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Eine gefühlvolle Geschichte über die zweite Chance, Vergebung und Wiedergutmachung
Ich liebe Colin wie wahnsinnig, aber es haben zu viele Dämonen von ihm Besitz ergriffen. Wenn er sich mir jetzt nicht öffnet, wird er niemals der Richtige sein und der Partner, den ich brauche. Ich habe ihm einen Monat Zeit gegeben, aber jetzt gehe ich. Wenn es wirklich stimmt, wie sehr er mich liebt: Er weiß, wo er mich finden kann.
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Seitenzahl: 445
Das Buch
Tagsüber benimmt er sich, als wäre alles in bester Ordnung. Ist fröhlich und sorglos, als könnte ihm nichts etwas anhaben. Aber in dunkler Nacht, im Schlaf, kommt seine andere Welt zum Vorschein. Und die ist nicht schön.
»Jennifer.« Er flüstert meinen Namen, dreht den Kopf, sodass unsere Gesichter, unsere Münder einander gegenüber sind. Dann ergreift er meine streichelnden Hände, verschränkt die Finger mit meinen, und ich seufze unter seiner Berührung. Es ist, als wäre er sich seines Tuns gar nicht bewusst. Er berührt mich, als wollte er mich haben. Als wären wir wirklich zusammen. Doch er geht niemals weiter als bis dahin. Keine Küsse, nichts Sexuelles. Wiewohl die Anspannung und die Hitze, die seinem kraftvollen Körper entströmen, nicht nur von seinen bösen Träumen herrühren. Es ist wegen mir. Er begehrt mich. Sein Körper reagiert immer, immer auf meine Berührung. Ich wünschte, er könnte das zumindest ein einziges Mal zugeben.
»Es tut mir leid.« Er hört sich so verzweifelt, so verloren an. Ich hasse das. Er neigt den Kopf näher, und seine Lippen streichen über meine, als er sagt: »Verlass mich nicht.«
Und dann küsst er mich.
»Die Anziehung zwischen den beiden ist explosiv! Das Gefühlschaos und die tragische Geschichte zwischen Jen und Colin machen diesen Roman zu etwas ganz Besonderem.«Heroes and Heartbreakers
Die Autorin
Die New-York-Times-, USA-Today- und internationale Bestseller-Autorin Monica Murphy stammt aus Kalifornien. Sie lebt dort im Hügelvorland unterhalb des Yosemite Nationalparks, zusammen mit ihrem Ehemann und den drei Kindern. Sie ist ein absoluter Workaholic und liebt ihren Beruf. Wenn sie nicht gerade an ihren Texten arbeitet, liest sie oder verreist mit ihrer Familie. Verletzte Gefühle ist der dritte Band der TOGETHER FOREVER-Serie.
Lieferbare Titel
Total verliebt
Aus dem Amerikanischen von Evelin Sudakowa-Blasberg
WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
Three Broken Promises bei Bantam Books.
Taschenbucherstausgabe 08/2015
Copyright © 2013 by Monica Murphy
Copyright © 2015 der deutschsprachigen Ausgabe by
Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Lisa Scheiber
Umschlaggestaltung: Zero Werbeagentur GmbH, München
unter Verwendung von Corbis / Colin Anderson
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-16288-7
www.heyne.de
Meinen Lesern gewidmet. Ohne euch würde es diese Reihe gar nicht geben. Danke für eure grenzenlose Unterstützung.
PROLOG
Ich will sie nicht gehen lassen.
Sie wird mich verlassen, und dieser Gedanke ist unerträglich. Ich bin durchs Leben gegangen, voller Vertrauen darauf, dass sie immer da sein wird. Mit mir arbeitet, mit mir lebt, mit mir redet, mit mir lacht und manchmal, in jenen seltenen Momenten, über die wir niemals sprechen, spät, spät in der Nacht, wenn wir allein sind, mit mir weint.
Sie liegt in meinem Bett, ihr Körper ist um mich geschlungen wie wilder Wein um ein Spalier. Ihre Hände in meinem Haar und ihr Atem an meinem Hals lösen ein so intensives Gefühl von Lebendigkeit in mir aus, dass ich ihr gern sagen würde, was ich empfinde. Was sie mit mir macht.
Aber ich habe nicht den Mut, ihr das zu gestehen.
Und jetzt will sie gehen. Behauptet, sie brauche ihre Freiheit. Als würde ich sie unterdrücken, sie einschränken. Ich bin verletzt, obwohl ich weiß, wie absurd das ist. Sie ist nicht undankbar. Nein, sie weiß zu schätzen, was ich für sie getan habe. Und ich habe viel für sie getan – vermutlich zu viel.
Die Schuld nagt an mir, höhlt mich aus. Aus diesem Gefühl von Schuld heraus hatte ich begonnen, mich um sie zu kümmern. Denn in Wahrheit bin ich dafür verantwortlich, dass sie ihre Familie verlassen hat. Dass sie plötzlich ganz allein war, auf sich gestellt, ums Überleben ringend, und dass sie Dinge tun musste, zu denen keine Frau sich jemals gezwungen fühlen dürfte. Bis ich wie ein strahlender Ritter aus dem Nichts auftauchte und sie aus einer Welt voller Dreck rettete.
Mit der Zeit haben sich die Schuldgefühle langsam, aber stetig, in etwas anderes verwandelt.
In etwas Reales.
Ich muss ehrlich sein und ihr meine Gefühle gestehen. Ich brauche sie. Verzweifelt. Sie zu verlieren wäre so, als würde ich einen Teil von mir selbst verlieren. Ich kann es nicht riskieren. Ich glaube … heilige Scheiße, nein, ich bin mir sicher, dass ich mich in sie verliebt habe.
Doch ich bin der letzte Kerl, mit dem sie zusammen sein sollte. Ich habe diese Eigenschaft, die Menschen zu zerstören, die mir am nächsten stehen. Das kann ich ihr nicht antun.
