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Sein Blick dringt unter die Haut … Er wollte mit seiner Familie den Abgründen Londons entkommen, doch Inspector Alan Banks muss feststellen, dass auch in den idyllischen Yorkshire Dales das Verbrechen lauert. Eine Einbruchsserie sorgt für Unruhen – und ein Spanner versetzt die Frauen der beschaulichen Kleinstadt Eastvale in Angst und Schrecken. Als dann auch noch eine Leiche gefunden wird, stellt sich die Frage, welcher der Täter nun zum Mörder geworden ist – und ob es bei einer Toten bleiben wird. Mit Hilfe von Psychologin Dr. Jenny Fuller muss Banks die Schattenseiten der gutbürgerlichen Bewohner Eastvales beleuchten, um weitere Morde zu verhindern – denn auch vor dem Fenster seiner Frau Sandra lauert das Böse … »Peter Robinsons erster und extrem gut gelungener Ermittlerkrimi. Als erfahrener Plotter mit einem Auge fürs Detail macht Mr. Robinson scharfsinnige soziale Beobachtungen.« The New York Times Book Review Für Fans von Elizabeth George und Nicci French – der fesselnde Auftakt der Bestseller-Reihe. Als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich sowie als eBook bei dotbooks.
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Über dieses Buch:
Er wollte mit seiner Familie den Abgründen Londons entkommen, doch Inspector Alan Banks muss feststellen, dass auch in den idyllischen Yorkshire Dales das Verbrechen lauert. Eine Einbruchsserie sorgt für Unruhen – und ein Spanner versetzt die Frauen der beschaulichen Kleinstadt Eastvale in Angst und Schrecken. Als dann auch noch eine Leiche gefunden wird, stellt sich die Frage, welcher der Täter nun zum Mörder geworden ist – und ob es bei einer Toten bleiben wird. Mit Hilfe von Psychologin Dr. Jenny Fuller muss Banks die Schattenseiten der gutbürgerlichen Bewohner Eastvales beleuchten, um weitere Morde zu verhindern – denn auch vor dem Fenster seiner Frau Sandra lauert das Böse …
Über den Autor:
Peter Robinson (1950-2022) wurde in Yorkshire geboren und lebte nach seinem Studium der englischen Literatur in Toronto, Kanada. Er wurde für seine Werke mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Edgar Allan Poe Award. Seine Bestseller-Reihe um Inspector Alan Banks feierte internationale Erfolge und wurde auch als Fernsehserie adaptiert.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor die »Yorkshire-Morde«-Reihe um Detective Chief Inspector Banks. Band 1 »Augen im Dunkeln« ist auch als Hörbuch bei AUDIOBUCH erhältlich.
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eBook-Neuausgabe November 2024
Die englische Originalausgabe erschien erstmals 1987 unter dem Originaltitel »Gallows View« bei Penguin Books Canada Limited, Toronto. Die deutsche Erstausgabe erschien 1994 unter dem Titel »Falle für Peeping Tom« bei Rowohlt sowie 2007 in Neuauflage unter dem Titel »Augen im Dunkeln«.
Copyright © der englischen Originalausgabe 1987 by Eastvale Enterprises Inc.
Copyright © der deutschen Erstausgabe 1994 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (lj)
ISBN 978-3-98952-480-4
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Peter Robinson
Augen im Dunkeln
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Elke Bahr
dotbooks.
Alice Matlock lebt in ihrem Wunderland.
Ethel Carstairs macht eine schreckliche Entdeckung.
Harriet Slade teilt die Liebe zum Fotografieren mit Terry, Robin, Norman, Fred und Jack.
Sandra Banks hat ein Auge fürs Detail, und man wirft ein Auge auf sie.
Thelma Pitt kommt zu früh nach Haus.
Dr. Jenny Fuller zieht alle Register ihres Könnens.
Dorothy Wycombe hat nur einen Feind: die Hälfte der Menschheit.
Graham Sharp kann sehr jähzornig werden.
Trevor Sharp macht eine schmerzliche Erfahrung
Mick Webster wird sein eigenes Opfer.
Det. Sergeant Richmond ist ein echtes Organisationstalent.
Larry Moxton a.k.a. Micklethwaite kann von sich das gleiche behaupten.
Det. Chief Inspector Alan Banks liebt Mörder nur in Opern.
Superintendent G. Gristhorpe liebt Raucher nur im Notfall.
Die Frau trat in den Lichtkreis der Lampe und fing an sich zu entkleiden. Sie trug einen schwarzen wadenlangen Rock zu einer silberfarbenen Bluse mit Dutzenden winziger, weißer Perlmuttknöpfe. Den Blick in die Ferne gerichtet, als rufe sie sich eine längst vergangene Erinnerung ins Gedächtnis, zog sie die Bluse aus dem Rock und begann sie bedächtig von unten nach oben aufzuknöpfen. Mit einer rollenden Bewegung der Schultern streifte sie das Oberteil ab, zog noch einmal am linken Ärmel, der sich statisch aufgeladen hatte und haftengeblieben war, senkte den Kopf, reckte die Arme nach hinten, um ihren BH aufzuhaken, hob schließlich erst die eine, dann die andere Schulter und streifte die dünnen Träger ab. Ihre Brüste waren groß und schwer, mit dunklen, aufwärts zeigenden Brustwarzen.
Sie öffnete den Reißverschluß über der linken Hüfte, ließ ihren Rock auf den Boden gleiten und trat einen Schritt zur Seite, um sich zu bücken, ihn aufzuheben und sorgsam über die Rückenlehne eines Stuhls zu legen. Dann rollte sie vorsichtig ihre Strumpfhosen über die Hüften, das Becken und die Oberschenkel, setzte sich auf die Bettkante und streifte vorsichtig die Strumpfhose von den Beinen, um keine Laufmaschen zu verursachen. Als sie sich vorbeugte, legte sich ihre straffe Haut oberhalb des Bauchs zu einer dunklen Falte zusammen, und ihre Brüste hingen so weit nach vorn, daß die Warzen ihre Knie berührten.
Schließlich stand sie wieder auf, faßte mit den Daumen in den Gummibund ihres schwarzen Slips und bückte sich, um sie nach unten zu ziehen. Dann trat sie zur Seite, fuhr mit dem linken Fuß unter das Gummiband und schleuderte den Slip in eine Ecke neben dem Kleiderschrank.
Erst in diesem Moment fiel ihr Blick auf den Spalt zwischen den Vorhängen. Am ganzen Körper zitternd, beobachtete er, wie sich ihre Augen vor Entsetzen weiteten. Er war außerstande, sich zu bewegen. Sie hielt den Atem an und faßte instinktiv nach ihren Brüsten, um sie zu bedecken, und ihm wurde plötzlich bewußt, wie komisch und verletzbar sie wirkte mit dem entblößten schwarzen Dreieck zwischen ihren Beinen ...
Als sie ihren Morgenmantel packte und an das offene Fenster stürzte, gelang es ihm endlich, sich von ihrem Anblick loszureißen und die Flucht zu ergreifen. Sich die Haut aufschürfend, setzte er über die niedrige Mauer, kam auf der anderen Seite fast zu Fall und war bereits in der Dunkelheit verschwunden, als die Frau nach dem Telefonhörer griff.
»Wo hab ich bloß diese Zuckerdose gelassen?« schimpfte Alice Matlock vor sich hin, während sie das unaufgeräumte Zimmer durchstöberte. Die Zuckerdose war ein Geschenk von Ethel Carstairs, zu ihrem siebenundachtzigsten Geburtstag, der drei Tage zuvor stattgefunden hatte. Und nun war die Dose verschwunden.
Alice hatte neuerdings Probleme, sich an alltägliche Kleinigkeiten wie diese zu erinnern. Angeblich hing das mit dem Älterwerden zusammen, aber wieso erinnerte sie sich dann so lebhaft an die weiter zurückliegende Vergangenheit? Warum hatte sie dann beispielsweise diesen Tag im Jahre 1916, als Arnold stolzgeschwellt in den Krieg gezogen war, so viel klarer im Gedächtnis als etwa den gestrigen Tag? Was ist gestern alles passiert? überlegte sie, um sich zu prüfen, und tatsächlich fielen ihr ein paar Einzelheiten ein. Beispielsweise war sie in einem Geschäft gewesen, hatte ihr Silber geputzt und sich im Radio ein Hörspiel angehört. Aber war das wirklich gestern gewesen und nicht vorgestern oder vielleicht sogar in der vergangenen Woche? Die Erinnerungen waren da, doch das zeitliche Band, das sie zusammenhielt wie die Perlen einer Halskette, war zerrissen. All diese Jahre, die längst vergangen waren – dieser herrliche Sommer, als die Wiesen voller Butterblumen standen (und es diese häßlichen, neumodischen Bungalows noch nicht gegeben hatte), als die Hecken noch strotzten von Bärenwurz (den sie immer »Gipsy« genannt hatte, weil ihre Mutter gesagt hatte, daß die Zigeuner sie mitnehmen würden, wenn sie die Blüten pflückte), und ihr Garten mit seinen Rosen, Chrysanthemen, den Klematisstauden und den Lupinen. Und Arnold, der dagestanden hatte, bereit zum Aufbruch. In den Knöpfen seiner Uniform hatte sich das Sonnenlicht gespiegelt und funkelnde, tanzende Flecken auf die weißgetünchten Mauern geworfen. Er hatte sich an den Türrahmen gelehnt, an eben diesen Türrahmen, den Kleidersack in der Hand und dieses kleine schiefe Grinsen im Gesicht – einem blutjungen Gesicht, so jung, daß es noch nicht einmal einen Rasierapparat gesehen hatte –, und dann war er losmarschiert, sehr gerade und würdevoll, in Richtung Bahnhof.
