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Laudate pueri – ein Requiem der Kinder… Als Veronica Shildon nach Hause kommt, hört sie zuerst die vertrauten Klänge von Vivaldi aus dem Wohnzimmer. Erst dann sieht sie die blutüberströmte Leiche ihrer Lebensgefährtin Caroline … Inspector Alan Banks stößt in seinen Ermittlungen auf zahlreiche Verdächtige: Wurde Veronicas Ex-Mann – ein bekannter Komponist – von Eifersucht zum Mord getrieben? Hat Carolines zwielichtige Vergangenheit sie eingeholt? Gibt es in der nordenglischen Kleinstadt Eastvale jemanden, der die Liebe der zwei Frauen verabscheute? Oder fiel Caroline womöglich ihrer Geliebten selbst zum Opfer? Banks begibt sich in ein Netz aus dunklen Familiengeheimnissen, verborgenen Leidenschaften und gnadenloser Gewalt … »Mr. Robinson sucht immer nach kleinen Anzeichen des Bösen, die eine Stadt wie Eastvale verraten können.« The New York Times Band 5 der erfolgreichen Krimi-Reihe um Inspector Banks, in der jeder Titel unabhängig gelesen werden kann – für Fans von Elizabeth George und Nicci French.
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Seitenzahl: 575
Veröffentlichungsjahr: 2025
Über dieses Buch:
Als Veronica Shildon nach Hause kommt, hört sie zuerst die vertrauten Klänge von Vivaldi aus dem Wohnzimmer. Erst dann sieht sie die blutüberströmte Leiche ihrer Lebensgefährtin Caroline … Inspector Alan Banks stößt in seinen Ermittlungen auf zahlreiche Verdächtige: Wurde Veronicas Ex-Mann – ein bekannter Komponist – von Eifersucht zum Mord getrieben? Hat Carolines zwielichtige Vergangenheit sie eingeholt? Gibt es in der nordenglischen Kleinstadt Eastvale jemanden, der die Liebe der zwei Frauen verabscheute? Oder fiel Caroline womöglich ihrer Geliebten selbst zum Opfer? Banks begibt sich in ein Netz aus dunklen Familiengeheimnissen, verborgenen Leidenschaften und gnadenloser Gewalt …
Über den Autor:
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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eBook-Neuausgabe März 2025
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1993 unter dem Originaltitel »Past Reason Hated« bei Charles Scribner’s Sons, New York. Copyright © der englischen Originalausgabe 1991 by Eastvale Enterprises Inc.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 2001 by Econ Ullstein List Verlag GmbH & Co. KG, München
Copyright © der Neuausgabe 2025 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ma)
ISBN 978-3-98952-525-2
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Peter Robinson
In blindem Zorn
Kriminalroman | Die Yorkshire-Morde 5 – Eine blutige Symphonie des Todes
Aus dem Englischen von Andree Hesse
dotbooks.
Ein paar Tage vor Weihnachten fiel zum ersten Mal in diesem Jahr Schnee in Swainsdale. Draußen auf dem Land, auf den abgelegeneren Höfen und Weilern, waren die Einheimischen am Fluchen. Bei starkem Schneefall konnten Schafe verloren gehen und Straßen unpassierbar werden. In den vergangenen Jahren waren manche Orte bis zu fünf Wochen lang von der Außenwelt abgeschnitten gewesen. Doch in Eastvale lösten die herabschwebenden dicken Flocken, die in ihrem Fall im Laternenlicht glitzerten, bevor sie sich als klumpiger, weißer Teppich über das Kopfsteinpflaster legten, bei den meisten Passanten, die am Abend des 22. Dezember den Marktplatz überquerten, ein Freudengefühl aus.
Detective Constable Susan Gay kam vom Zeitungshändler Joplin und hielt kurz vor dem Polizeirevier inne. Vor der normannischen Kirche stand ein großer Weihnachtsbaum, ein Geschenk der norwegischen Partnerstadt Eastvales. Die Lichter blinkten an und aus und die sich nach oben verjüngenden Zweige bogen sich unter dem Gewicht der zentimeterdicken Schneedecke. Vor dem Baum stand eine Gruppe Kinder in roten Chorkleidern und sang »Once in Royal David’s City«. Ihre zarten, aber klaren Altstimmen schienen besonders gut zu einem solch herrlichen Winterabend zu passen.
Susan legte ihren Kopf in den Nacken und ließ die Schneeflocken auf ihren Augenlidern schmelzen. Noch zwei Wochen zuvor hätte sie sich ein derart spontanes und unbekümmertes Innehalten nicht erlaubt. Aber nun, da sie Detective Constable Gay war, konnte sie es sich leisten, ein wenig zu verweilen. Kurse und Prüfungen lagen hinter ihr, jedenfalls so lange, bis sie versuchte, Sergeant zu werden. Jetzt musste sie sich nicht mehr mit David Craig darüber streiten, wer den Kaffee machte. Außerdem gehörte die Zeit der Streifengänge und der Verkehrsregelungen an Markttagen der Vergangenheit an.
Als sie zurück zum Revier ging, folgte ihr die Musik:
And He leads His children on
To the place where He is gone.
Genau vor ihr hing wie ein Geschäftsschild die neue blaue Laterne an der Tudorfassade über dem Eingang des Polizeireviers. Im Versuch, das von Rassenunruhen, Sexskandalen und Korruptionsvorwürfen auf hoher Ebene befleckte Image der Polizei zu verbessern, hatte die Regierung sich an der Vergangenheit orientiert, genauer gesagt an den fünfziger Jahren. Die Laterne schien geradewegs »Dixon of Dock Green« zu entspringen. Susan hatte die Sendung zwar nie selbst gesehen, aber sie verstand die Grundidee. Das Bild des freundlichen, alten Bobbys auf Streife hatte allerdings viele innerhalb des Polizeireviers von Eastvale zum Lachen gebracht. Wenn alles nur so einfach wäre, sagte jeder.
Der zweite Tag in ihrer neuen Position und alles lief bestens. Sie drückte die Tür auf und ging zum Treppenhaus. Das obere Stockwerk! Das Heiligtum der Kriminalpolizei. Gristhorpe, Banks, Richmond, selbst Hatchley – so lange hatte sie sie alle beneidet, wenn sie Kaffee oder Nachrichten hinaufgebracht oder dabeigestanden und Notizen gemacht hatte, während sie weibliche Verdächtige verhörten. Jetzt nicht mehr. Nun war sie eine von ihnen, und sie konnte es kaum abwarten, ihnen zu zeigen, dass eine Frau den Job genauso gut ausüben konnte wie ein Mann. Wenn nicht sogar besser.
Ein eigenes Büro hatte sie nicht, solcher Luxus stand nur Banks und Gristhorpe zu. Der Verschlag, den sie sich mit Richmond teilte, musste ausreichen. Er lag nach hinten raus zum Parkplatz und nicht zum Marktplatz, aber wenigstens hatte sie einen – wenn auch wackeligen – Schreibtisch und einen Aktenschrank nur für sich. Beides hatte sie von Sergeant I Iatchley geerbt, der an die Küste verbannt worden war. Zuerst einmal hatte sie die Pin-up-Fotos von dem Korkbrett über seinem Schreibtisch abreißen müssen. Wie jemand mit diesen aufgepumpten Titten über seinem Kopf arbeiten konnte, war ihr schleierhaft.
Ungefähr vierzig Minuten später, nachdem sie sich, um wach zu bleiben, eine Tasse Kaffee eingeschenkt und dabei die letzten regionalen Kriminalberichte studiert hatte, klingelte das Telefon. Es war Sergeant Rowe von der Anmeldung.
»Gerade rief jemand an, um einen Mord zu melden«, sagte er.
Susan spürte einen Adrenalinschub. Sie umklammerte den Hörer fester. »Wo?«
»In Oakwood Mews. Du weißt schon, diese aufgemotzten, schmucken Häuserreihen hinter der King Street.«
»Kenne ich. Irgendwelche Einzelheiten?«
»Nicht viele. Angerufen hat eine Nachbarin. Sie sagte, die Frau nebenan ist schreiend auf die Straße gelaufen. Sie nahm sie mit zu sich, konnte aber nicht viel aus ihr rauskriegen. Nur so viel, dass ihre Freundin ermordet worden ist.«
»Hat die Nachbarin selbst nachgesehen?«
»Nein. Sie wollte uns lieber gleich anrufen.«
»Kannst du Constable Tolliver hinschicken?«, fragte Susan. »Sag ihm, er soll sich den Tatort ansehen, ohne etwas anzufassen. Und er soll vor der Tür warten und keinen reinlassen, bis wir da sind.«
»Okay«, sagte Rowe, »aber sollte ...«
»Welche Hausnummer?«
»Elf.«
»Gut.«
Susan legte auf. Ihr Herz schlug schnell. Seit Monaten war nichts passiert in Eastvale, und jetzt, schon am zweiten Tag in ihrem neuen Job, ein Mord. Und sie war das einzige Mitglied der Kriminalpolizei, das heute Abend Dienst hatte. Ganz ruhig, sagte sie sich, folge den Vorschriften, mach nur ja alles richtig. Sie griff nach ihrem Mantel, der noch feucht vom Schnee war, und eilte dann nach hinten hinaus zum Parkplatz. Zitternd fegte sie den Schnee von der Windschutzscheibe ihres roten Golfs und fuhr so schnell davon, wie es das schlechte Wetter zuließ.
Four and twenty virgins
Came down from Inverness,
And when the ball was over
There where four and twenty less.
