Vertrauen - Henry James - E-Book

Vertrauen E-Book

Henry James

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Beschreibung

Im Mittelpunkt dieser sprühenden Gesellschaftskomödie stehen die eloquente Angela und die leichtfertige Blanche, umworben von den beiden Freunden Bernard und Gordon. Man verbringt einen unvergesslichen Sommer in Baden-Baden, und es entspinnt sich – quer durch Europa und darüber hinaus – eine Geschichte der Irrungen und Wirrungen des Herzens, in der sich alles um Liebe, (Selbst-)Täuschung, Freundschaft und vor allem Vertrauen dreht. Faszinierende, selbstbewusste Frauenfiguren, präzise Beobachtungen und geschliffene Dialoge machen die Lektüre zu einem zeitlosen Vergnügen. »Baden war so bezaubernd. Aber man konnte schließlich nicht für immer dort bleiben.«

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Henry James

Vertrauen

Henry James

Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser und Alexandra Titze-Grabec

8 grad verlag

Inhalt

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Vierzehntes Kapitel

Fünfzehntes Kapitel

Sechzehntes Kapitel

Siebzehntes Kapitel

Achtzehntes Kapitel

Neunzehntes Kapitel

Zwanzigstes Kapitel

Einundzwanzigstes Kapitel

Zweiundzwanzigstes Kapitel

Dreiundzwanzigstes Kapitel

Vierundzwanzigstes Kapitel

Fünfundzwanzigstes Kapitel

Sechsundzwanzigstes Kapitel

Siebenundzwanzigstes Kapitel

Achtundzwanzigstes Kapitel

Neunundzwanzigstes Kapitel

Dreißigstes Kapitel

Bildnachweis

Erstes Kapitel

Es waren die ersten Apriltage. Bernard Longueville hatte den Winter in Rom verbracht. Im Wissen um etliche gesellschaftliche Verpflichtungen, die ihn auf der anderen Seite der Alpen erwarteten, war er nach Norden gereist, doch bezaubert vom Liebreiz des italienischen Frühlings fand er einen Vorwand, noch zu bleiben. Er hatte fünf Tage in Siena verbracht, wo er eigentlich nur zwei hatte verbringen wollen, und noch immer sah er sich nicht in der Lage, seine Reise fortzusetzen. Er war ein junger Mann von nachdenklicher, ja grüblerischer Natur, und dies war seine erste Italienreise, sodass er, sollte er sich unterwegs verbummeln, kein allzu harsches Urteil zu befürchten hatte. Er liebte es, zu malen, und es war ihm sehr daran gelegen, einige bildliche Notizen anzufertigen. In Siena gab es zwei alte Gasthöfe, beide ausnehmend schäbig und ausnehmend schmutzig. Jenen, in dem Longueville Quartier genommen hatte, betrat man durch einen unansehnlichen düsteren Torbogen, darüber ein Schild, das Reisenden aus der Entfernung wie eine Dante’sche Aufforderung erscheinen musste, alle Hoffnung fahren zu lassen. Der andere befand sich nicht weit davon entfernt, und am Tag nach seiner Ankunft sah er im Vorübergehen zwei Damen eintreten, die offenkundig dem großen Trupp angelsächsischer Touristen angehörten und von denen eine jung war und sich sehr aufrecht hielt. Longueville verfügte über ein gerüttelt Maß – ja mehr als das – an Galanterie, und die zufällige Begegnung erfüllte ihn mit Bedauern. Wäre er in diesem anderen Gasthof abgestiegen, hätte er sich in charmanter Gesellschaft befunden; in seiner eigenen Unterkunft gab es lediglich einen schöngeistigen Deutschen, der im Speisesaal üblen Tabak rauchte. Er sagte sich, dass dies schon immer sein Los gewesen sei, und diese Bemerkung war typisch für den jungen Mann; sie war aufgeladen mit der Empfindung des Augenblicks, entsprach jedoch nicht ganz der Wahrheit; vielmehr war sie das Ergebnis eines unmittelbaren Eindrucks, ausgelöst durch ein bestimmtes Ereignis. Und ließ die Vorsehung außer Acht, die Longuevilles Werdegang mit glücklichen Zufällen gesegnet hatte – zumal mit Zufällen, die es seinem charakteristischen Charme nicht gestatteten, mangels Übung einzurosten. Dennoch gab er sich vergnügt dem Müßiggang dieser heiteren, ruhigen toskanischen Apriltage hin und erfreute sich an der pittoresken Anmutung der Dinge, die ihn umgaben. Bis vor wenigen Jahren war Siena ein makelloses Geschenk des Mittelalters an die moderne Einbildungskraft gewesen. Keine andere italienische Stadt hätte einem auf die Wiederbelebung überholter Sitten bedachten Beobachter interessanter erscheinen können. Dies war ganz nach Bernard Longuevilles Geschmack, der eine Vorliebe für ernste Literatur besaß und einst mehrere beschwingte Ausflüge in die Geschichte des Mittelalters unternommen hatte. Seine Freunde hielten ihn für äußerst klug und fühlten sich zugleich entspannt in seiner Nähe, was wohl seinem Mangel an Pedanterie zuzuschreiben war. Er war tatsächlich klug und ein großartiger Gefährte; doch der wahre Maßstab seiner Brillanz war, wie erfolgreich er sich selbst zu unterhalten wusste. Er war geradezu süchtig danach, mit seinem eigenen Verstand zu konversieren, und genoss seine eigene Gesellschaft. Wie klug er sich auch im Gespräch mit seinen Freunden gab, bin ich doch nicht sicher, ob nicht die treffendsten Bemerkungen, wie man so schön sagt, für seine eigenen Ohren bestimmt waren. Und dies nicht etwa aufgrund zynischer Verachtung für die Auffassungsgabe seiner Mitmenschen, sondern deshalb, weil ihm das, was ich seine eigene Gesellschaft genannt habe, mehr Anregung bot als die der meisten anderen Menschen. Und doch war er nicht aus diesem Grunde gern allein; im Gegenteil, er hatte ein sehr geselliges Wesen. Es sollte von vornherein eingeräumt werden, dass sich sein Charakter in bestimmten Punkten zu widersprechen schien, wie im Verlauf dieser Erzählung deutlich werden dürfte.

