Vier Pfoten retten Weihnachten - Petra Schier - E-Book

Vier Pfoten retten Weihnachten E-Book

Petra Schier

4,0

Beschreibung

Ein Weihnachtsfest zum Verlieben  Die erfolgreiche Designerin Elena hat nach ihrer Scheidung nebst Rosenkrieg die Nase voll von Männern. Sie will sich von nun an ausschließlich ihrer Arbeit widmen – und außerdem anderen Menschen etwas Gutes tun. Deshalb beschließt sie, in der Vorweihnachtszeit bei einem Witwer mit zwei Kindern als Nanny einzuspringen. Mit den Kindern schließt sie sofort innige Freundschaft, und auch mit dem Vater kommt sie besser als geplant aus. Die beiden verlieben sich ineinander, doch Steffen zögert, sich nach dem Tod seiner Frau auf eine neue Beziehung einzulassen. Da Steffens elfjährige Tochter Sabrina sich dieses Jahr beim Weihnachtsmann und dem Christkind gleichzeitig eine neue Frau für ihren Papa gewünscht hat, beauftragen die beiden die Cocker Spaniel-Dame Lulu, Steffen und Elena zu ihrem Glück zu verhelfen. Lulu muss ganz schön improvisieren, denn es stellt sich heraus, dass bei Sabrinas Weihnachtswunsch ein winziges, aber wichtiges Detail übersehen wurde.

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Gut verbrachte Zeit

Selfmade-Unternehmerin Elena ist mit ihrem Modeimperium mehr als erfolgreich. Anders sieht es in ihrem Privatleben aus. Nach der Trennung von ihrem Mann landete ihre dreckige Wäsche in der Zeitung. Zeit für eine Auszeit. Im Rahmen eines Programms will sie als Nanny für Familien in Not einspringen und strandet dabei im Haus von Sabrina, Jan und deren Vater Steffen. Selbiger ist von der neuen Frau im Haus jedoch alles andere als begeistert, denn seine Schwester hat ihm die Suppe ohne Wissen eingebrockt. Als Elena auch noch ihre ehemalige Hündin Lulu an der Backe hat, nimmt das Chaos seinen Lauf. Ich kenne bereits zwei Geschichten von Petra Schier, allerdings neuere. So war das quasi eine Zeitreise. Unverkennbar sind die zentralen Elemente ihrer Weihnachtsreihe, Hunde, Schicksale und ein bisschen kosmische Hilfe. Zwischen Trauer und Verantwortung ist Steffen in einem Kreislauf gefangen, aus dem er nicht ausbrechen kann. Das Herz verschlossen, versucht er der beste Vater für seine Kinder z...
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Table of Contents

Titelseite
Impressum
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel – Nachspiel
Über die Autorin
 
 
 
 
 
Petra Schier
 
Vier Pfoten retten Weihnachten
Impressum
 
eBook Edition, 1. Auflage (Neuauflage) 2023
Copyright © 2016 by Petra Schier
Lerchenweg 6, 53506 Heckenbach
www.petra-schier.de
Lektorat: Barbara Lauer
Cover-Abbildung unter Verwendung von Adobe Stock: © Mariusz Blach / © Kindlena / © master1305
ISBN 978-3-96711-049-4
 
Dieses eBook ist unter demselben Titel und mit anderem Cover bereits 2016 als genehmigte Lizenzausgabe bei Weltbild GmbH und Co. KG erschienen.
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Nachdruck oder eine andere Verwertung ist nur mit schriftlicher Genehmigung der Autorin möglich.
Die Personen und Handlungen im vorliegenden Werk sind frei erfunden. Jegliche Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Erwähnungen von historischen bzw. realen Ereignissen, realen Personen oder Orten sind rein fiktional.
1. Kapitel
 