»Ich glaube, Jim ist ziemlich besoffen«, sagte Detective Chief Inspector Alan Banks zu seiner Frau Sandra.
Sandra nickte. In einer Ecke des Festsaals des Rugbyclubs von Eastvale, neben dem Weihnachtsbaum, stand Detective Sergeant Jim Hatchley inmitten seiner Freunde, die alle ebenso groß und kräftig waren wie er. Jeder mit einem schäumenden Pint in der Hand, sahen sie wie die Parodie einer Gruppe Sternsinger aus, fand Banks. Beim Singen schwankten sie. Die anderen Gäste standen an der Theke oder saßen an den Tischen und unterhielten sich über den Lärm hinweg. Carol Hatchley, geborene Ellis, die Braut des Sergeants, saß mit geröteten Wangen neben ihrer Mutter und kochte innerlich. Bereit für die Flitterwochen, hatte das Paar gerade seine Hochzeitskluft gegen weniger feierliche Kleidung gewechselt; doch bevor sie gingen, hatte Hatchley erwartungsgemäß noch auf einem Bier bestanden. Und aus dem einen waren schnell zwei geworden, dann drei ...
The village butcher, he was there
Chopper in his hand.
Every time they played a waltz,
He circumcised the band.
So ein Quatsch, dachte Banks. Wie viele Male konnte man eine Kapelle beschneiden? Carol lächelte schwach, wandte sich dann ab und sagte etwas zu ihrer Mutter, die mit den Achseln zuckte. Banks, der gemeinsam mit Sandra, Superintendent Gristhorpe und Philip Richmond an der langen Theke lehnte, bestellte noch eine Runde Getränke.
Während er wartete, schaute er sich im Saal um. Er war bereits für die Feiertage zurechtgemacht worden. Quer über die Decke hingen rote und grüne Ziehharmonika-Girlanden, die mit Papierschlangen, Tannenzweigen und den obligaten Mistelzweigen geschmückt waren. Der Christbaum, gut zwei Meter groß, funkelte in seiner ganzen Pracht.
Es war zwanzig nach acht und die eigentliche Feier begann gerade erst. Die Trauung hatte am späten Nachmittag in der Gemeindekirche von Eastvale stattgefunden, um sechs Uhr war dann im Rugbyclub ein Essen mit allem Drum und Dran gefolgt. Jetzt waren die Reden gehalten, die Teller abgeräumt und die Tische für einen ausgiebigen Yorkshire-Schwof weggeschoben worden. Für die Musik hatte Hatchley einen Diskjockey engagiert, aber noch wartete der arme Junge geduldig auf ein Startsignal.
Singing »Balls to your father,
Arse against the wall.
If you ’ve neuer been shagged on a Saturday night,
You’ve neuer been shagged at all.«
»Four and Twenty Virgins« kam allmählich zum Ende, wusste Banks. Es fehlte nur noch eine Strophe über die Dorfschullehrerin (die einen ungewöhnlich großen Busen hatte) und eine über den Dorfkrüppel (der unbeschreibliche Dinge mit seiner Krücke anstellte), dann kam das stürmische Finale. Mit ein bisschen Glück wären die Rugbylieder damit beendet. Sie hatten bereits »Dinah, Dinah, Show Us Yer Leg (A Yard Above Your Knees)«, »The Engineer’s Song« sowie eine lange, improvisierte Version von »Mademoiselle from Armentieres« zum Besten gegeben. Der beleidigte DJ, der während der gesamten letzten Stunde so getan hatte, als würde er seine Anlage aufbauen, würde sein Talent bald beweisen können.
Banks reichte die Getränke an die anderen weiter und nahm eine Zigarette. Gristhorpe sah ihn stirnrunzelnd an, aber daran war Banks schon gewöhnt. Auch Phil Richmond rauchte eine seiner Panatellas, sodass der Superintendent einen besonders schweren Stand hatte. Sandra hatte das Rauchen ganz aufgegeben, und Banks war einverstanden damit, im Haus nicht zu rauchen. Obwohl der größte Teil des Polizeireviers zur Nichtraucherzone erklärt worden war, durfte er glücklicherweise in seinem Büro noch vor sich hin paffen. Allerdings war die Situation mittlerweile so schlimm geworden, dass selbst mutmaßliche Kriminelle, die zum Verhör vorgeladen wurden, jedem Polizeibeamten legalerweise verbieten konnten, sich im Befragungszimmer eine Zigarette anzuzünden. Ein trauriger Zustand, fand Banks: Solange sich keine blauen Flecken zeigten, konnte man sie nach Lust und Laune schlagen, aber ungestraft rauchen konnte man in ihrer Anwesenheit nicht.
Als »Four and Twenty Virgins« zum Ende kam, hob Sandra ihre Augenbrauen und seufzte erleichtert auf. Doch der Chor der Rugbystürmer weigerte sich, die Bühne zu verlassen, ohne »Good King Wenceslas« vorzutragen. Trotz Stöhnen der unfreiwilligen Zuhörer, einem bösen Blick vom DJ und dem wütenden Funkeln in Carols Augen führte Sergeant Hatchley sie an:
Good King Wenceslas looked out
Of his bedroom window.
Silly bugger, he fell out...
Gristhorpe schaute auf seine Uhr. »Ich glaube, danach mache ich mich auf die Socken. Ich habe gerade jemanden sagen hören, dass es draußen mittlerweile ziemlich heftig schneit.«
»Wirklich?«, fragte Sandra. Banks wusste, dass sie den Schnee liebte. Sie gingen zum Fenster am anderen Ende des Saals und schauten hinaus. Offensichtlich zufrieden mit dem, was sie sah, zog Sandra die Vorhänge auf. Als sie um fünf Uhr zu den Aperitifs angekommen waren, hatte es nur leicht geschneit, doch jetzt war das hohe Fenster von einem dichten Wirbel weißer Flocken eingerahmt, die auf das Rugbyfeld fielen. Auch andere Gäste schauten nun staunend hinaus und wandten sich an ihre Nachbarn, um ihnen zu erzählen, was draußen vor sich ging. Als sie zurückgingen, nahm Banks Sandra in den Arm und küsste sie.
»Hab ich dich erwischt«, raunte er und schaute dann hoch. Sandra folgte seinem Blick zu den Mistelzweigen über ihnen.
Sandra nahm seinen Arm und ging neben ihm zurück zur Theke. »Ich möchte ja nicht unhöflich sein«, sagte sie, »aber wann hört dieser Krach endlich auf? Meinst du nicht, jemand sollte mal ein Wörtchen mit Jim reden? Schließlich ist das ja heute Carols Hochzeitstag ...«
Banks sah hinüber zu Hatchley. Seinem erhitzten Gesicht und Schwanken nach zu urteilen, würde die Braut ihre Hochzeitsnacht vergessen können.
Brightly shone his arse that night,
Though the frost was cruel...
Obwohl er als Hochzeitsgast nur ungern den Boss herauskehren wollte, war Banks drauf und dran, hinüberzugehen und etwas zu sagen. Da wurde er unversehens vom DJ gerettet. Eine lange und laute Rückkopplung aus den Lautsprechern ließ Hatchley und seine Kumpels mitten im Singen innehalten. Und bevor sie sich zu einem weiteren Angriff sammeln konnten, begannen ein paar aufgeweckte Gäste zu applaudieren. Sofort nahmen die Sänger dies als Anlass für eine Verbeugung und der DJ als seine Chance, mit der richtigen Musik loszulegen. Er stellte ein paar Knöpfe ein, verzichtete auf eine Ansage, und noch ehe Hatchley und seine Truppe wussten, was los war, wurde der Saal mit den ersten Takten von »Dancing in the Street« von Martha and the Vandellas erfüllt.
Sandra lächelte. »Schon besser.«
Banks blinzelte hinüber zu Richmond, der sehr zufrieden mit sich aussah. Und er hatte auch allen Grund dazu. Bei der Polizei von Eastvale hatte es gerade grundlegende Veränderungen gegeben. Sergeant Hatchley war seit einiger Zeit ein Problem gewesen. Ohne eigene Qualifikation zur Beförderung hatte er Richmond im Wege gestanden, obwohl dieser seine Prüfungen zum Sergeant mit Bravour abgeschlossen und eine bemerkenswerte Begabung für den Job gezeigt hatte. Die Schwierigkeit war jedoch, dass es auf dem kleinen Revier einfach nicht genug Platz für zwei Sergeants der Kriminalpolizei gab.
Nachdem er monatelang einen Weg aus diesem Dilemma gesucht hatte, hatte Superintendent Gristhorpe schließlich die erstbeste Gelegenheit am Schopfe ergriffen, die sich ihm bot. Die Landkreisgrenzen waren neu gezogen worden, sodass sich das Gebiet nach Osten hin ausdehnte und einen Teil des North York Moores sowie einen kleinen Abschnitt der Küste zwischen Scarborough und Whitby hinzubekommen hatte. Es schien sinnvoll zu sein, einen kleinen Außenposten der Kriminalpolizei dort zu stationieren, der sich um die alltäglichen Angelegenheiten kümmern sollte. Und als Leiter dieses Postens fiel ihm Hatchley ein. Der war zwar faul und, was Details anging, ungenau, aber er besaß dennoch genug Kompetenz für diesen Job. In einem verschlafenen Fischerdorf wie Saltby Bay, so hatte Gristhorpe gegenüber Banks argumentiert, würde er doch bestimmt keinen großen Schaden anrichten können.
