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Aus dem Gedächtnis berichtet, gestützt durch manchen Besuch der Freunde und der Örtlichkeiten auf dem Espan. Erstaunlich, wie viele Einzelheiten der innere Speicher bewahrt. Kindheit prägt.
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Seitenzahl: 171
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Walter Dellers
Geboren am 28.2.28 und aufgewachsen zu Fürth in Franken, im September/Oktober 1939 Flucht nach Basel, unwillkommen, arm, aber sicher.
Studium Philologie, Philosophie, Doktorarbeit über Clemens Brentano.
Lektor für deutsche Sprache und Literatur an der Universität Cambridge/England, Caius und Pembroke College. Lehrer am Wirtschaftsgymnasium Basel, Dozent am European American Study Center und an der Höheren Wirtschafts- und Verwaltungsschule.
Als Rentner Stellvertretungen an der Sehbehindertenschule Basel.
Tod der Gattin 2010 nach fast sechzigjähriger Ehe, sieben Söhne, elf Enkel, eine Urenkelin.
Heimat Deutschland, Umfeld Schweiz, Lebenskreis Europa.
Jährliche Aufenthalte in Fürth, Nürnberg, Berlin.
Aus dem Gedächtnis berichtet, gestützt durch manchen Besuch der Freunde und der Örtlichkeiten auf dem Espan. Erstaunlich, wie viele Einzelheiten der innere Speicher bewahrt. Kindheit prägt.
Nürnberger Straße 127, Februar 1928 - März 1931
Kriegerheimstraße 18, März 1931 - März 1932
Georgenstraße 7, März 1932 - Juli/September 1939
Die Wohnung
Einkaufen
Die Mutter
Der Vater
Familienleben
Kinderspiele
Die Schule
Die Umwelt
Die Flucht
Anhang I: Lyrische Stimmungsbilder
Anhang II: Der Name Dellers
Hochzeit 1926 Margarete geb. Schröder und Emil Dellers
Geboren wurde ich am 28. Februar 1928 im Nathanstift zu Fürth als Walter Emil Konrad Dellers.
Mein Vater arbeitete seit 1926 in der Firma Bronzefarben und Blattmetallfabrik Bernh. Ullmann & Co zuerst als Fremdsprachenkorrespondent, später als Exportleiter. Im selben Jahr heiratete er. Da extreme Wohnungsnot herrschte, stellte der Chef Paul Ullmann der jungen Familie eine Wohnung im Verwaltungsgebäude Nürnberger Straße 127 zur Verfügung.
Meine Erinnerungen stammen wohl aus den ersten Monaten 1931 um meinen dritten Geburtstag. Mit einer Ausnahme: im August 1930 reisten meine Eltern zu Tante Mina und Onkel Johann in Bremen und nahmen mich mit. Das Datum steht auf einer Fotografie. Ich habe ein paar Bilder, sozusagen Momentaufnahmen, im Kopf. Meine Mutter trägt ein schwarzes Baumwollebadekleid, das klatschnass ihre Konturen zeigt. Sie geht mit mir auf Holzplanken am Rand eines öffentlichen Bades, ich halte mich ängstlich an ihrer Hand fest.
Onkel Johann stellt abends eine Schüssel Milch vors Fenster, am Morgen nimmt er sie herein, sie ist sauer, er löffelt sie zum Frühstück, lässt mich kosten, mich schüttelts: zu sauer.
Meine halbwüchsigen Vettern John und Werner reden zu mir in einer unverständlichen Sprache. Mittags werde ich zum Schlafen in ein Kinderbett gesteckt, ich schlafe nicht, hüpfe im Nachthemd umher, da fällts mir plötzlich braun hinten raus, das gehört sich nicht, ich schreie.
