Verloren und gefunden - Anny von Panhuys - E-Book

Verloren und gefunden E-Book

Anny von Panhuys

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Beschreibung

Noch nie hat ein von Wetterland eine Bürgerliche geheiratet ... Der Tag, an dem sich Lisl Heyden ihrer Liebe zu ihrem alten Jugendgespielen Eberhard von Wetterland bewusst wird, ist ein bitterer, enttäuschender Tag für sie, zugleich aber auch ein Wendepunkt in ihrem Leben. Eberhard hat der scheinbar so unbedeutenden Lisl die reiche Kommerzienratstochter Annemie Heumann vorgezogen, jene hochmütige, blendend schöne Dame, die nur mit den Männern spielt und der keine Partie gut genug ist. Und so ereilt den jungen Mann denn auch bald das gleiche Geschick, das er selbst seiner Jugendfreundin Lisl bereitet hat. Doch das ist erst der Anfang. Mit viel Herz und Gemüt berichtet uns die Autorin auf spannend-unterhaltsame Weise vom ungewöhnlichen Schicksal und Lebensweg der jungen Lisl. Wir lesen von hilfreichen Menschen und von einem edlen Prinzen, von Liebe und Dankbarkeit, von Eifersucht und Intrigen. Im Mittelpunkt aber steht das kleine Haus des Zacharias Heyden in der alten Gasse am Mainufer, wo Lisl Heyden wohnt und schließlich ihr Glück findet.-

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Anny von Panhuys

Verloren und gefunden

Roman

Verloren und gefunden

© 1922 Anny von Panhuys

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711570104

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com

I

Franziska Mühsam kam von der Königsberger Straße her und ging über den Küstriner Platz. Die Junisonne meinte es schon allzu gut, und die Menschen schlichen müde ihren Weg.

Es war um die vierte Nachmittagsstunde, und Franziska Mühsam ging heim. Sie war froh, heute einmal etwas früher nach Hause zu kommen, da Frau Lademann mit Mann und Kind nach Tegel zu ihrer Schwester fuhr, um dort Geburtstag zu feiern; so bedurfte man ihrer heute nicht mehr.

Franziska lächelte ein wenig vor sich hin. Fast hatte sie ein Feriengefühl, wie früher, als sie noch zur Schule gegangen.

„Fränze, kleine Fränze, wo kommst du um diese Zeit her?“

Ein schlanker, junger Mann war plötzlich an ihrer Seite, neigte sich leicht zu ihr nieder, sah sie aus braunen Augen verliebt an.

Franziska Mühsam hob das runde Köpfchen mit einem Ruck, ihre blauen Augen blitzten den Frager an.

„Fritz, großer Fritz, und wo kommst du denn um diese Zeit her?“ stellte sie die Gegenfrage.

Er rückte seinen Strohhut etwas kecker.

„Ich bin Lebemann geworden, habe keine Lust, bei der Hitze zu arbeiten.“

„Ach, du Spießer, wer dir das glaubt!“ Sie hob in neckischer Drohung den Zeigefinger der Rechten. „Du machst doch nicht etwa blau, Freund Fritz?“

Sie hatte einmal an einer Litfaßsäule gelesen, daß eine Oper „Freund Fritz“ hieß. Deshalb nannte sie den Jugendfreund und Hausgenossen so, wenn sie in guter Laune war.

„Ich mache nie blau, Fränze, das weißt du doch.“ Er sprach leiser: „Dazu bin ich zu strebsam. Will doch voran, damit ich dem Mädel, das ich gern zu meiner Frau machen möchte, sagen kann: Sollst keine Not und Sorge bei mir haben, sollst hübsche Kleider tragen und nette Schuhe, weil du so ein liebes, süßes Ding bist, für das ich gern arbeite. Sollst in einem hübschen Hause wohnen, ein bißchen weiter draußen, wo die Straßen nicht mehr so staubig sind, wo du auf einem Balkon sitzen darfst, und wo man, wenn auch nur von weitem, ein paar grüne Bäume sieht.“

Franziska Mühsam zupfte den neben ihr Gehenden am Ärmel.

„Du, Fritz, das alles mußt du an der richtigen Stelle anbringen. Mich interessiert es gar nicht, was du deiner Zukünftigen alles zu geben gedenkst.“

Fritz Bernhardus zog die ein wenig düster gezeichneten Brauen hoch, wie erschreckt. Wie einer, der jäh aus schöner Illusion gerissen wird.

„Ich weiß, Fränze, du magst nicht hören, wenn ich Zukunftspläne schmiede, und ich tue es doch so gern, so gern, ich …“

Sie unterbrach ihn.

„Du bist ja längst vom Thema abgekommen, wolltest mir doch erklären, weshalb du so früh nach Hause gehst.“

Er lächelte schon wieder.

„Na ja, du neugierige Katze, sollst es gleich erfahren. Also, ich habe in unserer Bank seit einer Woche freiwillig Überstunden gemacht. Die meisten Angestellten hatten keine Lust dazu, weil es sich in diesem Falle um eine etwas langwierige und besondere Aufmerksamkeit erfordernde Arbeit handelte. Heute wurden wir fertig damit, und da bekamen wir außer unserer Extravergütung den Rest des Arbeitstages geschenkt.“ Er schlug leicht an seine Brusttasche. „Fränze, willst du heute abend mit mir ausgehen? Wir haben es wohl beide verdient, uns ein bißchen zu amüsieren. Ich weiß ja allerdings nicht, ob du heute schon frei bist?“

Sie nickte eifrig.

„Gott sei Dank, heute bin ich Freifräulein, morgen früh wieder besseres Kindermädchen bei Frau Photograph Lademann.“

Sie waren inzwischen schon ein Stück im Grünen Weg, waren nun zu Hause.

Franziska wohnte im linkën Seitenflügel bei ihrer Mutter, während Fritz Bernhardus, dessen Eltern tot waren, im Vorderhaus wohnte, im ersten Stock, bei dem Bruder seines Vaters, dem Malermeister Bernhardus.