Also war Hatchley gefragt worden, ob er sich ein Leben an der Küste vorstellen könne, und er hatte ja gesagt. Schließlich befand sich der Ort noch in Yorkshire. Da der Termin des Umzugs mit seiner bevorstehenden Hochzeit zusammenfiel, schien es vernünftig zu sein, beide feierlichen Anlässe zu verbinden. Obwohl Hatchley Sergeant blieb, hatte ihm Gristhorpe eine kleine Gehaltserhöhung verschafft und – was noch wichtiger war – mehr Verantwortung gegeben. Er sollte David Craig, der jetzt Detective Constable war, mit sich nehmen. Craig, der am anderen Ende der Theke gerade ein Bier hinunterschüttete, sah darüber nicht besonders erfreut aus. Hatchley und seine Frau würden in dieser Nacht nach Saltby Bay abreisen – oder, so wie die Dinge lagen, wohl eher erst am nächsten Morgen –, wo er einen zweiwöchigen Urlaub nahm, um ihr Haus am Meer einzurichten. Er bedauerte nur, dass es bis zum Sommer noch eine Ewigkeit hin war. Doch abgesehen davon, schien Hatchley mit der Situation durchaus zufrieden zu sein.
In Eastvale war Richmond letztendlich zum Sergeant befördert und Susan Gay als neuer Constable zu ihnen ins obere Stockwerk versetzt worden. Noch konnte man nicht sagen, ob diese Regelung funktionieren würde, aber Banks hatte sowohl in Richmond als auch in Gay vollstes Vertrauen. Dennoch fühlte er eine gewisse Trauer. Er war jetzt seit fast drei Jahren in Eastvale, und während dieser Zeit hatte er Sergeant Hatchley trotz seiner offensichtlichen Fehler allmählich ins Herz geschlossen und wusste, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Erst im letzten Sommer war Banks so weit gewesen, Hatchley mit seinem Vornamen anzusprechen, aber er spürte, dass Hatchley, gemeinsam mit Superintendent Gristhorpe, alles getan hatte, um ihm nach seinem Umzug von London die Anpassung an die Lebensart in Yorkshire zu erleichtern.
Die Musik wurde langsamer. Percy Sledge begann »When a Man Loves a Woman« zu singen. Sandra berührte Banks Arm. »Wollen wir tanzen?«
Banks nahm ihre Hand, gemeinsam schritten sie zur Tanzfläche. Bevor sie dort ankamen, tippte ihm jemand sachte auf die Schulter. Er drehte sich um und sah Constable Susan Gay; Schneeflocken schmolzen auf den Schultern ihres marineblauen Mantels und in ihrem kurzen, gelockten blonden Haar.
»Was ist los?«, fragte Banks.
»Kann ich mit Ihnen reden, Sir? Irgendwo, wo es ruhig ist.«
Der einzige ruhige Ort waren die Toiletten und sie konnten kaum zusammen in die Herren- oder Damentoilette stürmen. Die Alternative war die Ecke gegenüber des DJs, die einen verlassenen Eindruck machte. Banks fragte Sandra, ob sie etwas dagegen hätte, wenn sie diesen Tanz ausließen. An solche Zwischenfälle gewöhnt, zuckte sie resigniert mit den Achseln und ging zurück an die Theke. Banks bemerkte, dass Gristhorpe ihr galant seinen Arm anbot und die beiden auf die Tanzfläche gingen.
»Ein Mord, zumindest ein möglicher Mord«, erklärte Constable Gay, sobald sie einen ruhigeren Platz gefunden hatten. »Als ich reinkam, habe ich den Superintendent nicht gesehen, deshalb bin ich gleich zu Ihnen gekommen.«
»Irgendwelche Einzelheiten?«
»Bisher kaum.«
»Wie lange ist es her?«
»Ungefähr zehn Minuten. Ich habe Constable Tolliver hingeschickt und bin sofort hierhergefahren. Es tut mir leid, dass ich die Feier verderbe, aber ich wusste nicht, was ich sonst ...«
»Schon gut«, sagte Banks, »Sie haben richtig gehandelt.« Das hatte sie nicht, aber das konnte man ihr nicht zur Last legen. Sie war neu auf ihrem Posten und ein Mord war gemeldet worden. Was hätte sie tun sollen? Nun, sie hätte die Sache selbst überprüfen können und dabei vielleicht herausgefunden, dass es sich, so wie in neun von zehn Fällen, um einen Irrtum oder einen Streich handelte. Oder sie hätte auf eine Nachricht des Constables warten und sich die Situation beschreiben lassen können, bevor sie losrannte und ihren Chief Inspector von der Hochzeitsfeier seines ehemaligen Sergeants wegschleppte. Doch Banks machte ihr keine Vorwürfe. Sie war noch jung, sie würde lernen, und wenn sie es tatsächlich mit einem Mord zu tun hatten, könnte sich die durch Susans spontane Handlung gesparte Zeit als unbezahlbar erweisen.
»Ich habe die Adresse, Sir.« Sie stand da und sah ihn eifrig und erwartungsvoll an. »In Oakwood Mews. Nummer elf.«
Banks seufzte. »Dann gehen wir wohl besser. Nur eine Sekunde.«
Er lief zurück zur Theke und erklärte Richmond die Lage. Mit »Baby Love« von den Supremes wurde die Musik wieder schneller, sodass Gristhorpe Sandra von der Tanzfläche führte. Als er die Nachricht hörte, bestand er darauf, Banks zum Tatort zu begleiten, wenngleich es keineswegs sicher war, dass sie dort ein Mordopfer vorfinden würden. Richmond wollte ebenfalls mitkommen.
»Nein, Junge«, sagte Gristhorpe, »das muss nicht sein. Wenn es etwas Ernstes ist, kann dich Alan später unterrichten. Und kein Wort zu Sergeant Hatchley. Ich möchte nicht, dass sein Hochzeitstag verdorben wird – obwohl er das, wenn ich mir Carol so anschaue, wohl schon selbst getan hat.«
»Nimmst du den Wagen?«, fragte Sandra Banks.
»Wäre besser. Oakwood Mews ist eine ganze Ecke weg von hier. Und wie lange wir brauchen, kann man nicht sagen. Wenn es schnell geht, komme ich zurück und hole dich ab. Wenn nicht, dann mach dir keine Sorgen. Phil wird sich um dich kümmern.«
»Oh, ich mache mir keine Sorgen.« Sie hakte sich bei Richmond ein und der frisch gekürte Sergeant wurde rot. »Phil ist ein wunderbarer Tänzer.«
Banks küsste sie schnell und ging mit Gristhorpe davon.
Susan Gay wartete an der Tür auf sie. Während sie sich einen Weg zu ihr bahnten, torkelte einer von Hatchleys Rugbyfreunden hinüber und versuchte sie zu küssen. Von hinten sah Banks, wie er seine Arme um sie legte, sich dann aber plötzlich zusammenkrümmte und zurücktaumelte. Alle anderen tanzten oder unterhielten sich, sodass niemand etwas bemerkte. Als Banks und Gristhorpe bei ihr anlangten, sah Susan erhitzt aus. Sie legte eine Hand vor den Mund und murmelte: »Tut mir leid.« Indessen zeigte der Rugbyspieler mit einem gekränkten Gesichtsausdruck auf den Mistelzweig über der Tür.
Es war kein falscher Alarm gewesen. Das zeigte sich jedenfalls deutlich in Constable Tollivers Gesichtsausdruck, als Banks und die anderen die Nummer elf der Oakwood Mews erreichten. Nachdem Gristhorpe Anweisungen gegeben hatte, Dr. Glendenning und das Team der Spurensicherung herbeizurufen, gingen die drei Ermittler hinein.
Das Erste, was Banks beim Betreten der Diele auffiel, war die Musik. Gedämpft kam sie aus dem Wohnzimmer und klang vertraut – eine Kantate von Bach? Dann öffnete er die Tür und hielt auf der Schwelle inne. Die Szenerie hatte für seinen Geschmack etwas Pittoreskes, das zuerst sogar ausreichte, um die Hässlichkeit der Leiche auf dem Sofa zu verschleiern.
Im Kamin knisterte ein Holzfeuer. Die Flammen warfen Schatten auf das Schaffell am Boden und die Stuckwände. Das einzige weitere Licht kam von zwei roten Kerzen auf dem polierten Eichentisch in der anderen Ecke und von den Weihnachtslichtern am Fenster. Banks trat in das Zimmer. Die Flammen tanzten und die herrliche Musik spielte weiter. An der Wand über der Stereoanlage hing ein Druck, der ein Südseemotiv Gauguins zeigte: Eine kaffeebraune Eingeborene, nackt bis zur Hüfte, trug so etwas wie eine Schüssel mit roten Beeren und ging neben einer anderen Frau her.
Als er sich dem Sofa näherte, bemerkte Banks, dass das Schaffell mit dunklen Flecken übersät war, gerade so, als hätte das Feuer glühende Holzfunken gespuckt. Dann nahm er den typischen widerlichen, metallischen Geruch wahr, dem er schon so oft begegnet war.