Er unterhielt sich also vorzüglich selbst, mit Überlegungen und Betrachtungen zu Sieneser Architektur und früher toskanischer Kunst, zum italienischen Straßenleben und zu den geologischen Eigentümlichkeiten des Apennins. Wäre er bloß in dem anderen Gasthof abgestiegen, so hätte das hübsche Mädchen, das er von der Seite durch das dämmrige Portal hatte schreiten sehen, bei diesem intellektuellen Bankett vielleicht das Brot mit ihm gebrochen. Dann jedoch kam ein Tag, da es einen Moment so schien, als könnte sie, wäre sie dazu geneigt gewesen, zumindest die Krümel des Festmahls auflesen. Jeden Morgen nach dem Frühstück unternahm Longueville einen Gang über den großen Platz von Siena – die riesige, hufeisenförmige piazza, wo unter den Fenstern des mit Zinnen versehenen Palasts, von dessen überhängendem Gesims ein hoher, gerader Turm aufragt, leicht wie eine Feder in der Kopfbedeckung eines Hauptmanns, der Markt abgehalten wird. Dort schlenderte er umher, beobachtete, wie ein gebräunter contadino einen Esel von seiner Last befreite, bemerkte den Fortgang eines halbstündigen Gefeilsches um ein Bund Karotten, wünschte sich, ein junges Mädchen mit Augen wie belebte Achate würde ihm gestatten, es zu malen, und blickte immer wieder zu dem herrlichen schlanken Turm auf, der sich von dem weiten Blau des Himmels abhob. Nachdem er den größten Teil einer Woche mit solch ernsten Überlegungen verbracht hatte, entschloss er sich, Siena zu verlassen. Aber er war mit dem, was er für seine Zeichenmappe geschaffen hatte, noch nicht recht zufrieden. Siena bot wunderbare Motive, er selbst war jedoch nicht sehr fleißig gewesen. Am letzten Morgen seines Aufenthalts, als er auf der belebten piazza um sich blickte und trotz der malerischen Umgebung das Gefühl hatte, dass sie ein unpassender Ort sei, um eine Staffelei aufzustellen, besann er sich stattdessen auf einen ruhigen Winkel in einem anderen Teil der Stadt, auf den er zufällig bei einem seiner ersten Spaziergänge gestoßen war – die Ecke einer einsamen Terrasse, die an die Stadtmauer grenzte, wo drei oder vier althergebrachte Sujets im Sonnenlicht zu schlummern schienen: das offene Portal einer leer stehenden Kirche, im Bogen darüber ein der Witterung ausgesetztes verblasstes Fresko, daneben eine uralte Bettlerin, die auf einem dreibeinigen Schemel saß. Die kleine Terrasse war mit einer glänzenden, etwa brusthohen alten Brüstung versehen, über der sich ein Ausblick auf sonderbar graue Berge bot. Zur Linken krümmte sich die Stadtmauer nach außen und zeigte ihre schroffe rostbraune Beschaffenheit. In die Kirchenmauer war eine glatte Steinbank eingelassen, auf der Longueville eine Stunde lang gerastet hatte, um die Komposition des kleinen Bildes zu studieren, dessen Einzelheiten ich soeben beschrieben habe und dessen Vordergrund die Brüstung der Terrasse bilden würde. Es war etwas, das Maler als Motiv bezeichnen, und er hatte sich vorgenommen, mit seinen Malutensilien wiederzukommen. An diesem Morgen ging er also zurück in den Gasthof, um sie zu holen, und machte sich dann auf den Weg durch ein Labyrinth leerer Gassen, die am Stadtrand, jedoch noch innerhalb der Stadtmauer lagen wie die überzähligen Falten eines Gewands, dessen Träger mit dem Alter geschrumpft ist. Er erreichte die kleine grasbewachsene Terrasse und fand sie so sonnig und abgeschieden wie zuvor. Am Kirchenportal murmelte die alte Bettlerin Bittgebete, sakrale wie profane; doch davon abgesehen war die Stille ungebrochen. Der gelbe Sonnenschein wärmte die braune Oberfläche der Stadtmauer und erhellte die Niederungen der etruskischen Hügel. Longueville ließ sich auf der leeren Bank nieder, baute seine tragbare kleine Vorrichtung auf und zückte den Pinsel. Einige Zeit lang arbeitete er rasch und reibungslos, in dem angenehmen Gefühl, dass sich ihm kein Hindernis in den Weg stellte. Fast kam es ihm wie eine Störung vor, als er in der stillen Luft eine ferne Glocke in der Stadt Mittag schlagen hörte. Kurz danach gab es eine weitere Störung. Das Geräusch leiser Schritte ließ ihn den Blick heben, und er sah eine junge Frau vor sich stehen, die ihre Augen auf den würdigen Künstler richtete. Ein zweiter Blick versicherte ihm, dass es sich um das hübsche Mädchen handelte, das er zusammen mit ihrer Mutter in den anderen Gasthof hatte gehen sehen; vermutlich war sie soeben aus der kleinen Kirche getreten. Allerdings nahm er an – ich weiß nicht, weshalb –, dass sie ihn bereits eine Weile beobachtet hatte, ehe er sie bemerkte. Es wäre anmaßend gewesen, nachzufragen, was sie von ihm hielt; doch Longueville machte sich im Nu Gedanken über die junge Dame. Einer davon war, dass es sich um ein recht ansehnliches Geschöpf handelte, das jedoch ziemlich dreist dreinblickte; die Essenz des zweiten war, dass es sich – ja, eindeutig – um eine Landsfrau handelte. Sobald sich ihre Blicke trafen, wandte sie sich ab; er fand kaum Zeit, den Hut zu lüften, was er sich nach einem Moment des Zögerns dann aber doch zu tun beeilte. Auch sie schien Bedenken zu haben; sie blickte zurück zum Kirchenportal, als verspüre sie den Drang, wieder einzutreten. Dort blieb sie einen Moment länger stehen – lange genug, um ihn erkennen zu lassen, dass sie eine Person von großer Unbefangenheit sei –, dann ging sie langsam auf die Brüstung der Terrasse zu. Hier positionierte sie sich, stützte, den Rücken Longueville zugekehrt, die Arme auf das hohe steinerne Gesims und betrachtete das ländliche Italien. Longueville fuhr mit seiner Skizze fort, wenn auch weniger aufmerksam als zuvor. Er fragte sich, was die junge Dame hier so ganz allein zu suchen hatte; dann kam ihm der Gedanke, dass ihre Begleiterin – vermutlich ihre Mutter – noch in der Kirche weilte. Die beiden Damen mussten in der Kirche gewesen sein, als er eintraf; Frauen saßen ja gern in Kirchen; sie hatten sich mehr als eine halbe Stunde darin aufgehalten, und die Mutter bekam noch immer nicht genug davon. Die junge Dame hingegen bevorzugte einstweilen die Aussicht, die Longueville malte; er bemerkte, dass sie sich genau in die Mitte des Vordergrunds gestellt hatte. Seine erste Gefühlsregung war, dass sie diesen verderben, die zweite, dass sie ihn verbessern würde. Nach und nach drehte sie sich ins Profil, stützte dabei nur mehr einen Arm auf die Brüstung, während die andere Hand, die den zusammengeklappten Sonnenschirm hielt, an ihrer Seite herabhing. Sie rührte sich nicht; fast hatte es den Anschein, als stünde sie absichtlich so da, um sich malen zu lassen. Ja, ganz gewiss würde sie das Bild verbessern. Im klaren Schatten eines kecken Hutes zeichnete sich ihr Profil, zart und schlank, gegen den Himmel ab; ihre Gestalt war licht; sie neigte und lehnte sich mühelos; sie trug ein graues Kleid, geschlossen, wie es damals Mode war, und ließ den breiten Saum eines purpurroten Unterrocks hervorschauen. In dieser Position verharrte sie; schien ganz in die Aussicht vertieft. Steht sie Modell – posiert sie für mich?, fragte sich Longueville. Und dann erschien ihm die Frage überflüssig, war doch die Aussicht schön genug, dass man sie um ihrer selbst betrachten konnte, und es war kein Ding der Unmöglichkeit, dass ein hübsches Mädchen Gefallen an reizvollen Landschaften fand. Aber ob sie nun posiert oder nicht, dachte er weiter, ich werde sie in meine Skizze einfügen. Sie hat sich ganz von selbst eingefügt. Es verleiht dem Ganzen einen menschlichen Aspekt. Es geht doch nichts über einen menschlichen Aspekt. Und so fügte er mit der ihm eigenen Geschicklichkeit die Gestalt der jungen Frau in den Vordergrund ein, und nach zehn Minuten hatte er beinahe so etwas wie ein Porträt geschaffen. Wenn sie noch zehn Minuten stillhält, sagte er bei sich, wird aus dem Ding tatsächlich ein Bild. Leider hielt die junge Dame nicht still; offensichtlich hatte sie genug von ihrer Pose und von der Aussicht. Sie drehte sich um, wandte sich wieder Longueville zu und kam langsam zurück, als wolle sie noch einmal in die Kirche treten. Dafür musste sie nahe an ihm vorübergehen, und als sie sich näherte, stand er, die Skizze in der Hand, instinktiv auf. Wieder sah sie ihn an – aus dunklen, intelligenten Augen und mit jenem Ausdruck, den er wenige Minuten zuvor im Geiste als »dreist« bezeichnet hatte. Ihr Haar war dicht und dunkel; sie war ein bemerkenswert hübsches Mädchen.