Er war nie zurückgekehrt. Wie unzählige andere war es ihm bestimmt gewesen, in ein fernes, fremdes Grab zu sinken. Alice wußte darum. Sie wußte genau, daß er tot war, aber hatte sie nicht trotzdem all die Jahre auf ihn gewartet? Hatte sie deshalb nie geheiratet, nicht einmal dann, als ihr dieser gutaussehende Ladenbesitzer Jack Wormald einen Antrag gemacht hatte? Auf den Knien hatte er gelegen, da unten an den Wasserfällen von Rawley Force; nasse Knie hatte er sich geholt, und es hatte ihm gar nichts ausgemacht. Aber sie hatte trotzdem nein gesagt, hatte das Haus in Ordnung gehalten, nachdem die Eltern gestorben waren, und so wenig wie möglich daran verändert.
Sie erinnerte sich vage, daß es noch einen Krieg gegeben hatte. Lebensmittelkarten, Aufrufe im Radio und Marschmusik; und in der Ferne ein Grollen und Dröhnen, das wohl von Bomben hergerührt hatte. Arnold war auch aus diesem Krieg nicht zurückgekehrt, obwohl sie ihn hatte vor sich sehen können, erneut kämpfend wie ein griechischer Gott, stark und wendig, mit ernstem Gesicht, diesem Gesicht, das nie einen Rasierapparat gesehen hatte.
Weitere Kriege folgten, jedenfalls hatte Alice davon gehört. Kleinere Kriege, weit entfernt, und in allen hatte er gekämpft, Arnold, der ewige Soldat. Irgendwo tief in ihrem Innern wußte sie, daß er nie zu ihr heimkehren würde, trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf. Ohne Hoffnung blieb ihr nichts mehr.
»Wo, um alles in der Welt, hab ich sie hingestellt?« murmelte sie vor sich hin, während sie auf den Knien lag und den Schrank unter der Spüle durchwühlte. »Sie muß doch irgendwo sein... Ich würde noch meinen Arm verlieren, wenn er nicht angewachsen wär’ ... «
Plötzlich hörte sie draußen schnelle Schritte. Ihre Augen waren nicht mehr so gut wie früher, aber auf ihr Gehör konnte sie stolz sein, und es machte ihr immer wieder Spaß, irgendwelche Verkäuferinnen oder Busfahrer zurechtzuweisen, die sich einbildeten, sie müßten brüllen, um sich verständlich zu machen. Nach den Schritten hörte sie ein leises Pochen an der Tür. Überrascht richtete sie sich langsam auf und hielt sich an der Abtropfplatte fest, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, dann schlurfte sie durch das Wohnzimmer. Es gab immer eine Chance, sie mußte nur hoffen. Und so öffnete sie die Tür.
»Alles Perverse, jedenfalls die meisten«, erklärte Detective Chief Inspector Alan Banks und stellte den Höhenregler an der Stereoanlage ein.
»Mich eingeschlossen?« erkundigte sich Sandra.
»Soweit ich weiß, ja.«
»Seit wann ist die künstlerische Präsentation des nackten menschlichen Körpers ein Zeichen für Perversion?«
»Seit die Hälfte der Fotografen nicht mal einen Film in der Kamera hat.«
»Ich schon.«
»Ich weiß, schließlich hab ich die Ergebnisse gesehen«, meinte Banks beifällig. »Wo, um alles in der Welt, treibst du bloß diese Mädchen auf?«
»Es sind überwiegend Studentinnen von der Kunstakademie.«
»Wie auch immer«, fuhr Banks fort und wandte sich wieder seinem Scotch zu, »ich bin verdammt sicher, daß dieser Jack Tattum keinen Film in der Kamera hat! Und Fred Barton kann garantiert ein Weitwinkelobjektiv nicht von einem Bügeleisen unterscheiden. Würde mich wirklich nicht wundern, wenn die beiden davon phantasieren, daß du für sie posierst – eine schöne, knackige Blondine.«
Sandra mußte lachen. »Ich? Blödsinn! Und hör endlich auf, den verknöcherten Spießer raushängen zu lassen, Alan. Das steht dir nicht. Du wirkst nicht besonders glaubhaft, wenn du dummes Zeug über Fotografie faselst und mir gleichzeitig die Ohren volldröhnst mit dieser verdammten Oper.«
»Für jemanden, der die künstlerische Darstellung des nackten menschlichen Leibes zu würdigen weiß, bist du ein ziemlicher Banause in Sachen Musik.«
»Oh, ich mag Musik. Aber dieses Gekreische macht mir Kopfschmerzen.«
»Gekreische! Gütiger Himmel, Weib – was du hier hörst, ist der erhabene Ausdruck der menschlichen Seele: Vissi d’arte, vissi d'amore ... « sang Banks, einen Sopran imitierend, der die fehlende Stimmlage durch Lautstärke wettmachte.
»Hör auf«, stöhnte Sandra gequält und griff nach ihrem Drink.
Es war immer dasselbe, wenn Alan ein neues Hobby hatte. Er widmete sich ihm mit aller Inbrunst für die Dauer von ein bis sechs Monaten, gefolgt von einer Phase der Ruhelosigkeit, bis er jedes Interesse verlor und sich für etwas Neues begeisterte. Während er weiter beteuerte, höchst interessiert zu sein – nur leider zu sehr unter Zeitdruck zu stehen –, sammelten sich die Überreste seiner Leidenschaften an. Auf diese Weise hatte sich das Haus gefüllt mit den gesammelten Werken von Charles Dickens, den Gerätschaften für die Herstellung selbstgekelterter Weine, Jazzplatten aus den zwanziger Jahren, kaum benutzten Joggingschuhen, einer ganzen Kollektion von Vogeleiern und Fachbüchern über nahezu jedes denkbare Thema – von der Geschichte der Tudors bis hin zu Anleitungen über die Installation von sanitären Anlagen.
Sein Interesse für die Oper war erwacht, nachdem er im Fernsehen eine Aufführung von Mozarts Zauberflöte gesehen hatte. Der Ablauf war immer gleich – irgendeine Sache erregte seine Neugier, und er wollte mehr darüber wissen, wobei er weder im Kopf noch in seinen Archiven einem System folgte. Unbekümmert stürzte er sich auf den jeweiligen Gegenstand seiner Neugier, ohne Rücksicht auf dessen chronologische Entwicklung. So war es auch mit seinem Opernspleen; Glucks Orpheus Schulter an Schulter mit Alban Bergs Lulu; Peter Grimes als überraschender Bettgefährte von Tosca, und Madame Butterfly teilte sich das Plattenregal mit The Rake’s Progress. Sandra liebte Musik, aber Opern machten sie einfach wahnsinnig. Brian und Tracy hatten sich auch schon beschwert, was dazu geführt hatte, daß der Fernsehapparat ins Gästezimmer unterm Dach verbannt worden war. Und hier unten stolperte Sandra bei jedem Schritt über die Schuber mit Kassetten, die Banks den Schallplattenaufnahmen vorzog, weil er sie in seinen Walkman stopfen und sich schon auf dem Weg zur Arbeit mit Purcell oder Monteverdi berieseln lassen konnte. Im Auto hörte er gewöhnlich Puccini oder auch den guten alten Josef Grün – Giuseppe Verdi.
In ihrem Wissensdurst waren sie sich jedoch sehr ähnlich, überlegte Sandra. Sie waren beide keine Akademiker oder Intellektuelle, sondern eher Autodidakten mit einem Bildungseifer, der durchaus typisch war für intelligente Vertreter der arbeitenden Klasse, die nicht den Vorzug gehabt hatten, die höhere Kultur bereits mit der Muttermilch aufzunehmen. Trotzdem wünschte sie sich, daß sich Alan endlich für ein stilleres, friedlicheres Hobby entscheiden würde, für Bienenzucht oder Briefmarkensammlungen beispielsweise.
Unterdessen hatte die Sopranistin ein Crescendo erreicht, bei dem Sandra unwillkürlich kalte Schauer über den Rücken liefen.
»Du hast das doch wohl nicht ernst gemeint, daß die Leute im Foto-Klub samt und sonders pervers sind, oder?« fragte sie.