Im Kamin verrutschte plötzlich ein Holzscheit, Flammen stoben in alle Richtungen und warfen ihr Licht auf die nackte Leiche. Den Kopf auf einige Kissen gebettet, lag die Frau ausgestreckt in einer Pose da, die ohne das Blut, das aus zahlreichen Stichwunden in Hals und Brustkorb geflossen war und die gesamte Vorderseite ihres Körpers bedeckte, sehr einladend gewesen wäre. Im Lichte des Feuers glitzerte das Blut wie dunkler Samt. Soweit Banks das erkennen konnte, war das Opfer jung und schön, mit weicher, olivenfarbener Haut und schulterlangem pechschwarzem Haar. Als er sich über sie beugte, sah er, dass ihre Augen blau waren – von solch intensivem Blau, das manche dunkelhaarige Menschen noch attraktiver machte. Jetzt starrten sie ihn kalt und leblos an. Vor ihr, auf einem niedrigen Couchtisch, standen eine halb leere Teetasse auf einem Untersetzer und eine Schokoladentorte, von der ein Stück fehlte. Banks bedeckte eine Fingerspitze mit seinem Taschentuch und berührte die Tasse. Sie war kalt.
Dann brach der Bann. Banks wurde sich der Anwesenheit Gristhorpes bewusst, der im Hintergrund Constable Tolliver befragte, sowie der von Susan Gay, die schweigend neben ihm stand. Es war ihre erste Leiche, fiel ihm ein, und sie hielt sich gut, besser, als er es seinerzeit getan hatte. Nicht nur, dass sie sich weder erbrach noch ohnmächtig wurde, sie schaute sich auch im Zimmer um und achtete auf Einzelheiten.
»Wer hat die Leiche gefunden?«, fragte Gristhorpe Constable Tolliver.
»Eine Frau namens Veronica Shildon. Sie wohnt hier.«
»Wo ist sie jetzt?«, wollte Banks wissen.
Tolliver deutete mit einem Nicken zur Treppe. »Oben, zusammen mit einer Nachbarin. Sie wollte nicht hierher zurückkommen.«
»Kann ich ihr nicht verdenken«, sagte Banks. »Wissen Sie, wer das Opfer ist?«
»Sie heißt Caroline Hartley. Anscheinend wohnte sie auch hier.«
Gristhorpe hob seine buschigen Augenbrauen. »Komm, Alan, wir wollen mal hinaufgehen und uns anhören, was sie zu sagen hat. Susan, würden Sie hierbleiben, bis die Spurensicherung kommt?«
Susan Gay nickte und trat zur Seite.
Oben befanden sich nur zwei Zimmer und ein Bad. Ein Zimmer war zu einem Wohn- oder Arbeitszimmer umgebaut worden, Bücherregale bedeckten eine Wand, vor dem Fenster stand ein kleiner Schreibtisch mit Rollverdeck und unter dem Deckenfluter waren ein paar Korbsessel angeordnet. Das Schlafzimmer, das sah Banks vom Gang aus, war in Korallenrot und Meergrün eingerichtet, die Wände mit Laura-Ashley-Tapete verkleidet. Wenn in diesem Haus zwei Frauen gelebt hatten, es aber nur ein Schlafzimmer gab, folgerte er, dann mussten sie es sich geteilt haben. Er holte tief Luft und ging in das Arbeitszimmer.
Veronica Shildon saß in einem der Korbsessel und hatte den Kopf in die Hände gelegt. Die Nachbarin, die sich als Christine Cooper vorstellte, saß neben ihr. Der einzige verbleibende Sitzplatz war der harte Stuhl vor dem Schreibtisch. Gristhorpe ließ sich darauf nieder, beugte sich vor und legte sein Kinn auf seine Fäuste. Banks blieb an der Tür stehen.
»Sie hat einen fürchterlichen Schock erlitten«, erklärte Christine Cooper. »Ich weiß nicht, ob sie Ihnen viel erzählen kann.«
»Keine Sorge, Mrs Cooper«, sagte Gristhorpe. »Der Arzt wird in Kürze hier sein. Er wird ihr etwas geben. Kann sie irgendwo unterkommen?«
»Wenn sie will, kann sie bei mir bleiben. Gleich nebenan. Wir haben ein Gästezimmer. Ich bin sicher, dass mein Mann einverstanden ist.«
»Gut.« Gristhorpe wandte sich an die weinende Frau und stellte sich vor. »Können Sie mir berichten, was passiert ist?«
Veronica Shildon schaute auf. Sie war ungefähr Mitte dreißig, schätzte Banks, die gepflegten braunen Haare waren mit grauen Strähnen durchzogen. Sie wirkte eher gutaussehend als schön, und ihr schmales Gesicht, die ebenso schmalen Lippen und alles an ihrer Haltung zeugten von Würde und Vornehmheit, vielleicht sogar von Strenge. In ihrer linken Hand hielt sie ein zusammengeknülltes Papiertaschentuch, und die rechte hatte sie so fest zu einer Faust geballt, dass sie fast weiß war. Während er ihre Erscheinung bewunderte, suchte Banks nach Blutspuren an ihren Händen oder ihrer Kleidung. Er sah keine. Ihre graugrünen, rot umrandeten Augen schienen sich nicht richtig auf Gristhorpe konzentrieren zu können.
»Ich kam gerade nach Hause«, erzählte sie. »Ich dachte, sie würde auf mich warten.«
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte Gristhorpe.
»Um acht. Kurz nach acht.« Sie schaute ihn nicht an, als sie antwortete.
»Wo sind Sie gewesen?«
»Ich war einkaufen.« Sie blickte auf, doch ihre Augen schienen geradewegs durch den Superintendent hindurchzusehen. »So war es. Einen Moment lang dachte ich, sie würde das Geschenk tragen, das ich ihr mitgebracht hatte, den scharlachroten Unterrock. Aber das konnte sie ja gar nicht. Ich hatte ihn ihr ja noch nicht gegeben. Und sie war tot.«
»Was haben Sie getan, nachdem Sie sie gefunden haben?«, fragte Gristhorpe.
»Ich ... ich bin rüber zu Christine gelaufen. Sie ließ mich herein und rief die Polizei an. Ich weiß nicht ... Ist Caroline wirklich tot?«
Gristhorpe nickte.
»Warum? Wer war es?«
Gristhorpe beugte sich vor und sprach mit sanfter Stimme. »Das müssen wir erst herausfinden. Sind Sie sicher, dass Sie nichts in dem Zimmer angefasst haben?«
»Nichts.«
»Können Sie uns sonst noch etwas sagen?«
Veronica Shildon schüttelte den Kopf. Sie war offenbar zu verzweifelt, um sprechen zu können. Sie würden mit ihren Fragen bis morgen warten müssen.
Christine Cooper begleitete Banks und Gristhorpe aus dem Zimmer. »Ich bleibe hier, bis der Arzt kommt, wenn Sie nichts dagegen haben«, verkündete sie.
Gristhorpe nickte, dann gingen sie nach unten.
»Machen Sie eine Haus-zu-Haus-Befragung«, bat Gristhorpe Constable Tolliver, während sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. »Sie wissen, worum es geht. Wir müssen wissen, ob jemand beim Betreten oder Verlassen des Hauses gesehen wurde.« Der Constable nickte und eilte davon.
Zurück im Wohnzimmer, bemerkte Banks zum ersten Mal, wie warm es war, und zog seinen Mantel aus. Die Musik verstummte, dann hob sich der Plattenarm, glitt zurück zum Anfang der Platte, und die Nadel setzte wieder auf, um von neuem zu starten.
»Was ist das für eine Musik?«, fragte Susan Gay.
Banks lauschte. Das Stück – eine lateinisch singende Sopranstimme wurde von eleganten, gemessenen Streichern begleitet – klang vage vertraut. Bach war es auf jeden Fall nicht, der Stil wirkte eher italienisch als deutsch.
»Klingt wie Vivaldi«, gab er stirnrunzelnd zur Antwort. »Aber viel mehr interessiert mich, warum sie läuft und vor allem, warum der Plattenspieler auf Wiederholung eingestellt ist.«
Er ging zu dem Plattenspieler und kniete sich vor den Lautsprecher daneben, auf dem das Cover lag. Es war tatsächlich Vivaldi: Laudate pueri, gesungen von Magda Kalmar. Banks hatte noch nie von ihr gehört, aber sie besaß eine schöne Stimme, geschliffener, wärmer und weniger spröde als die meisten Sopranistinnen, die er gehört hatte. Das Cover sah neu aus.
»Soll ich sie ausschalten?«, fragte Susan Gay.
»Nein. Lassen Sie sie laufen. Es könnte wichtig sein. Die Jungs von der Spurensicherung sollen sich das einmal anschauen.«
In diesem Moment ging die Eingangstür auf, und alle starrten entgeistert auf die Gestalt, die nun eintrat. Eine Sekunde lang glaubten sie den Weihnachtsmann persönlich vor sich zu haben, in voller Montur mit Bart und rotem Hut. Wären da nicht seine Größe, die funkelnden blauen Augen, die braune Tasche und die im Mundwinkel baumelnde Zigarette gewesen, hätte selbst Banks nicht gewusst, wer es war.
»Entschuldigen Sie bitte meinen Aufzug«, sagte Dr. Glendenning. »Glauben Sie mir, ich möchte keineswegs taktlos erscheinen. Aber ich war gerade auf dem Weg in die Kinderstation, um die Geschenke zu verteilen, als ich den Anruf erhielt. Ich wollte keine Zeit verschwenden.« Und das hatte er auch nicht. »Ist dies die fragliche Leiche?« Er ging zum Sofa und beugte sich über die tote Frau. Er hatte kaum einen ersten Blick darauf geworfen, als Peter Darby, der Fotograf, gemeinsam mit Vic Manson und seinem Team hereinkam.