»Schade, dass Sie sich bewegt haben«, sagte er voller Selbstvertrauen auf Englisch. »Sie waren so – so schön.«

Sie blieb stehen und sah ihn noch direkter an als zuvor, dann warf sie einen Blick auf die Skizze, die er ihr entgegenhielt. Sie betrachtete sie jedoch nur flüchtig, wohingegen sie Longueville mit einem durchdringenden Blick bedachte. Auch später vermochte er nicht zu sagen, ob sie errötet war; im Nachhinein dachte er, sie könnte verängstigt gewesen sein. Dennoch war es nicht gerade Furcht, was ihr die Antwort auf Longuevilles Bemerkung zu diktieren schien.

»Ich bin Ihnen zu Dank verpflichtet. Meinen Sie nicht, dass Sie mich zur Genüge betrachtet haben?«

»Keineswegs. Ich würde meine Skizze gern fertigstellen.«

»Ich bin kein professionelles Modell«, erwiderte die junge Dame.

»Nein. Das ist ja das Problem«, antwortete Longueville lachend. »Ich kann Ihnen keine Entlohnung anbieten.«

Die junge Dame schien den Scherz gleichgültig zur Kenntnis zu nehmen. Schweigend wandte sie sich ab; doch etwas in ihrer Miene, in seiner Gefühlslage, an der ganzen Situation spornte Longueville dazu an, einen höheren Einsatz zu wagen. Er empfand das lebhafte Bedürfnis, seinem Argument Nachdruck zu verleihen.

»Schauen Sie, es wäre pure Freundlichkeit«, fuhr er fort, »ein Akt der Nächstenliebe. Fünf Minuten würden reichen. Behandeln Sie mich wie einen italienischen Bettler.«

Sie hatte seine Skizze beiseitegelegt und war einen Schritt vorgetreten. Er stand da, unterwürfig, die Hände gefaltet, und lächelte.

Die Störerin hielt inne und musterte ihn abermals, als halte sie ihn für einen höchst absonderlichen Menschen; doch sie wirkte belustigt. Jedenfalls war sie jetzt nicht verängstigt. Sie schien sogar geneigt, ihn ein wenig zu provozieren.

»Ich würde gern zu meiner Mutter gehen«, sagte sie.

»Wo ist Ihre Mutter?«, fragte der junge Mann.

»In der Kirche natürlich. Ich bin doch nicht allein hierhergekommen!«

»Natürlich nicht. Aber seien Sie versichert, dass Ihre Mutter sehr zufrieden ist. Ich war schon in dieser kleinen Kirche. Sie ist reizend. Ihre Mutter ruht sich aus; wahrscheinlich ist sie müde. Wenn Sie mir freundlicherweise noch fünf Minuten gewähren, wird sie zu Ihnen herauskommen.«

»Fünf Minuten?«, fragte die junge Frau.

»Fünf Minuten reichen. Ich werde Ihnen ewig dankbar sein.« Longueville musste über sich selbst schmunzeln, als er dies sagte. An der Skizze war ihm weit weniger gelegen, als seine Worte vermuten ließen; doch seltsamerweise war ihm sehr daran gelegen, dass die anmutige Fremde seiner Bitte nachkam.

Die anmutige Fremde senkte den Blick wieder auf die Skizze.

»Ist Ihr Bild denn so gut?«, fragte sie.

»Ich habe großes Talent«, antwortete er lachend. »Sie werden schon sehen, wenn das Bild erst einmal fertig ist.«

Langsam wandte sie sich wieder der Terrasse zu.

»Jedenfalls haben Sie ein großes Talent dafür, mich zu dem zu überreden, worum Sie mich bitten.« Und sie ging wieder zu der Stelle, wo sie zuvor gestanden hatte. Longueville machte Anstalten, sie zu begleiten, als wolle er ihr die Pose zeigen, die er im Sinn hatte; doch sie deutete entschieden auf seine Staffelei und sagte: »Sie haben nur fünf Minuten.«

Sogleich machte er sich wieder an die Arbeit, und sie unternahm einen zögerlichen Versuch, ihre alte Position einzunehmen. »Sie müssen mir sagen, ob es so passt«, fügte sie einen Moment später hinzu.

»Es passt ganz wunderbar«, antwortete Longueville in fröhlichem Ton, betrachtete sie und griff nach dem Pinsel. »Es ist außerordentlich liebenswürdig von Ihnen, dass Sie die Mühe auf sich nehmen.«

Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: »Wenn ich schon posiere, möchte ich natürlich gut posieren.«

»Sie posieren vortrefflich«, erwiderte Longueville.

Daraufhin sagte sie nichts, und einige Minuten lang malte er rasch und schweigend. Er verspürte eine gewisse Erregung, und der Fluss seiner Gedanken hielt Schritt mit dem seines Pinsels. Es stimmte, dass sie vortrefflich posierte; sie war ein Geschöpf, das sich herrlich malen ließ. Ihre Schönheit inspirierte ihn, ebenso ihr Wagemut, wie er ihn fürs Erste zu nennen zufrieden war. Er machte sich Gedanken über sie – wer sie war und was sie war – und begriff, dass dieser Wagemut keine ordinäre Dreistigkeit war, sondern das Spiel eines originellen und vermutlich faszinierenden Charakters. Es lag auf der Hand, dass sie eine vollendete Dame war; doch ebenso lag auf der Hand, dass sie ungewöhnlich klug war. Longuevilles kleine Mädchengestalt war geglückt – überaus geglückt, dachte er, als er die letzten Pinselstriche ausführte. In diesem Moment erschien die Begleiterin seines Modells. Sie kam aus der Kirche, hielt einen Moment inne und sah von ihrer Tochter zu dem jungen Mann in der Ecke der Terrasse; dann ging sie geradewegs hinüber zu der jungen Frau. Sie war eine zierliche kleine Dame, mit leichtem, raschem Schritt.