»Es würde mich jedenfalls nicht wundern, wenn der eine oder andere mehr daraus zieht als einen rein künstlerischen Nervenkitzel, das ist alles.«
»Womöglich hast du recht«, stimmte Sandra zu. »Es gibt nämlich nicht nur weibliche Modelle, mußt du wissen. Vorige Woche hatten wir zum Beispiel einen sehr niedlichen Rasta-Knaben vor der Linse. Diese Brustmuskeln ... «
Das Telefon klingelte.
»Verdammt und zugenäht!« schimpfte Banks und beeilte sich, an den störenden Apparat zu kommen. Sandra nutzte die Unterbrechung, um die Lautstärke von Tosca erheblich zu drosseln.
»Noch so ein Exemplar, das sich ungefragt an nackten Leibern erfreut«, bemerkte Banks, als er wenige Minuten später wieder Platz nahm.
»Hat Peeping Tom wieder zugeschlagen?«
»Offenbar.«
»Du mußt doch wohl hoffentlich nicht sofort hin, oder?«
»Nein, das kann bis morgen warten. Niemand verletzt, und die Frau ist eher wütend als sonstwas. Der junge Richmond kann ihre Aussage aufnehmen.«
»Was ist denn passiert?«
»Eine Frau mit dem Namen Carol Ellis ... Sagt dir das was?«
»Nein.«
»Anscheinend kam sie gerade von einem friedlichen Abend im Pub zurück und hat sich ausgezogen, um ins Bett zu gehen, bis sie dann plötzlich gemerkt hat, daß jemand hinter dem Vorhang steht und sie durch einen Schlitz beobachtet. Als er spitzbekommen hat, daß sie ihn entdeckt hat, ist er sofort auf und davon. Das war in Leaview, dieser neuen Siedlung mit den häßlichen Bungalows, unten bei den Hütten am Galgenberg. Fabelhaft geeignet für Spanner, diese Flachbauten. Brauchen nicht mal mehr an der Regenrinne hochzukraxeln.«
Banks legte eine Pause ein, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Unser Knabe scheint sich allerdings in der Vergangenheit etwas mehr Mühe gemacht zu haben. Beim letzten Mal war’s immerhin eine zweigeschossige Maisonettewohnung.«
»Man bekommt eine Gänsehaut«, meinte Sandra und legte die Arme um sich, »bei dem Gedanken, sich allein zu glauben und beobachtet zu werden.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, bestätigte Banks. »Was mich aber im Moment weit mehr beschäftigt, ist der Gedanke an diese verdammten Feministinnen, die jetzt wieder über uns herfallen werden. Die scheinen wirklich zu glauben, daß wir diese Vorgänge insgeheim billigen und uns überhaupt keine Mühe geben, den Knaben zu erwischen. Diese Damen halten alle Männer für verkappte Vergewaltiger und sind fest davon überzeugt, daß wir in Jack the Ripper unseren heimlichen Helden sehen. Außerdem meinen sie natürlich, daß wir die Wände auf dem Revier mit Pin-up-Fotos tapeziert haben.«
»Habt ihr auch. Ich hab sie selbst gesehen. Vielleicht nicht ausgerechnet in deinem Büro, aber unten im Erdgeschoß.«
»Ich spreche von Pin-ups mit Jack the Ripper.«
Sandra lachte. »Das wäre allerdings ein starkes Stück, da hast du recht.«
»Kannst du dir eigentlich vorstellen, wie schwer es ist, einen Spanner zu erwischen?« fragte Banks. »Alles, was diese Ferkel tun, ist, sich die Augen auszugucken und dann wieder im Dunkeln zu verschwinden. Keine Fingerabdrücke, keine Patronenhülsen – nichts. Wir können nur darauf hoffen, ihn auf frischer Tat zu ertappen, und zu diesem Zweck haben wir seit Wochen Sondertruppen abgestellt, weibliche und männliche Beamten, die das Gelände durchkämmen, in dem der Bursche vermutlich sein Unwesen treibt. Ohne Ergebnis bisher. Aber wo wir gerade von nackten Körpern reden«, sagte Banks und streckte die Hände nach ihr aus, »das bringt mich auf Gedanken. Wie wär’s, wenn wir zu Bett gingen?«
»Tut mir leid«, antwortete Sandra und schaltete das Stereogerät aus. »Heute nicht, Liebling, ich hab Kopfschmerzen.«
»Und wo, zum Teufel, hast du dich die ganze Nacht rumgetrieben?« fuhr Graham Sharp seinen Sohn quer über den Frühstückstisch an.
Trevor schaute mißmutig in seine Cornflakes. »Ich war aus.«
»Das hab ich gemerkt, verdammt. Garantiert mit diesem Nichtsnutz von Mick Webster, wie?«
»Na und? Ist doch meine Sache, mit wem ich mich abgebe.«
»Der Kerl taugt nichts, Trevor. Total verkommen, genau wie sein Bruder und sein Vater.«
»Mike ist in Ordnung.«
»Glaubst du, ich hab dich all die Jahre großgezogen, mit meinen eigenen Händen, damit du mit diesem Gesocks rumhängst und auf die schiefe Bahn kommst?«
»Wenn du dich nicht immer wie so’n verdammter kleiner Hitler aufführen würdest, wär meine Mum bestimmt nicht fortgelaufen.«
»Halt dich da raus«, antwortete Graham leise. »Du hast keine Ahnung davon, schließlich warst du damals noch klein. Ich will ja nur dein Bestes«, fuhr er bittend fort. »Sieh mal, ich hab’s nicht besonders weit gebracht, dazu hatt’ ich keine Gelegenheit. Aber du bist ein intelligenter Bursche, und wenn du hart an dir arbeitest, kannst du an die Uni gehen, damit du eine bessere Ausbildung bekommst.«
»Wozu? Gibt ja doch keine Jobs hinterher.«
»Das geht vorüber, Trevor. Ich weiß, wir haben schlechte Zeiten im Moment, das brauchst du mir nicht zu sagen. Aber du mußt in die Zukunft sehen. In fünf oder sechs Jahren hast du vielleicht dein Diplom gemacht, und bis dahin kann sich viel geändert haben. Und inzwischen brauchst du nichts weiter zu tun, als ein bißchen häuslicher zu werden und zu lernen. Das ist dir doch immer leicht gefallen, und du weißt, daß du’s schaffen kannst.«
»Lernen ist langweilig.«
»Schau dir Mike an«, fuhr Graham zunehmend gereizt und mit lauter werdender Stimme fort. »Seit einem Jahr aus der Schule und geht immer noch stempeln. Haust in ’ner Bruchbude mit diesem Faulenzer von Bruder, der Vater ist auf und davon und die Mutter ständig auf der Rolle, statt sich um ihn zu kümmern.«
»Lenny ist kein Faulenzer. Er hat einen Job gehabt, in London, bis man ihn wegrationalisiert hat. Das ist alles, es war jedenfalls nicht seine Schuld.«
»Wir wollen nicht streiten, Trevor. Ich möchte nur, daß du nicht so oft ausgehst und dich mehr mit deinen Schulaufgaben beschäftigst. Ich hab wahrscheinlich nicht viel gemacht aus meinem Leben, aber du kannst es – und du wirst es auch, verdammt noch mal, und wenn es mich den letzten Nerv kostet!«
Trevor stand auf und griff seine Schultasche. »Muß mich beeilen«, sagte er. »Du willst doch nicht, daß ich zu spät zum Unterricht komme, oder?«
Krachend fiel die Tür hinter ihm ins Schloß. Graham Sharp legte den Kopf in die Hände und seufzte. Trevor war in einem schwierigen Alter, das wußte er – schließlich war er selbst mit fünfzehn Jahren ein ziemlicher Lauser gewesen –, trotzdem hätte er ihm gerne klargemacht, wieviel er zu verlieren hatte. Die Zeiten waren ohnehin schon hart genug heutzutage, da mußte man sich das Leben nicht noch zusätzlich schwermachen. Nachdem Maureen vor zehn Jahren gegangen war, hatte er sich ganz der Erziehung ihres einzigen Kindes gewidmet. Mit etwas mehr Geld hätte er Trevor in ein besseres Internat geschickt, aber so war er gezwungen gewesen, ihn auf der örtlichen Gesamtschule unterzubringen, wo sich der Junge, trotz aller Hindernisse, immer sehr gut gemacht hatte. Klassenbester und regelmäßig Preise bei den jährlichen Schulfeiern – bis vor einem Jahr, als er anfing, mit Mick Webster herumzuziehen.
Mit leicht zitternden Händen räumte er das Frühstücksgeschirr ab und trug es zum Spülstein. Es war bald Zeit, den Laden aufzumachen. Immerhin konnte er inzwischen etwas länger schlafen, seit er die Morgenzeitungen aufgegeben hatte. Früher, als Maureen noch da gewesen war, hatte er immer um sechs Uhr aufstehen müssen und hatte das auch beibehalten, solange es ging. Aber heute konnte er es sich nicht mehr leisten, eine ganze Mannschaft von Zeitungsausträgern zu beschäftigen oder eine Verkaufshilfe zu bezahlen, um sich anderen Geschäften widmen zu können. Wie die Dinge lagen, blieb ihm nichts anderes übrig, als alles allein zu machen – die Bestellungen, die Buchhaltung, das Überprüfen der Lagerbestände, das Auffüllen der Regale – und es trotzdem noch zu schaffen – jedenfalls meistens –, die Kunden mit einem Lächeln und einem freundlichen Hallo zu begrüßen.
