoluten Stille.
»Mrs. Steadman?« sagte er leise und legte seine Hand auf ihren Arm. »Ich fürchte, ich werde Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen müssen.«
Sie wandte ihm den Blick zu, nickte dann und trocknete sich die Augen mit einem zerknitterten Kleenextuch. »Ja, natürlich.«
»Warum haben Sie Ihren Mann nicht als vermißt gemeldet, Mrs. Steadman?«
»Als vermißt?« Sie runzelte die Stirn. »Warum sollte ich?«
Einigermaßen überrascht, wiederholte Banks mit freundlichem Nachdruck: »Ich fürchte, Sie werden mir das schon erklären müssen. Er kann vergangene Nacht unmöglich zu Hause gewesen sein. Waren Sie da nicht beunruhigt? Haben Sie sich nicht gewundert, wo er bleibt?«
»Ah, ich verstehe, was Sie meinen«, antwortete sie und tupfte sich mit dem zerfledderten Papiertuch über die feuchten, geröteten Wangen. »Sie können das ja schließlich nicht wissen, stimmt’s? Ich habe ihn nämlich gar nicht zurückerwartet gestern, verstehen Sie? Er ist gleich nach sieben gegangen und hat gesagt, er schaut noch auf einen Sprung ins Bridge – das macht er öfter – und fährt dann weiter nach York. Er hatte dort zu arbeiten heute und wollte möglichst früh anfangen.«
»Kam das häufiger vor?«
»Ja, ziemlich oft. Manchmal bin ich mitgefahren, aber das Wetter hat mir gestern ein bißchen zu schaffen gemacht – eine Sommergrippe, nehm ich an –, und außerdem weiß ich, daß sie mehr geschafft kriegen, wenn ich nicht dabei bin. Wie auch immer, ich hab mich vor den Fernseher gesetzt – mit Mrs. Stanton, meiner Nachbarin – und ihn fahren lassen. Er übernachtet immer bei seinem Verleger. Das heißt, es ist eigentlich mehr ein Freund der Familie. Michael Ramsden.«
»Was arbeiten die beiden denn so an einem Sonntag?«
»Oh, das hat wenig mit dem zu tun, was Sie oder ich unter Arbeit verstehen würden. Sie schrieben an einem Buch. Harry vor allem, aber Michael war sehr daran interessiert und half ihm dabei. Es ging um die hiesige Geschichte, das war Harrys Fach. Sie mußten sich all die Ruinen ansehen – römische Festungen, verlassene Bleiminen und so was alles.«
»Ich verstehe. War es denn üblich, daß Ihr Mann schon am Vorabend aufbrach und bei Mr. Ramsden übernachtete?«
»Ja. Wie ich schon sagte, es war eigentlich mehr eine Freundschaft. Unsere Familien kennen sich schon seit Jahren. Harry hatte morgens immer schreckliche Probleme, aus dem Bett zu kommen, und wenn die beiden einen langen Tag haben wollten, ist er schon abends rübergefahren, damit Michael dafür sorgen konnte, daß er früh genug aufstand. Den Abend haben sie dann damit verbracht, ihre Notizen durchzugehen und die nächsten Pläne festzulegen. Zu einer Vermißtenanzeige war also wirklich kein Grund. Ich habe doch geglaubt, Harry wäre in York.« Ihre Stimme geriet ins Schwanken, und die Tränen flossen erneut.
Banks wartete einen Moment und ließ ihr Zeit, sich die Augen zu trocknen, bevor er seine nächste Frage stellte: »Mr. Ramsden war doch sicher beunruhigt, als Ihr Mann nicht auftauchte. Hat er angerufen, um zu erfahren, was passiert ist?«
»Nein.« Sie legte eine Pause ein, um sich die Nase zu Schnäuzen, und fuhr dann dort: »Ich sagte Ihnen doch, es war eigentlich keine richtige Arbeit, sondern eher eine Art Hobby. Außerdem hat Michael sowieso kein Telefon. Wahrscheinlich hat er sich einfach gedacht, daß wir plötzlich Besuch bekommen haben und Harry nicht wegkonnte.«
»Eine Frage noch, Mrs. Steadman, dann werde ich Sie nicht länger belästigen ... Wissen Sie möglicherweise, wo Ihr Mann seinen Wagen abgestellt haben könnte?«
»Auf dem großen Parkplatz am Fluß«, antwortete sie. »Das Bridge hat keine eigenen Einstellplätze, deshalb parken die meisten Gäste da unten. Schließlich kann man die Wagen ja nicht einfach am Straßenrand stehenlassen, das ist wirklich zu eng.«
»Haben Sie einen Zweitschlüssel?«
»Harry muß ihn hier irgendwo deponiert haben. Ich benutze den Wagen nie, ich habe meinen alten Fiesta. Warten Sie einen Moment, ich schaue mal nach.« Mrs. Steadman verschwand in der Küche, kam kurz darauf mit den Schlüsseln zurück und gab Banks die Nummer von Steadmans beigefarbenem Sierra.