Soweit für 1930. Meine Mutter erzählte mir später, ich sei ein ungehorsames Kind gewesen, sie hätte mich in den Hof gestellt, die Arbeiter gebeten, das Tor geschlossen zu halten, es fuhren andauernd Lastwagen zu den Lagern ringsum, ich wäre entwischt, Leute hätten mich am nahen Kanal gefunden, am Wasserrand, und der Polizei übergeben, wo meine Mutter mich wieder entgegen nahm. Mehrmals! Ich war zweieinhalb! Immerhin Abenteuerlust.
Vom vorderen Zimmerfenster aus schaute ich - stundenlang in meiner Erinnerung - auf den Betrieb des Rangierbahnhofs Nürnberg-Fürth. Da fuhren kleine schwarzrauchende Dampflokomotiven hin und her, manchmal sausten Schnellzüge und ratterten Personenzüge vorbei, auch lange langsame Güterzüge wurden von stampfenden Ungeheuern gezogen - meine Reiselust könnte da geweckt worden sein. Mit acht ging ich dann auf Weltreise, kam aber nur bis Egersdorf und kehrte wieder um, weils mir langweilig wurde und ich müde war.
Heute schaue ich jenes Fenster immer an, wenn ich in der U-Bahn Richtung Nürnberg die Jakobinenstraße hinauffahre, man sieht das Haus mit dem Giebel deutlich.
Nach hinten lag die Küche. Einmal bemalte meine Mutter einen Berg Ostereier und schichtete sie in einer Schale auf. Ich fragte, wem diese Eier gehörten. Die gehören alle dir, sagte sie unpädagogisch. Mein Vater kam von der Arbeit, setzte sich an den Tisch und nahm sich, ohne mich zu fragen, ein Ei. Ich brüllte los, hätte ihm ja eines erlaubt, wenn er mich gefragt hätte, aber einfach eins von meinen Eiern zu nehmen, fand ich frech. Natürlich wurde ich ohne Eier ins Bett befördert, Gewalt ging vor Recht, Eltern verstehn ihre Kinder oft nicht.
Ein anderes Mal war ich allein in der Küche. Ich öffnete das Fenster, legte mich auf den Tisch, schaute vorsichtig in den Abgrund bis in den Hof hinunter. Da hatte ich eine Idee: nahm den blauen Emaileierkochtopf, legte, damit er nicht allein sei, als Gefährten einen Gürtel, der gerade da lag, hinein, und schickte ihn auf die Reise. Ich schaute ihm fasziniert nach, wie er nach unten segelte und mit Getöse auf dem geteerten Boden aufschlug. Dann schloss ich das Fenster wieder und behielt diese Reise für mich.
Walter 1930
Besuch erhielten wir von der Großmutter aus Bühl, und auch Tante Hanna aus Bühl erschien mehrmals. Freundliche Frauen.
Auch an die Umgebung erinnere ich mich ein bisschen. Um die Ecke, an der Geierstraße, war eine Bäckerei, die meine Mutter mit mir regelmäßig aufsuchte. Da starb der junge Bäcker plötzlich. Ich fragte Mama, warum. Der hat zu viel Schokolade gegessen, sagte sie. Dass das nicht stimmen konnte, wusste ich: niemand aß andauernd so viel Schokolade wie sie. Ihr ganzes Leben lang. Sie wurde dennoch 84. Und mich schreckte der seltene Genuss auch nicht.
Schräg gegenüber, an der Nürnberger Straße, lag der kleine Lebensmittel- und Haushaltladen Schnöd. Es ging ein paar Stufen hinauf zur Ladentüre. Auf der Theke in dem dunklen Raum standen in großen Gläsern allerlei Bommbomms. Frau Schnöd gab mir immer eines zum Lutschen, das liebte ich. Rote, blaue, gelbe, grüne, weiße, braune, ah, schon die Farbe schmeckte. Und wie abenteuerlich es im Laden roch. Nach Gewürzen, nach Fisch, nach Käse, nach Essig, nach allem, was riecht. Alles wurde in Tüten und Tütchen abgefüllt, gewogen, kunstvoll verschlossen. Öl ins Kännchen, Essig ins Gläschen. Butter und Käse nach Gramm abgeschnitten und in Pergamentpapier eingewickelt. Die Heringe zusätzlich in Zeitungspapier geschlagen.
