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Jussi Adler-Olsen at his best: Das atemberaubende Finale der Carl-Mørck-Reihe Der perfekte Mix aus rasanten Thriller-Plots und umwerfendem Humor: der zehnte Fall für das außergewöhnliche Ermittlerteam um Carl Mørck. Seit 2007 erobert die Thriller-Reihe um Carl Mørck, Spezialermittler des Sonderdezernats Q bei der Kopenhagener Polizei, und seinen syrischen Assistenten Hafez el-Assad die Bestsellerlisten der Welt. Im ihrem zehnten und atemberaubend spannenden Fall geraten die beiden tief in ein Netz aus Lügen und Geheimnissen und müssen all ihre Kräfte aufbieten, um dem Morden Einhalt zu gebieten. Werden Carl Mørck und sein Team es rechtzeitig schaffen? Alle Bände der Carl-Mørck-Reihe: Band 1: Erbarmen Band 2: Schändung Band 3: Erlösung Band 4: Verachtung Band 5: Erwartung Band 6: Verheißung Band 7: Selfies Band 8: Opfer 2117 Band 9: Natrium Chlorid Band 10: Verraten Weitere Titel von Jussi Adler-Olsen bei dtv: Das Alphabethaus Das Washington-Dekret Das Versteck TAKEOVER Miese kleine Morde
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Seitenzahl: 750
2. Weihnachtstag 2020: Carl Mørck sitzt in Handschellen auf dem Rücksitz eines Polizeiautos. Drogenschmuggel und Mord werden ihm zur Last gelegt, seine Karriere scheint zerstört. Carl ist bald klar, dass er nicht viel Hilfe zu erwarten hat, die Beweislast ist erdrückend. Und das Gefängnis ist für einen mutmaßlich korrupten Beamten ein sehr gefährlicher Ort, noch dazu, da ein Unbekannter ein Kopfgeld von einer Million Dollar auf ihn ausgesetzt hat. Aber warum? Während Carl Mørck gegen die Handlanger des unbekannten Drahtziehers kämpft, versuchen Rose, Assad und Gordon verzweifelt, die verschlungenen Fäden des Nagelpistolenfalls zu entwirren, der Carls Leben vor langer Zeit für immer verändert hat.
Jussi Adler-Olsen
Thriller
Aus dem Dänischen von Hannes Thiess
Für Louie, unser wunderbares Energiebündel
2005
»Haben die uns schon wieder so einen Scheiß drangeklebt?« Vom Beifahrersitz aus stieß Anker die Tür auf und langte über die Windschutzscheibe. »In dem Winkel, in dem sie das angebracht haben, sieht man doch überhaupt nichts.«
»Man muss raten«, brummte Hardy von der Rückbank. Er sah zu dem Klebezettel, mit dem Anker wedelte.
»Okay, neue Variante«, fuhr er fort. »›Die drei Musketiere des Präsidiums.‹ Sind die Kollegen tatsächlich mal kreativ geworden?«
»Die sind bloß neidisch, Hardy, weil wir drei so gut zusammenarbeiten«, schaltete sich Carl ein. »Aber seht mal da drüben.« Er deutete zur anderen Straßenseite. »Die beiden Typen da. Der links, ist das nicht der Messerstecher, nach dem wir suchen?«
Hardy beugte sich zwischen den beiden nach vorn. »Nein, das ist sein Bruder. Aber der andere kommt dann sicher jeden Augenblick.«
»Wenn wir die drei Musketiere sind, dann bin ich aber nicht Aramis, dieses scheinheilige kleine Arschloch, auch wenn ich von uns dreien am kleinsten bin«, war Ankers trockener Kommentar.
Carl schüttelte den Kopf. »Warum denn nicht? Aramis war doch ein ziemlicher Charmeur.«
»Nein, das war der Große, der getrunken hat«, meinte Hardy. »Der bin dann wohl ich.«
Die auf den Vordersitzen feixten. Hardy und die Frauen, das war ein Fall für sich.
»Hört auf!«, stöhnte Hardy. »Immer dasselbe mit den Frauen! Da wird man noch wahnsinnig.«
»Wieso beklagst du dich eigentlich?«, fragte Anker. »Minna ist doch echt lecker.«
Carl sah auf die Straße und tat so, als hätte er nichts gehört. Nicht zum ersten Mal hatte Anker Carls Gedanken auf den Punkt gebracht.
»Ja, das ist sie, und sie weiß es.«
Jetzt waren vom anderen Gehsteig Rufe zu hören, und Hardy öffnete das Fenster etwas. »Ich bin es leid, dass Minna mit allen und jedem flirtet, auch mit euch beiden.«
Anker drehte sich zu ihm um. »Ach, Hardy, du kleines Arschloch, ihr habt es doch gut. Nicht wie Elisabeth und ich. Ich habe das Gefühl, ich muss bald bei einem guten Freund auf die Couch ziehen.«
»Anker, du weißt, dass du bei mir zu Hause immer willkommen bist, oder?«, fragte Carl.
»Oder bei uns«, ergänzte Hardy.
Anker winkte nach hinten zum Rücksitz und drückte Carls Schulter. »Danke, Kumpels, für eure Gastfreundschaft.«
»Ich glaube, der Typ ist jetzt auf dem Weg«, sagte Hardy.
»Das da ist doch seine Dame. Oder hast du vielleicht noch nie eine Frau in Hosen gesehen?«, zog ihn Anker auf.
»Aber, Carl, sag mal«, fuhr Anker fort, »wie lange seid ihr, Vigga und du, eigentlich schon getrennt? Müsstet ihr euch nicht bald scheiden lassen?«
Carl unterdrückte ein Lachen. Vigga war das eigentümlichste Wesen der Welt. Kein Mann mit einem Hauch von Vernunft konnte behaupten, Vigga sei die Frau fürs Leben. Aber sie so ganz ziehen zu lassen – so weit war es dann doch noch nicht.
»Anker, hoffst du vielleicht auf deine Chance? Oder hast du was anderes in petto?«
Anker lächelte gezwungen. »Immer! Ich hab eine getroffen, echt eine wilde Nummer. Voller Überraschungen. Kommt dir das bekannt vor?«
Carl nickte. Überraschungen waren auch Viggas Spezialität.
Anker kniff ein Auge zu. »Die macht ständig Angebote, zu denen ein Mann nicht Nein sagen kann. Wenn ich nicht aufpasse, kostet sie mich das Leben.«
Hardy schüttelte nur den Kopf und öffnete die Tür. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit erregt.
Okay, dachte Carl. Diese Info war neu, aber so war es im Grunde immer, wenn die drei zusammen Dienst taten. Der Unterschied zwischen ihnen und Teenagern mit Beulen im Schritt war nur das Alter. Kein anderes Team im Präsidium verstand sich so gut, das stand fest.
»Sie klingt gefährlich und sehr interessant, Anker. Und wer ist es?«, wollte Carl wissen.
Sekundenlang saß Anker gedankenverloren da, als wäre er schon im Paradies nahe dem verbotenen Baum.
Dann lächelte er dieses Lächeln, das die meisten Frauen schwach werden ließ. »Carl, das weißt du doch!«
Und da reichte es Hardy.
»Nun kommt schon, jetzt haben wir ihn«, rief er und rannte quer über die Straße.
Samstag, 26. Dezember 2020 (Zweiter Weihnachtsfeiertag)
»Wiederholst du noch einmal, was du gerade gesagt hast, Eddie? Traust du dich das, du Schlappschwanz?«
Eddie senkte den Blick, um den Mann nicht zu provozieren, aber der Schlag traf ihn trotzdem.
»Wir hatten eine Abmachung, oder? Wie wäre es, die einzuhalten?«, fuhr er fort. Der Heulton in Eddies Ohr wurde lauter.
Eddie nickte vorsichtig und hoffte inständig, damit seine Verzweiflung zu kaschieren. Auf keinen Fall wollte er sich mit diesem Mann mit den verschiedenfarbigen Augen anlegen oder mit sonst irgendeinem von den Leuten, die das Ganze steuerten.
Er müsse die Absprache einhalten, betonte der Mann. Als wenn Eddie das nicht gewusst hätte. Er hatte überhaupt keine Wahl, da es ihm sonst an den Kragen ging.
Diese verdammte Absprache!
Jahrelang hatten ihn die Bestechungen verblendet, mehr gab es dazu nicht zu sagen. Denn verglichen mit dem, was diese mächtigen Männer ihm für seine Dienste und Informationen angeboten hatten, war sein Gehalt als Polizist in Rotterdam nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Deshalb hatte Eddie zugeschlagen. Wie erwartet war es leicht verdientes Geld gewesen, das er unmittelbar in ein leichteres Leben investiert hatte, in Geschenke für seine geliebte Femke und später für ihre Tochter, für die Raten des Sommerhauses und um das Boot und die Autos abzubezahlen. Von einem Tag auf den anderen war Schluss gewesen mit den schlaflosen Nächten und den Sorgen um die Finanzen.
Aber schließlich war der Tag der Abrechnung gekommen. Klar doch.
Mehrmals war er vor der Aufgabe zurückgeschreckt, zu der ihn der Mann mit den verschiedenfarbigen Augen so vehement aufforderte. Sie unterschied sich von allen anderen durch ihre Kompromisslosigkeit und inakzeptable Gewalt. Er war im Lauf der Jahre nachlässiger und unaufmerksamer geworden, weiß Gott, aber die Zeit war doch zügig vergangen, und seine Auftraggeber hatten immer weniger von ihm gefordert. Warum also hätte er sich fürchten sollen?