Seine eigentliche Sorge war Trevor, weil er nicht wußte, ob der Junge die Dinge richtig anpackte oder nicht. Er wußte nur, daß er selbst dazu neigte, ein bißchen aufbrausend zu sein und zu viel an dem Bengel herumzunörgeln. Vielleicht war es besser, ihn in Frieden zu lassen und abzuwarten, bis er die Flegeljahre hinter sich hatte. Aber vielleicht war es auch dann schon zu spät.
Graham stapelte das Geschirr im Spülbecken, warf einen Blick auf die Uhr und ging nach vorn zum Laden. Noch fünf Minuten. Er drehte das Türschild auf »geöffnet« und sperrte auf. Ted Croft, der alte Griesgram, stand bereits vor der Tür, zählte seine Pennies und scharrte ungeduldig mit den Füßen in Erwartung seiner Wochenration Tabak. Ein schlechter Anfang für diesen Tag.
Schweren Herzens schaltete Banks seinen Walkman aus – mitten in Didos ergreifender Todesarie – und betrat die Polizeiwache, einen Bau mit Tudor-Fassade, zentral gelegen an der Einmündung der Market Street in den mit Kopfstein gepflasterten Marktplatz. Er begrüßte Sergeant Rowe am Empfang mit einem freundlichen »Guten Tag« und ging die Treppe hoch zu seinem Büro.
Im Gegensatz zu der historischen Fassade mit den weißgetünchten Mauern und den schwarzgebeizten Holzbalken war das Innere des Gebäudes modern und funktional gestaltet. Zum Beispiel hatte man Banks Büro mit einer bedienungsunfreundlichen Stabjalousie ausgestattet und einem grauen Stahlmöbel von Schreibtisch, dessen Schubladen bei jeder Bewegung laut ratterten. Der einzige Anflug von »human touch« bestand in einem Wandkalender mit Bildern der Umgebung. Die Illustration für den Monat Oktober zeigte einen Flußabschnitt des Wharfe, in der Nähe von Grassington, mit buntbelaubten Bäumen zu beiden Seiten des Ufers. Ein bemerkenswerter Kontrast zum wirklichen Herbst, der in diesem Oktober nur mit Regen, mit kalten Winden und einem ewig grauen Himmel aufgewartet hatte.
Auf dem Schreibtisch lag eine Notiz von Superintendent Gristhorpe: Alan – kommen Sie bitte in mein Büro, sobald Sie hier sind – G.
Nachdem er sich vorsorglich seines Walkmans entledigt und ihn in der Schreibtischschublade verstaut hatte, ging Banks über den Korridor zum Büro des Superintendent und klopfte an die Tür.
»Herein«, rief Gristhorpe, und Banks folgte seiner Aufforderung.
Gristhorpes Büro wirkte eher luxuriös – Teakholzschreibtisch, Bücherregale, gedämpftes Licht aus Schirmlampen –, doch der größte Teil der Ausstattung stammte von ihm selbst und hatte sich über die Jahre hinweg hier angesammelt.
»Ah – guten Morgen, Alan«, begrüßte ihn der Superintendent. »Darf ich Sie mit Dr. Fuller bekannt machen?« Er deutete auf die Frau, die ihm gegenübersaß und sich im gleichen Moment erhob, um Banks die Hand zu reichen. Sie hatte eine üppige Mähne roter Locken, strahlende grüne Augen, umgeben von winzigen Lachfalten, und einen vollen, sinnlichen Mund. Sie trug eine türkisfarbene Bluse – eine Kreuzung zwischen Zwangsjacke und Zahnarztkittel – zu rostfarbenen, eng zulaufenden Kordsamthosen, die kurz über ihren wohlgeformten Knöcheln endeten. Alles in allem war diese Frau Doktor eine echte Attraktion, fand Banks.
»Inspector Banks – nennen Sie mich einfach Jenny«, bat Dr. Fuller, während sie langsam seine Hand losließ.
»Jenny heißen Sie also«, lächelte Banks und fingerte nach einer Zigarette. »Nun – dann bin ich wohl Alan.«
»Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben.« Er meinte, ein spöttisches Funkeln in ihren Augen zu entdecken.
»Keineswegs – es ist mir ein Vergnügen«, erklärte er, ihren Blick erwidernd. Dann steckte er die Zigaretten wieder ein, weil ihm eingefallen war, daß Gristhorpe unlängst ein Rauchverbot in seinen Räumen verhängt hatte.
»Dr. Fuller lehrt an der Universität von York«, erläuterte Gristhorpe, »wohnt aber hier in Eastvale. Ihr Fachgebiet ist die Psychologie, und ich habe sie um ihre Unterstützung gebeten bei unserem Fall mit ›Peeping Tom‹. Dr. Fuller – vielmehr Jenny«, fuhr er mit einem charmanten Lächeln in ihre Richtung fort, »wurde mir von einem alten und sehr geschätzten Freund aus dem Ministerium empfohlen. Wir hoffen sehr, daß sie uns dabei helfen wird, ein Persönlichkeitsprofil des Täters zu erstellen.«
Banks nickte beifällig. »Das wird unsere bisherigen Informationen sicherlich bereichern. Wie kann ich dabei helfen?«
»Ich würde nur gerne mit Ihnen ein paar Details über die Vorfälle durchgehen«, sagte Jenny, von dem Notizblock in ihrem Schoß zu ihm hochblickend. »Es waren bisher drei, wenn ich richtig informiert bin?«
»Vier inzwischen, wenn wir den von letzter Nacht mitrechnen. Eine Blondine, wie gehabt.«
Jenny nickte und korrigierte ihre Aufzeichnungen.
»Vielleicht könnten Sie beide einen Termin ausmachen, an dem Sie das besprechen wollen«, schlug Gristhorpe vor.
»Wie wär’s mit gleich?« erkundigte sich Banks.
»Tut mir leid«, meinte Jenny. »Ich fürchte, das wird ein wenig länger dauern, und ich habe Vorlesung in einer Stunde. Was halten Sie von heute Abend? Ich will natürlich nicht über Ihre freie Zeit verfügen ... «
Banks überlegte rasch. Heute war Dienstag; Sandra würde in ihrem Foto-Klub sein, und die Kinder, die jetzt schon ohne Babysitter auskamen, würden zweifellos begeistert sein, einen opernfreien Abend zu haben. »In Ordnung«, stimmte er zu. »Sagen wir, um sieben im Queen's Arms hier gegenüber. Paßt Ihnen das?«
Jennys Lachfalten um die Augen kräuselten sich und gaben ihr ein höchst vergnügtes Aussehen. »Warum nicht? Schließlich handelt es sich um ein rein inoffizielles Gespräch. Ich möchte mir nur ein Bild machen können von dem psychologischen Typus.«
»Dann also bis heute Abend«, sagte Banks.
Jenny griff nach ihrer Aktentasche, und er hielt ihr die Tür auf, während Gristhorpe ihn mit einem Blick wissen ließ, daß er ihm noch etwas zu sagen hatte. Nachdem Jenny gegangen war, ließ sich Banks wieder in seinem Sessel nieder, und Gristhorpe ließ seine Sekretärin kommen, um Kaffee zu bestellen.