Aber ich kann sie auch nicht gehen lassen.
1. KAPITEL
Jen
»Und warum ein Schmetterling?«
Ich beuge mich vor, meine Brüste pressen sich gegen die Stuhllehne. Ich sitze hier bereits seit einer gefühlten Ewigkeit, während eine Nadel unerbittlich in die empfindliche Haut an meinem Nacken pikt. Das Summen der Nadel breitet sich in meinem Kopf aus, übertönt das lärmende Chaos, das normalerweise dort herrscht.
Das gleichmäßige, stete Summen ist mir lieber. Weitaus angenehmer als die unablässigen Fragen und Sorgen, die mir normalerweise durch den Kopf gehen.
»Hallo, Erde an Jen.« Fable wedelt mit der Hand vor meinem Gesicht herum, schnippt dann zweimal mit den Fingern. Nervensäge. Ich würde ihr die Zunge rausstrecken, wäre ich nicht viel zu beschäftigt damit, wie ein elender Jammerlappen meine Knie zu umklammern und darauf herumzuboxen.
»Was?«, stoße ich zwischen den Zähnen hervor und zucke zusammen, als die Nadel auf eine besonders empfindliche Stelle trifft.
Ach, warum mir selbst etwas vormachen? Alle Stellen sind empfindlich. Es ist an der Zeit, sich den Tatsachen zu stellen. Ich bin ein totales Weichei. Ich dachte, es sei ein Kinderspiel, sich ein Tattoo stechen zu lassen. Schließlich habe ich im Leben schon eine Menge Schmerz aushalten müssen, wenn auch eher emotionaler als körperlicher Art. Was soll schon dabei sein, sich eine Stunde lang piken zu lassen?
Das reine Vergnügen ist es jedenfalls nicht, denn es tut unglaublich weh, und ich muss mich echt am Riemen reißen, um die Prozedur durchzustehen.
Sich am Riemen reißen – ein blöder Ausdruck, den meine Mom früher oft gebrauchte. Damals, als sie noch glücklich und sorglos war und unsere Familie vollständig.
Inzwischen ist die Familie zerbrochen, und wir sind uns fremd geworden. Mit meinem Vater ist kein Gespräch mehr möglich. Und Mom ruft nur an, wenn sie heult und betrunken ist.
Das ist echt ätzend. Deshalb musste ich auch von zu Hause weggehen. Dass ich diesem Ort jetzt entfliehen möchte, hat jedoch andere Gründe.
»Ich würde gern wissen, warum du einen Schmetterling gewählt hast. Hat das eine bestimmte Bedeutung?«, fragt Fable. Ihr Ton ist etwas ungehalten, doch sie lächelt, also ist sie nicht sauer. Wir sind im Tattoo Voodoo, einem kleinen Studio in der Innenstadt, das Fable vorgeschlagen hat.
Sie hat sich auch ein Tattoo stechen lassen, das allerdings schon längst fertig ist, weil es sich nur um eine Zeile in eleganter, schlichter Schrift handelte. Ein Überraschungstattoo für ihren Freund, Verlobten oder als was immer man ihn bezeichnen will, aber da die beiden die Hände nicht voneinander lassen können, wird er seine »Überraschung« eher früher als später entdecken. Drew Callahan ist so unfassbar verliebt in Fable, dass es beinahe schon widerwärtig ist.
Aber es ist auch sehr süß. Super, super süß, vor allem, da es sich bei Fables Tattoo um eine Zeile aus einem der Gedichte handelt, das Drew für sie geschrieben hat. Seine Gedichte bringen sie total ins Schwärmen, und dieses Mädchen ist weiß Gott nicht der schwärmerische Typ. Sie ist verdammt taff. Bei dem schweren Leben, das sie hatte, musste sie sich eine gewisse Härte aneignen.
Ich könnte das eine oder andere von ihr lernen. Ich bin viel zu weich. Lasse Menschen zu nah an mich heran.
Und dann trampeln sie auf mir herum. Oder schlimmer noch, beachten mich nicht weiter.
»Freiheit«, antworte ich schließlich und atme erleichtert aus, als das Surren aufhört und ein Waschlappen über meine frisch tätowierte Haut streicht. »Ich bin bereit, aus diesem erstickenden Kokon, der mein Leben sein soll, auszubrechen und meinen eigenen Weg zu finden, statt auf andere Menschen zu bauen. Ein Schmetterling ist dafür das perfekte Symbol, findest du nicht?«
Ich kann es förmlich schmecken. Freiheit. Mein Leben lang habe ich mich viel zu sehr auf andere verlassen. Meine Freunde. Meine Familie. Vor allem auf meinen Bruder, was nun nicht mehr geht, da er bereits seit geraumer Zeit tot ist. Ich bin zwar damals von zu Hause weggelaufen, um mein Leben selbst zu gestalten, doch ich habe versagt.
Grandios versagt.
Aber dieses Mal nicht. Ich habe mir alles genau überlegt. Geld gespart. Dieses Mal habe ich einen Plan.
Oder zumindest eine Art Plan.
»Glaubst du wirklich, es ist das Beste für dich, wenn du fortgehst?«, fragt Fable, ihr Ton ist ungläubig, ihr Gesicht traurig. Sie ist meine beste Freundin, die erste richtige Freundin, seit ich aus meinem alten Leben geflohen bin. Aber nicht einmal sie weiß alles. Wenn sie es wüsste, würde sie mich nie mehr so sehen wir zuvor. »Hat es mit deinen Erlebnissen von früher zu tun?«
Ich nicke und zucke zusammen, als der Tätowierer, Dave, noch einmal mit dem Waschlappen über meine Haut streift. »Fertig«, sagt er sachlich.