1952 war Frau Schnöd immer noch im Laden, kannte mich natürlich nicht mehr, aber ich sie. Dann schloss der Laden für immer. Nur das steinerne Treppchen weist noch auf den alten Eingang hin.
Ein schlimmes Erlebnis erzählte mir meine Mutter. Mein Vater wollte mich zweisprachig erziehen; weil er Französisch sehr gut beherrschte, redete er von Anfang an mit mir französisch. Auf einem Spaziergang - ich war etwa zweieinhalb - rief ich laut: »Papa, regarde: voilà une cheminée!« Da drehten sich einige Männer drohend um, erhoben ihre Fäuste und schimpften: »Ihr Saufranzosen, Ihr habt hier nichts zu suchen, verschwindet!«
Deshalb bat meine Mutter den Vater, er solle mit dem Französisch aufhören, das sei gefährlich. Franzosenhass, genau wie in Frankreich Deutschenhass. Nationaler Hass überall.
Also wuchs ich fränkisch und hochdeutsch auf.
Das letzte Bild: ich klammere mich an ein Bein von Elisabeth Ullmann. Hoch oben redet ihr Kopf. Wohl mit meiner Mutter. Wohl zum Abschied. Deswegen halte ich sie fest. Sie war zwölf, als ich geboren wurde, jetzt fünfzehn. Sie spielte mit mir, war mir Freude, Lust, Wärme, Geborgenheit, Verständnis. Eine wunderbare Betreuerin. Aber der Abschied musste sein, Abschied ist immer im Leben (»sei allem Abschied voran« lehrt Rilke), vielleicht hat uns Elisabeth an der Kriegerheim- oder der Georgenstraße besucht, ich weiß es nicht.
Nach ihrer Flucht 1938 mit ihrem Vater - ihre Mutter lebte nicht mehr - in die USA, kehrte sie zur Wiedergutmachung kurz nach Fürth zurück, verkaufte das Haus an die »Quelle« und verschwand wieder. Ich habe sie nie mehr gesehen, aber ich habe sie nicht vergessen, und trage alle ihre Wärme, die sie mir geschenkt hat, in mir.
Tante Hanna mit Walter am Stadtparkeingang 1932
Im März 1931 zogen wir auf den Espan.
Ende März 1931 zog die bisher dreiköpfige Familie Dellers in eine freigewordene Zweizimmerwohnung im ersten Stock an der Kriegerheimstraße 18. Das Kriegerheim war nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg nie gebaut worden, die Straße wurde von der Georgenstraße her in der Mitte durch den Garten der Villa S. unterbrochen. Die Wohnung gehörte zur sozialistischen Genossenschaftssiedlung Espan.