»Gute Frau«, meinte Gristhorpe und rieb sich das rote, pockennarbige Gesicht mit seiner dichtbehaarten Hand. »Ich habe Ted Simpson gesagt, er soll mir eine echte Klassefrau aussuchen für den Job, und ich finde, er hat seine Sache gut gemacht, oder nicht?«
»Das wird sich noch herausstellen«, erwiderte Banks. »Aber sie läßt sich in der Tat recht vielversprechend an ... Sie haben also eine Frau haben wollen. Warum? Hat Mrs. Hawkins aufgehört, Sie zu bekochen und Ihr Haus zu putzen?«
»Nein, nein«, lachte Gristhorpe. »Sie backt mir immer noch frischen Kuchen und hält alles in Ordnung. Nein – ich bin nicht hinter einer neuen Ehefrau her. Meine Motive sind rein politisch.«
Banks verstand recht gut, was Gristhorpe damit meinte, zog es aber vor, den Dummen zu spielen. »Politisch?«
»Ja – politisch, diplomatisch, taktisch, wie immer Sie wollen. Sie wissen, was das heißt. Es ist mein Job, jedenfalls der größte Teil davon. Und meine schlimmste Nervensäge. Die Feministinnen sitzen uns im Nacken und behaupten, wir kümmern uns nicht um die Sache, weil nur Frauen davon betroffen sind. Und wenn sie jetzt feststellen, daß wir mit einer offenkundig fähigen und erfolgreichen Frau zusammenarbeiten, werden ihnen wohl die Argumente ausgehen, meinen Sie nicht?«
Banks lächelte in sich hinein. »Ich verstehe, was Sie meinen. Und wie sollen die Damen erfahren, daß wir Jenny Fuller zu Rate gezogen haben? Das ist wohl kaum der richtige Stoff für Schlagzeilen.«
Gristhorpe legte den Finger an seine Hakennase. »Jenny Fuller hat Kontakte zu den hiesigen Feministinnen und wird über alles, was hier vorgeht, Bericht erstatten.«
»Ist das denn in Ordnung?« grinste Banks. »Und ich soll also mit ihr zusammenarbeiten? Dann werd’ ich wohl besser ein bißchen auf der Hut sein, wie?«
»Das dürfte Ihnen wohl nicht schwerfallen, oder?« bemerkte Gristhorpe und blickte unschuldsvoll wie ein neugeborenes Kind aus seinen blauen Augen. »Schließlich haben wir doch nichts zu verbergen, stimmt’s? Wir wissen, daß wir immer unser Bestes tun, auch in diesem Fall, und ich will nur erreichen, daß auch andere das wissen, das ist alles. Abgesehen davon können solche Persönlichkeitsprofile in Fällen wie diesen sehr nützlich sein. Sie helfen uns dabei, bestimmte Muster aufzudecken, damit wir besser wissen, wonach wir suchen müssen. Und unserer Jenny wird wohl nicht viel entgehen, wie? Ein echtes Prunkstück für die Polizei, meinen Sie nicht auch?«
»Ohne Zweifel.«
»Nun denn«, lächelte Gristhorpe und klatschte mit den Händen auf seinen Schreibtisch. »Keine Probleme also. Was tut sich eigentlich bei diesen Einbrüchen?«
»Das ist eine ziemlich merkwürdige Sache. Auch hier haben wir drei Vorfälle binnen eines Monats, allesamt bei älteren Frauen, die allein zu Hause waren. In einem Fall hat’s sogar einen gebrochenen Arm gegeben, aber wir sind bisher nicht viel weiter gekommen als bei unserem Voyeur. Immerhin müssen wir uns nicht von irgendwelchen Seniorengruppen beschimpfen lassen, daß wir angeblich nichts tun, weil nur alte Leute betroffen sind.«
»So sind nun mal die Zeiten, Alan«, meinte Gristhorpe. »Und Sie werden zugeben müssen, daß die Feministinnen durchaus Grund zur Klage haben, wenn auch nicht gerade in unserem Fall.«
»Ich weiß, aber es irritiert mich trotzdem, in aller Öffentlichkeit kritisiert zu werden, obwohl ich mein Möglichstes tue.«
»Nun, dann haben Sie ja jetzt die Möglichkeit, diesen Eindruck zu korrigieren. Was ist übrigens mit diesem Hehler aus Leeds? Meinen Sie, er könnte uns bei diesen Einbrüchen weiterhelfen?«
»Möglicherweise«, meinte Banks achselzuckend. »Kommt drauf an, wie gut Mister Crutchleys Gedächtnis ist. Das hängt von verschiedenen Voraussetzungen ab.«
»Zum Beispiel von dem Grad des Drucks, den Sie ausüben, ich verstehe. Aber ich könnte mir vorstellen, daß Joe Barnshaw da schon einige Vorarbeit geleistet hat. Er ist ein guter Mann. Warum wollen Sie die Sache nicht ihm überlassen, statt sich selbst damit zu belasten?«
»Es ist immerhin unser Fall. Ich will selbst mit Crutchley sprechen, auf diese Weise brauch’ ich niemandem Vorwürfe zu machen, wenn etwas schiefläuft. Und vielleicht klingelt’s ja irgendwo bei mir, wenn er seine Aussage macht. Ich werde Inspector Barnshaw bitten, ihm die Bilder erst später zu zeigen und einen Zeichner mitzunehmen, falls seine Beschreibung etwas hergibt.«
Gristhorpe nickte. »Klingt vernünftig. Nehmen Sie Sergeant Hatchley mit?«
»Nein, ich mache das allein und setze ihn auf unseren Voyeur an, bis ich wieder zurück bin.«
»Halten Sie das für sinnvoll?«
»Nun, er wird wohl kaum viel Schaden anrichten für die Dauer eines Nachmittags, nicht wahr? Und wenn doch, dann haben die Feministinnen wenigstens eine passende Zielscheibe für ihre Anwürfe.«
Gristhorpe lachte. »Schämen Sie sich, Alan! Ihren armen Sergeant einfach den Wölfen vorzuwerfen ...«
Es regnete in Strömen. Schützend hielt sich Hatchley eine Ausgabe der Sun über den Kopf, während er mit Banks über die Market Street zum Golden Grill spurtete. Obwohl die Straße ziemlich schmal war, war das Pin-up des Tages auf Seite drei völlig durchnäßt, als sie ankamen. Nachdem sie sich an einem Fensterplatz niedergelassen hatten, starrten sie schweigend durch die regennassen Scheiben auf die verschwommenen Fassaden der gegenüberliegenden Geschäfte und warteten, bis die Bedienung – ein junges und ziemlich kleines Mädchen in einem rotgewürfelten Kleid – beflissen das beim Hereinkommen bestellte Teegebäck und den Kaffee servierte.
Die Beziehung zwischen dem Inspector und seinem Sergeant hatte sich in den sechs Monaten, die Banks nun in Eastvale war, langsam, aber stetig verändert. Zu Anfang hatte Hatchley ihn als Eindringling empfunden, zumal Banks aus der Großstadt kam und den Posten besetzte, auf den er selbst sich Hoffnungen gemacht hatte. Doch im Laufe der Zusammenarbeit hatte der Provinzler Hatchley den Scharfsinn des Inspectors zu schätzen gelernt (wenn auch widerstrebend und mürrisch, weil ein Mann aus Yorkshire seine Hochachtung typischerweise hinter einem gewissen Sarkasmus und einem möglichst groben Benehmen verbirgt). Außerdem hatte er Banks’ Bemühungen, sich den örtlichen Gegebenheiten anzupassen, zu würdigen gewußt.
Dieser Anpassungsprozeß vor allem hatte anfangs die größten Heiterkeitserfolge ausgelöst. Banks hatte sich hyperaktiv in die Arbeit gestürzt, kettenrauchend (das härteste Kraut von Capstan Full) und den Adrenalinumsatz auf Hochtouren, wie er es von London her gewöhnt war. Doch im Lauf der Monate hatte er sich allmählich auf die langsamere Gangart in Yorkshire eingestellt. Nach außen hin wirkte er inzwischen ganz ruhig und entspannt, was Hatchley jedoch nicht darüber hinwegtäuschen konnte, daß er innerlich ständig unter Strom stand, seine Energie mühevoll zügelte und kanalisierte und nur manchmal in seinen dunklen Augen aufblitzen ließ. Er hatte immer noch seine Launen und neigte dazu, finster vor sich hin zu brüten, wenn er frustriert war. Aber das war eher ein gutes Zeichen, denn es führte zu Ergebnissen. Außerdem hatte er sich auf leichte Zigaretten umgestellt und rauchte nur noch mäßig.
Alles in allem fühlte sich Hatchley inzwischen weitaus wohler mit ihm, trotz der deutlichen Verschiedenheiten ihres Temperaments, wußte seine zupackende Art zu schätzen und die typisch nordenglische Ungezwungenheit im Umgang. Offensichtlich gab es wohl doch keinen so großen Unterschied zwischen einem Nordengländer und einem im Süden beheimateten Angehörigen der werktätigen Klasse. Wenn er also jetzt seinen Boß mit einem »Sir« ansprach, ließ sein Tonfall keinen Zweifel daran, ob er gerade befremdet oder verärgert war, und Banks hatte gelernt, diesen ironischen Unterton richtig zu deuten.
Darüber hinaus hatte er gelernt, die Vorurteile seines Sergeant hinzunehmen – wenn auch nicht zu billigen –, seine Hartnäckigkeit zu schätzen und die Selbstverständlichkeit, mit der er bei Bedarf einen verstockten Verdächtigen mit handfesten Drohungen zum Reden bringen konnte. Banks Methoden, jemanden unter Druck zu setzen, waren eher mentaler und subtiler Art, aber mitunter reagierten die Verdächtigen besser auf Hatchleys direkten Angang und den schroffen Ton seiner Stimme. Obwohl es bei den Vernehmungen nie zu Tätlichkeiten kam, konnte er die Kriminellen ohne weiteres glauben machen, daß die Tage der Behandlung mit dem Gummischlauch noch nicht vorüber waren. Tatsächlich ergänzten sie sich aufs Beste bei den Verhören. Besonders verwirrend war es für die Verdächtigen, wenn das große und kräftige Rauhbein Hatchley plötzlich milde und onkelhaft wurde und stattdessen Banks – der kaum groß genug war, um einen anständigen Polizisten abzugeben – die Stimme erhob.