»Könnten Sie mir vielleicht auch Mr. Ramsdens Adresse geben. Ich möchte, daß er möglichst rasch erfährt, was inzwischen passiert ist.«
Mrs. Steadman schien ein wenig erstaunt, stellte jedoch keine Frage und gab die gewünschte Information. »Sie werden das Haus leicht finden«, fügte sie hinzu. »Es gibt sonst nichts, im Umkreis von einer halben Meile. Werden Sie mich noch brauchen, um die ... eh ... «
»Sie meinen, um die Leiche zu identifizieren?«
Mrs. Steadman nickte.
»Ja, ich fürchte, das muß sein. Aber das hat Zeit bis morgen. Gibt es jemanden, der eine Zeitlang bei Ihnen bleiben könnte?«
Sie starrte ihn an, das Gesicht häßlich und vom Weinen aufgedunsen. Ihre Augen wirkten fischig hinter den gnadenlos vergrößernden Lupen der Brillengläser. »Mrs. Stanton von nebenan ... wenn Sie vielleicht ... «
»Aber natürlich.«
Banks ging zum Nachbarhaus. Mrs. Stanton, eine langnasige, aufgeweckte Person, hatte die Situation sofort erfaßt. Banks versuchte, ihr den Schock zu erleichtern. »Ich weiß«, sagte er, »das kommt sehr plötzlich. Wenn man sich überlegt, daß Sie ihn wahrscheinlich gestern noch gesehen haben.«
Sie nickte. »Ja, wirklich. Und die Vorstellung, daß das passieren konnte, während Emma und ich dagesessen und uns diesen dummen Film angesehen haben ... Wie dem auch sei«, schloß sie abgeklärt, »es steht uns nicht zu, die Wege des Herrn in Frage zu stellen.« Sie bat ihren Mann, der sich gemütlich in einen Ohrensessel gefläzt hatte und die News of the World studierte, den Braten im Auge zu behalten, und machte sich unverzüglich auf den Weg, um ihre Nachbarin zu trösten. Die trauernde Witwe in guten Händen wissend, kehrte Banks zurück zu seinem Wagen und zu Weaver, der unterdessen wieder die gewohnte rosige Gesichtsfarbe angenommen hatte.
»Tut mir leid, daß mir schlecht geworden ist, Sir«, murmelte Weaver. »Ich habe ... «
»Ich weiß, Sie haben noch nie eine Leiche gesehen. Machen Sie sich nichts daraus, Constable, das geht allen so beim erstenmal – und das Mitleid ist bei weitem schlimmer. Wie wär’s, wenn wir jetzt rüber ins Bridge fahren und etwas essen?« Weaver nickte. »Was mich betrifft, ich sterbe vor Hunger«, fuhr Banks fort, »und Sie sehen ganz danach aus, als ob Sie einen Brandy vertragen könnten.«
Während er auf der High Street von Helmthorpe die kurze Strecke zum Bridge zurücklegte, rekapitulierte er sein Gespräch mit Mrs. Steadman. Er hatte sich seltsam befremdet und unbehaglich gefühlt. Nach dem ersten Schock hatte sie streckenweise eher erleichtert als bekümmert gewirkt. Möglicherweise war die Ehe etwas wacklig geworden, überlegte Banks, und Mrs. Steadman hatte plötzlich festgestellt, daß sie mit einem Mal frei und wohlhabend geworden war. Das war eine Erklärung – aber war sie ausreichend?