»Ja, meine Vergangenheit spielt da sicher mit hinein.« Ich habe Fable von meiner Zeit im Gold Diggers erzählt, diesem schäbigen Striplokal am Stadtrand. Doch sie kennt nicht die ganze Wahrheit, wie auch meine Familie sie nicht kennt, und Colin habe ich zum Stillschweigen verpflichtet. Die offizielle Geschichte ist, dass ich als Barfrau gearbeitet habe. Die inoffizielle ist, dass ich Stripperin war.
Und es gibt die geheime, unaussprechliche Geschichte, an die ich kaum denken, geschweige denn darüber reden kann.
»Wir haben alle eine Vergangenheit«, bemerkt Fable. Ihre eigene ist ziemlich übel, aber niemand redet sie deswegen dumm an. Das würde Drew nie zulassen.
»Schon klar. Es ist nur … Ich kann nicht für immer hierbleiben. Auch wenn du das gern hättest«, murmle ich und werfe einen flehenden Blick in Fables Richtung. Ich will mir nicht schon wieder ihre Standpauke anhören, vor allem nicht in Gegenwart unseres neuen Freundes Dave. Das würde ich im Moment nicht packen. Ich weiß, sie meint es gut, doch ihre Worte bringen meinen Entschluss jedes Mal wieder ins Wanken.
»Nicht nur ich hätte gern, dass du hierbleibst«, konstatiert Fable, die Brauen hochgezogen und einen wissenden Ausdruck im Gesicht.
Ihre Feststellung bedarf keiner Antwort. Ich weiß, auf wen sie anspielt. Colin möchte sicher, dass ich bleibe, doch bisher habe ich ihm noch nicht einmal erzählt, dass ich gehe. Ich werde es ihm heute Abend mitteilen.
Hoffentlich.
Er bietet mir ein Dach über dem Kopf, Arbeit. Und ohne irgendwelche Bedingungen, zumindest behauptet er das. Ich glaube ihm. Obwohl ein dunkler, verborgener Teil in mir sich wünscht, dass es Bedingungen gäbe. Zahlreiche Bedingungen, die mich an ihn binden, die uns verbinden würden, bis wir so in dem anderen aufgingen, dass wir zu einem einzigen langen Wort werden würden. Nicht nur Jen. Nicht nur Colin.
JenundColin.
Nur wird das niemals passieren.
Wenn ich ihn also nicht haben kann – und ich sollte ihn nicht begehren, hätte nie zulassen dürfen, mich über einen so langen Zeitraum derart abhängig von ihm zu machen –, dann möchte ich wenigstens vollständige Freiheit haben.
Dumm, riskant und verdammt unheimlich, aber … Ich muss es tun. Die jüngsten Ereignisse zwingen mich dazu. Vor wenigen Tagen tauchte im District meine Vergangenheit in Gestalt eines Gastes auf. Er kam an die Bar und bestellte einen Drink. Zum Glück konnte ich ihm aus dem Weg gehen, und er verließ das Restaurant ohne jeden Zwischenfall.
Doch das könnte wieder passieren. Die Begegnung war eine Mahnung, dass ich der Vergangenheit niemals entfliehen kann. Colin darf nicht erfahren, was ich getan habe. Er würde mich nicht mehr mögen. Würde mich mit anderen Augen betrachten.
Und ich glaube nicht, dass ich das ertragen könnte.
Verzweifelt um einen Themenwechsel bemüht, frage ich: »Wie sieht es aus?«
Fable neigt den Kopf zur Seite und begutachtet das Tattoo auf meinem Nacken. »Sehr schön. Aber du wirst es nie richtig sehen können.«
»Es gibt Spiegel, weißt du.« Ich nehme von Dave besagtes Utensil entgegen, sehe hinein und betrachte das Bild, das von der Spiegelwand hinter mir zurückgeworfen wird. Mein langes Haar ist auf dem Kopf zu einem lockeren Dutt gezwirbelt, enthüllt meinen Nacken, die gerötete Haut und den Schmetterling.
Es ist eine filigrane Zeichnung in zarten Blau- und Schwarztönen und so naturgetreu, dass man meinen könnte, der Schmetterling würde gleich mit den Flügeln flattern und wegfliegen. Wenn er mir jetzt schon so gut gefällt, wie wunderschön wird er dann erst aussehen, wenn die Haut geheilt ist.
»Ein Meisterwerk«, hauche ich und gebe Dave den Spiegel zurück, der ihn auf die Theke legt.
»Ja, er ist wunderhübsch«, stimmt Fable lächelnd zu. »Ich bin stolz auf dich, Jen. Ich weiß, welchen Bammel du davor hattest.«
Bammel? Eher panische Angst, doch jetzt bin ich auch stolz auf mich. Ich habe es getan. Ich habe mir ein Tattoo stechen lassen und habe nicht, wie befürchtet, geheult oder bin aus dem Laden gerannt, bevor der große, stämmige Dave seine Nadel in meiner zarten Haut versenkte. Ziemlich albern, wegen so einer simplen Sache stolz zu sein. Sollte meine Mom das Tattoo jemals zu Gesicht bekommen, wird sie total ausrasten. Und mein Dad wird glauben, ich sei nun endgültig in der Gosse gelandet. Allerdings habe ich nicht vor, die beiden in absehbarer Zeit zu besuchen. Ich will nicht zurückgehen, und ich wäre auch nicht unbedingt willkommen. Ich glaube, meine Eltern sind froh, dass sie mich los sind. Ich war eine Last für sie.
Ich habe so ein Gefühl, dass auch Colin mein Tattoo nicht gefallen wird. Aber ich habe es nicht für jemand anderen machen lassen. Nur für mich.