Eddie versuchte, seine zitternden Hände ruhig zu halten. War das Problem in Wahrheit, dass ihn schließlich der Mut verlassen hatte, den Befehl auszuführen? Aber es nützte nichts, es konnte ihn ja alles kosten.
Er holte tief Luft, blickte unter sich und flüsterte nun fast. »Wir … nein, noch einmal. Ich verspreche, dass ich ihn kriegen werde. Es wird alles genau so passieren, wie wir es verabredet haben, darauf kannst du dich verlassen.«
Als er den Blick hob, sah er in die Mündung einer Pistole, die in der nächsten Sekunde an seine Stirn gepresst wurde.
Der große Mann hielt sie fest, er verzog keine Miene. Seine Stimme war eiskalt. »Der Befehl liegt seit dreizehn Jahren bei dir, und trotzdem warst du nicht vorbereitet, als unser Eigentum in einem Koffer auf dem Dachboden des Mannes auftauchte. Und jetzt erzählst du, dass er verhaftet worden ist und sich zurzeit in Gewahrsam der dänischen Polizei befindet. Ist dir eigentlich klar, wie verdammt ernst es für uns alle wird, wenn er plötzlich plaudert?«
»Doch, aber …« Der klickende Abzug ließ Eddie heftig zusammenzucken.
Der Mann lachte. »Ja, Eddie, das ist ein Schock, nicht wahr? Wie der zum Tode verurteilte Chinese, der Seite an Seite mit allen anderen kniet, die ebenfalls auf den Genickschuss warten, und als ein Schuss seinen Nebenmann tötet, springt der arme Kerl wie von der Tarantel gestochen auf. Tja, daran zu denken ist bestimmt nicht so prickelnd, aber du könntest einer von denen sein, Eddie, so ernst ist es in der Tat. Denn du kannst dir sicher sein, falls wir noch einmal in eine Situation wie jetzt kommen sollten, dann wäre eine Patrone in der Kammer, klar? Also reiß dich zusammen und zeig uns, was du kannst. Keine Ahnung, was Carl Mørck weiß und auf welche Ideen er kommen mag, aber da können wir kein Risiko mehr eingehen. Haben wir uns verstanden?«
Eddie sah durch das Fenster auf das dunkle Schiedam und die Louis Raemaekersstraat. Die Ampel unterhalb des Hochhauses sprang auf Grün um. In wenigen Minuten würde seine Frau Femke zurück sein und zusammen mit ihrer kleinen Tochter hier oben in der Wohnung stehen, den ganzen Tag hatten sie Siri, eine alte Kollegin, besucht. Sie würde seinen Gast anlächeln, und anschließend würde Femke Eddie fragen, wer denn der Mann gewesen sei, der so spät zu Besuch gekommen war. Aber in diesen Teil seines Lebens wollte er sie auf keinen Fall einbeziehen.
»Natürlich, ja! Ich habe verstanden.« Er nickte, schob vorsichtig den Lauf der Pistole von seinem Gesicht weg. »Ich werde die Dänen gleich heute Abend kontaktieren.«
Carl
Samstag, 26. Dezember 2020, und Sonntag, 27. Dezember 2020
Carl fühlte sich wie in seiner Kindheit, als er schlagartig hatte erkennen müssen, dass die Welt kein unschuldiger Ort war – weil er zum ersten Mal eine Lüge durchschaut oder eine unverdiente Ohrfeige erhalten hatte. Oder wie als Jugendlicher mit Liebeskummer und später als erwachsener Mann, dem Hörner aufgesetzt worden waren.
Als ihm Marcus Jacobsen, Chef der Mordkommission und sein von allen am meisten geschätzter Kollege, die Handschellen anlegte, und zwar ruppiger als nötig, da wurden diese Emotionen in Carl augenblicklich reaktiviert. Und sie wurden noch intensiver, als sie ihn von Mona wegzogen und in den wartenden Streifenwagen schoben, während sie ihm oben auf der Treppe bedeutete, dass er nicht allein sei.
Ein schwacher Trost.
Es wurde auch nicht besser, als der Polizist auf dem Beifahrersitz dem Fahrer Anweisung gab, nicht zum Präsidium zu fahren, sondern direkt zum Westgefängnis.
»Aber nein, was macht ihr denn? Das geht doch so nicht. Warum bringt ihr mich nicht ins Präsidium in die gesicherte Abteilung?«, fragte er, bekam aber keine Antwort. Er hörte nur ein Murmeln, aus dem immer wieder Marcus Jacobsens Name herausstach.
Carl beugte sich etwas vor, damit die Handschellen hinter seinem Rücken ihm nicht das Blut abschnürten. Plötzlich war alles glasklar. Auch wenn er jahrzehntelang im Präsidium geschuftet und komplizierte und fast unlösbare Fälle gelöst hatte, von nun an konnte er nicht mehr mit der Unterstützung seiner Kollegen rechnen.
Was hatte er auch erwartet?
Wie oft hatte er selbst einen Verhafteten zu diesem trostlosen Mastodon von einem Gefängnis begleitet. Und wie oft hatte sich auf dem Weg einer der Verhafteten mit tränenerstickter Stimme vom Rücksitz aus verteidigen wollen? Hatte Unschuld, Reue oder eine Familie angeführt, die er allein zurücklassen würde. Immer vergeblich. Jeder Festgenommene hatte sich bis zur ersten richterlichen Vernehmung mit seiner Schmach abzufinden. Er hatte diese Kriminellen doch nicht begleitet, um als ihr Seelsorger zu agieren. Zu diesem Zeitpunkt war man schuldig, bis das Gegenteil bewiesen war.
Während sich der Streifenwagen am zweiten Weihnachtsfeiertag 2020 durch eiskalte und dunkle Straßen bewegte, deren Weihnachtsdeko für ihn keinen Sinn mehr ergab, überlegte Carl, welche Verteidigung er selbst in dieser Situation vorbringen könnte.
Wogegen soll ich mich denn überhaupt verteidigen?, dachte er. Man hatte ihn festgenommen, als er gerade den Fall um Sisle Park gelöst und Gordon befreit hatte. Was hatte er sich denn zuschulden kommen lassen? War es sein Unwille, sich mit der Mordserie zu befassen, die mit einem Druckluftnagler begangen worden war? Sein naiver Blick auf seinen Kollegen Anker Høyer? Sein Verdacht, dass Anker Drogen konsumierte? Oder dass er so leichtgläubig Ankers Koffer aufbewahrt hatte? Die Gleichgültigkeit, mit der er den Koffer so viele Jahre auf dem Dachboden stehen ließ, ohne noch einen Gedanken daran zu verschwenden? Wie sich jetzt herausgestellt hatte, war der Koffer mit harten Drogen und einer beträchtlichen Menge an Bargeld in unterschiedlichsten Währungen vollgestopft. Herr im Himmel, hätte er ihn doch nur geöffnet, ehe andere es taten. Dann hätte er ihn selbst übergeben können. Blind darauf zu vertrauen, dass niemand ihn, den treuen Ermittler, wenn es zum Schwur kam, verdächtigen würde? Das war ja fast schon eine Todsünde. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie seine Verteidigung aussehen sollte. Die Kollegen hier im Wagen hatten keine Lust, sich seine Unschuldsbeteuerungen anzuhören oder seine Sorge, dass die Familie allein blieb. Was sollten sie damit auch anfangen? Vielleicht wollten sie Reue und Zerknirschung, vielleicht wollten sie ein Geständnis hören? Aber das bekamen sie nicht. Carl schwieg, bis sie durch das Gefängnistor fuhren und man ihn zur Aufnahme einem blässlichen, müden Gefängnisbeamten zuführte.
Der Einlieferungsschein, den einer der Polizisten weiterreichte, wurde durch trübe Brillengläser sorgfältig studiert. Der Gefängnisbeamte hob schließlich den Blick und konstatierte nur kurz, rechtlich sei keine Isolation gefordert, was ihn offenkundig wunderte, da es sich bei dem Häftling um einen höchst profilierten Kriminalbeamten handelte.
Auch Carl stutzte. Rechtlich keine Isolation, was meinte der Mann?
»Hallo, hör mal«, sagte er. »Garantiert habe ich viele von denen persönlich hergebracht, die heute hier einsitzen. Also deshalb …«
»Du kriegst, was ich habe«, unterbrach ihn der Gefängnisbeamte.
Das verhieß nichts Gutes. Auch nicht, dass Carls Kollegen ihm zum Abschied nicht mal zunickten, während er weitergeführt und gebeten wurde, sich zu entkleiden.
Der für die Leibesvisitation zuständige vertrocknete Wärter sah Carl mit derselben Verachtung an wie zuvor Marcus Jacobsen, als er ihm seine Rechte vorgelesen hatte.
»Nanu nana, was sagt man dazu! Der hochgeachtete Carl Mørck, was sagt man dazu«, wiederholte der Mann und warf Carls Habseligkeiten auf einen Haufen. »An dir werden ein paar Leute hier im Trakt viel Vergnügen haben. Du solltest jedenfalls nicht damit rechnen, dass es in diesem Etablissement auch nur einen Insassen gibt, der gerne mit dir tauschen würde«, fuhr er fort und drückte ihm grob ein Bündel Kleidung in die Hände.
Auch wenn Carl so etwas vorausgesehen hatte, ließen ihn die Worte nicht kalt. Insgeheim hatte er wohl damit gerechnet, wie im Märchen würde sich irgendeine Tür auftun und ihm einen Ausweg eröffnen. Doch so eine verdammte Tür war nirgends zu sehen.