Weaver zog eine Grimasse. »Ich hasse Brandy, Sir«, bekannte er schüchtern. »Jedes Mal, wenn ich als Kind eine Erkältung hatte, hat mir meine Mutter ein paar Tropfen eingeflößt. Aus rein medizinischen Gründen, aber ich kann das Zeug einfach nicht ausstehen.«
Sie hatten sich in einer Ecke der fast leeren Lounge im Bridge niedergelassen. Banks hielt sich an seinem frischgezapften Theakstone Bitter fest, und Weaver kämpfte mit seinem Brandy.
»Hat er Ihnen denn nicht gutgetan?« fragte Banks.
»Doch, ich glaube schon, Sir. Aber er erinnert mich eben immer an Medizin. Arme-Leute-Medizin, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Banks stand lachend auf und holte ein frisches Pint von der Theke, damit Weaver den schlechten Geschmack hinunterspülen konnte. Detective Sergeant Hatchley hatte sich noch nicht eingefunden. Zweifellos steckte er noch bei Tavistock und ließ sich mit einem guten Tee verwöhnen, womöglich sogar mit etwas Gehaltvollerem und einem saftigen Stück Roastbeef.
»Sagen Sie«, fragte Banks, »warum ist es hier eigentlich so leer? Schließlich haben wir Sonntag, es ist Essenszeit, und das Dorf wimmelt von Touristen.«
»Das ist schon richtig, Sir«, antwortete Weaver, dessen jungenhaftes Gesicht wieder in voller natürlicher Röte erstrahlte, »aber sehen Sie sich hier doch einmal um.«
Banks sah sich um. Die Tapeten in der eher kleinen Lounge waren verblichen, von der braunen Decke blätterte der Putz. Die Wände waren feucht, die auffälligsten Flecken hatte man verdeckt unter ein paar wenigen Landschaftsaquarellen, die an den armseligen Wandschmuck in betagten Eisenbahnwaggons erinnerten. Die Tische waren abgewetzt und zerfurcht vom jahrelangen Domino- und Würfelspiel, Generationen von Biertrinkern, übersät von den Ringen und Lachen ganzer Generationen überquellender Biergläser, und die verkohlten Halbkreise an den Kanten erinnerten an die zahllosen Zigaretten, die man hier zurückgelassen hatte. Neben dem schmalen, gekachelten Kamin stand ein wackliges Kaminbesteck mit einem verbogenen Schürhaken. In der Tat, er machte nicht viel her, dieser Laden.
»Es gibt drei Pubs hier in Helmthorpe«, begann Weaver und hob demonstrativ seine fleischigen, rosigen Finger. »Wenn man den Country Club für die feinen Pinkel nicht mitzählt, wären da noch das Dog and Gun und das Hare and Hounds, wo überwiegend Touristen hingehen. Die klassischen alten Landgasthöfe, wenn Sie wissen, was ich meine, Sir – das Hufeisen, die kupferne Bettpfanne, die antiken Tische mit den schmiedeeisernen Beinen, an denen man sich die Kniescheibe aufschlägt, Sie verstehen. Außerdem riesige Kamine mit vorgeräucherten Bleieinfassungen, weil es nämlich auf Gottes schöner Erde heutzutage nicht mehr wichtig ist, ein anständiges Ale anzubieten. Aber ein offenes Feuer, das muß sein, das ist trendy.
