Verschwende die Zeit, sie dauert länger als du. - Walter Dellers - E-Book

Verschwende die Zeit, sie dauert länger als du. E-Book

Walter Dellers

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Beschreibung

Im hohen Alter der Wunsch zu hinterlassen, was anregt und erfreut.: Gedichte von 2018 bis 2022.

Das E-Book Verschwende die Zeit, sie dauert länger als du. wird angeboten von Books on Demand und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Lyrik, 2018, 2021, 2019, 2020

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Walter Dellers

Geboren am 28.2.28 und aufgewachsen zu Fürth in Franken, im September/Oktober 1939 Flucht nach Basel, unwillkommen, arm, aber sicher.

Studium Philologie, Philosophie, Doktorarbeit über Clemens Brentano.

Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Cambridge/England, Caius und Pembroke College. Lehrer am Wirtschaftsgymnasium Basel, Dozent am European American Study Center und an der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule.

Als Rentner Stellvertretungen an der Sehbehindertenschule Basel.

Tod der Gattin 2010 nach fast sechzigjähriger Ehe, sieben Söhne, sieben Enkel, vier Enkelinnen, ein Urenkel, zwei Urenkelinnen.

Heimat Deutschland, Umfeld Schweiz, Lebenskreis Europa.

Inhaltsverzeichnis

2018

2019

2020

2021

2022

2018

Seid ihr mir nah?

Rücke ich euch näher?

Gestern wart ihr um mich,

heute seid ihr in mir,

morgen, ja morgen

bin ich euer.

*

Habe meine Kindheit beschrieben –

»bricht ab«, »wie gehts denn weiter?«

»wäre spannend« –

Schicksal, Verhängnis,

mittelschwer verletzt,

aus dem Waisenhaus heraus

plötzlich mit zwölf erwachsen,

wieder auf den Beinen,

aufgerappelt,

versteinert

nach außen.

*

Do hotsn higschmissn,

do wor er fei bedeppert,

do is er wieder worn,

verwundet,

verwundert.

*

Die Schlüsselblume

mitten im Rasen,

mitten im Januar,

trotzt dem Frost in der Nacht,

leuchtet im hellen Mittag:

da bin ich.

*

War eine zauberhafte Nacht,

war eine harte Geburt,

Blut und Wasser und Schmerz,

und dann das Wunder in den Armen,

das warst du.

*

Frauen, die mich einst begehrten

oder liebten, schweben

lächelnd an mir vorüber,

aus dem vergangenen Dunkel

ihren unsichtbaren Zielen zu,

ich stapfe unentwegt

den stillen Feldweg hinauf

zum unbekannten Paradies.

*

Grimmiger Enkel, groß und stark

gewachsen, deine Gedanken brach,

ungepflügt, dein Gefühl unruhig,

umarmst dich selber im Nebel

wallender Weinwolken, ich

reiche dir, unsichtbar, die Hand.

*

Regelmäßige Rhythmen

alter Jazzkompositionen

sind die Herzschrittmacher

geruhsamer Abende.

*

In der Januarsonne

sprossen heute Vormittag

die lila Blüten

des Wiesenschaumkrauts

durchs leuchtendgrüne Moos

quer über den Garten hervor,

ungeduldig sich wiegend

im sanften Wind.

*

Die Jungen werden älter,

wie sichs gebührt,

doch ich verharre

unachtsam im

immer gleichen Rhythmus.

*

Kommst du mit mir tanzen

im Paradies, wo ich vielleicht

fröhlich verweile, bald,

damit ich nicht auch dort

mich allein des Daseins freue.

*

Als Mädchen huschte ich barfuß

durch Schuppen trocknender Ziegel,

neckte die Knaben von oben,

entsprang jeder Verfolgung –

nun ist mein achtzigjähriges Füßchen

schöner denn je, das sechste Zehlein

ist weg, das mittlere wieder gerade,

mein Geselle darf mit mir

mein neues Füßchen freudig betrachten.

*

Ich, kluges Köpfchen,

habe mir ein Fußhäuschen gebaut,

modern, aus durchlochtem Metall,

mit einer warmen Decke drüber,

darin zappeln meine

neugefügten Zehlein,

derweil ich oben ruhig schlafe.