»Hol’s der Teufel, ich kann einfach nicht begreifen, warum ich so viel Zeit mit einem Irren vertrödeln soll, der nichts weiter tut, als sich ein paar flotte Höschen anzugucken«, meinte Hatchley, nachdem sie sich beide eine Zigarette angezündet hatten und an ihrem Kaffee nippten.
Banks seufzte und fragte sich zum wiederholten Mal, wie es möglich war, daß er sich als gemäßigter Sozialist in Hatchleys Gegenwart immer wie ein Scheißliberaler vorkam.
»Weil die Damen es eben nicht gern haben, wenn man sie anguckt«, meinte er knapp.
Hatchley grunzte nur. »Wenn Sie gesehen hätten, was diese Carol Ellis neulich am Samstag Abend im Oak anhatte, würden Sie das nicht sagen.«
»Das ist ihre Sache, Sergeant, und ich darf doch wohl annehmen, daß sie zumindest das Allernotwendigste anhatte. Andernfalls wäre es Ihre Pflicht gewesen, sie wegen Unzucht in der Öffentlichkeit hinter Schloß und Riegel zu stecken.«
»Wie auch immer, was hat das mit Unzucht zu tun?« verteidigte sich Hatchley.
»Jeder hat das Recht auf seine Intimsphäre, und unser Spanner verletzt dieses Recht«, argumentierte Banks. »Damit übertritt er das Gesetz, und wir werden dafür bezahlt, über die Einhaltung der Gesetze zu wachen. So einfach ist das.« Tatsächlich war die Sache alles andere als einfach, wie er wußte, aber er hatte weder die nötige Geduld noch das drängende Bedürfnis, mit seinem Sergeant über die gesellschaftliche Rolle der Polizei zu diskutieren.
»Aber es ist doch nicht so, daß er gefährlich wäre.«
»Für seine Opfer ist er das wohl. Ein Verbrechen muß nicht unbedingt in körperliche Gewalt ausarten. Wo Sie gerade das Oak erwähnt haben – kommt die Frau öfter in das Lokal?«
»Hab sie schon ein paar Mal da gesehen. Ist meine Stammpinte.«
»Was meinen Sie – ob unser Mann sie vielleicht auch dort gesehen hat und ihr dann bis zu ihr nach Hause gefolgt ist? Wenn sie sich wirklich so anzieht, wie Sie das beschreiben, hat es ihn möglicherweise in Stimmung gebracht, sie zu beobachten.«
»Mich auch«, bekannte Hatchley freimütig, »aber ich bin nicht der Typ, der hinter Vorhängen lauert. Ja, vielleicht haben Sie recht. Obwohl – wenn ich mich recht erinnere, war es doch ein Montag.«
»Und?«
»Nun, meiner Erfahrung nach, machen sich die Damen montags nicht so fein wie am Wochenende. Schließlich müssen sie am nächsten Tag wieder arbeiten, verstehen Sie, und da kann man sich nicht die ganze Nacht um die Ohren schlagen ... «
»In Ordnung«, sagte Banks und hob abwehrend die Hand, »ein Punkt für Sie. Was ist mit den anderen?«
»Was soll mit ihnen sein?«
»Nun, Carol Ellis ist immerhin die vierte. Vor ihr gab es noch drei andere Opfer. Hat eine der Damen vielleicht im Oak verkehrt?«
»Ich erinnere mich nicht. Außer daran, Josie Campbell einige Male dort gesehen zu haben. Gehörte sie nicht auch dazu?«
»Ja, sie war der zweite Fall. Wissen Sie was – gehen Sie noch einmal die Aussagen durch, und stellen Sie fest, ob eine der übrigen Damen regelmäßig ins Oak gegangen ist. Sprechen Sie mit den Frauen, bringen Sie ihr Gedächtnis auf Trab, und finden Sie heraus, ob sich ein bestimmtes Muster abzeichnet. Sie müssen ja nicht unbedingt direkt vor diesen Zwischenfällen in dem Lokal gewesen sein. Stellen Sie fest, wo die Damen ansonsten verkehren und wo sie waren, bevor sie ... «
» ... sich haben spannen lassen?« schlug Hatchley vor.
»Ja, wenn Sie so wollen«, lachte Banks freudlos. »Seltsam, es gibt eigentlich gar kein passendes Wort dafür, stimmt’s?«
»Wo wir gerade von Spannern reden – ich hab vorhin ’ne umwerfende Mieze aus Gristhorpes Büro rauskommen sehen. Ist der Alte neuerdings auch einer von diesen Lustmolchen?«
»Das war Dr. Jenny Fuller«, teilte ihm Banks mit. »Sie ist Psychologin, und ich werde mit ihr zusammen ein Persönlichkeitsprofil unseres Täters erarbeiten.«
»Sie Glückspilz. Hoffentlich dauert’s ’ne Weile, bis die Lady was rausfindet.«
»Sie haben eine schmutzige Phantasie, Sergeant. Sehen Sie zu, daß Sie zu Mittag im Oak sind. Sprechen Sie mit den Leuten an der Bar, und finden Sie heraus, ob sich einer der Gäste ein bißchen zu eifrig mit Carol Ellis beschäftigt oder sie heimlich beobachtet hat. Oder ob sonstwas ungewöhnlich war, die übliche Routine halt, Sie wissen ja. Wenn das Personal abends wechselt, gehen Sie eben heute Abend noch mal hin und sprechen mit den Leuten, die gestern bedient haben. Außerdem sollten Sie sich auch noch einmal mit Carol Ellis unterhalten, solange ihre Eindrücke noch frisch sind.«
»Ist das ein dienstlicher Auftrag, Sir?«
»Sicher.«
»Auch der Besuch im Oak?«
»Wie ich schon sagte – ja.«
Hatchleys Miene verzog sich zu einem breiten Grinsen, wie bei einem Kind, das einen Penny verloren hat und ein ganzes Pfund findet. »Wenn das so ist, werd’ ich mal sehen, was ich tun kann«, erklärte er und war bereits verschwunden. Macht nichts, dachte Banks, während er seinen Kaffee austrank und einer Frau zusah, die auf der Türschwelle mit einem transparenten Regenschirm kämpfte. Es war immerhin schon elf. Die Pubs machten auf.
Mühsam schleppte sich der Verkehr über die A 1 nach Leeds, und Banks bedauerte bereits, daß er nicht auf die ruhigeren, landschaftlich schöneren Nebenstraßen über Ripon und Harrogate ausgewichen oder noch weiter westlich gefahren war, via Grassington, Skipton und Ilkley. In diesen Tälern schien es immer Hunderte von Wegen zu geben, die von A nach B führten, nur keine direkten Strecken. Insofern war die A 1 im Allgemeinen die schnellste Verbindung nach Leeds, falls der Großbauer im Norden von Wetherby nicht gerade seine Sonderrechte geltend machte und das Rotlicht anschaltete, um seine Kühe über die Autobahn zu treiben.
Als ob der Regen nicht bereits schlimm genug gewesen wäre, spritzten die vorausfahrenden Lastzüge ihre matschigen Fontänen hoch – überwiegend Transkontinental-Transporter aus Newcastle oder Edinburgh, die nach Lille, Rotterdam, Mailand oder Barcelona unterwegs waren. Immerhin war es im Wagen warm und trocken, und Rigoletto war ein angenehmer Reisegefährte.
Am Autobahnkreuz Wetherby schwenkte er auf die A 58, ließ die meisten Laster hinter sich und fuhr über Collingham, Bardsey und Scarcroft nach Leeds, durchquerte die Stadt in Richtung Roundhay und Harehills und erreichte Chapeltown etwa auf der Hälfte der Arie »La Donna è mobile«.
Die Gegend sah trostlos aus, ein Eindruck, der durch wolkenverhangenen Himmel und die sich aus ihm ergießenden Ströme schmutzigen Regens noch verstärkt wurde. Inmitten der gesichtslosen Neubauten standen ein paar wenige alte Häuser und klammerten sich an die roten Backsteinhaufen wie die letzten standhaften Zähne in einer leeren, fauligen Mundhöhle. Graue Schatten in Regenmänteln schoben mit verbissener Miene Kinder- und Einkaufswagen über die Bürgersteige, als suchten sie vergebens nach Läden oder einem Zuhause, das es nicht gab. Das war die Chapeltown Road, das »Ripper«-Territorium, Schauplatz der Rassenunruhen von 1981.
Crutchleys Geschäft lag direkt neben einem mit Brettern vernagelten Laden, dessen verblaßtes Firmenschild darauf hindeutete, daß hier einst Lebensmittel verkauft worden waren. Der Hausanstrich blätterte, und das Angebot hinter den vergitterten Schaufenstern war mit einer dicken Staubschicht bedeckt: Röhren von alten Radios; eine Klarinette, die auf dem zerschlissenen roten Samt ihres Etuis ruhte; eine viersaitige Gitarre; ein Seitengewehr mit einer Scheide für das Bajonett und einem in den Griff eingelassenen schwarzen Hakenkreuz; angeschlagene Zierteller mit handgemalten Ansichten von Weymouth und Lime Regis; eine Fahrradpumpe; verstreute Häufchen von Perlen und billigen Ringen.