Longuevilles fünf Minuten waren verstrichen; und so verließ er seinen Platz und ging, die Skizze in der Hand, auf die beiden Damen zu. Die Ältere, die sich bei der Tochter untergehakt hatte, sah mit klarem, überraschtem Blick zu ihm auf; sie war eine charmante ältere Frau. Ihre Augen waren sehr hübsch, und an jeder Seite, über einem Paar feiner dunkler Brauen, fand sich eine Strähne silbrigen, recht kokett arrangierten Haars.

»Das ist mein Porträt«, sagte ihre Tochter, als Longueville sich näherte. »Der Herr hat mich gemalt.«

»Dich gemalt, Liebes?«, murmelte die Mutter. »War das nicht ein wenig plötzlich?«

»Sehr plötzlich – sehr abrupt!«, rief das Mädchen lachend aus.

»In Anbetracht dessen ist es sehr gut geworden«, sagte Longueville und hielt das Bild der älteren Dame hin, die danach griff und es prüfend betrachtete. »Ich kann Ihnen gar nicht genug danken«, sagte er zu seinem Modell.

»Es steht Ihnen wohl an, mir zu danken«, erwiderte sie. »Eigentlich hatten Sie nicht das Recht, überhaupt anzufangen.«

»Die Versuchung war zu groß.«

»Wir sollten der Versuchung widerstehen. Und Sie hätten mich um Erlaubnis bitten sollen.«

»Ich fürchtete, Sie würden sie verweigern; und Sie haben einfach dagestanden, genau in meinem Gesichtsfeld.«

»Sie hätten mich bitten sollen, mich zu entfernen.«

»Das hätte mir sehr leidgetan. Überdies wäre es äußerst unhöflich gewesen.«

Die junge Frau betrachtete ihn eine Weile.

»Ja, das wäre es wohl. Aber was Sie getan haben, ist noch unhöflicher.«

»Ein schwieriger Fall!«, meinte Longueville. »Was hätte ich denn anstandshalber tun können?«

»Es ist eine wunderbare Skizze«, murmelte die ältere Dame und gab sie Longueville zurück. Ihre Tochter hatte nicht einmal einen Blick darauf geworfen.

»Sie hätten warten können, bis ich wieder gegangen wäre«, fuhr die streitbare junge Person fort.

Longueville schüttelte den Kopf.

»Gelegenheiten lasse ich mir nicht entgehen!«

»Sie hätten mich später malen können, aus dem Gedächtnis.«

Longueville sah sie mit einem Lächeln an.

»Bedenken Sie nur, wie viel besser mein Gedächtnis jetzt sein wird!«

Auch sie ließ ein kleines Lächeln erkennen, wurde jedoch sofort wieder ernst.

»Für mich ist es eine Episode, die ich versuchen werde zu vergessen. Mir gefällt die Rolle nicht, die ich darin gespielt habe.«

»Mögen Sie nie eine weniger vorteilhafte spielen!«, rief Longueville aus. »Ich hoffe, dass zumindest Ihre Mutter ein Andenken an den Vorfall annehmen wird.« Und er wandte sich mit seiner Skizze wieder der Begleiterin zu, die dem Gespräch des Mädchens mit dem draufgängerischen Fremden gelauscht und mit einer Miene aufrichtiger Verwirrung von der einen zum anderen geblickt hatte. »Würden Sie mir die Ehre erweisen, meine Skizze zu behalten?«, fragte er sie. »Ich finde, sie sieht Ihrer Tochter wirklich ähnlich.«

»Oh, danke, haben Sie vielen Dank; ich wage es kaum«, murmelte die Dame mit einer abwehrenden Geste.

»Sie mag als eine Art Wiedergutmachung für die Freiheit dienen, die ich mir genommen habe«, fügte Longueville hinzu und begann, das Blatt von seinem Skizzenblock zu lösen.

»Sie uns zu schenken macht die Sache nur noch schlimmer«, sagte das Mädchen.

»Aber meine Liebe, sie ist wirklich zauberhaft!«, rief ihre Mutter aus. »Die Ähnlichkeit ist bestechend.«

»Ich finde, das macht die Sache noch schlimmer!«

Schließlich wurde Longueville ein wenig ärgerlich. Vielleicht war die Widerborstigkeit der jungen Dame nicht unbedingt böse gemeint, aber mit Sicherheit war sie unhöflich. Offenbar wollte sie sich als schöner Quälgeist gebärden.

»Inwiefern macht es die Sache nur noch schlimmer?«, fragte er stirnrunzelnd.

Er hielt sie für klug; jedenfalls war sie schlagfertig. Nun aber hielt sie einen Augenblick inne, ehe sie antwortete.

»Weil Sie uns Ihre Skizze schenken wollen«, sagte sie schließlich.

»Ich habe sie Ihrer Mutter angeboten«, bemerkte er.

Doch diese seinem Unmut entsprungene Bemerkung schien auf die junge Frau keinen Eindruck zu machen.

»Ist es nicht das, was Maler eine Studie nennen?«, fuhr sie fort. »Eine Studie ist von Nutzen für den Maler. Ihre Rechtfertigung sollte lauten, dass Sie Ihre Skizze behalten, damit sie Ihnen von Nutzen ist.«

»Meine Tochter ist selbst eine Studie, werden Sie denken, Sir«, meinte die ältere Dame in heiterem, versöhnlichem Ton und nahm die Skizze liebenswürdig ein zweites Mal entgegen.

»Ich gebe zu«, sagte Longueville, »dass ich sehr inkonsequent bin. Schreiben Sie das meiner Hochachtung zu, Madam«, fügte er hinzu und sah dabei die Mutter an.

»Das gilt dir, Mama«, sagte sein Modell, entzog ihren Arm der Hand der Mutter und wandte sich ab.

Die Mama blickte auf die Skizze mit einem Lächeln, das den zarten Wunsch auszudrücken schien, alles Missbehagen aus der Welt zu schaffen.

»Sie ist wunderschön«, murmelte sie, »und wenn Sie darauf bestehen, dass ich sie annehme …«

»Ich würde es für eine große Ehre erachten.«

»Nun gut, ich werde sie behalten, vielen Dank.« Sie sah den jungen Mann kurz an, während ihre Tochter davonging. Longueville fand, sie war eine entzückende kleine Person; sie kam ihm wie eine Art verklärter Quäkerin vor – eine Mystikerin mit einem Sinn fürs Praktische. »Bestimmt halten Sie sie für ein seltsames Mädchen«, sagte sie.

»Sie ist überaus hübsch.«

»Sie ist sehr klug«, erwiderte die Mutter.