Als er weiter durch wohlbekannte farblose schmale Gänge in den östlichen Trakt geführt wurde, bestehend aus angestoßenen Gitterwänden und einem imposanten Wirrwarr aus Treppen, Geländern und Zellentüren, direkt hin zur Zelle 437, da löste sich die letzte Schicht seines schützenden Panzers von ihm ab, und Carl fing an zu schwitzen. Er wusste, falls er sich noch einen naiven Rest Hoffnung auf Gerechtigkeit bewahrt hatte, dann wäre der verschwunden, sobald sich die schwere Tür hinter ihm mit einem unwiderruflichen Klicken schloss.
Carl ließ den Blick durch den großen, kahlen und grell beleuchteten Gefängnistrakt wandern, dann wurde er in die Zelle geführt. Der Schlüssel drehte sich auf der anderen Seite der Tür im Schloss. Natürlich hatte er im Lauf der Zeit eine Unmenge an Gefängniszellen gesehen, aber noch nie selbst auf einer der schmalen schwarzen Pritschen geschlafen. Hier musste er versuchen, ohne Mona an seiner Seite zur Ruhe zu kommen. Hier würde er nicht früh von seiner Tochter geweckt werden, die unvermittelt auf ihn plumpste. Und hier würde er nicht mit dem Gefühl der Hoffnung aufwachen, der neue Tag könnte ihm etwas Gutes bringen.
Carl musterte die verschandelte graue Anschlagtafel über dem Bett und las, was ein früherer Häftling mit Kuli darauf geschrieben hatte. Die Schrift war mittlerweile halb verwischt.
Alles in allem deprimierende Botschaften, und nirgendwo auch nur ein kleines Licht im Dunkeln.
Nachdem er lange Zeit zu analysieren versucht hatte, was jetzt geschehen würde, war er gerade eingenickt, als an die Tür gehämmert wurde. Eine derbe Männerstimme brüllte, man wisse verdammt genau, wer er sei, man werde ihn schon kriegen. Dann verstummte die Stimme, offenbar hatten ein paar der Leute, die hier das Sagen hatten, eingegriffen und den aggressiven Mann weggebracht.
Aber die Worte waren ausgesprochen, unwiderruflich.
Bulle, wir werden dich kriegen.
Carl richtete sich auf die Ellbogen auf und holte tief Luft. Damit war die Realität hier drinnen geklärt, die Schikanen konnten beginnen. Jemanden kriegen hieß hier töten, und das Wort Bulle bedeutete, dass er es auch verdiente. Er musste schwer schlucken und hoffte inständig, einen Pflichtverteidiger zu bekommen, der ihn aus der Schusslinie holen konnte. Entweder indem er gleich nach der richterlichen Vernehmung auf freien Fuß kam, oder indem er in Sicherheitsisolation gebracht wurde, worauf er als Polizeibeamter im Gefängnis eigentlich Anspruch hatte.
Außerdem musste er irgendwie mit Rose, Assad und vielleicht auch Gordon sprechen, falls der arme Kerl nicht zu beeinträchtigt war von den gewaltsamen Ereignissen an den Weihnachtstagen. Es hatte nicht viel gefehlt, und Sisle Park, die Serienmörderin, hätte ihn nach mehreren Tagen in ihrer Gewalt ebenfalls hingerichtet. Die drei mussten beharrlich weiter an seinem Fall arbeiten und aufdecken, was in dem Druckluftnagler-Fall passiert war, nachdem das alles urplötzlich so akut geworden war. Und ganz entscheidend war, dass Mona in ihrer Eigenschaft als Psychologin im Präsidium das Recht erhielt, ihn außerhalb der normalen Besuchszeiten für nahe Angehörige zu sprechen.
Die Ursprünge des Falls, auf den sich die Anklage gegen ihn berief, lagen fünfzehn Jahre zurück. Der Hauptzeuge, alias der primär Angeklagte, war sein alter Kollege Anker Høyer, der 2007 draußen auf Amager umgekommen war. Bei derselben Gelegenheit war ihr zweiter Kollege, Hardy Henningsen, durch einen Schuss in den Rücken zum Invaliden geworden. Wer also außer dem dritten in die Schießerei Involvierten, nämlich ihm selbst, konnte eine Zeugenaussage machen? Hardy vielleicht? Würde er das wollen? War er überhaupt auf Carls Seite?
Carl sank zurück auf die dünne Matratze, die Ohnmacht war bedrückend. Dieser Scheißfall! Alles deutete auf seinen einst so guten Freund und Kollegen hin, nämlich auf Anker Høyer. Ohne ihn, davon war er überzeugt, hätte er nicht hier gelegen. Anker war nicht wie Carl und Hardy, die sich für den Rest ihres Lebens auf demselben Posten sahen, das war ihnen schon damals aufgefallen. Er hatte Ambitionen. Für Anker kamen er selbst und seine Bedürfnisse an erster Stelle. Deshalb hatte ihn seine Frau rausgeworfen, und deshalb suchte er die ganze Zeit nach Möglichkeiten, die ihn auf der sozialen Leiter nach oben brachten. Was für Anker gleichbedeutend damit war, dass er zu Geld kam, und zwar zu viel Geld. Warum hatte Carl nicht gesehen, dass das auf Dauer problematisch werden musste? Aber dass Anker korrupt und am Drogenhandel und sogar an Schlimmerem beteiligt sein sollte, das hätte er nie geglaubt. Auch nicht, dass diese Ambitionen zu Ankers Tod draußen im Schuppen auf Amager führen würden. Und er, Carl, lag jetzt hier und wurde verdächtigt, Ankers Komplize zu sein. Um ehrlich zu sein, erinnerte er sich an nicht viel von dem, was damals passiert war.
Wie unglaublich froh und erleichtert wäre er gewesen, wenn sein alter Freund Hardy jetzt neben ihm gesessen hätte und sie gemeinsam hätten herausfinden können, was 2007 in dem sogenannten Druckluftnagler-Fall passiert war. Carl seufzte wieder. Das waren Wunschträume. Der gelähmte Hardy war in der Schweiz, um dort ein monatelanges und womöglich nutzloses Training durchzuführen. Wie sollte er Carl unterstützen können?
In den folgenden Stunden sortierte er die Fragmente der Vergangenheit, versuchte, sie zusammenzubringen. Wie bescheuert bin ich doch gewesen, dachte er, als er sich die Einzelheiten noch einmal vor Augen führte. Er hatte Ankers Diebesgut in einem Koffer auf dem Dachboden versteckt. Er und Hardy hatten sich nach Amager locken lassen, hatten die Ungereimtheiten in Ankers Verhalten ignoriert. Später dann hatte er versäumt, weiter nachzubohren. Was war mit den Mechanikern, die in Sorø mit einem Druckluftnagler umgebracht worden waren, genau wie es deren Onkel Georg Madsen, dem alten Mann draußen auf Amager, ergangen war? Er hatte sich nicht hinreichend dafür interessiert, was die Opfer, deren Schädel von einem Nagel durchbohrt worden waren, eigentlich getan hatten, dass ihr Leben so schmählich endete.
Carl fixierte einen Fleck an der Decke und zählte in Gedanken seine Entschuldigungen auf. Zuerst einmal, dass Ankers Tod und Hardys schwere Verletzung ihn eine Weile außer Gefecht gesetzt hatten, außerdem die zwei nachfolgenden Zusammenbrüche sowie ein posttraumatisches Stresssyndrom, das er sich natürlich nicht hatte eingestehen wollen. Dazu eine verfluchte Gutgläubigkeit, die ihm eigentlich gar nicht ähnlich sah.
Nach einer elenden Nacht wurde Carl am Sonntagmorgen ins Zentrum gefahren und um acht Uhr dreißig in die Zelle am Amtsgericht gebracht. Erst fünfzehn Minuten vor seinem Gerichtstermin wurde er in einen Nebenraum geführt, wo sein Verteidiger wartete.
Carl seufzte, als er den Mann sah. Ein kurzer Blick auf seinen schäbigen grünen Lodenmantel und das unrasierte Gesicht reichte ihm, um zu entscheiden, dass von dieser Seite keine Hilfe zu erwarten war. Er war einer dieser Pflichtverteidiger, der wohl eine glorreiche Karriere als Starverteidiger angestrebt hatte, wie es sie nur in schlechten Fernsehserien gab. Aber was konnte man an einem dritten Weihnachtsfeiertag schon erwarten, der überdies noch auf einen Sonntag fiel? Da war die Auswahl an freien und topmotivierten Anwälten vermutlich nicht groß.
»Wurde meine Frau davon unterrichtet, dass ich heute als Erstes dem Haftrichter vorgeführt werde?«
Der Anwalt zuckte mit den Achseln. »Tatsächlich weiß ich das nicht, es hat den Anschein, als wäre das gerade erst beschlossen worden.« Er strich sein fettiges Haar glatt. »Mein Name ist Adam Bang«, sagte er und ergriff Carls Hand. »Meine beiden Jüngsten sind an diesem Wochenende bei mir. Sie sind drei und fünf. Ich musste erst meine Schwester dazu bewegen, herüberzukommen und auf sie aufzupassen. Entschuldigen Sie bitte meine Aufmachung.« Er versuchte, den schief sitzenden Knoten seiner Krawatte zu richten. »Ich habe es nicht mal ins Bad geschafft.«
Immerhin gab er es zu.