Santa Claus, auch als Weihnachtsmann bekannt, lag gemütlich ausgestreckt auf der Couch in seinem ganz in Dunkelgrün und Silber gehaltenen Wohnzimmer. Er träumte von glücklich glänzenden Kinderaugen, fröhlichen Erwachsenen und seiner in knapp acht Wochen bevorstehenden Reise rund um die Welt. Das leichte Kitzeln an seiner Nase nahm er zunächst gar nicht richtig wahr. Erst, als es sich wiederholte, wedelte er mit der Hand vor dem Gesicht herum, um die lästige Fliege zu verjagen.
Moment, eine Fliege am Nordpol? Noch dazu Anfang November? Als er die Augen öffnete, fuhr er verblüfft aus seiner bequemen Lage hoch. »Christkind!«
»Hallo Santa!« Das Christkind lachte vergnügt über seine Reaktion und ließ seine Flügel ein wenig flattern. In der Hand hielt es ein Blatt Papier, mit dem es Santas Nase gekitzelt hatte. »Entschuldige, aber ich konnte einfach nicht widerstehen. Wann sieht man dich schon mal auf der faulen Haut liegen?«
Santa strich sich verlegen durch den Bart. »Ich liege nicht auf der faulen Haut, sondern bereite mich mental auf die Weihnachtszeit vor.«
»Ach ja? Das ist natürlich was anderes.« Das Christkind gluckste. »Darf sich mich zu dir setzen?«
»Selbstverständlich.« Einladend wies der Weihnachtsmann auf einen Sessel. »Nimm Platz. Was führt dich zu mir?«
»Ein doppelter Weihnachtswunsch.« Das Christkind reichte ihm den Briefbogen. »Dieser Wunschzettel hat mich heute per Post erreicht, und wenn stimmt, was darin steht, müsstest du in Kürze einen ähnlichen Brief erhalten. Vielleicht ist er sogar schon angekommen.«
»Ich habe die heutige Post noch gar nicht durchgesehen.« Santa Claus überflog den Brief, der von einem elfjährigen Mädchen namens Sabrina geschrieben worden war. Dann hob er den Kopf und blickte das Christkind betroffen an. »Das ist aber eine traurige Geschichte. Die Kleine muss ja ziemlich verzweifelt sein, dass sie sich sicherheitshalber gleich an uns beide wendet.«
»Das habe ich mir auch gedacht, deshalb bin ich ja hier. Ich habe mir die Adresse mal näher angeschaut. Sabrina wohnt in der kleinen Stadt im Rheinland, in der du in den letzten Jahren häufig große Weihnachtswünsche erfüllt hast.«
Santa Claus nickte. »Ja, ich nenne sie mittlerweile heimlich schon meine Hundestadt, weil ich immer wieder Hunde zur Wunscherfüllung eingesetzt habe. Bisher ausgesprochen erfolgreich.«
»Vielleicht könnte das auch diesmal wieder gelingen.«
Überrascht sah er das Christkind an. »Wie kommst du darauf? Sabrina hat sich doch gar keinen Hund gewünscht.«
»Das nicht, aber da ich den Brief zuerst erhielt, habe ich inzwischen einen kleinen Vorsprung vor dir und bereits ein wenig recherchiert. Oder vielmehr haben das meine Engelchen übernommen.« Das Christkind lächelte sanft. »Dabei ist mir etwas aufgefallen, das einen deiner Hunde betrifft.«
»So? Was denn?« Neugierig beugte Santa sich ein wenig vor, als das Christkind plötzlich einen kleinen Tablet-Computer in der Hand hielt. Es tippte und wischte darauf herum und setzte sich dann neben ihn auf die Couch. »Schau hier. Diese hübsche Cockerspanieldame kennst du doch noch, nicht wahr?«
»Na sicher!« Santa lächelte nun ebenfalls. »Das ist Lulu. Aber was hat sie mit der ganzen Angelegenheit zu tun? Sie lebt doch längst in einer glücklichen Familie. Ihr Herrchen Carsten und seine Frau Sophie haben im Sommer sogar Nachwuchs bekommen. Eine kleine Tochter.«
»Ich habe auch nicht an Carsten und Sophie gedacht, sondern an Lulus früheres Frauchen.«
»Elena? Die hat Lulu doch an Carsten weitergegeben, weil sie sich nicht mehr um sie kümmern wollte.«
Das Christkind nickte und wurde wieder ernst. »Sie kann manchmal ganz schön flatterhaft wirken. Aber ich glaube, in ihr steckt viel mehr. Und damals war es schon wegen ihres Umzugs in die Karibik besser für Lulu, ein neues Zuhause zu bekommen. Aber guck mal, was bei Elena inzwischen passiert ist.« Wieder wischte und tippte das Christkind auf dem Tablet herum, bis neue Bilder erschienen. Auch ein paar Zeitungsartikel waren dabei und zuletzt öffnete sich ein Livestream aus Elenas Wohnung.
Santa Claus sah sich das alles eine geraume Weile schweigend an, dann wiegte er den Kopf. »Also ich weiß nicht.«
»Warum nicht? Ich halte es für eine hervorragende Idee.«
»Das kann auch ganz böse ins Auge gehen.«
»Glaube ich nicht.« Das Christkind erhob sich. »Komm schon, lass es uns versuchen. Ich habe auch schon eine Idee, wie wir vorgehen können.«
Auch der Weihnachtsmann erhob sich und strich seinen roten Mantel glatt. »Also gut, aber auf deine Verantwortung. Und ich muss erst mal meine Kundschafterelfen losschicken, damit sie noch mehr über alle Beteiligten herausfinden. Der Wunsch dieses kleinen Mädchens ist zu groß und wichtig, da muss man gut überlegt vorgehen.«
»Da hast du vollkommen recht.« Das Christkind strahlte ihn an. »Dann lass uns mal beginnen!«
2. Kapitel
 