»Sie ist von herrlicher Anmut.«

»Ah, aber sie ist auch gut!«, rief die alte Dame aus.

»Ich bin sicher, das erreicht sie auf ehrliche Weise«, sagte Longueville gefühlvoll, während seine Gesprächspartnerin seinen Gruß mit der ihr eigenen bedächtigen Huld erwiderte und ihrer Tochter nacheilte.

Longueville blieb zurück, in die Aussicht versunken, ohne sie jedoch wirklich wahrzunehmen. Er hatte das Gefühl, als habe er eine Gelegenheit ausgekostet und zugleich verpasst. Nach einer Weile versuchte er sich an einer Skizze der alten Bettlerin, die in einer Art lähmender Starre dasaß, wie eine brüchige Statue an einem Kirchenportal. Doch sein Versuch, ihre Züge wiederzugeben, war nicht zufriedenstellend, und plötzlich legte er den Pinsel nieder. Sie war nicht hübsch genug – sie hatte kein ansprechendes Profil.

Zweites Kapitel

Zwei Monate später befand sich Bernard Longueville in Venedig, noch immer unter dem Eindruck, dass er Italien bald verlassen werde. Er war kein Mann, der Pläne machte und sich dann an sie hielt. Zwar machte er welche – nur wenige Männer machten mehr Pläne als er –, doch dienten sie ihm nur als Grundlage für Abweichungen. Er war nach Venedig gekommen, um vierzehn Tage dort zu verbringen, und die vierzehn Tage hatten sich zu acht bezaubernden Wochen ausgedehnt. Nach wie vor war er der Überzeugung, seinen Plänen treu zu bleiben, denn zugegebenermaßen war er, wenn es um sein Vergnügen ging, äußerst geschickt darin, seine Theorie der Praxis anzupassen. Er genoss Venedig ungemein, wurde aber aufgerüttelt durch eine Aufforderung, der er sich nicht widersetzen konnte. Es war der Brief eines engen Freundes, der in Deutschland lebte – eines Freundes mit Namen Gordon Wright. Dieser hatte den Winter in Dresden verbracht, sein Brief trug jedoch den Poststempel Baden-Baden. Da er nicht sehr lang war, gebe ich ihn hier in Gänze wieder.

Ich wünschte so sehr, Du würdest hierherkommen. Ich glaube, Du warst schon einmal hier, also weißt Du, wie hübsch es hier ist und wie kurzweilig. Ich werde wohl den Rest des Sommers hier verbringen. Einige Bekannte sind hier, die ich Dir gern vorstellen würde. Sei doch so gut und komm. Dann werde ich Dir für Deine verschiedentlichen italienischen Rhapsodien angemessen danken. Ich kann sie nicht im selben Umfang erwidern – ich habe nicht die Zeit dafür. Weißt Du, was ich treibe? Ich widme mich Liebesdingen. Ich finde das eine äußerst zeitraubende Beschäftigung. Genau aus diesem Grund hatte ich Dir auch noch nicht geschrieben. Schon seit Ende Mai widme ich mich Liebesdingen. Das nimmt ungeheuer viel Zeit in Anspruch, weswegen ich mit allem furchtbar im Rückstand bin. Ich will damit nicht sagen, dass das Experiment einen raschen Verlauf nimmt, aber ich versuche, es voranzutreiben. Noch hatte ich keine Zeit, den Erfolg zu prüfen; dafür ist Deine Hilfe vonnöten. Du weißt doch, wir großen Physiker führen ein Experiment niemals ohne einen »Assistenten« durch – ein bescheidenes Individuum, das sich im Namen der Wissenschaft die Finger verbrennt und die Kleidung befleckt, dessen Interesse am Problem selbst jedoch nur indirekter Art ist. Ich möchte, dass Du mein Assistent bist, und ich garantiere, dass Deine Verbrennungen und Deine Flecken nicht gefährlich sein werden. Sie ist ein ungemein faszinierendes Mädchen, und mir liegt viel daran, dass Du sie kennenlernst – ich möchte wissen, was Du von ihr hältst. Auch sie würde Dich gern kennenlernen, denn ich habe bereits eine Menge von Dir erzählt. Da hast Du’s – falls befriedigte Eitelkeit Dir Beine macht. Doch ernsthaft, es ist eine aufrichtige Bitte. Mir liegt an Deiner Meinung, an Deinem Eindruck. Ich möchte sehen, wie sie auf Dich wirkt. Ich sage nicht, dass ich Deinen Rat benötige; dazu wirst Du Dich natürlich nicht verpflichten. Aber ich wünsche mir eine Einschätzung, eine Charakterisierung; Du weißt, so etwas schüttelst Du aus dem Ärmel. Ich sehe keinen Grund, weshalb ich Dir das alles nicht erzählen sollte – ich habe Dir immer alles erzählt. Ich habe nie vorgegeben, irgendetwas über Frauen zu wissen, allerdings stets angenommen, dass Du alles über sie weißt. Jedenfalls hast Du Dich immer so angehört, als wärst Du in dieser Hinsicht allwissend. Also, komm so bald wie möglich und beweise mir, dass Du kein Schwindler bist. Sie ist ein sehr hübsches Mädchen.

Longueville war von diesem Appell so amüsiert, dass er sich alsbald nach Deutschland aufmachte. Beim geneigten Leser wird Gordon Wrights Brief wohl eher Verwunderung als Heiterkeit auslösen; doch Longueville fand ihn äußerst bezeichnend für seinen Freund. Denn was er in besonderem Maße erkennen ließ, war Gordons Mangel an Vorstellungskraft – eine Schwäche, die stets Anlass zu scherzhaften Anspielungen zwischen den beiden jungen Männern bot, von denen jeder eine Kollektion eingestandener Eigenheiten des anderen besaß, als Spielwiese für den eigenen Witz. Oft hatte Bernard die mangelnde Vorstellungskraft seines Freundes als Abgrund bezeichnet, in den hinabzusteigen Gordon ihn unablässig einlud. »Mein Bester«, sagte Bernard dann, »du musst mich wirklich entschuldigen; ich kann diese unterirdischen Exkursionen nicht auf mich nehmen. Dort unten würde ich keine Luft kriegen; ich würde nie wieder lebendig heraufkommen. Du weiß, ich habe Dinge hinunterfallen lassen – kleine Scherze und Metaphern, kleine Fantastereien und Paradoxien –, und ich habe sie nie auf dem Grund aufschlagen hören!« Dies war der Sinnspruch eines jungen Mannes mit lebhafter Fantasie; dennoch traf es zu, dass Gordon Wrights Intellekt eher fest auftrat, als dass er sich durch die Lüfte schwang. Bernard kam es vor, als stapfe jeder Satz in seinem Brief in dick besohlten Wanderstiefeln einher, und nichts hätte Gordons Neigung, Dinge gründlich zu durchdenken, stärker Ausdruck verleihen können als der Vorschlag, sein Freund solle kommen und die Dame seines Herzens einer chemischen Analyse – einer geometrischen Vermessung – unterziehen. Dass ich Schwierigkeiten haben werde, mir eine Meinung zu bilden, Schwierigkeiten, die einmal gebildete Meinung auszudrücken – davon macht er sich ebenso wenig eine Vorstellung wie davon, dass er Schwierigkeiten haben wird, sie zu akzeptieren, wenn sie erst einmal ausgedrückt ist. So Bernards Überlegung, als sein Zug in Richtung München rollte. Gordons Verstand, überlegte er weiter, verfügt über keinerlei Atmosphäre. Sein Denkprozess verläuft im Leeren. Es gibt keine Strömungen und keine Strudel, die ihn beirren, weder starke Winde noch glühende Sonnen, weder den Wechsel der Jahreszeiten noch Temperaturveränderungen. Seine Prämissen sind fein säuberlich geordnet und seine Schlussfolgerungen absolut berechenbar.