Dave legt einen Verband um mein neues Tattoo, während er die Pflegeanweisungen so monoton herunterrattert, als hätte er das schon eine Million Mal gesagt, was vermutlich der Fall ist. Zum Abschluss drückt er mir einen Zettel mit den Anweisungen in die Hand, und ich werfe einen flüchtigen Blick darauf, sehe die Worte nicht wirklich. Mein Hirn ist zu voll mit diesen Menschen in meinem Leben, die ich so gern zufriedenstellen würde, was mir jedoch meistens misslingt.
Sie verfolgen mich, lungern in meinem Kopf herum wie Geister, die ich nicht mehr loswerde. Selbst Colin taucht dort auf, was bescheuert ist, da ich mit ihm zusammenwohne.
Fables Handy klingelt, und dem Lächeln, das in ihrem Gesicht aufleuchtet, als sie auf das Display blickt, entnehme ich, dass es Drew ist. Ich beobachte, wie sie ein paar Schritte zur Seite geht, um ungestört reden zu können, und Eifersucht schlägt ihre Krallen in mein Herz.
Ich will das auch, obwohl ich das niemals offen eingestehen würde, schon gar nicht Fable gegenüber. Bedingungslose Liebe, einen Mann, der alles tut – und ich meine alles –, damit ich glücklich bin. Beschützt. Geborgen. Geliebt.
Wenn ich mir selbst gegenüber ehrlich bin, muss ich zugeben, dass ich all das gern mit Colin hätte.
Er verhält sich, als würde er mehr wollen, doch dann zieht er sich jedes Mal wieder zurück. Ich habe mit ihm mehr intime Momente erlebt als mit irgendjemandem sonst. Ich habe in seinem Bett geschlafen. Er hat mich in den Armen gehalten. Er hat mich geküsst … aber nie mehr als geschwisterliche Küsse auf Wange oder Stirn.
Diese Küsse zeigen deutlich, wie er mich sieht. Colin und ich sind zusammen aufgewachsen. Genauer gesagt waren es Danny, Colin und ich. Mein Bruder und Colin waren beste Freunde. Eigentlich wollten sie zusammen zur Marine gehen, aber irgendwie ist nur Danny beim Militär gelandet. Und dann ist er in den Irak gegangen.
Und nie wieder zurückgekehrt.
Er ist der Geist, der am häufigsten in meinem Kopf herumspukt, obwohl er nicht richtet oder mir ein schlechtes Gefühl gibt. Es ist eher so, als würde mein großer Bruder mich manchmal mahnen, dass die Entscheidungen, die ich treffe, nicht immer die besten sind. Wüsste er alles, würde er mir niemals vergeben.
Außerdem habe ich ihm gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil ich für Colin mehr als nur freundschaftliche Gefühle habe. Ich frage mich immer, ob Danny damit einverstanden wäre. Hätte er eine Beziehung befürwortet? Oder hätte er alle Hebel in Bewegung gesetzt, damit es niemals dazu kommt?
Es spielt keine Rolle. Danny ist nicht mehr da, und aus Colin und mir wird niemals ein Paar. Ganz egal, wie sehr ich mir das wünsche, er will es nicht. Nicht wirklich. Er hat mich gern um sich. Er baut darauf, dass ich ihm Halt gebe, wenn seine Emotionen, seine Dämonen außer Kontrolle geraten.
Aber er will mich nicht. Nicht auf die Art, wie ich es mir wünsche.
Also schlage ich mir das aus dem Kopf. Schlage mir ihn aus dem Kopf.
Heute Abend werde ich Colin mitteilen, dass ich in einem Monat kündige. Mehr als genug Zeit für ihn, um Ersatz zu finden. Und auch für mich genügend Zeit, um eine neue Wohnung zu finden, einen neuen Job und ein neues Leben in einer neuen Stadt. Ich weiß genau, wo ich hingehe, es ist also nicht so, dass ich quasi aus dem Bauch heraus die Flucht ergreife und mal so nebenbei mein Leben ändere.
Hm, irgendwie ist es schon so. Ich bin immer sehr impulsiv gewesen, was mir in der Vergangenheit viel Ärger eingebracht hat. Hoffentlich wird es diesmal anders werden.
Colin wird es nicht gefallen, dass ich gehe, aber vielleicht, nur vielleicht, wird das Tattoo mir Kraft geben. Mich daran erinnern, dass das, was ich vorhabe, das Richtige ist. Ich muss weg. Muss endlich lernen, mein Leben selbst in die Hand zu nehmen, statt wie letztes Mal einfach auf die kindische Tour abzuhauen und im Auto zu kampieren. Jetzt bin ich älter. Klüger. Erfahrener.
Ich muss fliegen und frei sein.
Colin
Das Restaurant brummt. Es ist Ende August, die Studenten sind aus den Ferien zurück und im District herrscht wieder der normale Wahnsinn. Die Bar ist gerammelt voll, das Personal arbeitet auf Hochtouren, und die Küche ist wie ein dampfender Schlund, der einen unablässigen Strom an Vorspeisenplatten ausspuckt, da heute Abend offenbar niemand eine volle Mahlzeit haben möchte.
Dafür wollen sich alle betrinken. Wollen ihre Rückkehr aufs College feiern oder ihren Kummer über das Ende der Ferien in Alkohol ertränken.
Was auch immer, solange sie fleißig Drinks bestellen und dem hart schuftenden Personal gute Trinkgelder geben, bin ich zufrieden.
»Hey, Sie sind der Besitzer, nicht wahr?«
Ich blicke auf und sehe ein hübsches Mädchen mit einem hoffnungsvollen Lächeln im Gesicht vor mir. Wahrscheinlich sucht sie einen Job. Da ich erst letzte Woche eine neue Bedienung eingestellt habe, bin ich im Moment nicht auf Personalsuche, aber ich verteile immer Bewerbungsformulare. Man weiß nie, wann jemand geht, und gutes Personal ist schwer zu finden. »Ja«, antworte ich und erwidere ihr Lächeln, während ich sie mustere. Sie abchecke.