Carl erfasste mit einem Blick, dass in dem Saal, in dem die richterliche Vernehmung stattfand, keiner seiner Angehörigen oder Freunde vom Sonderdezernat Q anwesend waren. Hingegen waren reichlich Journalisten der Kopenhagener Tageszeitungen erschienen, dazu die Polizisten, die bei seiner Verhaftung dabei gewesen waren. Vermutlich waren auch Kollegen von der unabhängigen Polizeiklagebehörde DUP im Saal. Sie würden die Ermittlungen übernehmen, falls man zu dem Schluss kam, Carl habe wie Anker Høyer die ihm vorgeworfenen Gesetzesverstöße während seiner Dienstzeit begangen. Carl sah nach, ob er auf den schwarzen Zuhörerstühlen wohlgesinnte Gesichter entdecken konnte, und sah nur die Polizeikommissarin Bente Hansen. Sie nahm Blickkontakt auf und nickte ihm vorsichtig lächelnd zu. Carl sah peinlich berührt weg. Vielleicht sollte er Rose erzählen, dass das Q-Team mit ihrer Hilfe rechnen konnte.
»Was zum Teufel geht hier eigentlich vor?«, flüsterte er seinem Verteidiger zu. »Was haben die Journalisten hier zu suchen? Die Pressemeute soll verschwinden, und zwar schleunigst. Wissen Sie, wie die von meiner Verhaftung erfahren haben?«
Carl lehnte sich zu Marcus Jacobsen zurück, der hinter ihm in der ersten Reihe der Zuhörer saß. »Marcus, ist das dein Werk?«, fragte er und nickte in Richtung der Journalisten, die schon mit ihren Notizen beschäftigt waren.
Der Chef der Mordkommission schüttelte den Kopf. »Nein, das war wohl die Buschtrommel. Die Information kommt angeblich vom Westgefängnis, was natürlich bedauerlich ist.« Er konnte sich nicht einmal dazu durchringen, Carl in die Augen zu sehen. Es war eiskalt im Raum. Carls Enttäuschung war grenzenlos.
Doch er ließ nicht locker. »Ach. Und warum habt ihr mich nicht über Nacht ins Präsidium gebracht? Damit hätte ich diesem Zirkus hier entgehen können.«
Der Chef wandte sich dem neben ihm sitzenden Leif Lassen zu, dem Leiter des Drogendezernats, allgemein als »der Spürhund« bekannt, und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
»Die Arrestzellen dort sind für Ausländer reserviert, deshalb«, sagte er kurz, als sie endlich Blickkontakt hatten.
Zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden hätte Carl ihm am liebsten eine gescheuert.
Der Staatsanwalt kam herein und setzte sich. Er hatte es bestimmt ins Bad geschafft, dem Duft nach zu urteilen, der ihn wie eine Brise aus dem Erdgeschoss des Magasin du Nord umwehte.
Auch der Richter trat ein. Während sich alle im Raum erhoben, nahm er auf einer Art Podium Platz. Er war Carl ebenso wenig bekannt wie der Staatsanwalt und der Pflichtverteidiger.
Die anschließende Sitzung war kurz. Knochentrocken leierte der Staatsanwalt seinen Bericht herunter. Carl las indessen, was auf der großen Leinwand auf der rechten Seite des Saals über seine Untersuchungshaft stand. Schließlich war der Staatsanwalt fertig, und sein Verteidiger erhob sich ziemlich langsam. Er richtete sich so würdevoll auf, wie es sein zerknautschter Mantel erlaubte, und beantragte, dass die Verhandlung hinter geschlossenen Türen stattfand. Der Richter sah zuerst ihn, dann Carla an und schüttelte so indigniert den Kopf, als hätte man ihn um Champagner und eine Schale Kaviar gebeten. Immerhin verbot er den Journalisten, Carls Namen zu nennen, worauf die sich erhoben und lautstark protestierten. Der Name habe sich doch längst in der Stadt herumgesprochen. Und war es nicht im Interesse des Beschuldigten, dass redlich und objektiv über den Fall berichtet wurde?
Doch ihr Gemecker half ihnen nicht. Mit Rücksicht auf die Sicherheit des hochprofilierten Kriminalkommissars konnte der Richter gar nicht anders entscheiden.
Carl nickte dem Richter anerkennend zu. Als der Staatsanwalt mit klarer Stimme die Anklage verlas, riss Carl die Augen auf. Sie lautete auf Mord oder Mitwirkung daran, auf Korruption, Diebstahl und Handel mit Drogen. Carl verstand gar nichts, auch wenn jeder einzelne Vorwurf mit einer Begründung belegt wurde. Er sah zum Chef der Mordkommission, aber der nahm alles mit kaltem Blick auf.
Carl schüttelte den Kopf und beugte sich zu seinem Verteidiger. »Das ist von vorn bis hinten erstunken und erlogen und grob verdreht«, flüsterte er. Doch der Verteidiger bedeutete ihm zu schweigen, damit er sich auf den Wortlaut konzentrieren konnte.
»Mein Klient plädiert in sämtlichen Anklagepunkten auf nicht schuldig«, sagte der Verteidiger anschließend, ohne vorherige Absprache mit Carl. So weit waren sie auf einer Wellenlänge. Selbstverständlich war er nicht schuldig. Er klopfte dem Verteidiger vorsichtig auf die Schulter, was der Chef der Mordkommission hinter ihnen natürlich sehen musste. Die Untersuchungshaft wurde auf vier Wochen terminiert.
Um Carl wurde es dunkel. Schon die Hälfte der genannten Anklagepunkte bedeuteten im Fall einer Verurteilung mindestens fünf Jahre Gefängnis, und wenn die Beschuldigungen nicht entkräftet wurden, würde seine Untersuchungshaft mehrfach verlängert werden.
Er sah schräg nach oben zum Text auf der Leinwand, aus dem hervorging, dass bei diesen Beschuldigungen mehrere Teile des §762 zur Anwendung kommen konnten.
Carl saß in der Falle.
Eddie Jansen
Sonntag, 27. Dezember 2020
»Na ja, nach der erstrichterlichen Vernehmung kam er unmittelbar zurück ins Gefängnis, und gerade sitzt er mit seinem Anwalt im Besuchsraum. Soweit ich weiß, hat ihn die Polizei schon kurz vernommen.«
»Also verdammt, Eddie, das ist echt nicht gut. Sitzt er in Isolationshaft?« Am Telefon war der Mann mit den sonderbaren Augen.
»Nein.« Eddie lächelte etwas. »Soweit ich von unserem Mann vor Ort weiß, muss er nach dem Verhör und einer Konsultation mit seinem Anwalt wieder in die Zelle 437 gebracht werden. Aber ich bin mir sicher, dass man ihn schnell isolieren wird, vielleicht schon heute Nachmittag.«
»Wer hält dich auf dem Laufenden?«
»Einer der Wärter, den wir seit einigen Jahren auf der Lohnliste haben. Der Mann ist Gold wert, und er hat heute Dienst.«
»Wir finden, die Belohnung für die Ermordung des Polizisten sollte hunderttausend Dollar betragen. Stimmst du zu?«
»Ja!«
»Wie sieht also der Plan aus?«
»Es wird bei der Essensausgabe am Mittag passieren. Unser Wärter hat eine Vereinbarung mit einem Häftling getroffen, einem ziemlich beschränkten und einfältigen Typen, der nichts zu verlieren hat, auf diese Weise aber für seine Familie sorgen kann.«
Eddie wandte sich den Kollegen auf der Polizeiwache in Rotterdam zu, die ebenfalls am Sonntag Dienst schoben. Vornübergebeugt saßen sie an ihren Plätzen und waren mit ihren Berichten beschäftigt. An den Wänden hing noch etwas Weihnachtsdeko, aber die Feiertage waren schon so gut wie vergessen, da sich Kriminelle für gewöhnlich einen Dreck um Sonn- oder Feiertage scherten. Sie hatten reichlich zu tun.
Eddie arbeitete seit zwanzig Jahren im Drogenmilieu. Mit seinen Informanten sprach er Englisch, da mischten sich die Kollegen nicht ein. Jeder Polizist machte das so. Und so hatte Eddie leichtes Spiel.
»Wie will dein Häftling es machen?«, fragte der Mann am Telefon.
»Ein Messerstich direkt ins Herz!« Eddie nickte zufrieden. In ein paar Stunden würde er seinen Hintermännern mitteilen können, dass nun das Loch in diesem beschissenen alten Fall endlich geschlossen war.
Er beendete das Gespräch, schloss seinen Schreibtisch auf und zog eine Schublade mit Hängemappen heraus. Der Ordner mit dem betreffenden Fall war unter der Zahl 2003 archiviert. In der Akte hatte er bis zum heutigen Tag, siebzehn Jahre später, Material zu den unterschiedlichsten Stichwörtern abgelegt. Daten, wann Menschen ins Jenseits befördert worden waren, Daten, wann Drogentransporte gestört worden waren, und natürlich die Daten, an denen man Eddie gebeten hatte, persönlich zu reagieren.
Für einen Außenstehenden wären alle diese Infos völlig unverständlich gewesen. Doch für Eddie waren die Notizen eine Versicherung, denn wenn wirklich einmal etwas schiefgehen sollte, konnte er der Ordnungsmacht gegenüber den Kronzeugen spielen und Absprachen treffen, die ihm vielleicht nicht gerade seinen Ruf und den Job, aber immerhin das Leben retten würden.
Im Jahr 2003 war Eddie in seinen persönlichen Morast geraten, als ihr Sommerhaus in Bergen aan Zee bei einer Zwangsauktion unter den Hammer kam. Femke war untröstlich gewesen. Sie hatte dieses ziemlich heruntergekommene und verschuldete, aber heiß geliebte Häuschen von ihren Eltern geerbt. Jetzt würden sie es verlieren.