Steffen Kilian hievte stöhnend die riesige, bis zum Rand mit Lebensmitteln gefüllte Klappbox durch die Haustür und kickte selbige mit dem Fuß zurück ins Schloss. Beim Blick in den großen Eingangsbereich verdrehte er die Augen. Jan hatte wieder mal seine Jacke und die Stiefel einfach dort liegengelassen, wo er sie ausgezogen hatte. Dem Siebenjährigen war einfach nicht beizubringen, dass Schuhwerk und Anorak in den großen Garderobenschrank gehörten. Dabei hatte Steffen extra Ablagen und Haken in erreichbarer Höhe für seine Kinder angebracht.
Er umrundete die Stiefel und wäre dabei fast auf einem Matchbox-Auto ausgerutscht, das sich farblich kaum von dem bunten Läufer auf dem Boden abhob. Mit einem unterdrückten Fluch beeilte Steffen sich, in die große Wohnküche zu kommen, an die sich nahtlos der helle Ess- und Wohnbereich anschloss. Erleichtert knallte er die Box auf die Arbeitsinsel und atmete einmal tief durch. Dann machte er sich auf die Suche nach seinem Sohn. Erst, als er bereits die geschwungene Treppe ins Obergeschoss erklommen hatte, fiel ihm ein, dass Jan heute Fußballtraining hatte und gar nicht zu Hause war. Annalena, Steffens jüngere Schwester, hatte ihn von der Schule abgeholt und bis zum Beginn des Trainings betreut.
Steffen runzelte die Stirn, als ihm etwas auffiel. Wenn Jan beim Training war, welche Jacke hatte er dann mitgenommen? Und war er bei dem Mistwetter etwa ohne Stiefel losgezogen? Da stimmte doch etwas nicht. Noch ehe er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, öffnete sich Jans Zimmertür und Annalena trat heraus. Sie war einen halben Kopf kleiner als Steffen, besaß aber dasselbe wuschelige hellbraune Haar und die haselnussbraunen Augen. Beides war ein Erbe ihres Vaters. Und wie Steffen trug sie wegen einer leichten Kurzsichtigkeit eine Brille. Während ihre aktuell glänzend schwarz war, bevorzugte Steffen einen dezenten schmalen Rahmen in unauffälligem Platinton.
Als Annalena ihn sah, hellte sich ihre Miene auf. »Da bist du ja endlich. Ich dachte schon, ich müsse dich doch noch anrufen oder dir eine WhatsApp schreiben.«
Irritiert sah er seine Schwester an. »Was machst du denn hier?«
Sie zuckte die Achseln und wies mit dem Kinn auf das Zimmer hinter sich. »Wir sind gerade vom Krankenhaus zurück. Jan hat sich ...«
»Vom Krankenhaus?« Steffens Herzschlag beschleunigte sich, wie immer, wenn etwas mit einem seiner beiden Kinder nicht stimmte.
»Hallo Papa.« In diesem Moment tauchte Jan hinter Annalena auf. Auch sein Haar war hellbraun und verwuschelt und er rückte seine rote Brille auf der Nase zurecht. »Guck mal, ich hab ‘nen Gipsverband.« Halb stolz, halb schmerzerfüllt hielt der Junge seine linke Hand hoch. Ring- und kleiner Finger waren fachmännisch eingegipst.
Steffen ging vor seinem Sohn in die Hocke. »Wie ist das denn passiert?«
Jan zuckte die Achseln. »Der Jonathan ist draufgefallen.«
»Was?«
Annalena legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Das Training hatte gerade angefangen. Jonathan, du weißt doch, dieser kleine Rowdy, hat Jan gefoult und ist dabei ausgerutscht. Leider ist er genau auf Jans Hand gefallen. Die beiden Finger sind gebrochen, aber zum Glück ganz glatt und unkompliziert. Das ist in ein paar Wochen vergessen.«
»Na, wunderbar.« Steffen zog seinen Sohn seufzend an sich. »Du machst aber auch immer Sachen.«
»Hat ganz schön wehgetan«, murmelte Jan an Steffens Halsbeuge. An seiner Stimme war zu hören, dass er mit den Tränen kämpfte, sich aber bemühte, tapfer zu bleiben.
»Ist ja schon gut. Das wird bald wieder.« Zärtlich streichelte Steffen über den Kopf des Jungen, dann schob er ihn ein Stückchen von sich. »Weißt du was, dafür gibt es heute Abend Pizza.«
»Von Luigi?« Die Miene des Jungen heiterte sich sichtlich auf.
»Na klar. Ich habe gar keine Zeit, selbst welche zu backen. Und Luigi kann das auch viel besser als ich.«
»Toll! Ich will eine mit allem außer Oliven und Pilzen.«
»Das lässt sich einrichten.« Steffen erhob sich. »Danke, Annalena, dass du dich um Jan gekümmert hast.«
»Das ist doch selbstverständlich.« Seine Schwester lächelte ihm zu. »Und ehe du jetzt meckerst, dass ich dir nicht gleich Bescheid gegeben habe – du hast gesagt, dass du heute schwer beschäftigt bist. Da wollte ich dich nicht auch noch mit einer Fahrt zur Notaufnahme belasten. Außerdem haben wir beide das auch ganz wunderbar ohne dich hinter uns gebracht.«