Dennoch empfand Bernard Longueville große Zuneigung für den Mann, an dessen Charakter er seinen Scharfsinn erprobte. Der Wert einer Freundschaft bemisst sich nicht danach, ob die Personen einander ähneln. Zwar muss es ein Fundament an Gemeinsamkeiten geben, doch der darauf errichtete Bau kann unzählige Unterschiede aufweisen. Die beiden Männer hatten schon früh, in Hochschultagen, ein Bündnis geschlossen, und das Band zwischen ihnen war durch die einfache Tatsache gefestigt worden, dass es den Gefühlsstürmen ihrer jungen Jahre getrotzt hatte. Ihre stärkste Verbindung war eine Art gegenseitigen Respekts. Ihre Vorlieben, ihre Bestrebungen unterschieden sich; doch beide empfanden Hochachtung vor dem Charakter des andern. Man könnte sagen, dass sie leicht zufriedenzustellen waren; denn keiner der beiden hatte irgendetwas Auffälliges geleistet. Es waren äußerst kultivierte junge Amerikaner, hineingeboren in komfortable Vermögensverhältnisse und ruhige Lebensumstände und unvertraut mit dem Glamour goldener Gelegenheiten. Würde ich nicht davor zurückscheuen, ihnen zu Ehren den Zustand ihres Heimatlandes herabzusetzen, so würde ich sagen, dass es diesen jungen Gentlemen niemals ausdrücklich nahegelegt worden war, sich hervorzutun. Als sie das Mannesalter erreichten, war jeder von ihnen zu so viel Besitz gekommen, dass jede tätige Anstrengung überflüssig schien. Gordon Wright hatte sogar ein sehr stattliches Erbe angetreten. Da ihre Bedürfnisse einigermaßen bescheiden waren, erlagen sie nicht der Versuchung, nach jenem Ruhm zu streben, den der Aufbau eines wirtschaftlichen Vermögens mit sich bringt – die wohl naheliegendste Karriere, die jungen Amerikanern offensteht. Tatsächlich ließen sie sich auf überhaupt keine Karriere ein und hätten sich, nach einer Beschreibung ihrer selbst gefragt, schwergetan, mit einer beeindruckenden Geschichte aufzuwarten. Gordon Wright interessierte sich sehr für die Naturwissenschaften und hatte seine eigenen Vorstellungen von sogenannter Forschungsförderung. Seine Ideen hatten praktische Formen angenommen, und unter der Zunft der Forscher hatte er freigebig Geld verteilt, danach einige Jahre in Deutschland verbracht, das er für das Land der Laboratorien hielt. Hier finden wir ihn nun, wie er Beziehungen zu etlichen Forschungseinrichtungen pflegt und das Studium verschiedener schwieriger Zweige menschlichen Wissens fördert, indem er für die Kosten komplizierter Experimente aufkommt. Die Experimente, so sollte hinzugefügt werden, wurden oftmals von ihm selbst angeregt, und ihm gebührt die Ehre jedweden Glanzes, der solcherlei Unternehmungen nach weltlichem Dafürhalten anhaftet. Es war jedoch kein Glanz, von dem sich Bernard Longueville hätte blenden lassen – er ließ sich nicht leicht von irgendetwas blenden. Bernard empfand vielmehr deshalb Zuneigung zu seinem Freund, weil er ihn in so klarem und direktem Licht betrachtete – eine Zuneigung, für die sich nur mit Mühe ein eindeutiger Grund finden ließe. Zweifellos werden persönliche Sympathien durch irgendetwas verursacht; doch sind es entlegene Ursachen, für unsere alltägliche Sichtweise rätselhaft, so wie die Ursachen bestimmter Wetterverhältnisse. Wir geben uns mit der Feststellung zufrieden, dass es schön ist oder dass es regnet, und der Genuss unserer Vorlieben und Abneigungen ist beileibe nicht dazu angetan, sich von der Schärfe unserer Analyse leiten zu lassen. Longueville hatte eine Vorliebe für erlesene Qualität – für überlegenen Geschmack; und angesichts der schlichten, aufrichtigen, männlichen, warmherzigen Natur seines Kameraden, der ihm ein vorzügliches Exemplar seiner Art zu sein schien, war er sich dieses Vorzugs bewusst. Gordon Wright hatte ein weiches Herz und einen starken Willen – eine Kombination, die, ist der Verstand nicht gar zu beschränkt, oft der Antrieb für bewundernswerte Taten ist. Zuweilen mochte es infrage stehen, ob Gordons Verstand in ausreichendem Maße unbeschränkt war, doch wenn es darum geht, die Lücken einer unvollkommenen Vorstellungskraft auszufüllen, spielen die Impulse eines großzügigen Naturells häufig eine wesentliche Rolle, und der allgemeine Eindruck, den Wright hervorrief, war mit Sicherheit der intelligenter Gutmütigkeit. Die Gründe, Bernard Longueville wertzuschätzen, waren weitaus offensichtlicher. Er nahm sowohl vordergründig als auch grundsätzlich für sich ein. Die Natur hatte ihn mit schönen Gaben in die Welt gesandt. Er sah sehr gut aus – hochgewachsen, dunkelhaarig, gewandt, mit Manieren –, so gut, dass er ein Hohlkopf hätte sein können und man ihm trotzdem verziehen hätte. Doch wie bereits angedeutet, war er alles andere als ein Hohlkopf. Er verfügte über eine Reihe von Talenten, die in den drei oder vier Jahren nach seinem Abgang vom College der Disziplin eines Jurastudiums unterworfen worden waren. Aus der Juristerei hatte er nicht viel gemacht, wohl aber aus seinen Talenten. Er galt gemeinhin als »fähig«; und man fragte sich, weshalb er eigentlich nichts tat. Diese Frage wurde nie zufriedenstellend beantwortet, herrschte doch das Gefühl vor, Longueville tue vor allem dadurch, dass er Anlass zu der Frage gab, mehr als viele andere Leute. Zudem war da ja etwas, das er ständig tat – er vergnügte sich. Das ist offenkundig keine Karriere, und schon eingangs wurde erwähnt, dass er sich keinem der anerkannten Berufe verpflichtet fühlte. Doch ohne zu sehr ins Detail zu gehen: Er war ein charmanter Bursche – klug, weltgewandt, großzügig und mit jener glücklichen Eigenschaft in seinem Erscheinungsbild gesegnet, die als Distinktion bekannt ist.