Während sich die Spezialisten an die Arbeit machten, Haare und Stofffasern mit winzigen Staubsaugern einsammelten, Fingerabdrücke nahmen und den Tatort aus jedem denkbaren Winkel fotografierten, hielten sich die drei Kriminalbeamten im Hintergrund. Susan Gay schien ganz gebannt zu sein. Sie wird davon in Büchern gelesen haben, dachte Banks, vielleicht hatte sie an der Polizeihochschule auch an Planspielen teilgenommen; aber wenn man dann wirklich am Tatort stand, war es noch einmal eine ganz andere Sache. Er tippte ihr auf die Schulter. Es dauerte ein paar Augenblicke, bis sie ihre Augen abwandte und ihn ansah.
»Ich gehe noch mal kurz nach oben«, flüsterte Banks. »Dauert nicht lange.« Susan nickte und richtete ihren Blick wieder auf Glendenning, um ihn bei der Vermessung der Halswunden zu beobachten.
Oben kniete sich Banks vor den Sessel. »Veronica«, sagte er sanft, »diese Musik, Vivaldi, lief sie bereits, als Sie nach Hause kamen?«
Mit großer Mühe konzentrierte sich Veronica auf ihn. »Ja«, antwortete sie mit einem erstaunten Gesichtsausdruck. »Ja. Das war seltsam. Ich dachte, wir hätten Besuch.«
»Warum?«
»Caroline ... mochte keine klassische Musik. Sie sagte immer, sie fühle sich dumm dabei.«
»Also hätte sie die Musik nicht selbst aufgelegt?«
Veronica schüttelte den Kopf. »Niemals.«
»Wem gehört die Schallplatte? Ist es eine von Ihren?«
»Nein.«
»Aber Sie mögen klassische Musik?«
Sie nickte.
»Kennen Sie das Stück?«
»Nein, aber die Stimme habe ich erkannt.«
Banks stand auf und legte eine Hand auf ihre Schulter. »Der Arzt wird gleich oben sein«, sagte er. »Er gibt Ihnen etwas, damit Sie schlafen können.« Er nahm Christine Coopers Arm und führte sie hinaus auf den Gang. »Wie lange haben die beiden hier gewohnt?«
»Fast zwei Jahre.«
Banks deutete mit einer Kopfbewegung zum Schlafzimmer. »Zusammen?«
»Ja. Zumindest...« Sie verschränkte ihre Arme. »Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen.«
»Gab es jemals Ärger?«
»Was meinen Sie damit?«
»Krach, Drohungen, Streitereien, wütende Besucher ...?«
Christine Cooper schüttelte den Kopf. »Keine Spur. Man kann sich keine ruhigeren, rücksichtsvolleren Nachbarn wünschen. Wie gesagt, wir kannten uns nicht besonders gut, wir haben uns nur hin und wieder besucht. Mein Mann ...«
»Ja?«
»Nun ... er mochte Caroline sehr gerne. Ich glaube, sie erinnerte ihn an unsere Corinne. Sie starb vor ein paar Jahren an Leukämie. Sie war ungefähr in Carolines Alter.«
Banks betrachtete Christine Cooper. Sie schien etwa Mitte fünfzig zu sein, eine kleine, ratlos aussehende Frau mit grauem Haar und gerunzelter Stirn. Vermutlich war ihr Mann im gleichen Alter, vielleicht etwas älter. Sicherlich hatte es sich um rein väterliche Zuneigung gehandelt, dennoch nahm er sich vor, die Sache näher zu untersuchen.
»Ist Ihnen am früheren Abend irgendetwas aufgefallen?«, fragte er.
»Was zum Beispiel?«
»Irgendein Geräusch oder jemand, der hier angeklopft hat.«
»Nein, das kann ich wirklich nicht sagen. Die Häuser sind ziemlich massiv. Ich hatte die Vorhänge zugezogen, außerdem hatte ich bis acht Uhr den Fernseher an, bis diese blöde Spielshow begann.«
»Sie haben also überhaupt nichts gehört?«
»Ein-, zweimal habe ich gehört, wie Türen zugingen, aber ich könnte nicht sagen, wessen Türen.«
»Können Sie sich erinnern, um welche Zeit das war?«
»Als ich fernsah. Zwischen sieben und acht. Es tut mir leid, dass ich Ihnen nicht weiterhelfen kann. Ich habe einfach nicht darauf geachtet. Ich konnte ja nicht ahnen, dass es wichtig sein würde.«
»Natürlich nicht. Nur noch eine Frage«, sagte Banks.
»Um welche Zeit kam Mrs Shildon zu Ihnen?«
»Um zehn nach acht.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Da war ich in der Küche. Ich schaute auf die Uhr, als ich jemanden schreien und gegen meine Tür schlagen hörte. Ich hatte keine Sternsinger gehört, deshalb fragte ich mich, wer das wohl um diese Zeit sein könnte.«
»Haben Sie gehört, wie sie nach Hause gekommen ist?«
»Ich habe gehört, wie ihre Tür auf- und zuging.«
»Wann war das?«
»Kurz nach acht, bestimmt nicht mehr als eine oder zwei Minuten nach acht. Ich hatte gerade den Fernseher ausgeschaltet und mit Charles’ Abendessen begonnen. Deshalb habe ich sie gehört. Da war alles ganz ruhig. Zuerst dachte ich, es wäre meine Tür, deswegen habe ich zur Uhr hochgeschaut. Das ist so eine Angewohnheit, wenn ich in der Küche bin. Da hängt eine hübsche Wanduhr, ein Geschenk ... aber das wollen Sie ja gar nicht wissen. Wie auch immer, so früh hatte ich Charles nicht zurückerwartet, deshalb ... Moment mal! Worauf wollen Sie hinaus? Sie glauben doch nicht etwa ...«
»Ich danke Ihnen vielmals, Mrs Cooper. Im Augenblick ist das alles.«
Als Mrs Cooper zurück in das Arbeitszimmer gegangen war, warf Banks einen kurzen Blick ins Schlafzimmer und suchte nach Anzeichen für blutverschmierte Kleidung, fand aber keine. Der Kleiderschrank war fein säuberlich in zwei Hälften geteilt: eine für Veronicas ziemlich konservative Kleidung und die andere für Carolines, die einen etwas moderneren Stil gehabt hatte. Auf dem Boden des Schranks stand eine Tragetüte, die mit eingepackten Weihnachtsgeschenken gefüllt war.
Vor Ende der Nacht würde das gesamte Haus gründlich durchsucht werden müssen, aber das konnte das Team der Spurensicherung später tun. Was Banks im Augenblick am meisten zu schaffen machte, war die Zeitspanne von fast zehn Minuten zwischen Veronica Shildons Ankunft zu Hause und ihrem Klopfen an der Tür ihrer Nachbarin. In zehn Minuten konnte eine Menge geschehen.
Wieder im Erdgeschoss, führte Banks Vic Manson zum Plattenspieler.
»Können Sie die Platte wegnehmen und die ganze Stelle hier nach Fingerabdrücken untersuchen? Außerdem möchte ich, dass auch das Cover und das Innencover zur Untersuchung eingetütet werden.«
»Kein Problem.« Manson machte sich an die Arbeit.
Als die Musik aufhörte, schauten alle hoch. Sie hatte den Tatort derart verzaubert, dass sich Banks wie ein Tänzer vorkam, der mitten aus einer würdevollen Pavane gerissen wurde. Nun schienen die Anwesenden zum ersten Mal wirklich zu begreifen, was sich hier zugetragen hatte. Und das war grauenhaft und hässlich, besonders bei den angeschalteten Lichtern.
»Hast du schon irgendwas Interessantes gefunden?«, fragte Banks Gristhorpe.
»Das Messer. Es lag in der Küche in der Spüle. Abgewaschen, aber ein paar Blutspuren waren noch dran. Sieht aus, als stamme es aus dem Besteckkasten hier. Hast du den Kuchen auf dem Tisch vor dem Sofa gesehen?«
Banks nickte.
»Möglich, dass sie das Messer vorher benutzt hat, um sich ein Stück abzuschneiden.«
»Falls es noch auf dem Tisch lag«, sagte Banks, »war es die praktischste Waffe, die man sich denken kann.«
»Genau. Und dann haben wir noch das hier.« Der Superintendent hielt einen zerknitterten Bogen grünes Weihnachtsgeschenkpapier hoch, an dem silberne Glöckchen und rote Malvenbeeren hingen. »Das lag drüben bei der Stereoanlage.« Er zuckte mit den Schultern. »Könnte vielleicht was bedeuten.«
»Da könnte die Platte drin gewesen sein«, spekulierte Banks und erzählte Gristhorpe, was Veronica gesagt hatte.
Dr. Glendenning, der seinen Bart abgenommen und die obere Hälfte seiner Weihnachtsmannverkleidung aufgeknöpft hatte, trat zu ihnen und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
»Höchstens seit drei oder vier Stunden tot«, verkündete er. »Schwellung an der linken Wange als Folge eines harten Schlages oder Trittes. Könnte sie leicht bewusstlos gemacht haben. Aber die Todesursache war Blutverlust aufgrund der zahlreichen Stichwunden – mindestens sieben, soweit ich zählen konnte. Es sei denn, sie wurde vorher vergiftet.«
»Danke«, sagte Gristhorpe. »Kann man schon sagen, wie es passiert ist?«
»Zum gegenwärtigen Zeitpunkt, nein. Nur das Offensichtliche – es war ein verdammt brutaler Angriff.«
»Ja«, bestätigte Gristhorpe. »Wurde sie sexuell genötigt?«
»Nach oberflächlicher Untersuchung würde ich sagen, nein. Nichts deutet darauf hin. Aber vor der Obduktion kann ich Ihnen nicht mehr sagen – und die werde ich gleich morgen durchführen. Die Jungs können sie nun jederzeit in die Leichenhalle schaffen. Kann ich jetzt gehen? Ich möchte die armen Kinder nicht noch länger warten lassen.«
Banks bat ihn, zuerst noch bei Veronica Shildon vorbeizuschauen und ihr ein Beruhigungsmittel zu geben. Glendenning seufzte, erklärte sich aber einverstanden. Die Sanitäter, die draußen gewartet hatten, kamen herein, um die Leiche abzutransportieren. Glendenning hatte ihre Hände mit Plastiktüten geschützt, um alle Hautpartikel unter den Fingernägeln zu bewahren. Als die Sanitäter sie auf die Bahre hoben, klafften die Schnitte an ihrem Hals auf wie schreiende Münder. Einer der Männer musste eine Hand unter ihren Kopf legen, damit das Fleisch nicht bis zum Rückgrat aufriss. Das war das einzige Mal, dass Banks sah, wie Susan Gay merklich blass wurde und wegschaute.