»Danke«, wiederholte Steffen und überlegte nicht zum ersten Mal, was er wohl ohne seine Schwester getan hätte. Das schlechte Gewissen, sie mal wieder über Gebühr beansprucht zu haben, meldete sich wie so oft in letzter Zeit. Es war ein praktisches Arrangement, das allerdings nicht mehr lange aufrechterhalten werden konnte, denn Annalena war freischaffende Autorin und würde bald mit einem neuen Buchprojekt beginnen. Wenn es so weit war, würde sie kaum noch Zeit für Jan und dessen ältere Schwester haben. »Wo ist denn Sabrina?«
Annalenas Miene wurde wieder ernst. »In ihrem Zimmer. Sie behauptet, sie würde Hausaufgaben machen, aber damit müsste sie längst fertig sein. Sie wirkte ein bisschen bedrückt, als sie von der Schule kam. Wahrscheinlich hat jemand sie geärgert.«
»Schon wieder?« Besorgt runzelte Steffen die Stirn.
»Du weißt doch, wie Kinder sind. Heute zanken sie sich und morgen sind sie wieder die besten Freunde.«
»Das Zanken nimmt aber in letzter Zeit überhand.« Er wandte sich in Richtung der übernächsten Tür. »Ich seh mal nach ihr.«
»Okay.« Annalena nickte zustimmend. »Dann lass uns mal nach unten gehen, Jan, und deine Schulsachen holen. Du musst noch Mathe fertig machen.«
»Echt?« Jan verzog die Lippen. »Muss ich? Ich hab ‘nen Gips!«
»Na und? Deshalb musst du trotzdem deine Hausaufgaben machen. Außerdem ist der Gips links. Mit rechts kannst du doch wohl schreiben.«
»Ich bin jetzt Linkshänder geworden. So wie Mark aus meiner Klasse.«
Annalena stieß ihn lachend an. »Das hättest du wohl gerne.«
Die beiden verschwanden die Treppe hinab und Steffen klopfte an die Tür seiner elfjährigen Tochter Sabrina. Als keine Antwort kam, trat er vorsichtig ein.
Sabrina saß nicht an ihrem Schreibtisch, sondern in der gemütlichen Fensternische, die mit Sitzkissen in allen Regenbogenfarben ausgestattet war, und starrte aus dem Fenster hinaus auf den weitläufigen Garten. Der war im Augenblick in tristes Regengrau gehüllt und da es bereits später Nachmittag war, brach allmählich die Dunkelheit herein und ließ den Anblick noch düsterer wirken.
Sabrina hatte das Kinn in ihre Hände gestützt und reagierte gar nicht auf sein Erscheinen. Selbst als er dicht neben sie trat, verzog sie keine Miene.
Schweigend betrachtete er das Mädchen eine ganze Weile. Sie war hübsch mit ihrem hellbraunen Wuschelkopf, den auch sie geerbt und der ihre Klassenkameraden seltsamerweise in letzter Zeit oft zu Hänseleien veranlasst hatte. Steffen konnte sich nicht erklären, was an den Haaren seiner Tochter zu Spott herausfordern sollte. Er fand Sabrina bildschön.
Vielleicht waren es auch gar nicht die Haare, sondern die blau gerahmte Brille, die sie trug, weil sie, ebenso wie Jan und Steffen, leicht kurzsichtig war. Kombiniert mit Sabrinas überdurchschnittlicher Intelligenz ergab sich offenbar ein Bild, das die Kinder in ihrer Klasse dazu veranlasste, sie zu ärgern. Sabrina hatte ein Schuljahr übersprungen und war deshalb die Jüngste in ihrer Klasse. Manchmal fragte Steffen sich, ob es richtig gewesen war, der Empfehlung der Lehrer zu folgen. Seit den Sommerferien hatte seine Tochter es nicht gerade leicht gehabt. Zwar kam sie im Unterricht hervorragend mit, doch in der neuen Klasse hatte sie noch keinen richtigen Anschluss gefunden.
»Hey, Süße.« Sanft legte er ihr eine Hand auf die Schulter. »Was gibt es denn da draußen Spannendes zu beobachten? Haben die Eichhörnchen wieder das Futter aus dem Vogelhaus geklaut?«
»Nein. Das heißt doch, ja klar. Das machen sie doch immer.« Sabrina sprach, ohne den Kopf zu drehen. »Ich hab nicht die Eichhörnchen beobachtet.«
»Sondern?«
»Gar nichts. Ich hab nachgedacht.«
Steffen zog sich den Schreibtischstuhl heran und setzte sich. »Worüber denn?«
»So dies und das.«
Steffen seufzte innerlich. Es war offensichtlich, dass Sabrina nicht über das sprechen wollte, was sie beschäftigte. Er war sich immer unsicher, ob er sie zum Reden drängen oder sie ihre inneren Kämpfe mit sich selbst ausfechten lassen sollte. »Wie war es in der Schule?«
»Wie immer.« Nun sah sie ihn zum ersten Mal an. »Wen magst du eigentlich lieber, den Weihnachtsmann oder das Christkind?«
Verwundert hob er den Kopf. »Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Wie kommst du darauf?«
»Nur so.« Sabrinas Blick wanderte wieder zum Fenster hinaus und nach einer Weile dachte Steffen, sie würde gar nichts mehr sagen. Doch dann ergriff sie erneut das Wort. »Wirst du Esther heiraten?«