Auf der Bank hatte Eddie eindringlich um Aufschub für die Raten gebeten, damit das Haus nicht für kleines Geld wegging, gemessen an dem, was es ihnen wert war. Aber umsonst. Zu der Auktion waren nicht einmal viele Bieter erschienen. Eddie begegnete dem Mann, der den Zuschlag bekommen hatte, zufällig im Vorraum der Bank. Er war kaum der Typ, dem Eddie ihr heimeliges Refugium gern überlassen wollte. Er sprach zwar Niederländisch, sah aber nicht aus, als würde er von dort kommen, vielleicht hatte er Wurzeln in den Niederländischen Antillen.
Der Mann ließ ihn beschämt und mit einem Gefühl der Leere zurück.
Deshalb war es für ihn ein kleiner Schock, als ihm fünf Minuten später auf der Straße eine Hand auf die Schulter gelegt wurde und der Mann, der eben erst ihr Haus übernommen hatte, hinter ihm stand und ihn anlächelte.
»Eddie, das ist ein gutes Haus«, erklärte er. Er nahm die Sonnenbrille ab und offenbarte zwei unterschiedlich farbige Augen, ein blaues und ein braunes. »Es gibt nicht viele Häuser mit einer so schönen Aussicht über die Dünen. Ihr müsst es sehr geliebt haben.«
Das klang für Eddie etwas zu freundschaftlich. Mit einer solchen Formulierung rieb man Salz in die Wunde, ohne dass der andere sauer reagieren durfte.
Eddie nickte und versuchte zu entscheiden, welches Auge des Mannes er fokussieren sollte, das kalte blaue oder das warme braune.
»Ja, das stimmt. Das Haus zu verlieren, macht uns sehr traurig.«
»Hm. Wer sagt, dass ihr es verlieren müsst?« Der sonnengebräunte Mann trat näher. »Es gibt doch wohl für alles eine Lösung.«
Eddies Verwirrung nahm zu. Was meinte der Mann damit?
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Wir haben nicht genug, um die Raten zu bezahlen, so ist es nun mal. Meine Frau und ich sind beide im öffentlichen Dienst, da kann man kein Geld herbeizaubern.«
»Ich würde meinen, dass es auch dafür eine Lösung gibt. Was hältst du davon, wenn wir uns dort ins Café setzen und ein bisschen reden?«
Anfangs verlangte der Mann als Gegenleistung nicht viel, er wollte nur Informationen. Da Eddie als Polizist über viele Befugnisse verfügte, musste er nur dann und wann einen illegalen Blick in eine Akte werfen. Dann schlug man ihm vor, alle noch ausstehenden Raten für das Sommerhaus auf einen Schlag zu begleichen. Damit nahm die Versuchung enorm zu. Nach einem einzigen Besuch bei einem Notar gehörten Eddie und Femke nicht nur das Sommerhaus, sondern auch ein paar Hunderttausend Franken auf einem Schweizer Bankkonto, über die sie frei verfügen konnten.
Eddie beschloss, Femke nicht zu verraten, was dafür als Gegenleistung von ihm verlangt wurde und behauptete stattdessen, er habe im Lotto gewonnen. Sie jubelte vor Freude.
Danach wurden die Forderungen massiver und gefährlicher.
Eddie meinte eine Idee zu haben, wer die Hintermänner sein könnten, kannte aber keine Namen. Vermutlich eine Mischung aus wohlhabenden Geschäftsleuten in Surinam und Curaçao. Ihm wurde klar, dass er nicht davonkommen würde, ohne ihnen weitere Dienste zu erweisen. Inzwischen war er schon viel zu tief in ihre zweifelhaften Aktionen verstrickt. Seine Kollegen hatten die Organisation der Hintermänner seit Langem unter Beobachtung. Aber wie sie sich eigentlich zusammensetzte, wusste die holländische Polizei nicht, nur, dass sie mit Drogen handelten und vielleicht auch Morde begingen.
Eddie versuchte, über den Mittelsmann klarzustellen, dass er sich nicht direkt an diesem skrupellosen Treiben beteiligen konnte. Doch da verdreifachte sich der Betrag in der Schweiz plötzlich, und in seinem Briefkasten lagen Pläne eines Architekten für einen ambitiösen Ausbau des Sommerhauses. Erst jetzt wurde ihm endgültig bewusst, dass er in der Falle saß und nach der Pfeife dieser Leute tanzen musste. Und so kam es, dass er nach ein paar Jahren zu ihrer wichtigsten Quelle für Informationen aller Art wurde. Er hielt sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden, sodass sie ihre Drogenkuriere stets rechtzeitig umbesetzen oder auswechseln konnten.
Irgendwann war Eddie derjenige, der mit seinem Dienstwagen das Geld für Drogen überbrachte. Und später, als die Ladungen und die Geldsummen immer größer wurden, schaffte er sich zu diesem Zweck einen Acht-Personen-Luxus-SUV an, was im Übrigen auch seiner wachsenden Familie zugutekam.
Als er von der ersten Liquidierung erfuhr, protestierte er auf das Heftigste, woraufhin die Organisation einfach die Schlinge um seinen Hals enger zog.
»Eddie, wenn du jetzt aufhörst, machen wir dich verantwortlich. Glaub mir, wir haben eindeutige Beweise gegen dich in der Hand, und dann ist dein Leben verwirkt.«
Und so wurde Eddie trotz aller Proteste Mitwisser einer Reihe von Morden, die mit einem Druckluftnagler durchgeführt wurden.
Malthe
Sonntag, 27. Dezember 2020
In der Schule nannten sie ihn »Fleischwurst«, was eine ziemlich zutreffende Bezeichnung war, da er mit einer gleichmäßigen Fettschicht bedeckt war, unter der sich ein muskulöser Körper verbarg. Einen Kopf größer als seine Klassenkameraden, war er außerdem blass wie eine Made, weshalb sich viele auf der Straße nach ihm umdrehten und zu tuscheln begannen. Malthe war ein etwas schlichter, aber gutmütiger Junge. Er kam aus einem einfachen, aber liebevollen Elternhaus, hatte jüngere Geschwister und war ein wenig überbehütet. Seine Eltern brachten es nicht übers Herz, ihm zu vermitteln, wie bösartig andere Menschen sein können.
Malthe fand sich mit diesem Spitznamen einfach ab, auch noch mit ein paar anderen, wie »Frühlingsrolle« oder »Brocken«. Bis eines Tages ein Schüler aus einer der höheren Klassen, der dafür bekannt war, Leute zu provozieren, die Reihe der Hänseleien erweiterte mit »Presswurst« und »Scheißecontainer«. Malthe lächelte und nickte, er hatte schon Schlimmeres gehört. Aber als der Junge, er war drei oder vier Jahre älter, nicht zurücklächelte, sondern sich räusperte und auf Malthes Hemd spuckte und ihn anschließend richtig fest schubste, da kam es in Malthe zu einer Art Kurzschluss.
Seine Klassenkameraden versuchten ihn zu warnen, der andere betreibe Kampfsport und habe schon den schwarzen Gürtel, aber Malthe sammelte seine Kraft und versetzte dem großen Jungen einen so kräftigen Schlag ins Gesicht, dass dem das Genick brach. Der Junge mit dem schwarzen Gürtel stand nie wieder auf.
Von diesem Moment an verlief Malthes Zukunft vorhersehbar. Er wechselte vom Heim ins Jugendgefängnis und von dort ins Gefängnis. Es wurde eine traurige Geschichte zunehmender Verrohung, falscher Entscheidungen und einer endlosen Reihe von Übergriffen und wechselseitigen Aggressionen.
Mit fünfundzwanzig saß Malthe wegen eines weiteren Vorfalls, der mit grober Gewalt zu tun hatte, im Westgefängnis. Seine Haft dauerte bereits ein paar Jahre an. Da begriff er, dass es nie mehr anders werden würde. Er fand sich mit dieser Entwicklung ab und war im Großen und Ganzen ein harmloser und freundlicher Häftling.
Eines Tages wurde er im Trakt zum Gangmann ernannt. Seine Aufgabe bestand unter anderem darin, dafür zu sorgen, dass die Mahlzeiten für die anderen Häftlinge auf Rolltischen bereitgestellt wurden. Während des Tages war die Tür seiner Zelle nicht abgeschlossen, sodass er seinen übrigen Pflichten wie Saubermachen und anderen kleinen Jobs nachkommen konnte. Malthe war eigentlich froh, im Ostflügel zu sein. Hierhin kamen die neuen Untersuchungshäftlinge.
Als sein Vater an Krebs erkrankte und nach einem kurzen und heftigen Verlauf starb, war es für ihn Ehrensache, seiner Mutter und den beiden jüngeren Geschwistern jeden Øre zu schicken, den er als Häftling verdiente. Schließlich erkrankte auch sein kleiner Bruder schwer. Wegen der hohen Kosten und der Coronapandemie zögerte man, ihn zur Behandlung ins Krankenhaus zu überweisen. Malthe wurde klar, dass sein kleiner Bruder sterben würde, wenn man ihn nicht nach Deutschland in eine Privatklinik brachte und bezahlte, was dort verlangt wurde.
Ein paar Monate später kam eines Morgens ein Gefängniswärter, den er gut kannte, mit dem Angebot.
»Malthe, wir können dafür sorgen, dass dein kleiner Bruder in Deutschland behandelt wird. Im Gegenzug sollst du etwas für uns tun.«
»Ist das wirklich wahr?« Malthe konnte sein Glück kaum fassen. »Was soll ich tun?«
»Du sollst den Häftling in Zelle 437 töten. Er wird etwas später heute nach hier unten gebracht«, sagte er. »Dafür bekommst du fünfhunderttausend.«
Zuerst war Malthe schockiert. Aber dann begann er nachzudenken. Die Ermordung eines anderen Häftlings würde ihm höchstens fünfzehn Jahre zusätzlich zu seinen früheren Strafen einbringen. Und bei guter Führung würde er trotzdem rauskommen, wenn er um die fünfzig war – zu einem Bruder, der dann noch lebte. Was gab es da zu überlegen?