Sie ist attraktiv. Nicht so supertoll, dass einem die Spucke wegbleibt, aber hübsch genug, um sie nicht nur im Dunkeln vögeln zu wollen. Ich mag die Art, wie sie mich ansieht.
Also sehe ich sie auch an.
»Das dachte ich mir.« Sie kommt einen Schritt näher, lehnt die Unterarme auf den Empfangstresen, reckt die Brüste hervor, die ihr winziges Top zu sprengen drohen. Sie hat einen ordentlichen Vorbau. Ich habe eine Schwäche für große Brüste, doch ich halte den Blick eisern auf ihr Gesicht gerichtet, bin so konzentriert, dass ich den morgigen Arbeitsplan in meiner Hand völlig vergesse. Es ist fast elf Uhr, die Küche hat gerade geschlossen, ich könnte also sofort verschwinden.
Aber ich will nicht. Jen ist bis Mitternacht eingeteilt, also werde ich auf sie warten und sie im Auto mit nach Hause nehmen. Wie ich es immer tue. Wie ich alles tue, um möglichst viel Zeit mit ihr zu verbringen.
»Suchen Sie einen Job? Im Moment haben wir keine freien Stellen.« Schließlich gebe ich auf, senke den Blick und starre unverhohlen auf ihre Brüste. Es ist schon eine ganze Weile her. Herrgott, ich kann mich echt nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal Sex hatte. Und in Anbetracht der zahllosen Frauen, die täglich ins Restaurant kommen, übertreibe ich nicht, wenn ich behaupte, dass ich reihenweise Frauen abschleppen könnte.
Das ist keine Prahlerei, sondern einfach eine Tatsache.
Sie hat mir noch nicht geantwortet. »Ich gebe Ihnen ein Bewerbungsformular.« Ich bücke mich, greife nach dem Stapel mit Unterlagen, worauf das Mädchen lacht und den Kopf schüttelt.
»Ich bin nicht an einem Job interessiert sondern an dir«, sagt sie frei heraus.
Verdutzt richte ich mich auf und sehe die junge Frau an. Das Lächeln, das um ihre schimmernden pfirsichfarbenen Lippen spielt, ist schüchtern, ihr Blick heiß. Ja, sie ist definitiv an dem, was sie sieht, interessiert.
Frauen machen mich selten sprachlos, aber in letzter Zeit bin ich nicht mehr ich selbst. Trotz meiner Probleme, trotz meines Wunsches, diese eine Frau, die alles für mich bedeutet, nicht zu enttäuschen, gefällt mir das, was ich gerade vor mir sehe.
Ich habe eine Menge Frauen gehabt, und diese Frucht hier ist reif zum Pflücken. Sie riecht gut, sieht gut aus, und das Funkeln in ihren Augen ist äußerst verführerisch. Einladend.
Ich bin kein Heiliger. Manche mögen mich sogar eine männliche Hure nennen, obwohl das mehr auf früher zutrifft. Was soll ich sagen? Ich mag Frauen, und in der Regel mögen sie mich auch. Ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass ich meinem attraktiven Äußeren einiges zu verdanken habe. Sowohl im guten wie im schlechten Sinn.
Nur eine Frau ist tabu. Ich bin vielleicht ein Arschloch, aber ein paar Skrupel habe ich wenigstens noch. Außerdem muss es in meiner Welt auch etwas Unberührbares und Heiliges geben, oder? Und das trifft auf sie zu. Das süße kleine Mädchen, das ich schon als Kind kannte. Der hübsche Teenager, den ich nicht offen anzusehen wagte, aus Angst, mein Verlangen stünde mir ins Gesicht geschrieben.
Die Frau, der ich für immer entsagen muss. Wir sind Freunde, mehr darf nicht sein. Ich habe Angst, unsere Beziehung kaputt zu machen, wenn ich mehr verlange. Und ich brauche ihre Freundschaft mehr, als ich ihren Körper begehre.
Na ja. So ganz stimmt das nicht.
Der Gedanke an sie lässt meinen Mut und meine Libido sinken, und mein Interesse an der Frau vor mir welkt dahin und weht davon wie ein totes, vertrocknetes Blatt.
Mehr bedarf es nicht. Ich denke an Jen und bin für andere Frauen nicht mehr zu gebrauchen.
»Ähm, ich fühle mich geschmeichelt, aber …« Ich fahre mir mit der Hand durch das Haar, überlege, wie ich mich am besten aus der Bredouille ziehe. So etwas habe ich noch nie gemacht. Wenn eine Frau interessiert ist, lasse ich es normalerweise geschehen. Ich lasse mich darauf ein. Nicht ganz, aber weit genug, damit wir beide das bekommen, was wir wollen.
Aber ich lasse niemanden ganz an mich heran. Jen ist die Einzige, die mir jemals nahegekommen ist. Meistens halte ich sie jedoch auf Abstand. Außer in jenen stillen, intimen Momenten im Dunkeln, wenn die Verzweiflung mich zu überwältigen droht und Jen sich in mein Zimmer schleicht, um mir Trost anzubieten.
Über diese Momente bewahre ich Stillschweigen. Wir reden nie darüber. Sie sind unsere kleinen, schmutzigen Geheimnisse.
»Du hast eine Freundin, richtig?« Die Frau lacht, neigt den Kopf zur Seite. Sie hat prachtvolle dunkelblonde Locken, die sich wild über ihre Schultern kringeln. Ihr Make-up ist dezent, ihr Outfit verführerisch. Noch vor wenigen Monaten wäre ich auf sie abgefahren. Ich hätte sie binnen einer Stunde oder früher nackt ausgezogen und wild mit ihr gevögelt.