»Esther?« Verblüfft wandte er den Blick von ihr ab. Esther Meinhardt war eine alte Bekannte aus Studienzeiten, die zu seiner Clique am Campus gehört hatte. Sie waren nie ein Paar gewesen, denn schon seit seiner Ausbildung in der einzigen großen Gärtnerei und Baumschule der Stadt war er mit der Tochter des Inhabers verbandelt gewesen. Katrina und er, das hatte sich einfach ergeben. Er war siebzehn gewesen, als er sie kennengelernt hatte, und sie nur wenige Monate jünger. Aus der jugendlichen Verliebtheit war eine langjährige feste Beziehung geworden, die auch während seines Studiums noch Bestand hatte. Kurz nach seinem fünfundzwanzigsten Geburtstag hatten sie dann geheiratet und kaum ein Jahr später war Sabrina auf die Welt gekommen. Nach vier weiteren Jahren hatte Jan das Familienglück dann komplett gemacht. Steffen schluckte bei der Erinnerung, nicht sicher, was er von den Emotionen halten sollte, die in ihm hochspülten. Kurz nach Jans drittem Geburtstag war Katrina bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Manchmal fragte er sich, wo sie wohl heute stehen würden, wenn sie nicht gestorben wäre. Doch solche Gedanken gehörten jetzt nicht hierher. Er versuchte, sich wieder auf Sabrinas Frage zu konzentrieren. Würde er Esther heiraten? Vor etwa anderthalb Jahren war sie wieder in seinem Leben aufgetaucht. Anfangs nur hier und da, aber seit einem guten Jahr gingen sie mehr oder weniger regelmäßig miteinander aus. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie waren Freunde, auch wenn er sich denken konnte, dass Esther gerne mehr für ihn gewesen wäre. Und warum auch nicht? Sie war schön, klug, selbstständig, verlässlich. Auch seine Eltern drängten ihn dazu, endlich Nägel mit Köpfen zu machen. Dennoch zögerte er den nächsten Schritt immer wieder hinaus und tat, als bemerke er ihre Andeutungen hinsichtlich ihrer Beziehung nicht. Von außen betrachtet wäre es logisch und sinnvoll, mit ihr die Zukunft zu gestalten. Sie war bereit, sich um die Kinder zu kümmern, liebte ihn. Ja, ganz bestimmt tat sie das. Dennoch hatte er irgendwo tief im Inneren stets das Gefühl, mit ihr den gleichen Fehler zu machen wie damals mit Katrina. Er räusperte sich energisch, um die düstere Stimmung abzuschütteln, die ihn unvermittelt anflog. »Ich glaube nicht, dass ich darüber in nächster Zeit nachdenken werde. Warum fragst du?«
»Weil ihr schon so lange zusammen seid.« Sabrina strich mit dem Zeigefinger der linken Hand über das bunte Herbstfensterbild, das sie in der Schule gebastelt hatte. Es war ein wenig schief geraten; ein Baum mit rot, gelb und braun gefärbtem Blattwerk, der sich gefährlich nach links neigte, weil Sabrina mit Schere und Klebstoff weniger gut umgehen konnte als mit Buchstaben und Zahlen. »Habt ihr eigentlich auch Sex?«
»Was?« Entsetzt starrte Steffen sie an.
Sabrina hob zum ersten Mal den Kopf. »In der Schule sagen sie, dass alle Erwachsenen dauernd Sex haben. Und dass du und Esther das bestimmt auch macht, weil sie doch so schön ist und du ... na ja.«
»Was ist mit mir?« Plötzlich fühlte Steffen sich ausgesprochen unwohl bei dem Gedanken, dass eine Horde Zwölfjähriger über sein Liebesleben diskutierte.
»Die Mädchen in meiner Klasse finden dich cool. Und gutaussehend.«
»Tatsächlich.« Das Kompliment erleichterte ihn kein bisschen.
»Ja, und deshalb fragen sie eben, ob du und Esther auch miteinander ins Bett geht.«
»Nein, tun wir nicht.« Er rieb sich verlegen über den Nacken. Es erstaunte ihn immer wieder, wie direkt seine Tochter sein konnte.
»Warum nicht?«
»Weil ...« Himmel, was sollte er bloß darauf antworten? »Also zunächst einmal sind wir nicht miteinander verheiratet.«
»Papa.« Sabrina verdrehte die Augen. »Man muss doch nicht verheiratet sein, um Sex zu haben.«
Steffen brach der Schweiß aus. »Nein, also ja. Du hast natürlich recht. Aber Esther und ich ... wir sind nicht so zusammen. Ähm ... Wir sind nur gute Freunde.«
»Okay.« Sabrina blickte wieder nach draußen und es schien, als sei das Thema damit abgehakt.
Verwirrt aber nun doch auch erleichtert atmete Steffen auf. »Willst du auch Pizza? Wir bestellen nachher welche.«
»Klar. Doppelt Käse und Schinken. Und Paprika.«
»Ist notiert.« Er erhob sich und ging zur Tür.
»Ist bestimmt gut, dass ihr keinen Sex habt.«
Er hielt inne, und drehte sich noch einmal zu seiner Tochter um. »Warum?«
»Weil sie so dünn ist. Nicht, dass sie dabei in der Mitte durchbricht. Und sie lacht fast nie.«
Beinahe hätte er gelächelt. Ohne zu antworten, ergriff Steffen die Flucht.
 