Fritz ging neben Franziska durch den breiten Torweg, begleitete sie bis zur Tür, die in den Hof führte, diesen traurigen, öden Hof, der rings von hohen, grauen Häusern eingefaßt war.

„Also, wie ist’s, Fränze, wollen wir nachher bummeln? Sei lieb, sage ja! Wir gehen bald und kommen dann nicht so spät zurück. Ich sage Onkel und Tante, ich hätte noch eine Verabredung mit einem Kollegen; du darfst wohl deiner Mutter die Wahrheit sagen, denn sie ist ja vernünftig. Um sechs wollen wir uns treffen, drüben an der Ecke. Von da fahren wir hinaus und genießen ein paar schöne Stunden. Nach der Hitze heute muß der kühle Abend gut tun.“ Er blickte sie zärtlich an.

„Wie ist es, kleine Fränze?“

Sie sah seine guten, hübschen Jungenaugen bittend auf sich gerichtet und nickte.

„Ich werde kommen, Freund Fritz, bin selbst froh, mal aus dem elenden Viertel hier ’rauszukommen.“ Sie verzog den Mund. „Weshalb muß ich hier herein geboren sein, in soviel Ärmlichkeit und Elend! Wohin man hier guckt, niemand lacht froh und zufrieden. Gebrochene Menschen rings um einen herum, man wird alt von den vielen Sorgen der anderen, ohne richtig jung gewesen zu sein. Ach du, Fritz …“ Sie brach ab.

Eine polternde Männerstimme rief über die Parterretreppe des Vorderhauses: „Det Herumstehen an die Haustüren is verboten!“

Aha, Vizewirt Lüdicke zeigte wieder einmal, welch ein mächtiger Mann er war.

Franziska brummte: „Altes Ekel!“

Fritz aber lachte: „Also um sechs Uhr, Fränze, und mach dich recht hübsch, bitte, recht hübsch für mich.“

Ihre Blauaugen glänzten übermütig.

„Das sollte mir gerade einfallen! Da müßte ein anderer kommen — für einen kleinen Bankbeamten strenge ich mich nicht an.“

Die polternde Männerstimme schimpfte wieder: „Wer quasselt denn da unten wie’n Wasserfall?“

Der Mann schlurfte die Treppe hinunter. Husch, war Fränze über den Hof und im Seitenflügel verschwunden, während Fritz Bernhardus ein paar Schritte zurückmachte und anscheinend erst jetzt von der Straße her den Hausgang betrat.

Mitten auf der Parterretreppe stand der Vizewirt Lüdicke, seines Zeichens Schneidermeister.

„’n Dag, Fritze, haste hier kee’n mehr jesehn? Da haben sich zwee seit ’ne Stunde uff’n Flur unterhalten, und det soll doch nu mal nich sin. Det stört de Hausbewohner, und ick halte uff Ordnung.“

„Ich bin eben erst gekommen, Herr Lüdicke, und habe niemand gesehen“, log Fritz sehr ernst.

Der dicke Vertreter des Hausbesitzers schlurfte brummend in seine Parterrewohnung zurück, und Fritz Bernhardus hörte ihn drinnen zu seiner Frau grollen:

„Mir reibt det uff, hier Vizewirt zu spielen. Unsereens zu schade for det Volk, det keen Plie hat. Ach Jott, mir macht det janz nervös!“

Kopfschüttelnd und leise vor sich hinlachend, stieg Fritz Bernhardus die nächste Treppe empor. Wilhelm Lüdicke trug ja schon längst den Spottnamen „Mosjö Nervös“.

Im linken Seitenflügel, vier Treppen hoch, wohnte Frau Mühsam, zu der dieser Name paßte, als hätte sie ihn sich selbst ausgesucht. Dürftig und klein, mit graugelbem Gesicht und verblaßten, großen Augen, öffnete sie auf Franziskas Klingeln die Tür. Wich vor ihrem eigenen Kinde zurück wie vor einem Geist.

„Fränzeken, du? Was ist denn los, hat dich Frau Lademann …?“

Ihre Stimme versagte vor Bangen.

„Du meinst, ob sie mich ’rausgeschmissen hat?“ lachte Franziska und trat ein, die Tür hinter sich mit energischem Ruck schließend.

Nun stand sie in der schmalen Küche, denn vom Treppenhaus kam man direkt in die Küche. Ein Korridor, selbst der allerkleinste, erschien in diesen Mietskasernen als Luxus.

Fränze schob die Mutter sanft vor sich her in die sogenannte „gute Stube“.

Aber wie dürftig war das Zimmer! Ein Schränk aus Nußbaumholz, eine niedrige Kommode mit Spiegel, ein Vertiko und ein mit dunkelgrünem Wollrips bezogenes Sofa bildeten die Haupteinrichtung. Dazu kamen ein, Tisch mit roter Plüschdecke, sowie mehrere Rohrstühle und ein paar bunte Öldrucke an den Wänden. Am wichtigsten tat eine Nähmaschine.

Franziska drückte die Mutter in einen Stuhl.

„Frau Lademann ist heute mit ihrem Mann und dem kleinen Karl nach Tegel zum Geburtstag ihrer Schwester, und da durfte ich eher fortgehen. Weiter hat mein Kommen keinen Grund“, erklärte sie.

Die kleine, vergrämt aussehende Frau atmete sichtlich auf.

„Gott sei Dank! Es wäre auch zu furchtbar gewesen, wenn …“ Sie preßte die Handflächen fest gegeneinander. „Du hast es gut, kriegst pünktlich dein Geld und brauchst dich nicht so abzurackern, wie ich es in deinem Alter mußte.“

Wie heimliches Weinen ging es durch die letzten Worte, wie heimliches Weinen um verlorene Jugend.

Franziska sah die Mutter mitleidig an.