Nachdem Caroline Hartleys Leiche fort war, blieben außer dem Blut, das auf das Schaffell und die Sofakissen gespritzt war, kaum noch Anzeichen dafür zurück, was für schreckliche Dinge sich an diesem Abend in dem behaglichen Zimmer ereignet hatten. Die Leute von der Spurensicherung packten das Fell und die Kissen zusammen, um sie für weitere Untersuchungen mitzunehmen. Danach war überhaupt nichts mehr zu sehen.
Es war nach halb elf. Constable Tolliver und zwei seiner Kollegen führten noch Haus-zu-Haus-Befragungen in der Gegend durch, aber für die Kriminalbeamten gab es bis zum nächsten Morgen kaum noch etwas zu tun. Sie mussten rekonstruieren, wie Caroline Hartley diesen Abend verbracht hatte: wo sie gewesen war, wen sie gesehen hatte und wer einen Grund gehabt haben könnte, ihren Tod zu wollen. Wahrscheinlich konnte Veronica Shildon ihnen weiterhelfen, aber sie war momentan nicht in der Lage, Fragen zu beantworten.
Gristhorpe und Susan Gay brachen zuerst auf. Dann fuhr Banks, nachdem er dem Spurensicherungsteam Anweisungen gegeben hatte, das Haus gründlich nach allen Spuren von blutverschmierter Kleidung zu durchsuchen, zum Rugbyclub zurück, um nachzusehen, ob Sandra noch da war. Vor seinen Scheinwerfern wirbelte der Schnee, die Straßen waren rutschig.
Als Banks vor dem Rugbyclub am nördlichen Ende von Eastvale anhielt, war es fast elf Uhr. Drinnen brannten noch die Lichter. Im Foyer stapfte er den Schnee von seinen Schuhen, bürstete ihn aus seinem Haar und von den Schultern seines Kamelhaarmantels, hängte ihn an die Garderobe und ging hinein.
Er blieb auf der Türschwelle stehen und schaute durch den schwach erleuchteten Ballsaal. Hatchley und Carol waren verschwunden, aber viele Gäste waren dageblieben und hielten noch Getränke in den Händen. Der DJ gönnte sich eben eine Pause und jemand saß am Klavier und spielte Weihnachtslieder. Banks sah Sandra und Richmond auf ihren Barhockern an der Theke sitzen. Er blieb stehen und sah ihnen ein paar Augenblicke lang beim Singen zu. Es hatte etwas merkwürdig Intimes, so als beobachte er jemanden beim Schlafen. Und genau wie die von Schlafenden sahen ihre Gesichter unschuldig und ruhig aus, als ihre Lippen die vertrauten Worte formten:
Stille Nacht, heilige Nacht,
alles schläft, einsam wacht...
»Was haben wir bis jetzt herausgefunden?«, fragte Gristhorpe um acht Uhr am nächsten Morgen. Wie Banks aus Erfahrung wusste, hielt der Superintendent im Frühstadium einer Ermittlung gerne regelmäßig Konferenzen ab. Obwohl er am vergangenen Abend am Tatort gewesen war, würde er nun die praktische Arbeit seinem Team überlassen und sich auf die Koordinierung ihrer Aufgaben und dem Umgang mit der Presse konzentrieren. Im Gegensatz zu manch anderen Vorgesetzten, mit denen Banks gearbeitet hatte, vertraute Gristhorpe die Arbeit seinen Leuten an, während er sich um taktische und innerpolizeiliche Angelegenheiten kümmerte.
Im Konferenzzimmer gingen Gristhorpe, Banks, Richmond und Susan Gay die Ereignisse der letzten Nacht durch. Weder von der Spurensicherung noch von Dr. Glendenning, der soeben mit der Obduktion begonnen hatte, waren bisher Ergebnisse eingetroffen. Die einzige neue Information, die sie erhalten hatten, hatte sich aus der Befragung von Haus zu Haus ergeben. Drei Personen waren getrennt voneinander dabei beobachtet worden, wie sie Oakwood Mews Nummer elf an diesem Abend besucht hatten. Niemand konnte sie eindeutig beschreiben – schließlich war es dunkel gewesen und es hatte geschneit –, aber zwei Zeugen schienen darin übereinzustimmen, dass ein Mann und zwei Frauen an der Haustür geklopft hätten.
Zuerst hatte der Mann angeklopft, gegen sieben Uhr, und Caroline hatte ihn ins Haus gelassen. Niemand hatte ihn wieder Weggehen sehen. Wenig später war eine Frau erschienen, hatte kurz mit Caroline an der Tür gesprochen und war dann verschwunden, ohne das Haus betreten zu haben. Eine Zeugin meinte, es hätte sich, da ja Weihnachten war, um eine Person handeln können, die für wohltätige Zwecke sammelte – aber eine solche Person hätte wohl kaum die Gelegenheit versäumt, auch an jeder anderen Haustür zu klopfen, oder? Zeichen einer Auseinandersetzung hätte es auf jeden Fall nicht gegeben.
Den Beobachtungen zufolge klopfte die letzte Besucherin, kurz nachdem die andere Frau verschwunden war, und ging ins Haus. Niemand hatte bemerkt, dass sie wieder fortgegangen war. Soweit sie sagen konnten, war dies das letzte Mal, dass Caroline Hartley von jemand anderem als ihrem Mörder lebend gesehen wurde. Vielleicht waren zwischen circa halb acht und acht noch andere Besucher da gewesen, aber niemand hatte sie gesehen. Alle hatten sich im Fernsehen »Coronation Street« angeschaut.
»Irgendwelche Ideen zu der Schallplatte?«, fragte Gristhorpe.
»Ich glaube, sie könnte wichtig sein«, meinte Banks, »aber warum, kann ich nicht sagen. Veronica Shildon hat behauptet, ihr gehöre sie nicht, und Caroline Hartley hatte für klassische Musik nichts übrig.«
»Wo kommt sie dann her?«, fragte Susan Gay.
»Tolliver sagte, einer der Zeugen war der Meinung, dass der Mann, der zu Besuch kam, eine Art Einkaufstasche bei sich hatte. Da könnte sie drin gewesen sein, beispielsweise als Geschenk. Das würde auch das Geschenkpapier erklären, das wir gefunden haben.«
»Aber warum sollte jemand einer Frau etwas schenken, was sie nicht mag?«, warf Susan ein.
Banks zuckte mit den Achseln. »Dafür könnte es eine Reihe von Gründen geben. Vielleicht war es jemand, der ihren Geschmack nicht genau kannte. Oder sie könnte für Veronica Shildon bestimmt gewesen sein. Ich will nur sagen, dass die Sache mit der Platte merkwürdig ist und wir sie überprüfen sollten. Außerdem ist es seltsam, dass jemand die Platte auflegt und sie sich endlos wiederholend laufen lässt. Caroline hätte sie nicht aufgelegt, wer hat es also getan und warum? Vielleicht haben wir es sogar mit einem Psychopathen zu tun. Die Musik könnte seine Visitenkarte sein.«
»In Ordnung«, sagte Gristhorpe nach kurzem Schweigen. »Susan, gehen Sie doch mal bei Pristine Records vorbei und schauen Sie, ob die etwas über die Platte wissen.«
Susan machte sich eine Notiz und nickte.
»Alan, du und Sergeant Richmond, ihr versucht, etwas aus Veronica Shildon herauszukriegen.« Er hielt inne. »Wie beurteilst du ihre Beziehung?«
Banks kratzte an der kleinen Narbe neben seinem rechten Auge. »Sie haben zusammengelebt. Und zusammen geschlafen, soweit ich das sagen kann. Bisher hat es noch niemand ausgesprochen, aber ich denke, es ist ziemlich offensichtlich. Christine Cooper hat das Gleiche angedeutet.«
»Vielleicht bringt uns das auf eine Spur«, meinte Gristhorpe. »Ich habe keine Ahnung von lesbischen Beziehungen, aber alles Außergewöhnliche sollten wir unter die Lupe nehmen.«
»Ein eifersüchtiger Liebhaber oder so etwas?«, meinte Banks.
Gristhorpe zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich. Ich glaube nur, dass es sich lohnt, ein bisschen in dieser Richtung zu ermitteln.«
Während das Treffen sich auflöste und sich alle zum Gehen anschickten, kam ihnen Sergeant Rowe mit einem Formular in der Hand auf dem Flur entgegen.