Er war derjenige, der die Essenswagen auffüllte, und so war es ziemlich einfach, sich eine Stichwaffe zu beschaffen. Malthe füllte den Wagen, wie er es immer tat, mit Fleischwurst, Remoulade, Tomaten, Geflügelsalat, Brot und Butter und Plastikbesteck. Eine Gabel war an einem Ende angespitzt wie eine Ahle.
Wenn der Häftling nach unten gebracht wurde, würde er ihm Mittagessen anbieten. Sobald er sich den Rollwagen näherte, wollte Malthe ihm die Ahle schräg unter das Brustbein und direkt ins Herz stoßen. Damit so ein Mord gelang, musste die Ahle, hatte er gehört, ganz tief hineingestoßen werden. War der Häftling sehr groß und dick, würde er der Ahle am Schluss einen kräftigen Schlag mit der Faust versetzen müssen. Das klang eigentlich ziemlich einfach.
Nur war es so, dass der Häftling aus Zelle 437 noch nicht da war, als die Essenswagen weggebracht wurden. Deshalb stand Malthe auf dem Gang und wartete.
»Was machst du denn hier draußen?«, fragte ihn William Bastian, ein Häftling, der besonders hervorstach. Nicht zum ersten Mal in Malthes Zeit stießen die beiden aufeinander. William Bastian wurde »Karnickelschwanz« genannt, weil er darauf spezialisiert war, Verhältnisse mit wohlhabenden Frauen einzugehen und sie fallen zu lassen, sobald ihre Kasse leer war. Aber Karnickelschwanz konnte noch mehr. Wenn sich innerhalb der Mauern Ärger anbahnte, konnte man sicher sein, dass er die Finger im Spiel hatte. William Bastian steuerte den Verlauf der Schlacht, und das tat er, seitdem er dort einsaß, und das hatte er bestimmt auch in den anderen Gefängnissen getan, die er im Lauf der Jahre von innen kennengelernt hatte.
»Ich? Ich mache nichts. Ich stehe nur hier und warte. Was machst du denn?«, antwortete Malthe.
»Darum mach dir mal keine Gedanken. Man hat seine Privilegien. Aber noch mal, worauf wartest du?«
»Auf den, der da rein soll«, sagte er und deutete auf Zelle 437.
»Ach nee, du hast Kontakt zu den Bullen. Was soll dir das bringen?«
»Zu den Bullen?« Malthe schüttelte den Kopf. »Warum sagst du das?«
»Warum? Weil der Mann in Zelle 437 Carl Mørck ist. Weißt du das nicht, du Idiot?«
Malthe hatte keine Ahnung, wovon der andere redete.
»Nein, offenbar weißt du das wirklich nicht. Aber der ist jedenfalls ein Polizist, den die meisten hier drinnen am liebsten zur Hölle schicken würden.«
Malthe hielt kurz die Luft an. Gut, dass William Bastian ihm das mitgeteilt hatte. Dann war ja alles in Ordnung.
»Also, wenn du das sagst, … na ja, okay, deshalb warte ich auf ihn.« Malthe lächelte ihn an. Es machte wohl nichts, wenn er ihm diese Info gab.
Was in Karnickelschwanz in diesem Augenblick vorging, war für Malthe schwer zu durchschauen, aber sämtliche Falten in seinem Gesicht zogen sich zusammen, als hätte ihn gerade die Sonne geblendet.
»Was hat der Mann getan, weißt du das?«, fragte Malthe.
»Willst du ihn mit dem da erstechen?« Karnickelschwanz deutete auf die Faust an Malthes Seite.
Malthe sah zu seiner Hand. War das wirklich so leicht zu erkennen?
»Was bekommst du dafür?«, fragte Karnickelschwanz.
»Ich glaub nicht, dass ich das sagen darf.«
»Ach komm. Wen soll ich dann fragen?«
Malthe sah den Gang hinunter. Sein Gefängniswärter hielt sich offenbar in sicherer Entfernung.
»Aaah! Bestimmt einer der Wärter! Dann ist es Peter ›Brüllaffe‹ Joensen, stimmt’s?«
Woher wusste er das denn?
Als Malthe zögerte, nickte Karnickelschwanz. »Du bekommst eine Million dafür, stimmt’s?«
Malthe schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht so viel.«
»Wie viel denn?«
»Das ist wohl nur so etwa die Hälfte.«
Er lachte. »Wüsste gern, wie viel der gerissene Brüllaffe für sich selbst abzweigt. Aber weißt du was, Malthe? Ich will die Hälfte von dem haben, was du bekommst. Zweihundertfünfzigtausend für mich, sonst warne ich den Polizisten in Zelle 437.«
Malthe schüttelte den Kopf. Warum sollte er Karnickelschwanz was abgeben? Die hatten doch ihn beauftragt. Er sollte die Drecksarbeit machen.
»Nein, William, das geht nicht. Ich muss alles haben, sonst reicht es nicht. Ich brauche das Geld für meinen Bruder, weil der sehr krank ist.«
Karnickelschwanz drehte langsam den Kopf zur Etage über ihnen und sah zu ein paar Häftlingen, die dort herumstanden und sich übers Geländer beugten. Mehrere nickten, sie hatten alles gehört.
»Weißt du was, Malthe, ich rede mit Brüllaffe und erkläre ihm, dass wir eine Million wollen, und dann kann es ja sein, dass du, sagen wir, vierhunderttausend bekommst. Bist du dann dabei?«
Malthe überlegte. Vierhunderttausend war in etwa, was die Klinik in Deutschland bekommen sollte. »Aber geht das? Ich glaube nicht, dass du Brüllaffe zwingen kannst, oder?«
Karnickelschwanz sah wieder nach oben zur ersten Etage, wo ein paar Häftlinge darauf warteten, eingeschlossen zu werden. Sie lachten.
»Malthe, er hat sich schon blamiert, indem er dir die Aufgabe übertragen hat, oder?«
Von oben waren Rufe zu hören, und Malthe runzelte die Stirn.
»Der will doch keine Schwierigkeiten«, fuhr Karnickelschwanz fort. »Wir geben ihm einfach ein paar Stunden, dann kann er mit denen verhandeln, die wollen, dass der Bulle umgebracht wird. Brüllaffe kann von meinem Anteil fünfzigtausend extra bekommen für die Mühe, die er sich gemacht hat, und ihr da oben könnt auch was abhaben, darauf soll es nicht ankommen.«
Er stoppte die lautstarke Begeisterung der anderen Häftlinge mit einem Wink und drehte den Kopf zum Ende des langen Korridors und lauschte.
»Jetzt kommen sie, Malthe, was meinst du? Soll ich denen sofort sagen, was Sache ist, oder wollen wir erst mit Brüllaffe reden, und dann gibst du mir Minimum die Hälfte?« Er unterbrach Malthe, ehe er antworten konnte. »Und hör gut zu. Betrüg mich nicht, denn dann wirst du hier drinnen nicht alt.«
Malthe war verwirrt. Er mochte nicht, wenn sich etwas änderte oder etwas zu schnell ging. Er wollte den Mann jetzt erstechen, das war der Plan. Andererseits hatte Karnickelschwanz ja noch nicht mit dem Wärter sprechen können, der das angeordnet hatte. Und was jetzt?
»Aber muss ich dann nicht damit warten?«
Karnickelschwanz nickte erst Malthe zu und sah dann mit einem schrägen Grinsen den Polizisten an, der an ihnen vorbei zu Zelle 437 eskortiert wurde.
Carl
Sonntag, 27. Dezember 2020
Carl registrierte die Bewegungen sofort. Die starren Blicke vom ersten Stockwerk, die anderen Häftlinge, die ihn aufmerksam beobachteten. Der große Kerl neben dem leeren Essenswagen, dessen Augen außerordentlich ratlos wirkten, und dann dieser Idiot, Karnickelschwanz, mit dem schon fast alle Polizisten im Großraum Kopenhagen Bekanntschaft gemacht hatten. Carl hatte ihn nie festgenommen, aber er und Assad hatten in ein paar Fällen gegen ihn ausgesagt, bei denen seine kriminellen Aktivitäten die Ermittlungen des Sonderdezernats Q gestreift hatten. Gleich nach der Jahrtausendwende war der Typ angeklagt gewesen, eine ältere Frau umgebracht zu haben, nachdem er ihr Bankkonto abgeräumt hatte. Er entging der Anklage, weil der Schuldige mithilfe von Schuhabdrücken überführt werden konnte.
Karnickelschwanz war ein ganz gewöhnlicher Serientäter, der keinem krummen Ding aus dem Weg ging. Sein Leben war eine endlose Reihe von Gefängnisaufenthalten, das wusste Carl.
Dieses schräge Grinsen, mit dem Karnickelschwanz ihn bedacht hatte, als er an ihm vorbeigebracht wurde, weckte ungute Gefühle in Carl. Es war diese Art unergründliches Lächeln, vor dem man sich am meisten in Acht nehmen musste.
Carl sah noch einmal nach oben zu den Männern, deren Ellbogen schwer auf dem Geländer ruhten, was darauf schließen ließ, dass sie schon eine Weile so gestanden und gewartet hatten. Aber worauf?
»Carl Mørck, du siehst so was von scheißlächerlich aus mit diesen roten Haaren«, rief einer, und Carl nickte ihm zu, der Idiot hatte ja recht. Warum hatte er bloß geglaubt, während der Ermittlungen im Fall Sisle Park der Aufmerksamkeit der Polizei entgehen zu können, nur weil er sich die Haare rot färbte? Er musste schnellstmöglich diese Färbung loswerden.