„Du bist immer viel zu geduldig gewesen, Mutter hast dir aufpacken lassen wie einem Lastesel.“ Sie strich ihr über das graue Haar, das überreich das abgemagerte Gesicht umgab. „Hättest dich wehren müssen. Erst gegen deine Eltern, die dich ausnützten, dann gegen deinen Mann.“ Sie stieß einen unfrohen Laut aus. „Ich müßte ja eigentlich sagen, gegen den Vater! Alle haben dich ausgesogen, dir Kraft und Lebensfreude genommen, bis du zerbrochen bist an ihnen. Deine Eltern sind lange tot. Vater verschollen, irgendwo am Wegrand umgekommen, wie es manchmal Trinkerschicksal ist, und keiner von ihnen hat je danke zu dir gesagt im Leben.“

Sie strich immer hastiger über das Haar der geduckt dasitzenden Frau.

„Mütterchen, jetzt aber sei gescheit, quäle dich nicht so weiter. Ich verdiene doch ganz nett, und ob du wöchentlich ein paar Blusen mehr ablieferst oder weniger, ist doch egal. Wozu denn so wahnsinnig drauflosnähen, daß dir von Tag zu Tag die Brust immer weher tut! Wir kommen doch aus. Mußt du denn jede Woche noch ein paar Mark beiseitelegen?“

Frau Mühsam blickte zu der vor ihr Stehenden empor mit ihren müden, müden Augen.

„Fränze, ich freue mich doch, was zusammenzusparen. Wirst heiraten, und eine kleine Ausstattung sollst du deinem Mann doch wenigstens mitbringen.“ Sie lächelte ein schattenhaft auftauchendes und ebenso verrinnendes Lächeln. „Ich glaube, der Fritz aus dem Vorderhaus wird mal dein Mann, der Junge hängt ja wie ’ne Klette an dir. Gut wäre der zu dir, und eine feine Frau würdest du durch ihn. Bankbeamter ist doch was.“ Sie faltete die mageren Hände. „Kind, es muß schön sein, einen Mann zu haben, der einen liebhat! Fränzchen, es gibt so viele andere, die haben ’n schlechten Charakter, meinen aber noch wunder wie gut gegen eine arme Frau zu sein, weil…“, sie stockte, „na ja, weil’s eben nur ’ne Frau is. Fränzchen, du sollst es gut haben in der Ehe, dich soll keiner piesacken und kaputt machen. Der Fritz ist ein anständiger Mensch, seine Liebe geht nicht in den ersten paar Wochen entzwei, die hält durch ein ganzes Leben, glaube ich.“

Franziska nickte.

„Ja, Mütterchen, hast recht, aber sieh mal, er ist doch noch so jung, kaum zweiundzwanzig, und ich bin siebzehn. Wir müssen beide noch lange warten. Er hat nichts, und ich habe noch viel weniger, wenn das möglich wäre. Sein Onkel, der bis zum vorigen Jahr sein Vormund gewesen, gibt doch überhaupt nicht zu, daß Fritz mich heiratet. Der Herr Malermeister will doch hoch hinaus mit ihm, weil Fritz doch auf dem Gymnasium gewesen ist. Und seine Tante guckt mich immer, wenn sie mir im Torweg begegnet, so hochmütig, nein, verächtlich an, daß ich ordentlich Angst vor ihr habe.“ Sie machte eine heftige Abwehrbewegung. „Nein, Mutterchen, das gäbe nur Kämpfe, gäbe endlosen Ärger.“

Frau Martha Mühsam schüttelte den Kopf.

„Die jungen Leute von heute sind so nüchtern, überlegen alles so gründlich. Ich glaube, sie lieben nur mit dem Kopf, statt, wie man es früher tat, mit dem Herzen.“

„Möglich, Mütterchen, möglich“, gab Franziska zu, und sie dachte, hätte ihre Mutter in ihrer Jugend auch ein bißchen mehr mit dem Kopf anstatt mit dem Herzen geliebt, dann brauchte sie jetzt nicht vom frühen Morgen bis zum späten Abend an der Nähmaschine zu sitzen und Heimarbeit zu machen.

Ach, leid tat ihr die alternde, vergrämte und zermürbte Mutter, so bitterleid, daß sie ihr alle Schätze der Welt zu Füßen hätte legen mögen, und konnte doch so wenig für sie tun. Sie wünschte nur sehnlichst, irgendwie vorwärtszukommen, damit sie die Mutter von der Heimarbeit befreien konnte.

Frau Mühsam erhob sich.

„Willst du Kaffee haben, Fränzeken?“

„Nein, ich habe schon bei Frau Lademann getrunken, Mutter; doch wenn es dir recht ist, gehe ich später noch ein paar Stunden weg. Bin dem Fritz vorhin am Küstriner Platz begegnet, er hat mich eingeladen.“

„Natürlich, Fränzeken, natürlich! Fritz ist ein guter Mensch, mit dem kannst du überall hingehen.“ Das vergrämte Gesicht War von dem Schein einer frohen Hoffnung überhaucht. „Aus euch beiden wird doch noch ein Paar. Denke daran, daß ich dir das gesagt habe, Fränzeken, wenn ich es nicht mehr erleben sollte. Ach, Fränzeken, besser könnte ich dich gar nicht aufgehoben wissen.“

Das Mädchen widersprach nicht mehr. Wenn sich die Mutter in der Hoffnung, daß aus Fritz Bernhardus und ihr ein Paar wurde, glücklich fühlte, gönnte sie ihr das Glück von ganzem Herzen.

Frau Mühsam ging an ihre Nähmaschine, und während sich Franziska nebenan in der kleinen Kammer für den Ausgang vorbereitete, klang in all ihr Denken das Schnurren und Surren der Maschine. Ein ihr seit frühesten Kindertagen verhaßtes, einförmiges Geräusch.