*

Kaffee und Schokoladenwaffel,

ohne Pfeifenqualm im Winter,

Musik und Zeitung und Hinausgeträum

durchs Fenster in den verschämt

blühenden Schneeball-

und Schneeglöckchengarten:

Ruhestündchen im hohen Alter.

*

Einst? Da war was, fern,

Gutes, Schlimmes, Helles, Dunkles,

aber jetzt durchfließt mich der neue Tag,

trägt, stärkt, erfreut mich.

*

Graue Wolken draußen,

im Seelengarten Sonne,

verschwiegene Lauben,

zwischen den blühenden Rabatten

lustwandeln selige Paare.

*

Nie, als an der Basler Fasnacht,

mehr Arbeit, Ordnung, Ernst.

Ächtung aller Eseleien des Äons,

getrommelt, gepfiffen, geblasen,

trompetet, posaunt, fanfart,

gesungen mit witzigen Pfeilen,

Kulturerbe jahrlang geschaffen.

*

»Schnitzelbänke«

gesungen von gescheiten,

gewitzten Baslern

für verständige Zuhörer:

Sinn für Gerechtigkeit,

Fleiß und demokratisches

Verhalten alltäglich

und öffentlich:

erheiternd tröstlich

in der kalten

Winterwelt.

*

Nachts gehen die Geister

von Nord nach Süd

über die Eichenbohlen

durch mein Zimmer,

sind sie arg laut,

schnelle ich auf, lausche,

sie lassen sich nicht stören,

gehen hintereinander ihren

vorgeschriebenen Weg,

ich bräuchte nicht zu erschrecken,

sie kümmern sich nicht um mich,

gehen ohne Rücksicht ihren Gang,

einverleibt in die kalte

Ordnung der Welt.

*

Einstieg ins warme Bett,

die Nacht ist kalt,

Embryostellung, bis die

mütterliche Wärme sich ausbreitet,

dann erwachsenes Strecken,

hier bin ich beschützt,

komm, schöner Traum!

*

Frescobaldi spielt für mich

Toccaten auf dem Cembalo,

hergezaubert zwischen den Zweigen,

den Ästen, den Ästchen der Buchen im Garten

im kalten späten März.

*

Der Himmel hängt im frühen Frühling

mit grauer Decke über der Stadt,

Schnee fällt und deckt die Osterglocken,

sie blühen golden im Liegen.

*

Harmonie

Die Steine auf dem Pfad

räume ich weg.

Die spitzen kratzen, doch

fliegen sie leicht ins Gebüsch.

Die runden sind glatt, aber schwer,

ich brauche zwei Hände

und schiebe sie an den Rand

mit Mühe.

Der Weg glänzt.

*

Sommerabend am 20. April

im Gärtchen am Wielandplatz,

freudig erregtes Gespräch,

seltenes Lob der Frauen

des englischen Pfeifentabaks,

nach dem Konzert des Hang-Trios,

drei haben sich gefunden,

aus Leimen im Elsass,

aus Israel, aus Aarau,

der Gedenktag vergessen,

das Leben ist jetzt,

im Dämmerdunkel

am Wielandplatz zu Basel.

*

Pastis und Pfeife

auf dem Balkon

über den Dächern der Stadt,

der Jura grünt in der Ferne,

verheißungsvoll der Blick

in das unendliche Blau.

*

Saurier aus dem Boden von Frick,

vierhundertfünfzig Millionen Jahre,

Vorläufer der Vögel,

wer bist du, Partikelchen

im Weltgefüge?

Bloß hundert Jahre sind dir vergönnt

im Kampf ums Dasein,

von Sehnsucht getragen

nach ewiger Seligkeit.

*

Nennt sich Müllmuseum

in Wallbach am Hochrhein,

Erzeugnisse der Vorfahren,

einst gebraucht und geschätzt,

ausgestellt zur Erinnerung

den Staunenden.

*

Ah, ihr blauen Lupinen,

angewindet

im ungeschnittenen Gras,

ich lasse euch leuchten!

*

Die gelben Butterblumen

widerspiegeln die Sonne

im grünen Gras.

*

In den Sonnenduft

kräuselt sich der Pfeifenrauch

fröhlich hinauf.

*

Die Rosenknospen

warten schon prall

auf ihre Blütenzeit

im warmen Mai.

*

Haste was, so biste was.

Was hast du?

Träume.

Was bist du?

Sehnsucht.