Drittes Kapitel

In dem Brief an Gordon Wright hatte er nicht genau vermerkt, an welchem Tag er in Baden-Baden eintreffen werde; zugegeben, er neigte nicht dazu, Tage genau zu vermerken. Er erreichte sein Reiseziel abends, und als er sich in dem Hotel einfand, in dem der Freund seinen Brief geschrieben hatte, erfuhr er, dass sich Gordon Wright gemäß den Gepflogenheiten Baden-Badens nach dem Abendessen in die Anlagen am Conversationshaus begeben hatte. Es war acht Uhr, und nachdem er sich von den Spuren der Reise befreit hatte, setzte er sich zu Tisch. Sein erster Impuls war gewesen, nach Gordon zu schicken, damit dieser ihm bei seiner Mahlzeit Gesellschaft leiste; doch nach reiflicher Überlegung beschloss er, das Abendessen so kurz wie möglich zu halten. Anschließend machte er sich auf den Weg zum Kurhaus. Der bedeutende deutsche Kurort ist einer der hübschesten Flecken Europas, und vor fünfundzwanzig Jahren, als das Glücksspiel noch erlaubt war, bot er an Sommerabenden wie diesem einen wahrhaft glanzvollen Anblick. Die hell erleuchteten Fenster des großen Glücksspieltempels (von so züchtiger Architektur, als sei er einer reineren Gottheit geweiht) öffneten sich weit zu den Gärten und Alleen hin. Der kleine Fluss, der den grünen Hügeln des Schwarzwalds entspringt, floss einem unschuldigen Bächlein gleich an den teuren Hotels und Pensionen vorbei. Das Orchester, das in einem hohen Pavillon vor der Terrasse des Kurhauses spielte, begleitete diskret die Gespräche der Damen und Herren, die, auf tausend kleinen Stühlen über den Park verstreut, einstweilen die Schönheit der Natur dem Hin- und Herschieben der Münzen und dem Berechnen von Gewinnchancen vorzogen, während die schwachen Sommersterne, die über den schattenhaften schwarzen Hügeln und Wäldern funkelten, auf die gleichgültigen Grüppchen herabblickten; sie wagten nicht einmal, ihr Licht auf sie fallen zu lassen.

Longueville, der all dies bemerkte, ging geradewegs ins Casino; er war neugierig, ob sein Freund, der Experimente liebte, sich beim Roulette an Kombinationen versuchte. Doch in keinem der vergoldeten Säle war er in der Menge zu finden, die sich schweigend um die Tische drängte, sodass sich Bernard augenblicklich aufmachte, um über die von Lampen beleuchtete Promenade zu flanieren, die von unzähligen sitzenden oder schlendernden Grüppchen in eine gigantische conversazione verwandelt wurde. Das alles kam ihm recht angenehm und unterhaltsam vor, und er sagte sich, für einen Mann, der nicht eben dafür bekannt sei, der epikureischen Lebensweise zuzuneigen, habe sich Gordon Wright mit seinem Besuch Baden-Badens durchaus komfortabel eingerichtet. Longueville streifte umher und blickte von einer Gruppe plaudernder Menschen zur nächsten, und schließlich erspähte er ein Gesicht, das ihn innehalten ließ. Er blieb einen Moment stehen und betrachtete es, wusste er doch, dass er es schon einmal gesehen hatte. Was Gesichter betraf, hatte er ein ausgezeichnetes Gedächtnis; aber es dauerte eine Weile, bis er dieses hier zuordnen konnte. Wo hatte er die kleine ältere Dame mit dem Ausdruck furchtsamer Wachsamkeit und einer Haarsträhne von so zartem Weiß wie der Flügel einer Taube schon einmal gesehen? Die Antwort traf ihn wie ein Blitz – wo, wenn nicht in dem grasbewachsenen Winkel einer alten italienischen Stadt? Die Dame war die Mutter seines Modells wider Willen, sodass auch jene rätselhafte Person nicht weit entfernt sein konnte. Noch ehe Longueville Zeit fand, seine Schlussfolgerung zu überprüfen, fiel sein Blick auf den breiten Rücken eines Herrn, der neben der alten Dame saß und, sich von ihr abwendend, mit einem jungen Mädchen sprach. Zwar sah er lediglich den Rücken des Mannes, doch mit dem Instinkt wahrer Freundschaft erkannte er in der wenig aussagekräftigen Fläche die robuste Persönlichkeit Gordon Wrights. Sofort trat er vor und legte Wright die Hand auf die Schulter.

Sein Freund fuhr herum, sprang dann mit einem freudigen Ausruf auf und ergriff seine Hand.

»Mein Bester – mein lieber Bernard! Was in aller Welt – wann bist du angekommen?«

Während Bernard antwortete und ein wenig erklärte, schaute er von dem freundlichen, zufriedenen Gesicht seines Freundes zu dem jungen Mädchen, mit dem Wright sich unterhalten hatte, und schließlich zu der Dame auf der anderen Seite, die ihm einen kurzen strahlenden Blick zuwarf. Er zog den Hut vor ihr und dem Mädchen und verspürte, was Letztere anbelangte, eine gewisse Enttäuschung. Zwar war sie sehr hübsch und sah ihn an; aber es war nicht die Protagonistin des kleinen Vorfalls auf der Terrasse in Siena.

»Das ist typisch Longueville, wissen Sie«, fuhr Gordon Wright fort. »Immer schleicht er sich von hinten an; Überraschungen liebt er über alles.« Er lachte; er war äußerst vergnügt; er stellte Bernard den beiden Damen vor. »Ich darf dich Mrs Vivian vorstellen; ich darf dich Miss Blanche Evers vorstellen.«

Bernard nahm in dem kleinen Kreis Platz; er fragte sich, ob er erwähnen sollte, dass er Mrs Vivian wiedererkannt habe. Dann erschien es ihm ratsamer, diesen Schritt der Dame zu überlassen, zumal er an ihren Augen ablesen konnte, dass auch sie ihn wiedererkannt hatte. Doch Mrs Vivian tat nichts dergleichen; sie begnügte sich mit freundlichen Allgemeinplätzen – und mit der Bemerkung, sie wisse immer gern im Voraus, wann Menschen einträfen; Überraschungen könne sie gar nichts abgewinnen.

»Und doch bilde ich mir ein, dass Sie mehr als genug davon gehabt haben«, sagte Longueville mit einem Lächeln. Er glaubte, ihr damit jenen Augenblick in Erinnerung rufen zu können, da sie aus der kleinen Kirche in Siena getreten war und gesehen hatte, wie ihre Tochter einem unbekannten Maler Modell stand.

Doch Mrs Vivian schüttelte nur milde den Kopf und gab eine nichtssagende Antwort.

»Ach, ich habe von allem mehr als genug gehabt, im Guten wie im Schlechten. Ich beklage mich nicht.« Und sie gab ein leises abwehrendes Lachen von sich.