Sie kannte die Mutter kaum anders, als hinter der abscheulichen Maschine sitzend. Nie hatte sie Zeit gehabt, mit ihr einen Spaziergang zu machen wie andere Mütter mit ihren Kindern. Immer hatte die Mutter die Maschine treten müssen, und wenn sie in kindlichem Zorn auf die Maschine losgeschlagen und sie ein böses, böses Tier genannt hatte, dann war sie von der Mutter ermahnt worden, das nicht mehr zu tun. Die Nähmaschine sei gut und willig. Ohne die gute Nähmaschine würden sie beide verhungern müssen.

Erst allmählich hatte Fränze die mütterlichen Worte begriffen, hatte auch erst allmählich erfahren, daß es Männer gab, die ohne jedes Pflicht- und Verantwortungsgefühl von Frau und Kind fortlaufen, irgendwo in die Welt hinein, die den Alkohol mehr lieben als alles andere. Hatte erst allmählich begriffen, daß so einer ihr Vater gewesen, der seit fünfzehn Jahren verschollen war.

Ihr graute vor diesem Manne, dessen sie sich nicht mehr zu entsinnen vermochte. Die Mutter besaß ein Bild von ihm; darauf war er ein schlanker, beinahe vornehm aussehender Mensch, dem sie ähnelte.

Auf dem Bilde hielt er eine Geige unter dem Arm. Er war Musiker gewesen, hatte des Abends im Zirkus gespielt und am Tage Unterricht gegeben. Hatte auch in dem Hause, darin die Eltern der Mutter wohnten, Musikunterricht gegeben, dabei die Mutter kennengelernt und rasch, nur zu rasch ihr Herz gewonnen. Die Eltern der Mutter starben bald, hinterließen ihr nicht mehr als ein paar anständige Möbel und ein winziges Sparguthaben. Die Möbel, das Spargeld, alles brachte Xaver Mühsam in kurzer Zeit durch, und dann verschwand er, ward ein paarmal von der Polizei in vollständig betrunkenem Zustande heimgebracht, bis er wieder fortblieb, nie mehr wiederkam.

Franziskas Gesichtsausdruck war düster. Sie haßte den Mann, der die Mutter und sie in Not und Elend gelassen hatte.

Sie riß das Kamerfenster auf. Es war stickig heiß hier in diesem schmalen Zimmerchen. Zwei Betten standen hier, ein Tisch und ein Reisekorb. ln dem Kämmerchen schlief sie mit der Mutter.

Franziska schüttelte sich. In der Nachbarschaft rüstete man zum Abendbrot. Alle möglichen Gerüche strömten durchs Fenster in den engen Raum. Ach, und sie sehnte sich doch so sehr nach frischer Luft.

Sie freute sich jetzt auf den Ausgang mit Fritz Bernhardus und begann ihr Haar zu lösen. Sie sollte sich ja heute recht hübsch für ihn machen. Das hätte er ihr gar nicht zu sagen brauchen, das war doch selbstverständlich.

Sie stand vor dem kleinen, trüben Spiegel und bürstete ihr langes Haar. Wie dunkles Gold war es, mit matten, rötlichen Reflexen. „Eine ganz, ganz seltene Farbe“, hatte einmal die Tochter des Geschäftsmannes, für den die Mutter nähte, zu ihr gesagt; „ein sehr geschickter Friseur könnte diese Schattierung möglicherweise mit einer Hennafarbe fertigbringen, jedenfalls sind Sie beneidenswert, so köstliches Haar zu besitzen.“ Auch sie selbst fand ihr Haar hübsch. Fritz hatte schon als Junge gesagt, sie sei durch das Haar sehr auffallend, man würde lange suchen müssen, um das gleiche zu finden.

Sie scheitelte die weichen, leicht gewellten Strähnen, steckte sich eine eigene, kleidsame Frisur zurecht.

Die großen, blauen Augen lachten sie im Spiegel an, und die feine, kurze Nase stand selbstbewußt mit leise bebenden Flügeln über dem leicht geöffneten Mund, hinter dessen Lippen die schneeigsten Zähne blitzten. Dunkel waren Brauen und Wimpern, zart und schmal der Hals und von demselben rosigen Ton wie Gesicht und Arme.

Über ihrem weißen Bett lag ihr weißes Sommerkleidchen, es war einfach gemacht, nur ein wenig Waschspitze umgab den Hals und die kurzen Ärmel, aber es wand sich so schmiegsam um ihre herbe, noch nicht völlig entwickelte Schlankheit, daß es elegant wirkte.

Sie sah auf ihr bescheidenes Silberührchen, das sie Weihnachten von Frau Lademann geschenkt bekommen. Schon einhalb sechs. Also noch eine halbe Stunde bis zum Treffen mit Fritz.

Sie drückte langsam den einfachen Strohhut auf das üppige Haar, zupfte ein paar weiche Wellen lose daraus hervor und nahm dann ihr kleines, schon etwas schäbiges Handtäschchen.

Frau Mühsam freute sich immer, wenn sie ihr Töchterchen so hübsch und adrett wie jetzt vor sich sah.

„Sei recht vergnügt, Fränzeken“, rief sie ihr noch nach und kehrte dann an ihre Nähmaschine zurück.

Aber nähen konnte sie doch nicht. Ein paar Minuten wollte sie still, ganz still sitzen.

Eben hatte Franziska sie wieder mehr als je an den Mann erinnert, der doch eigentlich kein Erinnern wert war, wie ihr Franziska, wie sie sich selbst sagte. Und zu dem ihr Gedenken doch noch immer flog. Niemals hatte sie ihn vergessen können, der auf- und davongegangen war für alle Zeit, ohne ihr auch nur das kleinste Abschiedswort zu gönnen. Dennoch verzehrte sie sich in Sehnsucht, zu wissen, wo er geendet. Trotz aller Erkundigungen hatte sie nichts über sein Schicksal erfahren können, nichts.

Ob fern, ob nah, wo lag sein unbekanntes Grab, wo ruhte er aus von seinem verfehlten Leben — wo?

Das war wie eine endlose, immer wiederkehrende Frage, die an ihr zehrte, ihr Herz und Kopf müde machte, ihren armen Körper zerquälte und zu frühem Altern verurteilte.