Meine Mutter war im vierten Monat schwanger, was ich natürlich mit drei Jahren nicht wusste, rund war sie ohnehin immer. Sie fragte mich, ob ich ein kleines Schwesterlein zum Spielen haben wollte, was mich außerordentlich freute. Ich solle jeden Abend ein Stück Würfelzucker auf den Fenstersims legen, das hole der Storch, und bringe dafür einmal das Schwesterlein aus dem Storchennest. Nun kannte ich die Störche, sie flogen über die Pegnitzwiesen, holten zappelnde Frösche aus den Bächlein in ihre Nester. Die hatten sie hoch oben auf mehreren Fabrikschloten auf der Stadtseite gebaut. Dass die Störche jedoch Kinder ins Haus bringen sollten, schien mir nicht glaubhaft. Ich hatte sie nur mit den zappelnden Fröschen im Schnabel gesehen, sonst klapperten sie in ihren Nestern und schliefen auf einem Bein stehend. Immerhin war der Zucker jeden Morgen, als ich nachschaute, verschwunden, das machte mich stutzig. Ich verlangte, unbedingt dabei zu sein, wenn das Schwesterlein gebracht würde, was mir meine Mutter versprach. Am 30. August 1931, einem Sonntag, wurde ich in aller Herrgottsfrühe geweckt und in die Villa S. hinübergebracht, ich dürfe den ganzen Tag mit dem gleichaltrigen Töchterchen Ruth, das ich schon kannte, spielen. Frühstück gabs üppig bei S., der Vater war dabei und eine Haushälterin, da die depressive Mutter häufig in einem Sanatorium weilte. Ruth war wild und ungebärdig, aber ideenreich und anregend. Sie gab den Ton an, wir tobten durch das ganze Haus, vom Weinkeller, in dem es moderig roch, bis zum Dachboden, der nach heißem Holz duftete. Wir spielten auch im großen schattigen Garten, es war ein blauer Himmelstag. Abends wurde ich müde zurückgebracht - da lag das Schwesterchen zugedeckt in einem Wäschekorb. Ich war wütend, dass man mich nicht rechtzeitig geholt hatte, zudem war das Kindchen viel zu klein zum Spielen, und es in einen Wäschekorb zu legen fand ich ungehörig. Welche Enttäuschung nach einem solch fröhlichen Tag, doch die Müdigkeit deckte alles zu, ich schlief, wie heute noch, lang und friedlich. Aber ich habe nie mehr Zucker für Störche vors Fenster gelegt.
Mutter mit Walter 1928
Mein Schwesterchen Marta wurde für mich zum Problem: spielen konnte ich nicht mit ihr, aber aufpassen musste ich auf sie. Ich hatte also eine ungeliebte Aufgabe. Da meine Mutter häufig spazieren oder in die Stadt ging, stand ich jeweils unten im Hof beim Kinderwagen. Der war hoch, fuhr auf vier Eisenrädern mit Vollgummireifen, ich musste mich strecken, um das schwarze, mit Wachstuch umspannte Ungetüm halten und schieben zu können. Meine Mutter schickte mich meistens nach unten, um den Wagen im Griff zu haben und auf Schwesterlein aufzupassen, denn sie brauchte ziemlich lange, bis sie sich schön gemacht hatte, was ich langweilig und unnötig fand. Schuhe an und los. Einmal lag Marta vergnügt im Wagen auf dem Rücken und schleckte ihre große Zehe im Mund. Das fand ich ungehörig, meldete es meiner Mutter, aber sie lachte nur: sie darf das. Ein andermal wars schlimmer: ich stand, langweilte mich, plötzlich spürte und erblickte ich tausend schwarze Ameisen mein Bein herauf wimmeln, ich schrie auf, gab dem Wagen unwillkürlich einen Stoß - schwupps, flog Marta in hohem Bogen über die Ligusterhecke ins Gras. Ich warf mich über das stachelige Gestrüpp, holte sie herauf, legte sie wieder in den Wagen. Kam meine Muttter gerannt: was ist los? Nichts, sie schreit halt. Das sind Bruder und Schwester im ersten Jahr ihres Beisammenseins. Später hat sich, durch viel Streit hindurch, ein ausgezeichnetes, liebevolles Verhältnis entwickelt, das bis heute andauert.
Mutter mit Walter 1929
In der unbefahrenen Kriegerheimstraße, vor dem Hoftor, fand ich einen gleichaltrigen Spielkameraden. Ich hatte strikte väterliche Order, nicht über diese Straße hinauszugehen. Doch am Ende der Georgenstraße, übers Kavierlein hinaus, lag der »Schutt«. Das war ein Abfallplatz für die weitere Umgebung. So lagen Tausende von Zelluloidhülsen in allen Farben aus der Bleistiftfabrik umher, die wir sammelten und unter Hecken als ungeheure Schätze vergruben. Leider stellte mein Vater stets fest: du warst auf dem »Schutt«? Habe ich dir das nicht verboten? Prügel auf den Hintern. Mich erstaunte seine Findigkeit, heute kenne ich den Grund: auch die Bronzewerke luden ihren Abfall dort ab, so hingen an unseren Kleidern immer kleine glitzernde Goldstäubchen. Da nützte kein Leugnen.