Das Dog and Gun ist so ’ne Art Familienlokal mit ’nem Biergarten am Flußufer und ’nem kleinen Spielplatz für die Kinder, und das Hare and Hound ist mehr fürs Jungvolk. Mit großer Disco-Nacht jeden Freitag und Samstag in der Saison und Massen von Freizeit-Campern. Dabei geht’s dann immer hoch her, und wir haben flott zu tun mit den üblichen Schlägereien und solchen Sachen. Unter der Woche bieten sie schon mal Abende mit Folkmusic an, wo’s etwas zivilisierter zugeht, wenn Sie mich fragen.«
Weaver rümpfte die Nase und deutete mit einem kurzen Nicken auf die Wand. »Und dann gibt’s noch das hier. Ziemlich neu für hiesige Verhältnisse – bestenfalls viktorianisch, würd’ ich sagen – und die einzige Zuflucht, die dem ernsthaften Biertrinker geblieben ist. Hier kommen nur die Einheimischen her und gelegentlich ein paar Ortsfremde, die gutes Bier zu schätzen wissen. Ein Geheimtipp sozusagen. Am Wochenende drücken sich natürlich auch ein paar Wanderer und alles Mögliche Volk am Tresen rum – schließlich hat heutzutage jeder seinen Kneipenführer in der Tasche und weiß, wo’s gutes Bier gibt –, aber die machen weiter keinen Ärger. Sind alle ziemlich friedlich, das muß man sagen.«
»Warum ist Steadman wohl hierhergekommen, was meinen Sie?«
»Steadman?« wunderte sich Weaver, offenbar überrascht von dem jähen Umschwung ins Dienstliche. »Weil er das Bier mochte, nehm ich an. Und ein paar von den Stammgästen, die er gut gekannt hat.«
»Aber er hatte doch Geld, oder nicht? Eine Menge sogar. Das Haus wird jedenfalls nicht gerade billig gewesen sein.«
»Oh, ja, Geld hatte er. Angeblich ’ne Viertelmillion, die er von seinem Vater geerbt hat. Seine Kumpels hier sind auch nicht gerade arm, aber sie machen nicht auf fein. Sind eher gediegene, bodenständige Leute.«
Banks fand es immer noch schwer begreiflich, daß sich ein so wohlhabender Mann in einer derartigen Kaschemme aufhielt, ob das Bier nun gut war oder nicht. Von Rechts wegen hätte Steadman eigentlich Champagner schlürfen müssen, aus der Magnum-Flasche, um den Kaviar besser hinunterspülen zu können. Die Vorstellung, seinen Reichtum ungeniert zur Schau zu stellen, mochte vielleicht eher nach London passen, sinnierte Banks. Möglicherweise waren Leute, die sich mit einer Viertelmillion aus freien Stücken in ein Dorf wie Helmthorpe zurückzogen, anders gestrickt, was er bezweifelte. Allerdings war Steadman sicher ein recht ungewöhnlicher Mensch gewesen.
»Hat wohl gerne einen getrunken, oder?«
»Aber nie zuviel, soweit ich weiß, Sir. Ich glaube, er fühlte sich einfach wohl mit den Leuten hier.«
»Weil er froh war, von seiner Frau wegzukommen?«
Weaver errötete. »Nicht, daß ich wüßte, Sir. Ich habe nie etwas gehört in der Art. Ich weiß nur, daß er ein ulkiger Bursche war.«
»Inwiefern?«
»Nun, Sir, wie ich schon sagte, früher war er Professor an der Universität von Leeds, und als er dann die Erbschaft gemacht hat, hat er seinen Job einfach an den Nagel gehängt, den alten Sitz der Ramsdens gekauft und sich hier niedergelassen.«
»Das Ramsden-Haus?« warf Banks ein. »Hat das vielleicht etwas zu tun mit einem gewissen Michael Ramsden?«
Weaver zog eine Braue hoch. »Ja, in der Tat, Sir«, erwiderte er. »Es war das Haus seiner Eltern und früher eine Privatpension. Zu der Zeit, wo Steadman und seine Frau anfingen, hier ihre Ferien zu verbringen, also etwa vor zehn oder mehr Jahren. Michael studierte an der Universität und bekam dann einen guten Job in einem Londoner Verlag. Als der alte Ramsden starb, konnte Michaels Mutter die Pension nicht alleine weiterführen und zog zu ihrer Schwester nach Torquay. Für Steadman traf sich das alles sehr günstig.«
Banks betrachtete Weaver mit bewunderndem Staunen. »Wie alt sind Sie eigentlich?« fragte er.
»Einundzwanzig, Sir.«
»Und wie bringen Sie es fertig, so viel zu wissen über Dinge, die lange vor Ihrer Zeit passiert sind?«
»Durch meine Familie, Sir. Ich bin in der Gegend geboren und aufgewachsen. Und durch Sergeant Mullins. Normalerweise schmeißt er den Laden hier, aber im Moment ist er in Urlaub. Und es gibt nicht sehr viel, was unserem Sergeant Mullins entgeht.«
Banks widmete sich einen Augenblick schweigend seinem Bier und dachte über das Gehörte nach.