Sie barg das Gesicht in den Händen und schluchzte laut auf vor grenzenlosem Jammer.

Vor ihrem Kinde ließ sie niemals merken, daß ihre Liebe standgehalten trotz Enttäuschung und Not, trotz Verachtung und trotz Verlockung, die ihr als junge, hübsche Frau auch genaht war, daß ihre Liebe standgehalten wie ein hoher, starker Deich, den kein Wogenprall zu brechen vermag, daß ihre Liebe standgehalten, weil sie eben die wahre Liebe gewesen, von der es in der Bibel heißt, daß sie alles duldet, alles trägt.

O, wüßte sie sein Grab, um ein paar Blumen daraufzulegen, um über sein letztes Bett ein Gebet zu sprechen und ihm zu sagen: Schlafe in Frieden, ich zürne dir nicht, denn Liebe und Vergebung sollen eins sein!

Ein leichtsinniger, genialer Mensch, war er an ihr vorbeigeschritten, hatte kurze Rast bei ihr gemacht, und nun sehnte sie sich nach ihm ihr ganzes Leben hindurch.

In ihren matten Augen leuchtete es auf: Auch die Sehnsucht war schön. War wie ein süßes, fernes Lied, das eine weiche, dunkle Geigenstimme sang. Wie ein Lied von denen, die er ihr einst gespielt in jener Zeit ihres kurzen, allzu kurzen Glücks.

*

Franziska Mühsam und Fritz Bernhardus bestiegen eine Elektrische und fuhren nach dem Potsdamer Platz. Von dort wanderten sie zum Tiergarten und suchten sich eine Bank, wo das Leben an ihnen vorbeiflutete.

Franziska blickte sehr interessiert den Trägerinnen eleganter, teurer Kleider nach.

„Nicht wahr, es würde dir auch Vergnügen machen, dich so nobel anzuziehen, Fränze?“ fragte Fritz.

„Natürlich, das macht doch jedem Mädchen Vergnügen“, gab sie mit aufleuchtenden Augen zurück.

Er blickte auf ihr weißes Waschkleid.

„Aber dein Kleid steht dir entzückend, Fränze; von allen Mädels, die hier bis jetzt vorbeigingen, bist du die Allerhübscheste, und so dumm es dir auch klingen mag, auch die Eleganteste in meinen Augen. Nun, das kommt von deiner schlanken, reizenden Figur. Wirklich, bis jetzt sah ich hier noch keine, die auch nur annähernd so hübsch war wie du.“

Die beiden hatten gar nicht darauf geachtet, daß eine sehr vornehm gekleidete Dame in mittleren Jahren auf ihrer Bank Platz genommen hatte und Fränze Mühsam mit großer Aufmerksamkeit beobachtete. Allerdings in völlig unauffälliger Weise.

Erst als die Dame, die nicht lange Rast gemacht, aufstand, wurden die beiden aufmerksam. Doch sahen sie nur noch den Rücken der Dame, die ziemlich stark war, ein schwarzseidenes Mantelkleid trug und einen hypermodernen Hut. Eine kleine, volle Hand nestelte an der Haarspange herum, und dabei blitzte ein seltsamer Ring auf, wie eine Spinne aus Brillanten und Smaragden. Weißes und grünes Geflimmer in herrlicher, eigenartiger Zusammenstellung. So einen Ring hatte Franziska noch nie gesehen, und sie blieb doch so oft vor den Juwelierläden stehen.

„Komisch, mir ist’s gar nicht aufgefallen, daß wir Nachbarschaft hatten“, lachte Fritz. „Aber die Hauptsache ist, daß wir wieder allein sind! Fränze, ich bin ja so glücklich, so ruhig neben dir sitzen zu dürfen. Wie schön muß es sein, wenn wir erst für immer zusammenbleiben dürfen. Für immer.“ Er preßte den schmalen Mädchenarm in überquellendem Glück. „Weißt du, Fränze, ich habe dich schon liebgehabt, als du noch ein ganz kleiner Balg warst. Du warst sechs, ich elf Jahre, als wir uns zum ersten Male unterhielten, wir kamen beide mit den Mappen aus der Schule. Ich dachte damals: Solche Haarfarbe wie du könnten nur Märchenprinzessinnen haben, ich ahnte nicht …“

„Daß du statt einer Märchenprinzessin die Tochter einer armen Näherin vor dir hattest“, vollendete sie mit bitterem Auflachen.

„O Fränze, bitte, sprich nicht so!“ flehte er ganz erschrocken. „An so etwas habe ich noch nie gedacht.“

Franziska lächelte seitlich zu ihm hin, ohne völlig den Kopf zu wenden.

„Fritz, du bist ein guter Mensch, aber sieh doch ein, wir dürfen uns nicht in Zukunftshoffnungen verrennen, die nie in Erfüllung gehen werden. Ich fürchte mich vor traurigen Enttäuschungen; aus uns beiden wird ja doch kein Paar. Das geben deine Verwandten gar nicht zu.“

Er konnte ihr darin nicht unrecht geben, konnte ihre Bedenken nicht mit ein paar Worten, einem Lachen verscheuchen, wie er es so gern getan hätte. Er kannte Onkel und Tante zu gut, hatte sich schon oft gegen spöttische, auf Franziska gemünzte Bemerkungen der beiden wehren müssen.

„Liebe Fränze“, begann er sanft, „es geht ja im Leben bekanntlich nicht alles so glatt, wie man gern möchte. Onkel und Tante haben mich zu sich genommen, haben mich armen Waisenjungen anständig erzogen und sehen in mir einen Sohn. Ich glaube, sie haben mich auch lieb in ihrer Weise. Jedenfalls habe ich es immer gut bei ihnen gehabt. Ich bin überzeugt, du bist keine Frau für mich nach ihrem Herzen. Sie würden mir ein reiches Mädchen aussuchen, das gut kochen kann, das mit Tante über den lieben Nächsten klatscht, mit ihr Kaffeekränzchen besucht, im übrigen sehr stolz auf ihre Tugenden und ihr Geld ist und mit mir schimpft, wenn ich in einem Zimmer mit weißen Gardinen rauche. Die dann allmählich immer dicker wird, mich zu Tode langweilt und, wenn sie das besorgt hat, als untröstliche Witwe hinter meinem Sarge hergeht.“

Franziska mußte laut lachen.