***
 
Achselzuckend richtete Sabrina ihren Blick wieder auf den mittlerweile fast im Dunklen liegenden Garten. Unten im Wohnzimmer ging das Licht an und warf etwas Helligkeit auf die Terrassenfliesen. Sie hatte keinen Schimmer, was so interessant oder spannend an Sex sein sollte. Alle ihre Klassenkameraden sprachen von fast nichts anderem mehr. Natürlich mochte sie auch die romantischen Hollywoodfilme, die Annalena manchmal mit ihr anschaute. Da küssten sich die Paare ziemlich oft und manchmal gingen sie auch miteinander ins Bett. Das gehörte wohl dazu. Deshalb hatte sie ja auch gefragt, ob ihr Papa und Esther ... Sie konnte es sich überhaupt nicht vorstellen, wie die beiden sich nackt unter den Decken wälzten. Zum Glück hatte Papa gesagt, dass er es nicht mit Esther tat. Die war nämlich wirklich total dünn und vollkommen humorlos. Trotzdem mochte Papa sie ... irgendwie. Sabrina würde die Erwachsenen nie verstehen. Warum suchte sich ihr Vater nicht eine Frau, mit der er lachen konnte? War das nicht viel schöner, als dauernd nur solche ernsten Diskussionen über Wirtschaft und Politik zu führen? Sabrina langweilte sich dabei immer schon nach Sekunden. Leider bestand Esther darauf, dass ein so kluges Mädchen wie sie sich umfassend bilden musste und verwickelte sie ziemlich oft in solche Gespräche. Papa war natürlich stolz darauf, dass seine kleine Sabrina schon so viel von diesen schwierigen Themen verstand.
Sabrina wollte sich viel lieber über andere Dinge unterhalten. Über Mädchensachen. Über Tiere oder Musik oder Kunst. Sie liebte Malerei, wenn sie auch selbst nicht gut zeichnen konnte, und sie sang gerne. Sie mochte Blumen und Bäume und wollte so gerne Schlittschuhlaufen lernen. Und sie wollte eine neue Mutter haben. Eine, die all diese Dinge ebenfalls liebte und mit der sie darüber reden konnte.
An ihre Mama erinnerte sie sich nur noch schemenhaft, und wenn sie nicht ein Foto von ihr auf dem Schreibtisch gehabt hätte, wüsste sie nicht einmal mehr, wie sie ausgesehen hatte. Papa redete nicht oft über sie. Anfangs hatte Sabrina gedacht, das sei, weil er sie so vermisste. Aber inzwischen waren fast vier Jahre vergangen und er wirkte gar nicht mehr so schrecklich traurig. Unglücklich, das ja, aber nicht aus Trauer um die Mama. Da war etwas an ihm, das für Sabrina nicht so recht greifbar war. Etwas machte ihm zu schaffen. Was es auch war, es hielt ihn davon ab, sich eine neue Frau zu suchen. Eine, die ihn zum Lächeln und zum Lachen brachte. Und ja, auch eine, mit der er Sex haben konnte. Wenn das schon so wichtig zu sein schien, dann sollte es aber bitte auch mit einer Frau sein, die wirklich zu ihm passte.
Seufzend strich Sabrina erneut über das schiefe Baumfensterbild. Etwas musste geschehen, sonst war ihr Papa bald alt und grau und noch immer einsam. Deshalb hatte sie, weil ihr nichts Besseres eingefallen war, einen Brief ans Christkind geschrieben. Und an den Weihnachtsmann sicherheitshalber auch gleich. Eigentlich hätte sie in ihrem Alter weder an den einen noch an den anderen weihnachtlichen Glücksboten glauben dürfen. Aber man konnte ja nie wissen. Ihre Oma sagte immer, dass an Weihnachten oder auch in der Vorweihnachtszeit alles möglich war. Warum also nicht auch eine neue Frau für ihren Vater?
In ihrer Phantasie hatte sie sich schon oft vorgestellt, wie ihre neue Mutter aussehen könnte und wie sie sein würde. Hübsch natürlich und intelligent. Aber nicht so steif und überperfekt und angemalt wie Esther. Obwohl die auch wirklich schön war. Man durfte sie nur nicht anfassen. Jedenfalls hatte Sabrina stets den Eindruck, dass die Freundin ihres Vaters das nicht sonderlich mochte. Sie hatte Sabrina noch nie umarmt und auch Jan nicht, obwohl der total gerne kuschelte. Sabrina auch, aber nur mit Papa. Esther war viel zu knochig und distanziert dazu.
Sie kicherte vor sich hin. Noch ein Punkt, der gegen Sex mit Esther sprach, denn wie sollte das gehen, wenn sie sich nicht anfassen ließ? Dabei war sie sonst ja ganz nett. Aber eben auch nicht mehr. Und Papa liebte sie nicht, das konnte man sehen. Er mochte sie, vielleicht sogar sehr, und das war etwas, das Sabrina Sorgen machte. Denn manchmal heirateten Menschen auch andere Menschen, weil sie sie eben sehr mochten.
Vor ihrem Zimmer hörte sie leise Stimmen – Jan und Annalena – und dann Schritte auf der Treppe. Sie blieb jedoch sitzen, bis sie ein paar Minuten später den Türgong vernahm. Ein Pizzabote brachte das bestellte Essen. Sabrina rutschte aus der Fensternische und warf einen letzten Blick zum mittlerweile nachtschwarzen Himmel hinauf. »Weihnachtsmann? Christkind?« Ihre Stimme war nicht mehr als ein Wispern. »Bitte helft mir. Oder vielmehr meinem Papa. Ich wünsche mir auch sonst überhaupt nichts zu Weihnachten, versprochen.«
3. Kapitel
 