Aber anonymer Sex reizt mich nicht mehr. Und die Frau, die ich begehre, kann ich nicht haben. Korrektur: Ich gestatte mir nicht, sie zu haben. Also anstatt sie nackt auszuziehen und wild mit ihr zu vögeln, wie ich es mir sehnlichst wünsche, leide ich. Wie ein echter Märtyrer.
Oder eher wie ein echter Vollidiot.
Ich räuspere mich, beschließe ehrlich zu sein. »Ich …«
»Richtig getippt.« Jen taucht neben mir auf, als hätte ich sie durch Zauberkraft heraufbeschworen, erschaffen aus Rauch und Spiegeln und so viel Schönheit, dass es wehtut, sie anzusehen. Sie schlingt ihren schlanken Arm um meinen, legt die Finger auf meinen Bizeps, und meine Haut brennt unter ihrer Berührung. Sie lehnt sich an mich, schmiegt ihren sexy, schlanken Körper dicht an meinen, sodass ich ins Schwitzen gerate und meine Haut sich zusammenzieht. Sie lächelt geheimnisvoll, und in ihren dunkelbraunen Augen liegt ein herausforderndes Funkeln, das selbst die draufgängerischste Frau der Welt abschrecken würde.
Der Blick verkündet unmissverständlich: Hau ab, er gehört mir.
Verdammt, das würde ich mir so wünschen.
»Tut mir leid.« Die Frau sieht ganz und gar nicht so aus, als täte es ihr leid, als sie sich von der Theke wegschiebt und kopfschüttelnd in Richtung Bar geht. »Ich wollte niemandem auf die Zehen treten.«
»Dumme Tusse«, murmelt Jen, als die Frau in der Bar verschwindet. Dann lässt sie mich sofort los, tritt ein Stück zurück, und ich spüre deutlich ein Gefühl von Verlust. »O Gott. Hast du das nicht langsam satt?«
»Was? Dass Frauen mich anmachen?« Ich habe früher mal jeden einzelnen Abend dafür gelebt. Flirten, trinken, von schönen Frauen umgeben sein – all das half mir zu vergessen, was ich getan habe. Dass ich eine Familie enttäuscht habe. Dass ich meinen besten Freund im Stich gelassen habe und er dann ums Leben kam. Dass ich vor allem dieses Mädchen vor mir ins Unglück gestürzt habe.
Meine Schuld. Alles meine Schuld.
»Ja.« Sie klingt gereizt, aber sie sieht mal wieder superscharf aus. Das schlichte schwarze Kleid, das ihre Formen betont, reicht bis zur Oberschenkelmitte und enthüllt diese endlos langen Beine. Beine, die ich gern nackt sehen würde. Ich stelle mir vor, wie ich ihre schlanken Schenkel umfasse und um meine Hüften schlinge. »Sie hat dich zwanzig Minuten lang umkreist wie ein Hai ein blutiges Stück Fleisch.«
Das war mir gar nicht aufgefallen. Bin ich ein Idiot, weil es mir gefällt, dass Jen es bemerkt hat? Dieser Anflug von Eifersucht ist neu. Ich wünschte, ich wüsste, was ihn ausgelöst hat. »Ich hätte mich ihrer annehmen sollen.«
»Wie denn? Indem du sie nach Hause einlädst?«
Ich sehe mich um und stelle erleichtert fest, dass sich im Restaurant niemand mehr aufhält. Die verbliebenen Gäste sind in die Bar weitergezogen. Ich will nicht, dass jemand diesen Wortwechsel mitbekommt, vor allem nicht mein Personal. Die Gerüchteküche im District brodelt schon heftig genug. Da will ich nicht noch mehr Öl ins Feuer gießen. Man klatscht bereits über uns. Fragt sich, was zum Teufel wir treiben, wenn wir zusammen sind, obwohl wir ja angeblich nicht zusammen sind. Die ständigen Spekulationen sind ermüdend.
»So etwas tue ich nicht. Nicht, wenn du da bist«, sage ich schließlich und sehe Jen in die Augen. »Seit wann kümmert dich das überhaupt?«
Falsche Frage. Sie sieht aus, als würde sie jeden Moment explodieren. »Aha, wenn ich nicht da wäre, würdest du sie mit nach Hause nehmen, ja? Habe ich das richtig verstanden? Gott, du bist so ein Arsch«, murmelt sie und stolziert davon.
Ich folge ihr, den Blick auf ihren Hinterkopf gerichtet. Heute trägt sie ihr langes braunes Haar offen, und wenn sie den Kopf zurückwirft, sehe ich zwischen den dicken, seidigen Strähnen den Rand eines weißen Verbands aufblitzen. »Was ist mit deinem Kopf?«
Sie schießt mir über die Schulter hinweg einen vernichtenden Blick zu. »Was redest du da?«
»Der Verband.« Ich packe sie am Arm, halte sie fest. Wegen ihrer hohen Absätze gerät sie aus dem Gleichgewicht, und ich verstärke meinen Griff, damit sie nicht hinfällt. »Hast du dir wehgetan?«
Mit ihrer freien Hand greift sie sich in den Nacken, reibt abwesend, mit leicht gerunzelten Brauen darüber. »Ich, äh … das ist nichts.«
Während ich sie weiterhin festhalte, verschränke ich die Arme vor der Brust, verhindere so, dass sie mir entwischen kann. Ich kenne diesen Blick. Sie ist drauf und dran wegzurennen. Etwas, worin sie wirklich gut ist. »Du verheimlichst mir etwas.«
»Hier ist dafür nicht der richtige Ort.« Sie stößt einen keuchenden Atemzug aus, und ich frage mich, worüber zum Teufel sie da redet. »Können wir darüber sprechen, wenn wir zu Hause sind?«
»Worüber sprechen?« Ich bin verwirrt. Worauf läuft das hinaus?