Gordon Wright schüttelte Bernard erneut die Hand; er schien aufrichtig froh, ihn zu sehen. Longueville, dem einfiel, dass Gordon ihm geschrieben hatte, er »widme sich Liebesdingen«, begann, in seiner Miene nach Anzeichen verheerender Leidenschaft zu forschen. Fürs Erste waren diese jedoch nicht zu erkennen; der vortreffliche, aufrichtige Bursche wirkte gelassen und zufrieden. Gordon Wright hatte klare graue Augen, kurzes, glattes strohblondes Haar und eine gesunde Gesichtsfarbe. Seine Gesichtszüge waren grob und eher unregelmäßig, gewannen jedoch – zusätzlich zu den Vorzügen seines Mienenspiels – eine gewisse Anmut dank einem mächtigen gelblichen Schnurrbart, den sein Träger bisweilen martialisch zwirbelte. Gordon Wright war zwar nicht hochgewachsen, aber kräftig, und seine ganze Person hatte etwas Festverwurzeltes und Stämmiges. Er war fast immer hell gekleidet, und um den Hals trug er unweigerlich eine blaue Krawatte. Wenn er in Rage geriet, wurde er sehr rot. Während er Longueville über seine Reise und seine Gesundheit, seinen Aufenthaltsort und seine Pläne ausfragte, bemühte sich dieser, Wrights Augen Auskunft über seine gegenwärtige Lage zu entnehmen. War das hübsche Mädchen an seiner Seite der zweifelhafte Gegenstand seiner Anbetung, welche Funktion erfüllte in diesem Fall die ältere Dame, und was war aus ihrer streitlustigen Tochter geworden? Vielleicht war dies ja eine andere, eine jüngere Tochter, obwohl sie eigentlich keiner der beiden Damen in Siena ähnelte. Ungeachtet Bernards fragender Blicke gab sich Gordon Wright keinen »optischen« Vertraulichkeiten hin. Er hatte zu viel zu erzählen. Er würde seine Geschichte für sich behalten, bis sie allein wären. Unmöglich konnten sie sich schon jetzt zu einem Gespräch unter vier Augen zurückziehen; die beiden Damen standen unter Gordons Schutz. Mrs Vivian – Bernard verspürte eine gewisse Genugtuung, dass er ihren Namen in Erfahrung gebracht hatte; es war, als wäre ein halb aufgezogener und an einem Haken hängen gebliebener Vorhang plötzlich ganz aufgezogen worden –, Mrs Vivian saß da und ließ ihre Augen mit einem Ausdruck zärtlicher Erwartung die Promenade auf und ab wandern, durch die Menge der Müßiggänger und Plauderer. Womöglich hielt sie Ausschau nach ihrer älteren Tochter, und Longueville konnte sich des Wunsches nicht erwehren, die junge Dame möge sich zeigen. Unterdessen bemerkte er, dass das junge Mädchen, dem sich Gordon gewidmet hatte, ausnehmend hübsch war und ausgesprochen zugänglich wirkte. Longueville plauderte ein wenig mit ihr und überlegte, dass, falls sie die Person war, von der Gordon ihm geschrieben hatte, er besser den Anschein erwecken sollte, sich für sie zu interessieren. Diese Annahme wurde dadurch bekräfigt, dass sich Gordon Wright sogleich Mrs Vivian zuwandte, um sich mit dieser zu unterhalten, damit sein Freund Bekanntschaft mit ihrer Begleiterin schließen konnte.

Obwohl sie nicht mit den anderen in Siena gewesen war, hatte Longueville den Eindruck, auch sie nicht zum ersten Mal zu sehen. Sie war schlichtweg das typische hübsche amerikanische Mädchen, das er schon tausendmal gesehen hatte. Es war eine vielköpfige Schwesternschaft, vereint durch frappierende Familienähnlichkeit. Die junge Dame hatte bezaubernde Augen (von derselben Farbe wie Gordons Krawatte), Augen, die überall zugleich hinblickten und doch Zeit fanden, an einigen Stellen zu verweilen, wo sie häufig Longuevilles Augen trafen. Sie hatte weiches braunes Haar mit seidig goldenen Fäden, herrlich frisiert und von einem eleganten kleinen Hut gekrönt, der Pariser Flair verströmte. Auch hatte sie eine schlanke, zierliche Figur, ordentlich gerundet, und zarte, schmale Hände in hübschen Handschuhen. Auf ihrem Sitzplatz bewegte sie sich unablässig hin und her, drehte ihren kleinen, biegsamen Körper und warf den Kopf zurück, fuhr sich durchs Haar und begutachtete die Ornamente ihres Kleids. Wie Longueville bald bemerkte, hatte sie eine Menge zu sagen und drückte sich äußerst frei und entschieden aus. Zu Beginn fragte er sie, ob sie schon lange in Baden-Baden sei; doch mehr als diesen Anstoß benötigte sie gar nicht. Sie wandte ihm ihr reizendes, selbstbewusstes, kokettes kleines Gesicht zu und begann augenblicklich draufloszuplappern.

»Ich bin seit ungefähr vier Wochen hier. Ich weiß nicht, ob Sie das lange nennen. Mir kommt es nicht lange vor; ich hatte eine wunderbare Zeit. Ich habe hier so viele Leute getroffen, die ich kenne – jeden Tag taucht irgendjemand auf. Heute sind Sie aufgetaucht.«

»Aber mich kennen Sie nicht«, sagte Longueville lachend.

»Nun, ich habe schon eine Menge über Sie gehört!«, rief das Mädchen und widersprach ihm mit einem hübschen kurzen, aber durchdringenden Blick. »Ich glaube, Sie kennen eine gute Freundin von mir, Miss Ella Maclane aus Baltimore. Sie macht gerade eine Europareise.« Longuevilles Gedächtnis reagierte nicht sofort auf diesen Hinweis, aber er drückte jene begeisterte Zustimmung aus, die der Anlass erforderte, und riskierte sogar die Bemerkung, die junge Dame aus Baltimore sei sehr hübsch. »Sie ist überaus liebreizend«, fuhr sein Gegenüber fort. »Ich habe sie oft von Ihnen sprechen hören. Ich glaube, Ihre Schwester kennen Sie noch besser als sie. Sie ist noch nicht lange in die Gesellschaft eingeführt. Sie ist einfach faszinierend. Ihr Haar reicht ihr bis zu den Füßen. Gerade reist sie durch Norwegen. Sie war schon an jedem erdenklichen Ort, und ihre Reise soll in Finnland enden. Weiter kommt man auch gar nicht, oder? Wenigstens ein Trost; sie wird umkehren und zurückkommen müssen. Ich wünsche mir so sehr, dass sie nach Baden-Baden kommt.«

»Das wünsche ich mir auch«, erwiderte Longueville. »Reist sie allein?«

»O nein. Sie haben einen Engländer dabei. Es heißt, er sei Ella ergeben. Heute scheint jeder einen Engländer dabeizuhaben. Wir haben auch einen dabei, Captain Lovelock, den Ehrenwerten Augustus Lovelock. Nun ja, sie sehen alle furchtbar gut aus. Ella Maclane kann es