»Willst du das wirklich machen, Elena?« Noch ehe Carsten Braumann die Schwelle der Eingangstür zum Apartment seiner Schwester übertreten hatte, und ohne einen Gruß voranzustellen, kam er auf den Punkt.
Elena ließ ihn eintreten und warf die Tür hinter ihm schwungvoll ins Schloss. »Und wie ich das will. Falls du hergekommen bist, um mir die Sache auszureden, kannst du gleich wieder kehrtmachen. Das wird dir nämlich nicht gelingen.« Ohne auf seine Antwort zu warten, umarmte sie ihn und küsste ihn auf beide Wangen. »Willkommen in meinem neuen Heim. Na ja, wohl eher Übergangsheim. Ein bisschen klein, aber wenn ich die nächsten zwei Monate sowieso anderswo zubringe, reicht das hier auch erst mal. Wie es danach weitergeht, werden wir sehen.« Sie machte eine einladende Geste in Richtung des für ihren Geschmack definitiv zu winzigen Wohnzimmers, in dem sich rund um die stylische weiße Ledercouchgarnitur Türme von Umzugskisten stapelten. Ihre Scheidung war jetzt seit sechs Monaten rechtskräftig. Danach hatte sie einige Zeit gebraucht, um das Haus, in dem sie mit Titus gelebt hatte, veräußert und auch noch einige weitere Immobilien, die glücklicherweise auf ihren Namen liefen, losgeworden war. Vor sechs Wochen hatte sie sich schließlich in diese kleine Wohnung zurückgezogen, jedoch noch keinen Anlass gesehen, sich wirklich häuslich einzurichten. Zu vieles hing noch in der Schwebe. Sie wusste nicht einmal genau, wo sie nächstes Jahr um diese Zeit sein würde. Die Kisten auszupacken, wäre nicht nur ein Platzproblem, sondern auch wenig sinnvoll, solange sie sich nicht entschieden hatte, in welche Richtung ihr Leben sich weiterentwickeln sollte. Deshalb lebte sie vorerst lieber ein wenig ungemütlich und für ihre Verhältnisse spartanisch.
Amüsiert beobachtete sie, wie Carsten sich eingehend und mit skeptischer Miene umsah, seine silbern gerahmte Brille zurechtrückte und sich danach ein wenig hilflos durch sein dichtes blondes Haar fuhr.
»Diese Wohnung ist nicht größer als ein Kaninchenbau. Wie hast du deine ganzen Sachen überhaupt hier untergebracht?«
Elena zuckte die Achseln. »Ich habe mich von einigen Dingen getrennt. Von ziemlich vielen, um genau zu sein. Alles, was Titus mir geschenkt hat oder was wir gemeinsam gekauft haben, ist auf dem Müll gelandet. Oder vielmehr habe ich das meiste verkauft oder verschenkt.« Allein, den Namen ihres Exmannes auszusprechen, ließ Elenas Blutdruck ansteigen und bittere Galle in ihrer Kehle hochschießen.
»Was ist denn das für Musik?« Carsten legte den Kopf ein wenig schräg. »Weihnachtslieder?«
»Mir war danach. Na und? Was soll’s? In sechs Wochen ist doch Weihnachten.« Elena griff nach der Fernbedienung ihrer Stereoanlage und reduzierte die Lautstärke ein wenig. Sollte ihr Bruder sie doch für verrückt halten. Das tat er sowieso schon, seit sie auf der Welt war. Im Grunde taten das alle Menschen, die sie kannte. Doch das hatte sie nicht davon abgehalten, ihren Weg erfolgreich zu gehen. Beruflich zumindest. Ihr Privatleben hingegen war ein Trümmerfeld und sie hatte sich vorgenommen, alles, was diesen Teil ihres Lebens betraf, erst einmal für unbestimmte Zeit auf Eis zu legen.
Auf O Holy Night von Andy Williams folgte gerade The First Noel von Loretta Lynn, als Carsten erneut das Wort ergriff. »Ich bin nicht hier, um dich von deinem neuesten Plan abzubringen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich nicht ganz sicher bin, ob du weißt, auf was du dich da einlässt. Der Job geht über zwei Monate und es ist nicht vorgesehen, dass du vorzeitig das Handtuch wirfst.«
»Wer sagt, dass ich das vorhabe?«
»Vorhaben wirst du es vielleicht nicht, aber diese Familienbegleitung ist etwas ganz anderes als alles, was du bisher jemals getan hast.«