Die letzten Schritte zu seiner Zelle schloss Carl zu dem Wärter auf. »Ihr müsst mich heute Nacht in Isolation bringen, sonst geht das schief, begreift ihr das?«
Der Gefängniswärter nickte. Carl kannte ihn. Er war ein breitschultriger, ordentlicher und gutmütiger Mann, der fast so lange hier drinnen arbeitete wie Carl im Präsidium.
»Darüber wurde im Wachlokal geredet, das habe ich gehört. Also vielleicht …«
»Frank, hör mir zu. Du siehst doch die Blicke der Idioten da oben, und überhaupt, warum sind die nicht in ihren Zellen? Es reicht nicht, dass ihr darüber redet, es MUSS sein. Meine Verteidigung muss davon unterrichtet werden, dass schon jetzt etwas ganz Übles in der Luft liegt, sorg bitte dafür. Denn glaub mir, es passiert, ehe wir’s uns versehen.«
Frank nickte, dann schloss er die Tür auf und brachte Carl nach drinnen.
Nach zwei Stunden kam Frank mit der Nachricht zurück, die Isolation sei noch nicht bestätigt und der Staatsanwalt habe eine Besuchs- und Briefkontrolle angeordnet, und Carls Frau erwarte ihn zusammen mit seinem Anwalt. Dieses Treffen und alle anderen würden in Zukunft von einem Beamten überwacht. Seinem Anwalt werde als Einzigem unkontrollierter Besuch gestattet.
Mona war gekommen, Gott sei Dank. Aber als er die Zelle verließ, fühlte er sich überhaupt nicht sicher. Auf dem gesamten Weg bis zum Besucherraum war sein Nervensystem in Alarmbereitschaft. Mit jedem Schritt wurde beim geringsten Laut und jeder Bewegung Adrenalin in sein Blut gepumpt. Als sie schließlich den Besucherraum erreichten, waren seine Muskeln aufs Äußerste angespannt und bereit, zu reagieren.
Die werden mich nicht bekommen, dachte er und wiederholte im Stillen seine Strategie: als Erstes dem Angreifer einen Tritt in den Schritt versetzen, dann ein Handkantenschlag an die Halsschlagader, wie ein Stier losbrüllen, gegen Kehlkopf, Augen und Kniescheiben schlagen und treten. Und so war er gar nicht er selbst, als die Tür geöffnet wurde und seine kleine Lucia auf ihn zustürzte.
Oh Gott, was geschieht mit mir, dachte er. Sein Herz klopfte wie verrückt, während sich Klein-Lucia an sein Bein klammerte.
Mona erkannte sofort, was mit ihm los war, und lockerte die Situation auf, indem sie ihn, ihre Tochter zwischen den Beinen, umarmte. Der Beamte an der Tür protestierte gegen die Umarmung, aber das ignorierte Carl. Als er Mona in die Augen sah, wusste er, dass etwas passiert sein musste.
»Guten Tag, Carl Mørck«, hörte er eine Frauenstimme hinter sich.
Verwundert drehte er sich um. Die gut gekleidete Frau mit den sorgfältig geschminkten Lippen lächelte ihn an.
»Nanu? Molise, du hier? Aber wo ist mein Verteidiger?« Er befreite sich aus Monas Umarmung.
»Ja, deshalb bin ich hier. Wir müssen sehr schlechte Nachrichten überbringen«, sagte die Frau. »Carl, es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber dein Pflichtverteidiger ist vor zwei Stunden auf dem Weg zu dir direkt vor dem Gefängnis überfahren worden. Ein Auto bog abrupt auf den Gehweg und hielt direkt auf ihn zu.«
Carl runzelte die Stirn, schluckte …
»Direkt vor dem Gefängnis, sagst du? Ist er schwer verletzt?«
»Er war auf der Stelle tot«, erklärte sie.
Carl versuchte, die Information zu verarbeiten.
»Getötet?« Er sah Mona an, die leicht den Kopf schüttelte, Lucia zupfte an ihrem Kleid.
»Ich verstehe nicht, was du da sagst. Wurde der Mann vorsätzlich angefahren?«
Mona nahm seine Hand. »Es gab eine einzige Zeugin. Sie ist wegen des Schocks bei meiner Kollegin in Behandlung. Aber immerhin war sie so geistesgegenwärtig, sich das Kennzeichen zu merken. Sie sagt, der Unfall war volle Absicht, das Fahrzeug ist mit so viel Abstand zu dem Mann auf den Gehweg eingebogen, dass er nicht zwangsläufig hätte angefahren werden müssen, das hätte sich leicht vermeiden lassen. Stattdessen beschleunigte der Wagen sogar, sodass dein Anwalt keine Chance hatte, zur Seite zu springen.«
Carl sah zu Boden. Das war doch verrückt. Warum musste sein Verteidiger als Erster für dieses wahnsinnige Durcheinander büßen? Die Botschaft war an ihn gerichtet, daran gab es keinen Zweifel. Er schüttelte den Kopf. Gestern hatte er das alles noch für eine Farce gehalten, eine Einschätzung, die sich inzwischen als völlig falsch erwies. Das hier war ein absoluter Albtraum.
»Der arme Mensch. Ich erinnere mich nicht mal an seinen Namen. Weiß man, wer der Täter war?«
»Von dem Täter fehlt jede Spur. Das Auto wurde von einem der Parkplätze direkt hinter dem Gefängnis in der Vestre Kirkegårds Allé gestohlen und bereits eine Stunde später in der Vesterbrogade 144 gefunden, wo es falsch geparkt halb auf dem Gehweg stand.«
Carl sah Molise Sjögren an. Sie war eine der profiliertesten Verteidigerinnen des Landes. »Und damit übernimmst jetzt du meine Verteidigung?«, konstatierte er ohne jede Begeisterung. Molise würde ihm natürlich eine große Hilfe sein. Aber sie hatte mehrmals erwirkt, dass Kriminelle freigesprochen wurden, die er und das übrige Morddezernat beschuldigt und festgenommen hatten. Seine Begeisterung für sie und ihre Fähigkeiten als Verteidigerin hielt sich daher eher in Grenzen.
»Ich habe schon gestern versucht, Molise zu kontaktieren, es ist mir aber erst heute Morgen geglückt«, sagte Mona. »Sie hat mir berichtet, dass du bereits einen Verteidiger hast und man dich heute Morgen zur ersten richterlichen Vernehmung gebracht hat. Carl, wir haben davon nichts erfahren. Marcus Jacobsen hat vorab nicht einmal deine Kollegen aus dem Sonderdezernat Q informiert – das hat er erst getan, nachdem die Vernehmung vorbei war. Ich weiß, dass sie herkommen wollten, um mit dir zu sprechen, aber das hat Marcus meines Wissens unterbunden. Ich weiß auch, dass alle drei, Rose, Assad und Gordon, jeder für sich, um eine Besuchserlaubnis gebeten haben, aber ob die Kriminalfürsorge Bescheid bekommen hat, das kann ich nicht sagen.«
Das Blut in Carls Adern begann zu kochen. Wenn nicht Lucia ihn rückwärts auf einen Stuhl gezogen hätte, um auf seinen Schoß zu klettern und in seinen komischen roten Haaren zu wühlen, wäre er ausgerastet.
»Carl, ich sehe, wie es dir damit geht. Als Mona von hier aus anrief und erzählte, was mit Adam Bang passiert ist, habe ich natürlich alles stehen und liegen lassen.«
Carl schloss die Augen. Adam Bang. Hatte der Anwalt so geheißen? Der arme, arme Mann.
Das restliche Treffen war eine verwirrende Mischung aus emotionaler Verabschiedung und konkreten Absprachen. Lucia weinte, weil er nicht mit nach Hause kommen konnte. Mona weinte ebenfalls.
Er setzte seine Unterschrift auf ein Stück Papier und machte Molise Sjögren damit zu seiner Verteidigerin. Als Nächstes wollte sie sich mit der Polizeiklagebehörde in Verbindung setzen und sich gründlich in den Fall einarbeiten. Morgen könnten sie sich dann ein Stück weiter den Gang hinunter im Anwaltszimmer treffen.
Carl
Sonntag, 27. Dezember 2020
Der Gefängniswärter Frank brachte ihm ein paar feuchte Sandwiches in die Zelle. Leider sei von ganz oben die Direktive gekommen, er müsse eine weitere Nacht in Zelle 437 zubringen. Zu seinem Ersuchen um Sicherheitsisolation werde erst am nächsten Tag Stellung genommen.
Carl unterdrückte einen Fluch. Die Art, wie er behandelt wurde, war geradezu bösartig.
Sein Blick wanderte über die schmuddelige Wand zu dem halb offenen Fensterladen und den Gittern ins Freie, von wo das Echo der Stimmen und Rufe hereindrang.
»Schwein«, riefen ein paar Männer ins Dunkle. Das war zweifellos an ihn gerichtet.
Frank nickte ihm zu. Es war nicht schwer, den Ernst der Lage zu erfassen.
»Ich weiß nicht … Vielleicht wirst du morgen in ein anderes Gefängnis überführt, jedenfalls arbeitet deine Anwältin daran, glaube ich«, sagte er. Zudem würden die Anwältin und seine Frau am Vormittag kommen, ob zusammen, das wisse er nicht.
Anschließend lag Carl auf der Pritsche und starrte auf die schmutzigen Wände. Die Häftlinge vor ihm hatten dort ihre primitiven Gedanken in ungelenken Buchstaben verewigt, alles in allem ein verdammt tristes Manifest der Machtlosigkeit auf der Kehrseite der Gesellschaft. Warum übermalte man das nicht einfach?