Nach anfänglichem Widerstreben schwang die Ladentür auf und löste ein lautes Klingeln aus, als Banks eintrat und ihm eine Geruchswolke entgegenschlug – eine Mischung aus Schimmel, Möbelpolitur und faulen Eiern –, die ihm fast den Atem nahm. Unterdessen näherte sich aus dem hinteren Teil des Ladens ein leicht buckliger Mann mit verschlagenem Gesichtsausdruck. Er trug einen abgewetzten Pullover und Wollhandschuhe mit abgeschnittenen Fingerkuppen. Nachdem er Banks mißtrauisch beäugt hatte, gab er ein »Kann ich Ihnen helfen?« von sich, das sich eher nach einem »Muß ich Ihnen etwa helfen?« anhörte.
»Mister Crutchley?« Banks zeigte seinen Ausweis und erwähnte Inspector Barnshaw, der ihn auf diese Fährte gebracht hatte, worauf sich Crutchley augenblicklich von einem knarzigen Mister Krook in Uriah Heep verwandelte.
»Sehr wohl, Sir, stets zu Diensten«, winselte er und rieb sich die Hände. »Wissen Sie, ich tue wirklich alles, um das Geschäft sauber zu halten, aber«, fügte er mit einem Achselzucken hinzu, »das ist nicht leicht in dieser Gegend. Und schließlich kann ich ja nicht jedes einzelne Teil überprüfen, das mir die Leute ins Geschäft tragen.«
»Natürlich nicht«, stimmte ihm Banks wohlwollend zu, wischte eine Lage Staub vom Ladentisch und lehnte sich dagegen. »Soweit ich von Inspector Barnshaw weiß, denkt er daran, diesmal ein Auge zuzudrücken. Er hat mich gebeten, ihm in dieser Angelegenheit einen Rat zu geben. Wir wissen beide, daß die Geschäfte nicht leicht sind in Ihrer Branche, aber Inspector Barnshaw hat gemeint, daß Sie mir vielleicht trotzdem helfen könnten.«
»Selbstverständlich, Sir. Was immer Sie wünschen ... «
»Wir glauben, daß der Schmuck, den der Constable in Ihrer Auslage gesehen hat, einer alten Dame aus Eastvale gestohlen wurde. Es wäre also hilfreich für uns – und für Sie –, wenn Sie mir die Person beschreiben könnten, die Ihnen die Stücke angeboten hat.«
Crutchley zerfurchte sein Gesicht in angestrengten Denkfalten. Kein besonders angenehmer Anblick, fand Banks, wandte sich ab und betrachtete angelegentlich die ausgestopften Vögel, den zu einem Schirmständer umfunktionierten Elefantenfuß, die kitschigen Drucke aus der viktorianischen Ära und den übrigen Plunder. »Mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher, Sir. Ich werd’ auch nicht jünger ... «
»Sicher, das werden wir alle nicht, oder?« lächelte Banks. »Inspector Barnshaw hat auch gemeint, es wäre eine himmelschreiende Schande, wenn Sie dafür Ihre Zeit absitzen müßten, in Ihrem Alter und wo es doch gar nicht Ihre Schuld ist.«
Crutchley schleuderte Banks einen spitzen, bösen Blick zu und fuhr fort, sein schwindendes Gedächtnis zu sondieren.
»Er war ziemlich jung«, erklärte er schließlich. »Daran kann ich mich genau erinnern.«
»Wie jung etwa, was würden Sie sagen?« erkundigte sich Banks und zückte sein Notizbuch. »Zwanzig, dreißig ...?«
»Anfang Zwanzig, schätze ich. Mit ’nem kleinen Schnurrbart.« Er deutete auf die etwa vier Tage alten Bartstoppeln über seiner Oberlippe. »So ein dünnes Ding. Bis knapp zum Mundwinkel. So ungefähr«, fügte er hinzu und markierte mit einem schmierigen Finger die angegebenen Konturen.
»Sehr gut«, meinte Banks ermutigend. »Und sein Haar? War es schwarz, rot, braun oder blond? Lang oder kurz?«
»So ’ne Art Mittelding. Nicht richtig braun, aber blond würd’ ich eigentlich auch nicht sagen. Verstehen Sie, was ich meine?«
Banks schüttelte den Kopf.
»Man könnte vielleicht sagen, ’s war ’n helles Braun, ’n sehr helles.«
»Hatte der Schnurrbart dieselbe Farbe?«
Er nickte. »Ja, ziemlich blaß.«
»Und welche Länge hatten die Haare?«
»Das weiß ich noch – sie waren kurz und glatt nach hinten gekämmt.« Er bürstete sich mit der Hand das schüttere Stirnhaar zurück.
»Irgendwelche Narben oder Male?«
Crutchley schüttelte den Kopf.
»Nichts, war höchstens ’n bißchen käsig und picklig, das ist alles. Aber das sind sie ja alle heutzutage. Liegt an der Nahrung, Inspector, nichts Gutes mehr drin, nur noch ... «
»Wie groß würden Sie ihn schätzen?« unterbrach Banks.
»Größer als ich. Ungefähr ... « Er hob die Hand etwa zehn Zentimeter über den Kopf. »Ich bin allerdings auch nicht gerade riesig.«
»Also etwa einssiebzig?«
»So ungefähr, ja. Mittelgroß halt.«
»Dick oder dünn?«
»Haut und Knochen. Wie die nun mal sind heutzutage, die jungen Leute, stimmt’s? Keine anständige Ernährung, das ist das Problem ... «
»Die Kleidung?«
»Das Übliche.«
»Könnten Sie vielleicht ein bißchen genauer werden?«
»Hä?«
»Ich meine, trug er einen Anzug oder Jeans, Lederjacke, T-Shirt, Pyjama oder was?«
»O nein, kein Leder. Dieses andere Zeug, das so ähnlich ist, nur nicht so weich. Braun und rauh. Widerlich anzufassen, bekommt man ’ne Gänsehaut von ... «
»Velours?«
»Genau, das isses, Velours! Also, ’ne braune Veloursjacke und Jeans. Ganz gewöhnliche blaue Jeans.«
»Und sein Hemd?«
»Kann mich nicht erinnern. Ich glaub’ aber, er hatte den Reißverschluß von der Jacke bis oben zu.«
»Ist Ihnen an seiner Stimme etwas aufgefallen? Klang er irgendwie manieriert oder so?«
»Wie meinen Sie?«
»Wie würden Sie seinen Akzent einordnen?«
»Von hier. Vielleicht auch aus Lancashire. Keine Ahnung, wo da der Unterschied ist, aber es gibt ja Leute, die behaupten, sie könnten das auseinanderhalten.«
»Irgendwas Ungewöhnliches? War die Stimme besonders hoch oder tief oder heiser?«
»Klang, als ob er zuviel raucht. Ja, jetzt erinner’ ich mich, hier hat er auch gequalmt. Und jedesmal gehustet, wenn er sich so’n Ding angesteckt hat. Hat mir den ganzen Laden vollgepestet.«
Banks überging die Bemerkung. »Demnach hatte er also einen Raucherhusten und eine rauhe Stimme mit hiesigem Akzent. Ist das richtig?«
»Ganz richtig, Sir.« Crutchley trat von einem Fuß auf den anderen, sichtlich ungeduldig, Banks endlich loszuwerden.
»War die Stimme tief oder hoch?«
»Mittel, wenn Sie wissen, was ich meine.«
»Etwa wie meine Stimme?«
»Ja, wie Ihre, Sir. Nur nicht der Akzent. Sie reden anständig. Er nicht.«
»Was meinen Sie damit? Hatte er irgendeine Art von Sprachstörung?« fragte Banks, wohl merkend, daß sich Crutchley im Geist bereits ohrfeigte, Banks unvorsichtigerweise geschmeichelt zu haben und damit die Befragung zu verlängern.
»Nein, das nicht. Ich wollte nur sagen, daß er ziemlich gewöhnlich geklungen hat. Nicht wie Sie. So wie jemand, der keine vernünftige Bildung hat.«
»Hat er gestottert oder gelispelt?«
»Nein, Sir.«
»In Ordnung. Eine Frage noch: Haben Sie ihn vorher schon mal gesehen?«
»Nein, Sir.«
»Inspector Barnshaw wird später vorbeikommen und Ihnen ein paar Fotos vorlegen. Außerdem werden Sie Ihre Beschreibung noch einmal vor unserem Zeichner wiederholen müssen. Tun Sie also Ihr Bestes, sich bis dahin auf den Mann zu konzentrieren. Und falls Sie ihn wieder zu Gesicht bekommen oder sich an weitere Einzelheiten erinnern, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie sich mit mir in Verbindung setzen würden.« Er notierte seinen Namen und seine Rufnummer auf einer Karte.