„Du redest zu komisches Zeug, Freund Fritz!“

„Ich möchte natürlich keinen Streit mit Onkel und Tante, wenn es sich irgendwie vermeiden läßt, aber wenn sie sehen, ich lasse nicht ab von dir, werden sie sich ja auch wohl fügen und dich allmählich sogar liebgewinnen. Ich meine, alle Menschen müßten dich liebgewinnen, kleine, süße Fränze.“

Er sah sie zärtlich an.

„Wir sind ja noch jung, und ich will fleißig sein und mich hocharbeiten. Ich beherrsche Französisch und Englisch und jetzt nehme ich spanischen Unterricht. Sprachkenntnisse helfen einem immer schnell weiter, wenn man sonst nicht gerade dumm ist. In zwei bis drei Jahren heiraten wir dann, kleine Fränze, dann bist du erst neunzehn oder zwanzig, also noch immer sehr jung. Deine Mutter kommt dann zu uns, und wir leben sehr, sehr glücklich zusammen.“

Wie schön und rein der Ton war, den Fritz Bernhardus mit seinem Herzen anschlug!

Franziskas aufstrahlender Blick traf den seinen.

„Meine Mutter kommt dann zu uns“, lächelte sie. „Ja, das wäre gut, Freund Fritz, Mutter hätte ein paar friedliche und sorglose Jahre verdient.“

„Hast du mich lieb, kleine Fränze?“ fragte er dringend. Die blauen Augen wurden ganz dunkel.

„Ach, Fritz, das weiß ich selbst nicht. Du gehörst in mein Leben, ich kann mir nicht vorstellen, daß du einmal nicht mehr darin bist. Das ist so wie mit Mutters Nähmaschine und wie mit dem Haus, in dem wir wohnen. Soweit meine Erinnerung reicht, war das alles da, und du auch. Ob das nun Liebe ist, Fritz, das weiß ich wirklich nicht.“

„Aber ich weiß es, Fränze, ganz sicher weiß ich es, denn auf so viel Liebe, wie ich für dich empfinde, kann nicht, wenn ich das Wort Liebe zu dir hinüberrufe, das Wort ‚Gewohnheit‘ als Echo zurückkommen.“

Franziska Mühsam war es, als striche eine sanfte Hand über ihr Herz. Sie neigte das hübsche Köpfchen.

„Du sagtest vorhin, noch zwei oder drei Jahre müßten wir warten, da habe ich ja noch Zeit, dir Antwort zu geben, Freund Fritz.“

Er lächelte heimlich.

„Nein, süße, kleine Fränze, so lange warte ich nicht auf deine Antwort. Will ja auch gar keine, ich weiß ja, du hast mich genau so lieb wie ich dich, und weil ich davon überzeugt bin, will ich arbeiten und streben, damit ich dir bald ein eigenes Heim bieten kann.“ Er zog sie sanft empor, stand mit ihr zugleich auf. „Nun wollen wir gehen und Abendbrot essen.“

Er schritt neben Fränze her und freute sich ihres schlanken Liebreizes, als wäre sie längst sein eigen.

Auf einer etwas entfernten Bank saß die Dame, die vorhin ein paar Minuten neben ihnen gesessen. Sie zog den dicht punktierten Schleier vor die blassen, vollen Züge und folgte den beiden in kurzer Entfernung. Sie folgte ihnen auch in das Gartenlokal, nahm an einem Tisch, einige Reihen zurück, Platz, beobachtete sie und wartete geduldig, bis sie fortgingen. Dann folgte sie ihnen wieder unbemerkt, als sie langsam, jetzt Arm in Arm, durch die immer dunkler werdenden Tiergartenwege schritten. Sie folgte ihnen sogar bis zum Autohalteplatz am Brandenburger Tor.

„Ach, Fritz, das ist doch Verschwendung“, wehrte sich Franziska dagegen, „im Auto heimzufahren.“

Sie war noch niemals Auto gefahren, und es reizte sie sehr, dieses Vergnügen kennenzulernen.

Er lachte.

„Kleine Fränze, dein Abendbrot hat mich nicht viel gekostet, komm, steige ein. Wir fahren bis zum Schlesischen Bahnhof, von dort ab geht jeder allein nach Hause.“

Fränze besann sich nicht mehr. Heute war nun einmal ein besonderer Tag, sie hatte Ferien, und die mußten schön enden. Eine Autofahrt war sogar etwas Wunderschönes.

Hei, wie man dahinglitt, wie eine ganz vornehme Dame kam sie sich vor.

Sie fuhren jetzt durch dunklere Straßen, Fritz Bernhardus haschte nach Franziskas Hand.

„Mädelchen, süßes, sage mir, ob du Geduld haben willst, bis ich dir ein Nestchen bieten kann, wie du es verdienst.“

Sie lachte leise und girrend, mit einer Beimischung von natürlicher Koketterie. Es war auch zu hübsch, wenn Fritz ihr von solchen Dingen redete.

Er zog ihre Hand an die Lippen.

„Ich habe dich unsagbar lieb von je.“ Er legte seinen rechten Arm um ihre Hüfte. „Fränze, warte auf mich, die Hoffnung auf deinen Besitz wird mich immer mehr zur Arbeit anspornen.“

Er neigte sich näher und küßte den Jungmädchenmund. Küßte ihn wieder und wieder, und Fränze ließ sich küssen und dachte dabei, daß sie Fritz Bernhardus wohl auch sehr liebhabe.