*

Die Gänseblümchen, die Butterblumen,

die Lupinen, der Löwenzahn,

sie blühen alle und verwelken,

wie wir alle, fürs

biologische Gleichgewicht.

Barmherzig ist nur der Mensch.

*

Aeschenvorstadt Basel--- Mai 2018

Das Mittelalter verdrängt,

Autogerechtigkeit der

1950er Jahre:

breite Zufahrt zur Stadtmitte,

heute beherrscht vom Fahrrad

und der Straßenbahn,

lärmig komfortables Wohnen

über Geschäften und Menschengedränge.

*

Holbein kam in Paris nicht an,

so rühmt sich Basel heute

seiner tüchtigen Bilder.

*

So viele Menschen, so viele Bilder

im Kopf: Wünsche und Wüte,

Kaleidoskop von glücklichen

Sehnsüchten, tiefen und flachen,

durchsetzt

von egoistischen Viren:

ich bin ich.

*

Die Handelsbank brach

neunzehnhundertfünfundvierzig ein,

hatte zu sehr auf

den Aufschwung gesetzt,

den der Gröfaz in den

Untergang trieb,

nur wenige sahn es voraus.

*

Gegenüber die Kantonalbank:

in den Siebzigern Sohn Ruben

ausgebildet als »unser Herr Dellers«,

ein Aufsteiger.

*

Vor dem Tabakladen

rauche ich eine Pfeife,

diese Stadt ist mir

nicht Heimat geworden,

aber zufriedene

Lebensgewohnheit

mit vielen Freunden.

*

Die Frauen sind männlich geworden,

nur wenige tragen noch einen Rock,

Preis der Gleichberechtigung,

was ihr könnt, können wir auch,

nur das Leben

schenken wir allein.

**************

Konzert, Theater, Tanz und Lesung,

Schau, Museum, Grill, Gespräch,

Haushalt, Wäsche, Garten, Fernsehn,

Buchhaltung, Einkaufen, Post,

Ausflüge, Fahrten, Café und Kino,

Telefon, E-Mail und Messages,

Briefe, Geburtstagswünsche, Besuch,

Arzt und Zahnarzt, Turnen, Spazieren,

Zeitung, Buch, Schreiben, Denken,

Erinnern, Träumen, Planen,

Aktivitäten sonder Zahl,

allein, zu zweit, zu vielen:

Mensch unter Menschen.

*

Träumen und träumen und träumen,

auch handeln und wandeln,

aber träumen greift tiefer

nach innen,

erhellt und erfreut.

*

Waldhang im Mai

Unbewegt leuchten die Kieferkerzen,

die Birkenblätter tänzeln im Wind,

der Nussbaum wiegt sich leicht im Takt,

der Kirschbaum zeigt die kommenden Früchte,

erhaben prangen die weißen Dolden

der Kastanie

am Steilhang.

*

Spargel und Lachs und Ötlinger Sonnhole,

Gespräch über die Aufgaben der Politik,

die zu bewältigen wären,

wenn sie die Oberen sähen.

*

Gewitterneigung am Maiabend,

der Tag war heiß, war trocken,

es wird nicht regnen,

morgen muss ich die Wurzeln begießen,

sie strecken sich nach unten.

*

O weh, nun habe ich die bunten Blumen

im Gras alle geschnitten,

es musste sein, es ist schon Mai,

nun wird mich der grüne Teppich

ruhig durch den Sommer begleiten.

*

Die Wolken ziehn ab, die Bäume dunkeln,

goldene Fenster schimmern durch die Büsche,

die fröhlichen Stimmen der Jugend

perlen in die Nacht.

*

Berlin--- Mai 2018

In Steglitz ist der Himmel weit,

der Abendstern nah,

der Horizont rotgolden,

das verhangene Fenster ocker,

das Blau unendlich.

*

Oh, der Abendbalkon

mit den roten Geranien.

Der Bewohner darüber

gießt seine und meine.

Es sprüht fröhlich herunter,

wir erfreuen uns beide

am lebendigen Wasser.

*

Einst im Kinderwagen,

später den Kinderwagen geschoben,

jetzt im Rollstuhl:

Muttertag.

*

Der Abendstern über den Dächern

schwebt hoch und allein

auf dem apfelsinenen Horizont

silbern.