»Was ist mit Steadmans Stammtisch-Freunden?« erkundigte er sich schließlich. »Was sind das für Leute?«
»Er hat sie selbst zusammengebracht, Sir«, antwortete Weaver. »Natürlich kannten sie sich alle schon, bevor er hierherzog, aber Steadman war ein sehr freundlicher, umgänglicher Typ, an allem und jedem interessiert. Wenn er nicht gerade über seinen Büchern saß oder in irgendwelchen Burgruinen und verlassenen Gruben herumwühlte, war er ständig mit Leuten zusammen. Zum Beispiel mit Jack Barker – Sie haben vielleicht schon von ihm gehört?«
Banks schüttelte den Kopf.
»Ein Schriftsteller. Schreibt Krimis.« Weaver lächelte. »Ziemlich gute sogar, mit viel Blut, Sex und Spannung.« Er errötete erneut. »Hat natürlich wenig zu tun mit der Wirklichkeit.«
»Oh, ich weiß nicht so recht«, meinte Banks lächelnd. »Aber fahren Sie doch fort.«
»Nun ja, Sir, er lebt seit drei oder vier Jahren hier. Wo er herkommt, weiß ich nicht. Dann wären da noch Doc Barnes, hier geboren und aufgewachsen, und Teddy Hackett, ein hiesiger Geschäftsmann. Ihm gehört die Tankstelle im Ort, außerdem hat er noch eine Reihe von Andenkenläden. Das wär’s soweit. Sie sind alle miteinander um die Vierzig, das heißt, Doc Barnes muß ein paar Jahre älter sein, und Barker ist erst Ende Dreißig. Eigentlich ein ziemlich merkwürdiges Grüppchen, wenn man sich’s genau überlegt. Ich hab sie hier ein paar Mal zusammen erlebt, und soweit ich das mitbekommen habe, haben sie Steadman immer ein bißchen auf die Schippe genommen, von wegen Akademiker und so. Aber nicht bösartig, eher auf die nette Art.«
»Also keine Animositäten? Sind Sie sicher?«
»Keine, Sir, soweit ich das beurteilen kann. Allerdings bin ich auch leider nicht so oft hier. Weib und Kind, Sie verstehen«, fügte er mit strahlender Miene hinzu.
»Und die Arbeit.«
»Sicher, die hält mich auch ganz schön in Trab. Obwohl ich manchmal den Eindruck habe, daß ich die meiste Zeit damit zubringe, diesen gottverdammten Touristen den Weg und die Uhrzeit zu sagen, statt mich um die wichtigen Angelegenheiten kümmern zu können. ›Wenn Sie nicht weiterwissen, fragen Sie einen Polizisten‹ – man müßte den Kerl erschießen, der das in die Welt gesetzt hat.«
Banks lachte. »Demnach müssen die Einheimischen ja recht gesetzestreue Bürger sein, nicht wahr?«
»Im Großen und Ganzen schon. Hin und wieder randalieren ein paar Betrunkene, vor allem an den Disco-Abenden im Hare and Hounds, wie gesagt. Dann gibt’s da noch die üblichen Familienkräche, aber die meisten Probleme bescheren uns die Touristen, die ihre Autos überall abstellen und zuviel Krach schlagen. Ansonsten ein friedliches Plätzchen – oder ein langweiliges, wie man’s nimmt.«
An diesem Punkt der Unterhaltung betrat Sergeant Hatchley das Lokal und setzte sich zu ihnen an den Tisch. Hatchley war ein massiger Mann von Anfang Dreißig, mit blondem Haar und sommersprossigem Gesicht. Banks und er hatten eine leidlich kollegiale Beziehung zueinander entwickelt, ungeachtet einiger Anfangsschwierigkeiten, die teilweise auf der alten Rivalität zwischen Nord und Süd beruhten, teilweise auf den enttäuschten Hoffnungen, die er sich auf Banks’ Posten gemacht hatte.
Hatchley holte eine Runde Bier und entschied sich mit den Kollegen für eine Kalbsnierenpastete, die sich als äußerst schmackhaft erwies. Mit wenig Niere, wie Weaver anerkennend feststellte. Banks machte dem Wirt ein Kompliment und mußte sich mit einem vagen Brummen als Antwort begnügen.
»Irgendwas Neues?« fragte er den Sergeant.