Jen reißt sich von mir los und ringt die Hände, in ihrem schönen Gesicht ein Ausdruck tiefer Frustration. »Gut. Bringen wir’s hinter uns. Ich will die Kündigung einreichen, Colin. Ich gehe.«
2. KAPITEL
Colin
»Kündigung? Was zum Teufel redest du da?«, schreie ich. Ich merke, wie sie erschrickt, und presse die Lippen aufeinander, komme mir wie ein Idiot vor. Doch ihre Worte werfen mich aus der Bahn, und ich bemühe mich nach Kräften, die Beherrschung zu bewahren.
Jen kann nicht kündigen. Sie arbeitet seit fast einem Jahr bei mir. Sie ist eine meiner besten Kellnerinnen. Das Restaurant, vor allem die Bar, funktioniert viel reibungsloser, wenn sie da ist. Doch das ist nicht der Grund, weshalb ich sie nicht gehen lassen will.
»Ich kann hier nicht länger bleiben.« Jen lässt den Blick durch das leere Restaurant schweifen, während sie abwesend über den geheimnisvollen Verband an ihrem Nacken streicht. »Fairerweise biete ich dir an, noch vier Wochen zu arbeiten. Das sollte genügen, um einen Ersatz für mich zu finden.«
Weiß sie denn nicht, dass sie unersetzbar ist? »Hast du einen anderen Job gefunden?« Das wäre die einzige Erklärung. Wenn sie die Arbeit hier so sehr hasst, hätte sie mir das sagen sollen. Dann hätte ich etwas tun können, um ihre Situation zu verbessern.
Nur was? Was kann ich noch tun?
Langsam schüttelt sie den Kopf. »Ich gehe fort.«
Was ist das nun wieder für ein Scheiß? »Zurück nach Hause?« Es fällt mir schwer das zu glauben, aber vielleicht ist sie nun nach allem, was geschehen ist, tatsächlich zu einem Wiedersehen mit ihrer Mom und ihrem Dad bereit. Nachdem sie von zu Hause weggelaufen war, ist sie nie wieder zurückgekehrt, und ich weiß, dass ihre Eltern sie vermissen. Ihre Mom hat mich mehr als einmal angerufen und sich nach Jen erkundigt. Die beiden haben auch miteinander gesprochen, aber nur selten, was ausschließlich an Jen lag. Vielleicht hat sie sich inzwischen eines Besseren besonnen.
Es gibt keine andere Erklärung für ihren Wunsch wegzugehen. Zumindest keine, die ich mir vorstellen kann.
»Nein.« Sie speit das Wort aus, als wäre es Gift, nimmt die Hand vom Nacken und strafft die Schultern. »Eine Rückkehr nach Hause kommt für mich nicht infrage. Ich ziehe nach Sacramento.«
»Sacramento? Verarscht du mich? Warum?« Ich weiß nicht mehr weiter. Mir ist völlig schleierhaft, aus welchem Grund sie weggehen will und was dieses verfluchte Sacramento zu bieten haben könnte, was so verdammt viel besser sein soll als das, was ich ihr geben kann.
»Ich brauche einen Ortswechsel, okay? Mir geht dieses spießige Kleinstadtleben total auf den Geist. Ständig begegnet man denselben Leuten. Und die meisten davon will ich gar nicht sehen.« Sie geht an mir vorbei. »Wir sollten dieses Gespräch nicht hier führen.«
Erneut halte ich sie am Arm fest, hindere sie am Weitergehen. Ich ziehe sie an mich, dringe in ihren privaten Raum ein. Ihr Geruch steigt mir zu Kopf wie der Duft einer exotischen Blüte, schwer und sinnlich. Berauschend. Ich senke den Blick zu ihrem Mund und beobachte gebannt, wie sie die Zähne in ihre pralle Unterlippe schlägt.
Verdammt. Das ist Folter pur. Ihre Nähe. Mit ihr hier, wo uns jeder sehen könnte, zu streiten. Mich mit ihr zu fetzen, als wären wir ein Liebespaar …
Wir tun so, als würden wir einander nicht wirklich etwas bedeuten, aber es wird Zeit, dass ich mir die Wahrheit eingestehe. Sie ist so tief in mein Leben verwoben, dass ich mir nicht vorstellen kann, ohne sie zu sein.
Ich will es mir auch nicht vorstellen.
»Wo sollten wir dieses Gespräch deiner Meinung nach denn führen?«, frage ich, um einen leisen und möglichst ruhigen Ton bemüht. Während ich in Wahrheit am liebsten toben und brüllen und mit Sachen um mich schmeißen würde.
Jen kann mich nicht verlassen. Was sie da sagt, ist für mich völlig unbegreiflich.
»Bei dir zu Hause?« Sie verdreht die Augen, fängt tatsächlich zu lachen an. »Obwohl wir uns dort nie unterhalten, stimmt’s? Im Grunde unterhalten wir uns sowieso nie.«
Ich lasse sie los, trete einen Schritt zurück, suche Abstand. Sie hat recht. Unsere Situation ist … eigenartig. Ich kümmere mich aus verworrenen Schuldgefühlen heraus um sie, und sie bleibt bei mir, denn wo sollte sie sonst hingehen? Ich weiß, sie ist dankbar für alles, was ich für sie getan habe. Wir halten unsere gemeinsame Vergangenheit vor den anderen Angestellten geheim, mit Ausnahme von Fable. Vor einigen Monaten hat Jen ihr unsere langjährige Bekanntschaft gestanden.
Anfangs war ich wütend, dass Jen Fable von uns erzählt hat. Dann habe ich mich damit abgefunden. Ich mag Fable. Sie hat es nicht leicht – hatte damals, als ich sie einstellte, extreme Probleme, doch sie ist aus ihrem Schneckenhaus herausgekommen, und mittlerweile sind Jen und sie beste Freundinnen. Ich habe mich sogar mit Fables Freund angefreundet. Wir vier waren ein paarmal zusammen aus, als hätten wir ein Doppel-Date oder so etwas in der Art.