Der Abort zur Wohnung lag jenseits des öffentlichen Ganges. Dazu brauchte man einen Schlüssel. Der war mit Grünspan überzogen, schmeckte aufregend im Mund. Ich erinnere mich noch genau an diesen sinnlichen Geschmack. Einmal fiel er mir von den Lippen in den Wasserablauf der Klosettschüssel. Ich rief, aber niemand hörte mich. Erst nach längerer Zeit rüttelte meine Mutter an der Tür: komm raus. Ich kann nicht. Dann holte sie einen Schlosser, der auch den Schlüssel wieder aus der Schüssel rettete.
Jahrzehnte später fand ich auf dem Fürther Grafflmargd das Straßenschild Kriegerheimstraße, von knäblichen Steinwürfen zerbeult. Jetzt hängt es über der inneren Eingangstüre in meinem Haus in Basel.
Mutter und Walter, im Kinderwagen Marta 1931
Im März 1932 zogen wir in eine Dreizimmerwohnung mit Garten an der Georgenstraße 7, etwa achtzig Meter entfernt.
Vater und Walter 1931
Im März 1932 zogen wir von der Kriegerheimstraße 18 an die Georgenstraße 7, Erdgeschoss links, gerade an der Mündung beider Straßen. Die einstöckigen, hellgrau rauverputzten Häuser zu je vier Wohnungen waren etwa 1930 gebaut worden, modern gegenüber der Widderstraße von 1920, Rollläden zum Stellen, Bad mit Dusche, drei mittelgroße Zimmer, Wohnküche, hinten der bekieste Hof zum Wäschehängen und Holzspalten, anschließend vier Gärten zur Selbstversorgung. Vorgarten mit niederer Ligustereinfassung, einem Vogelbeerbaum, links um das Haus herum ein Weg, ein Beet, das wir bepflanzten. Innen gings ein paar Treppenstufen zur Wohnungstüre hinauf. Vom Gang aus nach vorne das Kinderzimmer, in dem ich schlief, mit hellgrünem Schrank und Stühlen, einem gelben, robusten Eisenbett, einem Eisenofen. Gegenüber der Eingangstüre lag das Badezimmer mit Klosett, Gas-Durchlauferhitzer, Badewanne, Dusche. Mit Seitenfenster das Herrenzimmer: dunkelbraune Möbel, Kachelofen. An der vorderen Ecke das Schlafzimmer, in dem auch meine kleine Schwester in einem Kinderbettchen schlief. Keine Heizung. Die Küche gegen den Hof, Kombiherd mit offenem Feuer, das mit Eisenringen zugedeckt werden konnte, Gasring, Schiff für heißes Wasser. Am Fenster eine Bank, davor der große Esstisch mit zwei ausziehbaren Schüsseln zum Geschirrwaschen. Einmal schlüpfte ich unten durch, stand etwas zu früh auf, der Tisch kippte, Geschirr und Wasser schwappten zu Boden, Scherben, Überschwemmung. Das einzige Mal, dass mir meine Mutter in heiligem Zorn Hiebe verpasste: sechs kurz zuvor bei Schocken in Nürnberg erstandene Kochlöffel zerbarsten auf meinem Kopf, ich war stolz auf meinen harten Schädel: sechse auf einen Streich! Geschirr und Löffel waren neu zu kaufen, der Linoleumboden aufzutrocknen. Alle Möbel waren vom Schreiner eigens für diese Wohnung hergestellt worden.