Er bemühte sich, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen. Er musste sich dringend ein paar Notizen machen, musste für die Vernehmungen durch die DUP zusammenstellen, was er zu den einzelnen Anklagepunkten zu sagen hatte. Und Mona musste unbedingt Rose kontaktieren und ihr übermitteln, was das Team in seinem Sinn unternehmen konnte.
Er grübelte, etwas anderes blieb ihm auch gar nicht übrig. Er kam nicht zur Ruhe. Der winzige Fernseher auf dem Tisch funktionierte nicht.
Vergeblich versuchte er, sich in Erinnerung zu rufen, was seit jenem Tag im Jahr 2007, als Anker erschossen wurde, geschehen war. Ihm war bewusst, dass ihn der Moment damals für immer verändert hatte. Was er damals erlebt hatte, blockierte noch heute seine Erinnerungen und alle weiterführenden Gedanken.
Manchmal kam es ihm vor, als nähme er die Vergangenheit wie durch ein Spinnennetz wahr, hinter dem diffuse Bilder tanzten. Heute Abend war es, als stünde ihm Anker wie in einem Nebel gegenüber und redete mit ihm, aber seine Worte waren undeutlich und ergaben keinen Sinn.
Mit gerunzelter Stirn, den Blick zu Boden gerichtet, versuchte er, sich zu konzentrieren. Wenn er sich doch nur an alles erinnern könnte, was geschehen war. Aber da kam nichts. Im Grunde erinnerte er sich nur daran, dass sie zu dritt nach Amager gefahren waren, er, Anker und Hardy, und dann, etwas deutlicher, an die Sekunden unmittelbar vor den Schüssen. Seine Erinnerungen an die darauf folgenden Vorfälle waren durch die Erinnerungen anderer gefärbt.
Ein oder zwei Jahre nach den Schüssen war ihm ein paarmal so schlecht geworden, dass er darüber fast den Verstand verloren hätte. Dass sich das nun zu wiederholen drohte, konnte er wirklich nicht gebrauchen, schon gar nicht jetzt.
Deshalb versuchte Carl, sich Lucias weiche Wange an seiner und ihr zartes Stimmchen vorzustellen. Eine kleine Weile half es sogar, doch dann wurde er erneut vom diffusen Mahlstrom seiner Erinnerungen erfasst.
An jenem Tag vor vielen Jahren, als Hardy, Carl und Anker zu dieser baufälligen Baracke gekommen waren, hatte es geregnet. Ein Nachbar hatte Georg Madsen mit einem Nagel im Kopf gefunden. Leichengestank schlug ihnen entgegen, sobald sie die Tür öffneten. Der alte Mann saß auf dem Sofa, sein Gesicht war graugrün, voller Pusteln, die toten Augen glänzten wie Stearinsäure. Kein schöner Anblick.
Der Nachbar hatte angegeben, ihn habe der Geruch alarmiert, und Hardy hatte gleich das Fenster geöffnet, daran konnte sich Carl jetzt erinnern. Der gute alte Hardy, lang wie ein Leuchtturm und zuverlässig wie ein Dieselmotor, tat immer das Richtige.
Und dieser patente, praktisch veranlagte Hardy stellte auch sofort fest, dass der Nagel im Kopf des Mannes von einem Druckluftnagler stammte, und genau so ein Druckluftnagler lag auf dem Tisch neben ihm. Das hatte ihn, Carl, erstaunt, erinnerte er sich jetzt. Warum hatten die Killer die Tatwaffe nicht mitgenommen? Das Gerät besaß doch sicherlich einen gewissen Wert.
Carl schluckte ein paarmal, wieder kroch diese Übelkeit in ihm hoch. »Weil du ausschließlich an die eigentliche Schießerei denkst, Carl, daher kommt das«, hatte ihm Mona einmal gesagt, und damit hatte sie recht gehabt. Denn nur wenige Sekunden nach den Schüssen war alles vorbei gewesen. Anker war mitten in den Brustkorb getroffen worden und lag scheinbar leblos auf dem Boden, Carl hatte ein Streifschuss an der Schläfe erwischt. Hardy war im Rücken getroffen.
Warum zum Teufel habe ich nicht rationaler reagiert?, dachte Carl. Aber jetzt, wo er sich konzentrierte, um sich genauer zu erinnern, da wusste er, warum. Hardy war in der Sekunde nach ihm getroffen worden. Er war auf Carl gestürzt. Wie gelähmt hatte Carl unter dem riesigen Mann gelegen. Da wäre es doch jedem so ergangen, dachte er jetzt. In der Tür zum vorderen Raum hatte er eine schemenhafte Gestalt in einem rot karierten Hemd wahrgenommen, und das war alles, mehr hatte er nicht gesehen. Unmittelbar darauf hatten die Täter im Vorraum miteinander gesprochen, dann hatte sich der schwerverletzte Anker plötzlich in Richtung der Fremden umgedreht und versucht, seine Pistole zu ziehen, dabei hatte er gerufen, sie sollten sich ergeben.
Das waren seine letzten Worte gewesen, dann hatte ihn eine Kugel ins Herz getroffen.
Wie oft war Carl später gefragt worden, was die Killer miteinander geredet hatten. Aber er hatte ihr leises Murmeln nicht deuten können.
Als sich einige Jahre später die holländische Polizei mit einer Theorie einschaltete, der Fall könne zu vergleichbaren Vorfällen im Drogenmilieu in einem Vorort Rotterdams passen, hatte er überlegt, dass er die Mörder vielleicht nicht verstanden hatte, weil sie Holländisch sprachen.
Carl seufzte, was sollte er von der Geschichte mit den Holländern halten? Bei der Verlesung der Anklage heute Morgen war angeführt worden, man habe in einem Koffer auf seinem Dachboden anderthalb Kilo Kokain und Heroin und jede Menge Bargeld in fremder Währung gefunden. Dass Anker Høyer ihn gebeten hatte, den Koffer aufzubewahren, bezweifelte der Staatsanwalt. Stattdessen wurde Carl des Drogenschmuggels, Drogenhandels und eventuell der Beihilfe zum Mord verdächtigt. Darüber hinaus, hatte der Staatsanwalt ausgeführt, habe Anker Høyer mehrfach Kontakt zu Personen gehabt, die mit einem Drogenring in Holland in Verbindung gestanden hätten. Dafür hätten die Holländer überzeugende Beweise gefunden. Wusste Carl von der Sache? Oder vielleicht doch nicht? Und hatte Anker auch Kontakt zu den Mechanikern aus Sorø gehabt? Einige Monate nach der Schießerei und Ankers Tod waren zwei Männer aus dem Drogenmilieu in Sorø nämlich auf die gleiche Weise wie der Alte auf Amager getötet worden – mit einem Druckluftnagler. Und der Alte, dieser Georg Madsen, war, wie sich herausstellte, der Onkel von einem der beiden Männer gewesen. Aber was hatte das alles mit ihm, Carl, zu tun?
Wenn er es sich genau überlegte, hätte er im Lauf der Jahre darum kämpfen sollen, bei den Ermittlungen zum Druckluftnagler-Fall stärker eingebunden zu werden. Aber teils hätte man das als Eigeninteresse auslegen können, teils hatte er in den vielen Jahren genug anderes zu tun gehabt. Außerdem war in all der Zeit offiziell sein Kollege Terje Ploug für den Fall zuständig gewesen.
Auf dem Gang war ein metallisches Klirren zu hören. Durch die dicke Tür drang nicht sehr viel, aber das scharfe Geräusch von Metall, das zu Boden fällt, überwindet fast alles.
Carl stellte sich an die Wand und blickte wieder zum Fenster hinaus ins Freie. Panzerglas vor dem einen Fenster und Gitterstäbe vor dem anderen, das sah man von drinnen, wenn der Fensterladen geöffnet wurde. Aber wenn man wirklich aus dem Fenster hinausschaute, was sah man dann? Nichts als hohe Zäune und Stacheldraht. Inzwischen waren von dort draußen keine Rufe mehr zu hören.
Carl schloss die Augen.
Und was war in dem Fall noch passiert? Er musste erneut darüber nachdenken und als Ermittler an die Sache herangehen.
Er und Assad waren nach Sorø gefahren, weil eines der Mordopfer dort ein rot kariertes Hemd getragen hatte und Carl herausfinden wollte, ob es vom selben Typ stammen könnte wie das Hemd, das er bei der Schießerei auf Amager gesehen hatte.
Unwillkürlich musste er lächeln. Die Tour nach Sorø war eine der ersten gewesen, die er mit dem noch sehr unerfahrenen Assad unternommen hatte. Als er damals hinter dem Steuer saß, hatte er gedacht, er hätte lieber Hardy an seiner Seite. Heute war er da nicht mehr so sicher. Klar, damals kannte er Assad ja auch nicht so wie heute.
Jetzt ging das Licht in den Zellen aus, woraufhin nur ein schwaches Licht von draußen durch die Gitterläden den Wänden noch Farbe gab. Dann ist es wohl zehn, dachte Carl.
Ein paar Tage nach dem Besuch in Sorø hatten die Ermittler vor Ort einen Verdächtigen festgenommen, einen Typ, der in der Autowerkstatt der beiden ermordeten Mechaniker abhing. Aber die Beweise waren nicht stichhaltig, und der Mann wurde freigelassen. Carl erinnerte sich nicht, was aus ihm geworden war. Hatte man eigentlich aus ihm herauszubekommen versucht, was die Mechaniker über ihren Onkel wussten? Vielleicht sollten Rose und die anderen den Mann aufstöbern und ihm ein bisschen Druck machen.