Der lockere Umgang mit Jen fällt mir seltsamerweise nicht schwer, aber ich schaffe es nicht, unsere Beziehung in etwas Echtes zu verwandeln. Etwas Wahres. Ich wage es nicht, weil ich eine Scheißangst davor habe, alles kaputt zu machen.
Wenn man bedenkt, dass ich in meinem Privatleben schon so einiges kaputt gemacht habe, ist das eine legitime Angst.
»Du willst reden, wenn wir zu Hause sind? Okay, dann werden wir das tun«, sage ich schließlich.
Ihre Augen weiten sich. »Echt?«
»Klar. Was immer du willst, du brauchst nur darum zu bitten.« Ich breite die Arme aus und lasse sie dann seitlich herabfallen. Sie beobachtet mich aus ihren dunklen, unergründlichen Augen, taxiert mich, verunsichert mich. In ihren High Heels ist sie fast so groß wie ich, und ich bin gute Einsfünfundachtzig groß.
»Du gibst mir, was immer ich will.« Es ist eine Feststellung, keine Frage, und ich wundere mich darüber.
»Richtig«, stimme ich zu. »Wann habe ich dir jemals etwas verweigert?«
Sie lacht, doch es liegt keine Heiterkeit darin. »Du verweigerst mir ständig etwas.«
Verwirrt kratze ich mich am Kopf. Sie meint noch etwas anderes, das weiß ich, aber ich kann mir nicht vorstellen, was das sein soll. Außerdem bin ich todmüde und nicht in Stimmung für Spielchen, wenngleich Jen nicht der Typ für Spielchen ist. Doch sie ist schwer fassbar. Geheimnisvoll. Lässt sich nicht in die Karten schauen.
»Was ist dein Wunsch? Ich werde mich bemühen, dir entgegenzukommen.« Noch während ich die Worte ausspreche, ziehe ich eine Grimasse. Ich höre mich an wie der typische Boss.
Ein winzig kleines Lächeln spielt um ihre Mundwinkel. »Also gut. Lass mich gehen. Lass mich diesen Schritt tun, Colin. Ich kann nicht mein Leben lang von dir abhängig sein.«
Die Erkenntnis trifft mich mit voller Wucht. Ich komme mir wie ein Trottel vor. »Ist das das Problem? Dass du dich schlecht fühlst, weil ich dir helfe? Du bist für mich niemals eine Last, Jen. Das weißt du auch.«
»Nein, das weiß ich nicht, aber darum geht es gar nicht.« Sie seufzt, ihr Lächeln wird traurig. »Ich schätze deine Hilfe sehr. Und ich bin dir unendlich dankbar dafür, dass du mich aus meiner üblen Lage befreit hast, bevor alles … noch schlimmer geworden wäre. Du hast mich gerettet.«
»Das war das Mindeste, was ich tun konnte.« Eine grobe Untertreibung. Wenn ich ihren Bruder, meinen besten Freund, schon nicht retten konnte, dann zumindest seine kleine Schwester.
»Ich werde dir dafür mein Leben lang dankbar sein. Wirklich. Aber ehrlich gesagt, habe ich es satt, von dir gerettet zu werden. Mir ständig wie ein unmündiges Kleinkind vorzukommen. Ich möchte weggehen. Ich brauche meine Freiheit, um etwas Neues auszuprobieren, andere Möglichkeiten zu entdecken. In dieser miefigen Kleinstadt zu bleiben und tagein tagaus dasselbe zu tun wird meine Probleme gewiss nicht lösen.«
»Du hast Probleme?« Warum hat sie mir nichts davon erzählt?
»Ja. Tonnenweise. Alle möglichen Probleme, aber dir fällt das nicht auf, weil du zu sehr mit deinen eigenen Problemen beschäftigt bist.«
Damit hat sie wohl recht. »Ich will dir deine Freiheit nicht geben, wenn das bedeutet, dass du mich verlässt«, murmle ich und fühle mich wie ein egoistisches Arschloch. Ihre Miene verrät mir, dass sie das auch denkt. »Du kannst mich um alles bitten, Jen. Um alles. Nur … ich will dich nicht gehen lassen. Noch nicht.«
Ein verärgerter Ausdruck huscht über ihr Gesicht, verwandelt ihre Lippen in einen Strich, ihre Augen in Schlitze. »Ich kann dich um alles bitten?«
»Was immer es ist, du bekommst es. Ohne Wenn und Aber.«
»Gut.« Sie holt tief Luft, als müsste sie sich Mut machen. »Ich will dich.«
Jen
Er starrt mich an, als hätte ich den Verstand verloren, womit er vermutlich recht hat. Welcher Teufel hat mich da bloß geritten? Er wird mich zurückweisen. Das spüre ich genau. Ich mache ihm keinen Vorwurf deswegen. Es würde nicht funktionieren mit uns beiden. Das weiß ich. Und er weiß es auch. Ich trage ein großes Geheimnis mit mir herum, das ich ihm niemals anvertrauen könnte. Das allein würde eine Beziehung von vorneherein unmöglich machen.
Doch ich konnte mich nicht beherrschen. Ich musste es sagen. Ich glaube, insgeheim begehrt er mich auch.
»Du willst mich nicht«, sagt er schließlich mit einem bitteren Lachen und senkt den Blick zu Boden. »Glaub mir.«
An jedem einzelnen Tag, der vergeht, bricht er mir das Herz. Die tiefe Traurigkeit, die in jenen sechs Wörtern mitschwingt, geht mir so nah, dass mein Herz in Milliarden Teile zu zerspringen droht.
»Du sagtest, ich könne dich um alles bitten«, erinnere ich ihn in zaghaftem Ton. »Ohne Wenn und Aber.« Ganz bewusst pariere ich mit seinen eigenen Worten.
ENDE DER LESEPROBE