Das Klosett war auf der linken Seite, wenn ich saß, mit grüner Ölfarbe gestrichen, die Oberfläche wies größere und kleinere Knöllchen auf. Das war für mich eine fantastische Landkarte, ich reiste von Ort zu Ort, über Brücken und Berge, durch Wälder und Felder, die Welt hatte keine Grenzen, sie war unendlich, die Fantasie auch. Ich traf sonderbare Menschen, erlebte spannende Begegnungen, kämpfte mich durch Gefahren, kam heil ans Ziel. Aus dem Traum gerissen wurde ich durch Rufe von außen, ich solle die Sitzung beenden. Mama glaubte an Verstopfung, weil ich solange brauchte, drängte mir Obst und Gemüse auf, doch ich liebte Wurst und Semmel, Schnitten mit einem Zentimeter Senf oder Butter mit Salz oder Zucker darauf. Die Ölwand ließ mich nie los. Mit der Zeit erfand ich einen Freund, Hans aus Bamberg, mit dem ich mich unterhielt und Reisen und Abenteuer zusammen erlebte.
1946 fand ich in Basel einen echten Hans als Freund, ausgebombt aus Magdeburg, mit dem ich in den Wäldern der Umgebung heimlich die alten Lieder sang. Er wurde Architekt, starb 1953 plötzlich an einem Herzschlag.
Ab und zu öffnete Vater die gefährliche Dohle im Hof und schöpfte menschlichen Dung mit einem Eimer an einer langen Stange heraus und goss ihn auf die Gartenbeete. Es roch aufregend.22
Im Waschhaus wurde reihum alle vier Wochen gewaschen, dafür kam eine Waschfrau, die mit Mutter zusammen auf einem Holztritt stand und in den dampfenden Kesseln mit langen Stangen rührte. Für Kinder war der Zutritt streng verboten, wir schauten vom Hof aus zu.
Marta, Mutter, Walter am Kanal 1932
Im Keller hatte jede Wohnung einen geräumigen Lattenverschlag. Da bewahrte Mama ihr Eingemachtes in Gläsern auf. Die standen auf Gestellen, ein reichhaltiger Vorrat. Marmelade natürlich, in Fürth Schelee genannt, aller Sorten. Ebenfalls Kompotte. Früchte aller Art. Gemüse, zb grüne Bohnen. In blaugrauen Steinguttöpfen lagerten gekochte Eier. Manchmal hatte ich ein schweres Glas in einem Korb heraufzuholen. Der Keller wurde auch als Verbannungsort bei schwerer Strafe benützt. Das Verdikt sprach Vater aus, Mutter hatte das nicht so gern, denn es gab innen keinen Lichtschalter und die Türe wurde zugeschlossen. Anfangs hatte ich Angst, aber dann gewöhnte ich mich daran, untersuchte tastend in der Finsternis den Raum mit seinem Inhalt, da waren ja auch noch Gartenwerkzeuge und das und jenes Ungebrauchte. Weil ich so wild war und meinen eigenen Gesetzen folgte, wurde diese Höchststrafe häufig ausgesprochen, doppelt bitter, weil sie gleichzeitig bedeutete, dass es für mich kein Abendessen gab. Später kam heimlich Mama herunter, brachte mir eine dick mit Ei und Mayonnaise belegte Butterstulle und führte mich schweigend ins Bett. Dann hatte sich der Abenteueraufenthalt gelohnt. Einmal entdeckte ich einen Haufen am Tag gelieferter Briketts, die sollte ich gewiss anderntags aufschichten, kam dem jedoch zuvor: mit einem Besenstiel zerschlug ich jedes einzelne Stück und hatte damit meine Wut abreagiert. Am nächsten Tag erblickte mein Vater diesen zerbrochenen Rußberg, glaubte, die Briketts seien so geliefert worden, beschwerte sich bei der Firma und erhielt eine neue Lieferung! Ich war hoch erfreut.