Viel zu schnell war die Fahrt zurückgelegt, als sie vor dem Portal des Schlesischen Bahnhofs vorfuhren. Sie standen, während Fritz bezahlte, noch einen Augenblick zusammen, dann trennte sie sich.

„Gute Nacht, Fränze, meine Fränze.“ Fritz Bernhardus hielt die kleine Mädchenhand, als wollte er sie nie mehr lassen.

Franziska Mühsam lachte. „Au! Du tust mir weh! Gute Nacht, auf Wiedersehen!“ Sie entzog ihm die Hand und eilte fort.

Beide hatten nicht bemerkt, daß ihrem Auto ein anderes gefolgt, daß am Schlesischen Bahnhof eine üppige, tief verschleierte Dame in schwarzem Mantelkleid ausgestiegen war und nun Franziska in einer Entfernung von wenigen Schritten bis vor die Haustür folgte.

Auch durch den matt beleuchteten Torweg des Vorderhauses folgte ihr die Dame, beobachtete, daß sie über den Hof schritt und im linken Seitenflügel verschwand.

Eine Frau kam von oben. Die verschleierte Dame blieb stehen, wünschte guten Abend, fragte, ob hier im Hause ein Fräulein Gregor wohne, eine berühmte Tänzerin.

Die Frau musterte die vor ihr Stehende mißtrauisch.

„Berühmte Tänzerinnen wohnen nicht in unsere Jejend, da müssen Se mal uffn Kurfürstendamm fragen.“

Sie wollte weitergehen.

Die Verschleierte sagte sehr höflich: „Aber eben vor mir ging doch eine junge Dame in einem weißen Kleide die Treppe hinauf. Sie müssen ihr doch begegnet sein. Ich meine, das wäre Fräulein Gregor gewesen? Ich konnte sie leider nicht mehr einholen und weiß nun nicht, an welcher Tür ich klingeln soll.“

„Det Klingeln könn’ Se sich überhaupt sparen, det spillerische Ding mit de weiße Kleedasche war de olle Mühsam ihre Dochter Franziska. Die is Kinderjärtnerin zweeter Jüte. Zu de Ausbildung erster Jüte hat et nich jelangt. Det, wat de olle Mühsam ihr Mann war, det is en Musika jewesen, is er wechgeloofen, und nu is er vascholl’n.“

Sie setzte plötzlich ihre in Filzpantoffeln steckenden Beine wieder in Bewegung.

Die Fremde lachte kurz auf. Dieses Klatschweib hatte ihr ein guter Zufall in den Weg geschickt, sie war nun genau unterrichtet über alles, was sie zu wissen gewünscht, ja sogar über mehr.

Langsam stieg die Dame die Treppe wieder abwärts und verließ schnellen Schrittes das Haus. An der nächsten Straßenecke begegnete ihr ein leeres Auto. Sie rief den Chauffeur an, nannte als Ziel „Hotel Exzelsior“.

Im Wagen zog sie den Schleier wieder bis über den Hutrand hoch. Es war so heiß gewesen hinter dem dichten Gewebe. An ihrer Linken blitzte der seltsame Ring, der Franziska Mühsam vorhin im Tiergarten aufgefallen, dieser Ring, der geformt war wie eine Spinne aus Brillanten und Smaragden. Weißes und grünes Geflimmer in herrlicher, eigenartiger Zusammenstellung.

II

Franziska Mühsam hatte der Mutter erzählt, wo sie mit Fritz gewesen, auch daß sie ein paar sehr hübsche Stunden mit ihm verlebt hatte, aber von allem, was Fritz Bernhardus von der Zukunft zu ihr gesprochen, erwähnte sie kein Wort.

Sie wußte wohl, die Mutter würde sich darüber gefreut haben, sie hatte aber das Gefühl, es sei klüger zu schweigen.

Lange fand sie keinen Schlummer und dachte an die vergangenen Stunden zurück.

Dabei fragte sie sich, weshalb sie sich eigentlich nicht so richtig freuen könnte, und hatte doch so ein wundervolles Gefühl von Ruhe und Geborgenheit empfunden, als Fritz sie küßte. Sie hätte die Arme um seinen Hals schlingen mögen und ihn bitten: Sage deinen Verwandten schon heute, wie wir miteinander stehen, beginne schon heute den Kampf, der dir ja doch nicht erspart bleibt!

Aber sie hatte den Mut dazu nicht aufgebracht.

Nun grübelte sie und sann. Sollte sie Fritz bei der nächsten Gelegenheit Zureden, Onkel und Tante schon jetzt alles zu sagen, oder war das unklug?

Wenn sich nun seine Verwandten, was ihr sicher schien, gegen die Aufnahme ihrer Person in die Familie wehrten, dann trieb sie Fritz sofort in endlose Unannehmlichkeiten hinein oder führte gar einen Bruch mit seinen Verwandten herbei und schadete dadurch ihm.

Ein paar Jahre mußten sie ja doch noch warten, sie war ja eigentlich auch noch viel zu jung zum Heiraten. Aber eine andere Stellung wollte sie sich suchen; doch auch das war ja so schwer, so schwer! Das Angebot in allen Berufen überwog bei weitem die Nachfrage, und nur ganz besondere Leistungen hatten noch Aussicht, bevorzugt zu werden.

Was aber konnte sie? Sie war Kindergärtnerin zweiter Klasse. Sie hatte ja keine höhere Schule besucht. Wohl besaß sie ein gewisses Talent, mit Kindern umzugehen, das hatte man ihr im Kindergärtnerinnenkursus oft gesagt, auch ihr Abgangszeugnis ließ nichts zu wünschen übrig. Und doch hatte sie keinen besonderen Erfolg damit zu verzeichnen. Anstatt von einer vornehmen Dame aus dem Berliner Westen engagiert zu werden, war sie froh gewesen, nach langem Warten bei Photograph Lademann unterschlüpfen zu können.