»Im Gemeindezentrum ist eingebrochen worden«, verkündete er und wedelte mit dem Blatt. »Wer übernimmt das?«
»Nicht schon wieder!«, stöhnte Banks. Dies war der dritte Einbruch in zwei Monaten. Vandalismus wurde nun in Eastvale genauso zum Problem, wie er es im Rest des Landes zu sein schien.
»Doch«, sagte Rowe. »Müllmänner haben bemerkt, dass die Hintertür aufgebrochen wurde, als sie vor einer halben Stunde den Müll abholten. Ich habe bereits die Mitglieder der Laienspielgruppe unterrichtet. Das sind die Einzigen, die im Moment im Haus zu tun haben. Mit Ausnahme Ihrer Frau, Sir.«
Rowe bezog sich damit auf Sandras neuen Teilzeitjob als Leiterin der neuen Galerie von Eastvale, in der sie Ausstellungen mit regionaler Kunst, Skulptur und Fotografie organisierte. Wie gewöhnlich hatte der Kunstausschuss von Eastvale Subventionen beantragt und eigentlich mit bedeutenden Kürzungen, wenn nicht mit einer totalen Ablehnung gerechnet. Aber aufgrund eines bürokratischen Schnitzers oder einer großzügigen Laune der Finanzbehörde war ihnen in diesem Jahr ganz unerwartet die doppelte Summe zugesprochen worden, die sie beantragt hatten, und nun suchten sie nach Wegen, das Geld auszugeben, bevor es jemand zurückverlangen könnte. Doch Monate vergingen und sie erhielten keinen Brief, der mit den Worten »Wegen eines behördlichen Versehens sehen wir uns leider gezwungen ...« begann. Also wurde der große Raum im ersten Stock des Gemeindezentrums in Beschlag genommen und zu einer Galerie umgestaltet.
»Ist da oben was beschädigt worden?«, fragte Banks.
»Wissen wir noch nicht, Sir.«
»Wo ist der Hausmeister?«
»Im Urlaub, Sir. Ist über Weihnachten zu den Schwiegereltern nach Oldham gefahren.«
»In Ordnung, wir kümmern uns darum. Susan, gehen Sie kurz dort vorbei, bevor Sie zum Plattenladen gehen, und schauen Sie nach, was los ist. Das dürfte nicht lange dauern.«
Susan Gay nickte und machte sich auf den Weg.
Banks und Richmond bogen um das Polizeirevier herum in Richtung King Street. Früh am Morgen hatte es zu schneien aufgehört; eine gut fünfzehn Zentimeter hohe Schneedecke lag auf den Straßen, aber der Himmel war immer noch bedeckt und versprach noch mehr Niederschlag. Die Luft war kühl und feucht. Auf den Hauptstraßen hatten Autos und Fußgänger den Schnee bereits in braungrauen Matsch verwandelt, in den engen, gewundenen Seitenstraßen zwischen Market Street und King Street war er jedoch bis auf ein einzelnes Paar Fußabdrücke und den Stellen, die Ladenbesitzer auf dem Bürgersteig vor ihren Türen frei geschaufelt hatten, beinahe unberührt geblieben.
Dies war das touristische Eastvale. Hier hingen die Schilder der Antiquitätenhändler, warben Antiquare neben Münzsammlern und Maßschneidern für ihre Waren. Diese Läden unterschieden sich grundlegend von den billigen Souvenirläden an der York Road; es waren Fachgeschäfte mit knarrenden Dielenböden und dicken Butzenscheiben, in denen kultivierte, liebenswürdige Verkäufer ihre Kunden mit »Sir« oder »Madam« ansprachen.
Oakwood Mews war eine kurze Sackgasse, eine renovierte Wohnstraße mit nur zehn Häusern auf jeder Seite. Gusseiserne Zäune trennten die kleinen Gärten vom Bürgersteig. Im Sommer erblühte die Straße in einer überschwänglichen Farbenpracht, an vielen Häusern hingen bunte Körbe und Blumenkästen vor den Fenstern. Vor einigen Jahren hatte die Straße sogar den Preis für die »schönste Straße in Yorkshire« gewonnen, und die Tafel, die darauf hinwies, war an der Mauer des ersten Hauses angebracht. Banks und Richmond näherten sich jetzt der Nummer neun; die Straße wirkte sehr viktorianisch. Banks hätte sich nicht gewundert, wenn plötzlich Tiny Tim auf sie zugelaufen wäre und seine Krücken weggeworfen hätte.
Banks klopfte an die Tür der Coopers. Sie war aus hellem, vertäfeltem Holz gefertigt, der Klopfer war ein auf Hochglanz polierter Löwenkopf aus Messing. Eine wohlhabende, kleine Straße, dachte Banks, auch wenn es sich nur um eine Reihe kleiner Häuser handelte. Sie waren vor dem Krieg aus Backstein errichtet und erst vor kurzem mustergültig restauriert worden.
Christine Cooper öffnete die Tür im Morgenrock und bat sie herein. Im Gegensatz zur behaglicheren, femininen Eleganz von Nummer elf war die Einrichtung der Wohnung der Coopers fast ausschließlich modern und bestand aus skandinavischen Möbeln und gebrochen weißen Wänden. Die Küche, in die sie die beiden führte, quoll über vor Regalen und Arbeitsflächen und enthielt jedes erdenkliche Haushaltsgerät, vom Mikrowellenherd bis hin zum elektrischen Dosenöffner.
»Kaffee?«
Banks und Richmond nickten und setzten sich an den großen Kieferntisch. Um Platz zu sparen, war er dicht in eine Ecke gestellt worden, an den beiden angrenzenden Wänden hatte jemand eine Eckbank aufgestellt. Banks und Richmond setzten sich mit dem Rücken zur Wand auf die Bank. Da seine Körpermaße die obligatorische Mustergröße von 172 Zentimetern nur wenig überschritten, hatte Banks keine Probleme, sich in die Einrichtung einzupassen; Richmond hingegen musste sich ziemlich verbiegen, um seine langen Beine unterzubringen.
Mrs Cooper nahm ihnen gegenüber Platz. Die Kaffeemaschine gluckerte bereits vor sich hin, sodass sie nur noch wenige Minuten auf ihr Getränk warten mussten.
»Veronica ist leider noch nicht aufgestanden«, sagte Mrs Cooper. »Der Arzt hat ihr eine Schlaftablette gegeben, und kaum hatten wir sie ins Bett gebracht, war sie auch schon weg. Ich habe Charles alles erklärt. Er ist sehr verständnisvoll gewesen.«
»Wo ist Ihr Mann jetzt?«, fragte Banks.
»Bei der Arbeit.«
»Wann kam er letzte Nacht nach Hause?«
»Das muss nach elf gewesen sein. Wir saßen noch eine Weile zusammen und sprachen über ... Sie wissen schon ... Dann sind wir so um Mitternacht zu Bett gegangen.«
»Arbeitet er immer so lange?«
Mrs Cooper seufzte. »Ja, besonders in dieser Jahreszeit. Er leitet eine Kette von Spielzeugläden in North Yorkshire, müssen Sie wissen. Ständig tauchen irgendwelche Probleme auf. Einem Laden geht plötzlich eine neue Puppe aus, die die Kinder dieses Jahr unbedingt haben wollen, dem nächsten wiederum ein Puzzlespiel. Sie können sich das sicherlich vorstellen.«
»Wo war er gestern Abend?«
Die Frage schien Mrs Cooper zu überraschen, doch sie antwortete nach kurzem Zögern. »In Barnard Castle. Offenbar hat der dortige Geschäftsführer von ein paar Unstimmigkeiten in seinem Lagerbestand berichtet.«
Wahrscheinlich war an der Sache nichts dran, dachte Banks, aber Charles Coopers Alibi dürfte problemlos zu überprüfen sein.
»Vielleicht können Sie uns etwas mehr über Caroline Hartley erzählen, während wir auf Mrs Shildon warten«, sagte er.
Richmond zückte sein Notizbuch und rutschte in seinem Ecksitz zurück.
Mrs Cooper rieb sich das Kinn. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich Ihnen viel über Caroline erzählen kann. Ich kannte sie zwar, aber ich hatte nicht das Gefühl, sie wirklich zu kennen. Unsere Beziehung war nur oberflächlich. Sie war ein sehr lebensfroher Mensch, das muss man sagen. Immer putzmunter. Hatte für jeden ein Lächeln und ein freundliches Wort übrig. Außerdem war sie begabt, soweit ich das beurteilen kann.«
»Begabt? Inwiefern?«
»Sie war Schauspielerin. Nicht professionell, aber wenn Sie mich fragen, hatte sie das Zeug dazu. Sie konnte jeden imitieren. Sie hätten sehen sollen, wie sie Maggie Thatcher nachmachte. Zum Schießen!«
»Hat sie hier in der Gegend Theater gespielt?«
»Ja. Mit der Laienspielgruppe von Eastvale.«
»War das ihre erste Erfahrung mit dem Theater?«
»Das weiß ich nicht. Es war nur eine kleine Rolle, aber sie war begeistert davon.«
»Wo stammte sie her?«
»Das kann ich nicht sagen. Über ihre Vergangenheit weiß ich nichts. Sie hätte aus Timbuktu sein können. Wie gesagt, wir standen uns nicht besonders nahe.«
»Wissen Sie, ob sie Feinde hatte? Hat sie Ihnen jemals von Streitereien erzählt, in die sie verwickelt war?«
Mrs Cooper schüttelte den Kopf, dann wurde sie rot.
»Was ist?«, fragte Banks.