Im Garten lag vorne ein Sandhaufen, in dem wir hingegeben spielten. Neben dem Eingangstörchen stand ein altes hölzernes Heringsfass, immer mit Wasser gefüllt, das einmal in dem stets kalten Winter zerbarst, als das Eis sich ausdehnte. Dann ersetzte es Vater durch ein Eisenfass. Das stand noch in den sechziger Jahren da.
Im hinteren Teil wuchs ein Zwetschgenbaum, gegen Schädlinge durch einen Leimring geschützt. In seinem Halbschatten aßen sonntags die Gäste Mutters Schweinebraten mit Klößen und tranken reichlich Bier, dann wurde Schach oder Sechsundsechzig gespielt. Werktags schrieb ich dort meine Schulaufgaben. Dahinter und davor wuchsen Bohnen an Stangen, allerlei Beeren, Erdbeeren, Salat, Rettiche, Gurken, Weißkohl, Rotkohl, Rosenkohl und sonst noch allerlei.
Nach einer Anfangszeit wurde die Miete auf 27 Reichsmark gesenkt. Das war sehr günstig.
An der Wiesenstraße lieferte die Bäckerei Zellhöfer dunkles und helles Brot, den Zweipfünder zu 24 Pfennigen. Das weiß ich noch, denn selbstverständlich wurden die Kinder zum Einkaufen geschickt. Besonders an Samstagen eilten wir mit den Zwetschgen- und Apfelkuchen auf dem Blech zum Zellhöfer, der alles mit einer langen hölzernen Schaufel in den vom Backen noch warmen Ofen schob. Auf dem Kuchen klebte ein Pergamentpapierstreifen, der den Namen mit violettem Tintenbleistift zeigte.
Am Abend rannten manche Buben mit einem Maßkrug in die Wirtschaft an der Wiesenstraße und holten für den Vater frisch gezapftes Bier. Schläger aus den alten Mietsblöcken machten ihnen den Gang jedoch schwer, waren sie klein, so leerten sie ihnen die Krüge aus. Daheim gab es dann Senge. Mich ließen sie in Ruhe, ich sah grimmig drein und hätte jedem den Krug auf den Kopf gehauen. Das gefüllte Glas war so schwer, dass ich es mit beiden Händen halten musste. Ein bisschen vom Schaum schleckten wir alle ab, das verlangte die Männlichkeit, aber es schmeckte nicht.
Schlimmer war die Lage für kleine Mädchen, etwa mein Schwesterchen. Die holten Milch in der Kanne. War auch schwer zu schleppen, und die bösen alten Espaner, wie wir sie nannten, schütteten ihnen die Kannen aus, und wenn ein Mädchen heulte, waren sie befriedigt. Zuhause hieß es dann: dich kann man auch zu gar nichts gebrauchen, du musst dich halt wehren. Lebenskampf, früh gelernt.
Marta im Garten 1933
An der Ecke Georgen- Wiesenstraße steht noch heute ein Extrahäuschen, darin war eine Filiale der Metzgerei Schramm, mit guten Fleisch- und Wurstwaren. Kinder erhielten immer ein Wursträdchen und kamen gern wieder.
Die Milch brachten Herr und Frau Dimper in schönen Glasflaschen mit Aluminiumdeckeln, verpackt in einem Fahrradanhänger. Diese Deckel der Bayerischen Milchversorgung waren wertvoll, wurden gesammelt und gegen die siebzehn Hefte des »Bilderatlas zu den bayerischen Lesebüchern« eingetauscht. Die meisten Hefte haben die spätere Plünderung überlebt, ich liebe sie noch heute.
Am Sonntag lieferte ein Ausläufer in einer Hucke auf dem Rad frische Semmeln. So waren wir mit Schrammscher Leberwurst, Gelbwurst, Schinken, Ei im Tässchen, Schweineschmalz, Honig, Marmelade wohlgenährt. Kaffee für die Eltern, Malzkaffee für die Kinder.