*

Die silberne Venus

über dem Apfelsinenhorizont

so weit weg.

*

Du warst der Himmel auf Erden,

die schäumenden Wellen der Nordsee,

das verflachende Land,

der versunkene Bunker.

*

Fünfundfünfzig Jahre

am Steglitzer Damm,

die Geschäfte gewechselt,

die Wirtschaften gehoben,

die Vielvölker berlinern.

*

Die Maisonne dezent

unter dem frischen Grün,

die Kinder an der Hand,

die Einkaufstüten gefüllt.

*

Die Kinder von der Schule abgeholt,

die Großstadt verlangts,

manche zu den Aufgaben nachhaus,

manche zu einem Eis von Opa.

*

Wenn ein Busfahrer erkrankt,

fährt kein Ersatz,

nachts am Innsbrucker Platz

vierzig Minuten gewartet,

ein Standbild.

*

Die Pfeife schmeckt überall,

englischer Duft,

manche nehmen ihn wahr,

erfreut.

*

Der runde Rücken,

rot gewandet,

kolossal,

den Menschen gehts gut.

*

Neunzig Jahre erreicht,

ist kein Verdienst,

ist Geschenk des Schicksals,

bin dankbar.

*

Der Nachmittag geht sanft

in den Abend über,

der Maiwind kühlt,

das Gewitter naht.

*

Mach dich auf den Heimweg

zur Borstellstraße,

bevor der Regen

deinen Schirm verlangt.

*

In vier Stunden von Schwäbisch Hall

nach Lankwitz zur Partnerin gebraust,

eine Woche monatlich,

ihr ists am schwäbischen Waldrand

zu einsam, Leute und Lärm muss sein,

jung ist im Alter das Auto.

*

Rings um Berlin hängen die Schauer,

über der Stadt strahlt die Sonne,

strahlt sie? Sie lacht durch die Schäfchendecke

auf die Raucher in den Straßencafés.

*

Verschwunden die Ahnen,

Großeltern, Eltern,

Frau und Sohn,

Geliebte und Freunde,

aber die anderen Söhne,

die Enkel gedeihen,

und neue Freunde

erwarten dich.

*

Der Himmelszeichner zieht

einen weißen Strich im fernen Westen,

im nahen Westen, im Süden,

und einen auf mich zu, er hat mich

auf dem Balkon erspäht, danke.

*

Der Abendhimmel ist mit

goldenen Schäfchen gesprenkelt,

der Wind frischt auf,

bläst mir stürmisch um die Haut,

wir lieben uns.

*

Chianti aus der Korbflasche,

Spaghetti, Zigarette zum Trost,

Essen mit Mastroianni

im »Ritrovo«, Schöneberg,

trauriges Nachdenken über

die Disharmonie

unter Männern und Frauen.

*

Die Pastorenfamilien aus Riga und Paris

feiern in Berlin

den Konfirmanden am Tag

des Feuerzungengeistes

an einer Tafel im »Opera«,

ihre Sonntagskleidermädchen

hüpfen zwischen den kühlen Stühlen

des windverblasenen Gartens

den fröhlichen Tag hindurch.

*

Das griechische Pfingsten mit dem

Geist Platons und den mitreißenden

Feuerzungen ist ein amtlicher Feiertag,

man fährt ins Freie, genießt die

erhaltene Natur, die Alten betrachten

vom Balkon Goethes liebliches Grün,

wo früher der Himmel blaute, ziehen

die Flieger ihre silbernen Streifen:

wir sind zufrieden.

*

Halt ein, unser Wasser ist

voller gefährlicher Keime,

mit unserem Filter wird es rein,

da, trinks: tja, es schmeckt

wie flüssiges Papier, brrr.

Genüsslich schlürfe ich Leitungswasser,

voller gefährlicher Keime,

und gebe meinem Immunsystem

was zu knabbern.

*

Ich solle die Wäsche auf dem Balkon

nicht einräuchern,

mahnt meine Schwester.

Sie liebt alles Gesunde,

ich liebe alles Ungesunde,

so werden wir beide

auf eigene Weise

uralt.

*

Der Mond ist über Kopenhagen,

Marseille und Rom derselbe,

er regt die Wellen, die Pflanzen,

die Liebenden an,

er streut sein geborgtes Licht

sanft auf die geliebte Erde.

*

Im Süden der Mond,