»Nun«, begann Mrs Cooper, »ich will niemandem Probleme bereiten, aber wenn zwei Frauen zusammenleben wie ... wie sie es getan haben, dann wird irgendjemand unglücklich, oder?«
»Von wem sprechen Sie?«
»Von Veronicas Exmann. Bevor sie hierherzog, war sie verheiratet. Ich nehme an, dass er nicht besonders glücklich über die Entwicklung war. Und ich wette, dass es auch in Carolines Leben jemanden gegeben hat – eine Frau oder einen Mann. Sie machte nicht den Eindruck, als könne sie es lange alleine aushalten, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Wissen Sie etwas über Veronica Shildons Exmann?«
»Nur dass sie das große Haus, in dem sie am Stadtrand gelebt hatten, verkauft und sich das Geld geteilt haben. Sie kaufte dieses Haus hier und er zog irgendwohin. Ich glaube, an die Küste. Sie hat mir nicht mal seinen Namen gesagt.«
»An die Küste von Yorkshire?«
»Ja, ich glaube. Aber Veronica kann Ihnen da natürlich mehr erzählen.«
»Haben Sie ihn gestern Abend hier in der Gegend gesehen?«
Mrs Cooper zog ihren Morgenmantel zusammen. »Nein. Ich habe Ihnen alles berichtet, was ich letzte Nacht gesehen oder gehört habe. Außerdem hätte ich ihn auch gar nicht erkennen können. Ich habe ihn ja noch nie gesehen.«
Banks hörte die Treppe knarren, schaute sich um und sah Veronica Shildon in der Tür stehen. Sie war genauso gekleidet wie am vergangenen Abend: enge Jeans, die ihre schlanken Hüften, die wohlgeformte Taille und den flachen Bauch hervorhoben, sowie ein hochgeschlossener, grob gestrickter grüner Pullover, der die Farbe ihrer Augen gut zur Geltung brachte. Sie war groß, ungefähr einen Meter achtzig, und sehr anmutig. Banks fand, dass ein solch lässiger Aufzug gar nicht zu ihr passte; sie sah aus, als gehöre sie in eine perlmuttfarbene Seidenbluse und ein marineblaues Kostüm. Sie hatte sich die Zeit genommen, ihr kurzes Haar zu bürsten und ein wenig Make-up aufzulegen; doch ihr Gesicht sah noch immer mitgenommen aus, und ihre Augen, die entwaffnend ehrlich und wehrlos blickten, waren rot vom Weinen.
Banks wollte aufstehen, doch er war zu sehr zwischen der Bank und dem Tisch eingeklemmt.
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie so bald schon wieder belästigen«, sagte er, »aber je schneller wir vorankommen, desto mehr Chancen haben wir.«
»Ich verstehe«, sagte sie. »Bitte, machen Sie sich um mich keine Sorgen. Ich komme schon zurecht.«
Als sie zum Tisch ging, schwankte sie ein wenig. Mrs Cooper nahm ihren Ellbogen und führte sie zu einem Stuhl, brachte ihr dann einen Kaffee und verschwand mit der Entschuldigung, sie müsse etwas erledigen.
»In Fällen wie diesem«, begann Banks, »hilft es, wenn wir wissen, was die jeweilige Person in der Zeit vor dem Vorfall getan hat und wo sie sich aufhielt.« Er war sich bewusst, wie abgedroschen das klang, aber irgendwie brachte er es nicht fertig, die Worte »Opfer« oder »Mord« auszusprechen.
Veronica nickte. »Natürlich. Soweit ich weiß, ging Caroline zur Arbeit, aber das müssen Sie überprüfen. Sie leitet das Garden Café in der Castle Hill Road.«
»Ich kenne es«, sagte Banks. Es war ein elegantes, kleines Café, von dem aus man einen großartigen Blick auf die öffentlichen Gärten und den Fluss hatte.
»An Werktagen hört sie gewöhnlich um drei Uhr auf, nach dem Mittagsbetrieb. Außerhalb der Saison haben sie zur Teezeit nicht geöffnet. An einem normalen Tag geht sie nach Hause, erledigt ein paar Einkäufe oder kommt oft kurz noch im Laden vorbei, um auszuhelfen.«
»Im Laden?«
»Ich besitze einen Blumenladen. Gemeinsam mit meinem Partner. Er gibt das Geld und ich führe die Geschäfte. Er ist gleich um die Ecke, in der King Street.«
»Sie sagten, an einem ›normalen‹ Tag. War gestern kein normaler Tag?«
Sie schaute ihm direkt in die Augen, und ihr Blick gab ihm zu verstehen, wie unpassend seine Wortwahl gewesen war. Gestern war tatsächlich kein normaler Tag gewesen. Aber sie sagte einfach: »Nein. Gestern hatte sie nach der Arbeit Probe. Sie proben im Gemeindezentrum Was ihr wollt. Der Probenplan ist ziemlich gedrängt, weil der Regisseur das Stück am sechsten Januar herausbringen will. Also in der zwölften Nacht nach Weihnachten, zum Fest der Erscheinung des Herrn – und Zwölfte Nacht ist ja der alternative Titel der Komödie.«
»Um welche Zeit finden die Proben statt?«
»Gewöhnlich zwischen vier und sechs, also müsste sie so um Viertel nach sechs zu Hause gewesen sein, wenn sie sofort nach Hause gegangen ist.«
»Glauben Sie, dass sie das getan hat?«
»Oft gehen sie noch etwas trinken, aber gestern kam sie nach Hause.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe angerufen, um zu sehen, ob sie da war, und um ihr zu sagen, dass ich ein bisschen später kommen würde, weil ich noch einkaufen gehen wollte.«
»Wann war das?«
»Ungefähr um sieben.«
»Wie hat sie geklungen?«
»Gut ... sie klang gut.«
»Hatte sie gestern einen besonderen Grund, nicht noch mit den anderen etwas trinken zu gehen?«
»Nein. Sie sagte nur, sie wäre müde von den Proben und sie ...«
»Ja?«
»Wir hatten beide in letzter Zeit so viel um die Ohren. Sie wollte etwas Zeit mit mir verbringen ... einen ruhigen Abend zu Hause.«
»Wo sind Sie gestern Abend gewesen?«
Veronica zeigte keine Spur Verärgerung darüber, dass sie nach einem Alibi gefragt wurde. »Um halb sechs habe ich den Laden abgeschlossen, dann bin ich zu meiner Sitzung um sechs Uhr zu Dr. Ursula Kelly, meiner Therapeutin, gegangen. Sie ist auch die von Caroline. Ihre Praxis liegt in der Kilnsey Street, gleich bei Castle Hill. Ich bin zu Fuß hingegangen. Wir haben zwar einen Wagen, aber in der Stadt benutzen wir ihn kaum. Wir nehmen ihn fast nur für längere Fahrten.« Sie trank einen Schluck. »Die Sitzung dauerte eine Stunde. Danach bin ich ins Einkaufszentrum gegangen, um ein paar Dinge zu besorgen. Vor allem Weihnachtsgeschenke.« Sie zögerte ein wenig. »Dann machte ich mich auf den Heimweg. Ich ... ich war so gegen acht Uhr hier.«
Bestimmt würde es möglich sein, ihr Alibi im Einkaufszentrum zu überprüfen, dachte Banks. Ein paar Verkäufer erinnerten sich vielleicht an sie. Andererseits war um diese Jahreszeit sehr viel los, und er bezweifelte, dass jemand sich genau daran erinnern konnte, an welchem Tag oder zu welcher Stunde er sie das letzte Mal gesehen hatte. Er konnte natürlich auch die Kassenbelege kontrollieren. Manchmal druckten die modernen elektronischen Kassen sowohl die Uhrzeit als auch das Datum des Einkaufs aus.
»Können Sie mir detailliert berichten, was von dem Moment an, wo sie gestern Abend das Zentrum verließen und nach Hause gingen, passierte und was Sie taten?«
Veronica holte tief Luft und schloss die Augen. »Ich ging nach Hause«, begann sie, »durch den Schnee. Es war ein herrlicher Abend. Ich blieb stehen und hörte eine Weile den Sternsingern auf dem Marktplatz zu. Sie sangen gerade ›O, little Town of Bethlehem‹. Das war schon immer eines meiner Lieblingslieder. Als ich nach Hause kam, rief ich ... ich rief hallo, aber Caroline antwortete nicht. Ich dachte mir nichts dabei. Sie hätte in der Küche gewesen sein können. Und diese Musik lief ... tja, das war merkwürdig. Ich nutzte die Gelegenheit und schlich nach oben, um die Geschenke im Kleiderschrank zu verstecken. Ein paar waren für sie, das ...« Sie hielt inne, und Banks sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten. »Es war mir wichtig, sie ganz schnell außer Sichtweite zu bringen«, fuhr sie fort. »Ich wusste, dass ich später noch genug Zeit haben würde, sie einzupacken. Während ich oben war, machte ich mich frisch und zog andere Sachen an, dann ging ich wieder hinunter.
Die Musik lief immer noch. Ich öffnete die Tür zum Wohnzimmer und ... ich ... zuerst dachte ich, sie würde den neuen scharlachroten Unterrock tragen. Sie sah so ruhig und so schön aus, wie sie dalag. Aber es war gar nicht möglich. Ich habe Ihnen ja schon gestern Nacht erzählt, dass ich ihn ihr noch gar nicht gegeben hatte. Ich hatte ihn gerade erst erstanden und mit den anderen Geschenken auf den Boden des Kleiderschranks verstaut. Dann bin ich näher herangegangen und ... der Geruch ... ihre Augen ...« Veronica setzte ihren Becher ab und legte ihren Kopf in die Hände.