Sie mußte dann an Adele Toll denken. Die war die Tochter vom Vizewirt nebenan und vier Jahre älter als sie. Als Tippfräulein war sie vor zwei Jahren nach Amerika gefahren. Sie hatte dort eine Tante, die war Haushälterin bei einem reichen, alten Fabrikbesitzer. Vor kurzem war sie nun hier gewesen. Die ganze Straße hatte gestaunt und Adele Toll bewundert wie einen seltenen, fremdländischen Vogel. Kleider, Hüte und Wäsche besaß sie, wie sie eine Fürstin nicht besser haben konnte. Steine blitzten in ihren Ohren, die waren wie Haselnüsse groß gewesen, und an ihren Fingern glitzerte und sprühte es. Sie war inzwischen die Verlobte des reichen, alten Herrn geworden, dem ihre Tante den Haushalt führte, und sie erzählte, sie würde bald heiraten und sei dann so reich, daß sie sich ganz Berlin kaufen könne, wenn es ihr Vergnügen mache.

Franziska Mühsam dachte, lieb konnte Adele Toll den alten Amerikaner kaum haben, aber weil er so gut zu ihr war, hatte sie ihn wohl wenigstens sehr gern.

Franziska dachte an Fritz. Ob sie ihn wohl auch für einen reichen, doch alten Mann eintauschen würde?

Die Idee erschien ihr häßlich und komisch.

Nein, sie wollte gern ein paar Jahre auf Fritz warten, aber sich vorerst nach einer anderen Stellung umschauen. Mehr verdienen mußte sie, dadurch die Mutter entlasten. Dann sah sie sich wieder auf der Bank im Tiergarten sitzen, sah eine Dame, die sie vorher gar nicht bemerkt hatte, von der Bank aufstehen und fortgehen. Sah eine Hand, an der ein wundervoller Ring steckte. In Form einer Spinne aus Brillanten und Smaragden. Weißes und grünes Geflimmer in herrlicher, eigenartiger Zusammenstellung.

Und dann schlief Franziska Mühsam ein, schlief, bis sie bald nach Mitternacht plötzlich emporschreckte.

Sie hatte so häßlich geträumt, von einer riesigen Spinne, die auf sie zukam, ein dicht geflochtenes Netz über ihren Kopf warf und es dann mit ihren starken, eklen Beinen zuzog, bis sie beinahe erstickt wäre.

Sie meinte, das scharfe Schnüren noch um den Hals zu spüren und fühlte ihr Herz wild und erregt klopfen.

Wie seltsam war der Traum gewesen: In der Luft losgelöst, schwebte eine sehr weiße, sorgfältig gepflegte Frauenhand, an deren einem Finger der Spinnenring in förmlich wildem Feuer funkelte und strahlte, und dann hatte sich der Ring, zusammen mit der Hand, in die abscheuliche, abschreckende Riesenspinne verwandelt.

Sie schüttelte sich und trank von dem Wasser, das nachts immer neben ihrem Bett stand. Danach aber schlief sie fest und traumlos bis zum Morgen.

Um sieben Uhr ging sie nach der Königsberger Straße zu Frau Lademann wie alle Tage, half wie alle Tage beim Staubwischen und nahm um acht Uhr den fünfjährigen Karl aus seinem Bettchen. Wusch ihn, kleidete ihn an und frühstückte um halb neun mit ihm. Dann machte sie sein Bett und ging mit dem Kleinen für den Haushalt einholen.

Wie von einem Uhrwerk getrieben, haspelte sich das jeden Tag in der gleichen. Reihenfolge ab.

Manchmal ging sie auch mit dem Jungen ins Atelier, und Herr Lademann machte väterliche Spässe mit dem Kleinen. Sie staubte inzwischen die Säulen und Tischchen, die gebogenen Sessel und all die anderen Requisiten ab, die zu einem Photographenatelier gehören, um damit den Kunden einen wirksamen Hintergrund zu bieten.

Heute half Herr Kleinschmidt, der Gehilfe, beim Abstauben. Der Chef mit dem Kleinen war im Nebenraum. Albert Kleinschmidt war sehr eifrig, ihr heute Arbeit zu ersparen, merkte Franziska, und sagte endlich: „Sie müssen doch sicher retuschieren, Herr Kleinschmidt, gehen Sie nur, ich werde schon allein fertig.“

Er lächelte. „Habe nichts Wichtiges zu tun. Auf ein paar Minuten kommt es nicht an. Ich wollte Ihnen bloß was anvertrauen, Fräulein Fränze, aber Sie müssen reinen Mund halten!“

„Wenn es mich nicht selbst betrifft, mache ich mir nichts aus Geheimnissen“, gab sie kühl zurück.

Manchmal gefiel ihr die Art und Weise, wie der Gehilfe mit ihr sprach, gar nicht. Er kam ihr oft dreist und aufdringlich vor.

Ihre kühle Antwort verletzte ihn sichtlich.

„Fräulein Fränze, warum sind Sie denn so schroff? Ich will Ihnen doch nichts Böses tun! Aber unsereins sehnt sich auch manchmal nach einem Menschen, zu dem man offen sein, zu dem man Vertrauen haben kann.“

Er dämpfte seine Stimme bis aufs äußerste.

„Der Alte soll nichts wissen, ich gehe fort, habe ihm gar nicht gekündigt. Ich wandere aus! Nach Buenos Aires reise ich.“ Er warf sich in die Brust. „Was glauben Sie, wie unsereiner da drüben hochkommt! ln ein paar Jahren bin ich wieder zurück, habe die Taschen voll Gold und eröffne ‚Unter den Linden‘ ein Atelier für künstlerische Photographie.“ Er lächelte selbstbewußt. „Und nun wollte ich Sie fragen, Fräulein Fränze, darf ich Ihnen einmal schreiben? Sie gefallen mir ausnehmend, und vielleicht kann ich Sie nachkommen lassen und …“

Er stotterte unter ihrem ernsten Blick, sagte: „Ich dachte, wir könnten uns später drüben vielleicht heiraten, oder wenn ich zurückkomme. Ich dachte …“