»Ich ruf Sie an, Sir, ganz bestimmt, sobald der Typ hier wieder aufkreuzt«, überstürzte sich Crutchley und gab Banks das sichere Gefühl, daß seine eigenen Methoden mindestens so wirkungsvoll waren wie die des Kollegen Barnshaw.
Er hörte Crutchley erleichtert aufatmen, als er endlich sein Notizbuch zuklappte, sich dankend verabschiedete und ziemlich unvermittelt zum Gehen wandte, um einem Händedruck zu entgehen. Die Personenbeschreibung, die er erhalten hatte, war nicht besonders umwerfend und hatte auch nicht das leiseste Glöckchen in ihm klingeln lassen, aber sie war immerhin ausreichend. Auf jeden Fall würde sie ihn etwas näher heranbringen an die beiden maskierten Lumpen, die im letzten Monat drei alte Damen beraubt, sie zu Tode erschreckt, ihre Häuser auf den Kopf gestellt und einer armen Fünfundsiebzigjährigen den Arm gebrochen hatten.
Eine Wasserfontäne hinter sich lassend, rauschte der weiße Cortina durch die Pfützen im Rinnstein und kam schlingernd vor dem Gemeindezentrum von Eastvale zum Stehen. Sandra Banks war zehn Minuten zu spät. Sie sprang aus dem Wagen, öffnete die knarrende Tür so leise wie möglich und betrat auf Zehenspitzen den Versammlungsraum, in dem der Vortrag bereits begonnen hatte. Hier und da wandte sich einer der Stammhörer zu ihr um und lächelte verständnisvoll, während sie versuchte, möglichst unauffällig zu dem leeren Stuhl neben Harriet Slade vorzudringen.
»Tut mir leid«, flüsterte sie hinter vorgehaltener Hand. »Das Wetter. Dieses verflixte Auto wollte einfach nicht anspringen.«
Harriet nickte. »Du hast nicht viel versäumt.«
»Wie schön, wie majestätisch, wie überwältigend auch immer die Landschaft Ihren Augen erscheinen mag«, sprach der Referent, »vergessen Sie nie, daß es keine Garantie gibt, diesen Eindruck auch auf Ihrem Film wiederzufinden. Tatsächlich ist wohl der größte Teil der Landschaftsfotografien – wie einige von Ihnen sicher schon festgestellt haben – im Ergebnis äußerst enttäuschend. Das Auge der Kamera unterscheidet sich von dem des Menschen; es ist unbeeinflußt von allen anderen Sinnen, mit denen wir unser Erleben speisen. Erinnern Sie sich noch an den Urlaub auf Mallorca oder in Torremolinos? An das wundervolle Gefühl beim Anblick der Hügel und des Meeres, dem magischen Zusammenspiel von Licht und Farben? Und als Sie dann die Urlaubsfotos entwickeln ließen, wissen Sie noch, wie enttäuschend sie waren? Wie wenig sie – wenn überhaupt was zu sehen war! –, wie wenig sie eingefangen hatten von der Schönheit, die Ihnen noch vor Augen stand?«
»Wer ist das?« erkundigte sich Sandra flüsternd bei Harriet, während der Redner eine Pause machte, um an dem Glas Wasser zu nippen, das vor ihm auf dem Pult stand
»Ein Mann namens Terry Whigham. Macht eine Menge Fotos für die Abteilung Touristik – Kalender und solche Sachen. Wie findest du ihn?«
Sandra hatte nichts gehört, was ihr neu gewesen wäre, aber da sie die arme Harriet mehr oder weniger gewaltsam in diesen Foto-Klub gezerrt hatte, fühlte sie sich verpflichtet, nicht allzu herablassend zu antworten.
»Interessant«, sagte sie und hielt die Hand vor den Mund wie ein Schulmädchen beim heimlichen Schwätzen. »Er drückt das recht gut aus.«
»Das find’ ich auch«, pflichtete Harriet bei. »Weißt du, es sieht immer alles so selbstverständlich aus. Man denkt einfach nicht darüber nach, bevor nicht ein Experte kommt und einem die Dinge erklärt, nicht wahr?«
»Wenn Sie also das nächste Mal konfrontiert sind mit der Bergwelt von Pen-y-Ghent, Skiddaw oder Helvellyn«, fuhr Terry Whigham fort, »sollten Sie ein paar einfache Kunstgriffe beachten. Ein besonders naheliegender Trick besteht darin, irgendein Detail in den Vordergrund zu holen, um auf diese Weise ein gewisses Raumgefühl zu vermitteln. Es ist äußerst schwierig, auf einem kleinen Farbabzug die unendliche Weite einer Landschaft einzufangen, aber mit Hilfe einer Person, einer alten Scheune oder einem besonders bizarren Baum im Vordergrund ist es möglich, eine Vorstellung von der tatsächlichen Perspektive zu geben.
Eine etwas kühnere Variante besteht darin, den Blick des Betrachters auf bestimmte Formen oder Strukturen zu lenken. Ein schräger Geröllhang zum Beispiel oder ein Feld voller Butterblumen wird das Auge unweigerlich zu den dahinterliegenden schroffen Felsen und den Wasserfällen führen. Außerdem sollten Sie sich nicht zum Sklaven des Sonnenlichts machen. Nebelverhangene Bergspitzen oder die Schatten der Wolken auf den Hängen können interessante Effekte bringen, wenn Sie die richtige Belichtungszeit einstellen, und ein endloser blauer Himmel sieht noch strahlender und weiter aus mit ein paar sanft dahinschwebenden weißen Wolken.«
Das Licht ging aus, und Terry Whigham zeigte einige seiner Lieblingsdias, um das Gesagte zu illustrieren. Es waren gute Aufnahmen, wie Sandra zugeben mußte, obwohl ihnen der besondere Funke, der persönliche Stempel fehlte, den sie ihren eigenen Fotos mit Vorliebe aufprägte, mitunter auch auf Kosten bewährter alter Regeln.
Harriet war ein Neuling auf dem Gebiet der künstlerischen Fotografie, hatte aber bereits ein gutes Auge bewiesen, auch wenn ihre Technik einstweilen noch sehr zu wünschen übrigließ. Sandra hatte sie anläßlich einer schrecklich öden Brunch-Party bei ihrer Nachbarin Selena Harcourt kennengelernt, und sie hatten sich auf Anhieb gemocht. In London hatte es Sandra nie an anregenden Bekanntschaften gefehlt, aber hier im Norden waren ihr die Leute sehr kühl und zurückhaltend vorgekommen. Bis sie Harriet getroffen hatte, Harriet mit ihrem lustigen Puppengesicht, ihrer zarten Gestalt und ihrem mitfühlenden Wesen. Seither waren sie miteinander befreundet, und Sandra hatte nicht die Absicht, daran etwas zu ändern.
Nachdem die Diavorführung beendet war und Terry Whigham das Podium unter lebhaftem Beifall verlassen hatte, gab der Klub-Sekretär die Termine für das nächste Treffen und die bevorstehende Exkursion nach Swaledale bekannt, bevor man zu Kaffee und Kuchen überging. Sandra, Harriet, Robin Allott und Norman Chester, die allesamt gehaltvollere Erfrischungen bevorzugten, zogen sich, wie gewohnt, in The Mile Post auf der gegenüberliegenden Straßenseite zurück.
Sandra saß zwischen Harriet und Robin, einem jungen Lehrer, der gerade eine Scheidung hinter sich hatte. Gegenüber hatte Norman Chester Platz genommen, der sich weniger fürs Fotografieren selbst als für dessen wissenschaftliche Hintergründe interessierte. Alles in allem eine eher seltsame Gruppierung, die unter normalen Umständen nie zustande gekommen wäre. Allen gemeinsam war jedoch das Bedürfnis nach einem kräftigen Drink – vor allem nach einem weitschweifigen Vortrag – und die Abneigung gegen Fred Barton, den Sekretär des Klubs, einen hölzernen Menschen mit unangenehmem Mundgeruch und ein strenggläubiger Methodist, dem es weder in den Sinn kam, einen Pub zu betreten noch die Schuppen zu beseitigen, die ihm auf den steifen blauen Anzug rieselten.
»Nun, was soll’s sein?« erkundigte sich Norman, klatschte in die Hände und schaute strahlend in die Runde.
Nachdem alle ihre Wünsche geäußert hatten, verschwand er zum Tresen und kam wenige Minuten später mit einem Tablett voller Drinks zurück. Nach den üblichen Eröffnungskommentaren über die Veranstaltung – die heute überwiegend zugunsten des Referenten ausfielen, der inzwischen zweifellos Bartons quälende Annäherungsversuche oder Jack Tatums gönnerhafte Speichelleckerei über sich ergehen lassen mußte – stürzten sich Robin und Norman in eine Diskussion über den sinnvollen Gebrauch von Farbfiltern, während sich Sandra und Harriet den jüngsten Kriminalfällen zuwandten.