»Deshalb will ich es ja auch machen und habe mich dafür praktisch selbst von meiner Firma beurlaubt. Meine Assistentin und die übrige Crew werden schon mal für ein Weilchen ohne mich zurechtkommen. Und falls nicht, gibt es ja Handys und E-Mails.« Elena ließ sich grazil auf die Couch sinken und schlug ihre langen, schlanken Beine übereinander, die heute in hautengen, mit unzähligen Stickereien verzierten Designerjeans steckten, die sie selbst entworfen hatte. Sie kickte die hochhackigen blauen Pumps von den Füßen und zupfte ihr gleichfarbiges, mehrlagiges Shirt zurecht. Gewohnheitsmäßig schüttelte sie ihre lange blonde Mähne über die Schultern und klopfte neben sich auf die Sitzfläche. »Setz dich, Carsten. Du machst mich ganz nervös, wenn du so hilflos im Raum herumstehst.«
»Ich bin nicht hilflos!« Empört runzelte ihr Bruder die Stirn, ließ sich aber neben ihr nieder. »Sondern besorgt.«
»Brauchst du nicht zu sein. Ich habe alles im Griff. Ich meine, wie schwer kann es sein, als Nanny zwei Monate lang auf zwei Kids aufzupassen und ein bisschen den Haushalt zu schmeißen? Ist ja nicht so, dass ich nicht wüsste, wie das geht.«
»Es ist aber ein enormer Unterschied, ob man einen Ein- oder Zweipersonenhaushalt führt, eine Putzfrau hat und jeden zweiten Abend ausgeht oder ob man sich um einen vollkommen fremden Mann und zwei Kinder im Alter von sieben und elf Jahren kümmern muss. Schau dir bloß an, wie Kristina unser Leben durcheinandergewirbelt hat.«
»Sie ist ja auch erst fünf Monate alt.« Elenas Miene wurde weich. »Wie geht es meiner Lieblingsnichte? Ist sie noch immer so hinreißend hübsch?«
Carsten lächelte stolz. »Sie wird jeden Tag hübscher.«
»Ich muss euch unbedingt bald mal wieder besuchen. Vielleicht kann ich die Kinder dann sogar mal mitbringen, das wäre doch bestimmt lustig. Sie könnten mit Lulu spielen und so. Weißt du schon, wann es losgeht?«
»Deshalb bin ich ja hier.« Carsten wurde wieder ernst und zog einen Briefumschlag unter seinem anthrazitfarbenen Jackett hervor. »Inga Heidbrink, die Chefredakteurin und Mitinitiatorin der Weihnachtsaktion, hat mir heute in unserem Team-Meeting die Unterlagen übergeben. Hier steht alles drin, was du wissen musst. Ich hätte mich ja selbst darum gekümmert, aber zwischen den Vorstandssitzungen der B-Media-Group hatte ich kaum Gelegenheit, Luft zu holen. Dabei arbeite ich nebenbei ja auch noch an zwei längeren Artikeln für Zeitschritte, die bis Ende des Monats fertig sein müssen.«
»Konzernchef und gleichzeitig Journalist sind eben zwei Berufe, die sich nicht immer gut vertragen«, Elena zwinkerte ihm lächelnd zu, nahm ihm den Umschlag ab und riss ihn auf. Er enthielt mehrere Bögen, die dicht mit Informationen bedruckt waren. Rasch überflog sie das Schreiben, dann sah sie wieder ihren Bruder an. »Übermorgen schon? Das ging jetzt aber schnell. Ich hab ja noch gar nicht gepackt.«
»Ich dachte, du hättest noch gar nicht ausgepackt.« Bedeutungsvoll blickte Carsten sich um.
»Stimmt, aber ich werde wohl kaum alle meine Sachen mitnehmen, also muss ich umpacken.« Elegant zog sie ihre Füße auf die Couch. »Das wird ein Spaß. Endlich eine Aufgabe, die wirklich sinnvoll ist. Nicht, dass mein Modelabel das nicht wäre, aber ... ach, du weißt schon.«
»Sinnvoll ist sie und ich hoffe wirklich, du kommst damit klar. Es wird bestimmt nicht einfach.«
»Einen Witwer und seine beiden Kids aufzumuntern und ihnen ein bisschen das Leben zu erleichtern? Was kann daran schwierig sein?«
»Elena.« Carsten seufzte und rieb sich übers Kinn. »Das ist keine deiner üblichen Spielwiesen und auch keine Werbeaktion oder so was. Hier geht es um ernsthafte Unterstützung für Familien, in denen ein Elternteil wegen Krankheit ausgefallen oder verstorben ist.«
Elena hob die Schultern. »Das ist mir bewusst.«
»Es kann sein, dass deine ... etwas, ähm, überschwängliche Art nicht gleich auf Gegenliebe stößt.«
»Meine was?« Elena gluckste, dann lachte sie hell auf. »Sag doch gleich, dass ich ein ausgeflippter Paradiesvogel bin.«
»Skandalnudel sagt Pap dazu.«
»Na ja, wo er recht hat ... Obwohl ich mich seit ... du weißt schon, aus allen Klatschblättern herausgehalten habe. Es reicht mir erst mal, deshalb wollte ich ja auch keine Pressebegleitung.« Sie schob den Brief nachlässig in den Umschlag zurück. Später war noch genügend Zeit, sich damit näher zu befassen. »Was ist abgesehen davon falsch daran, ein bisschen ausgeflippt zu sein? Geschadet hat es mir bisher nicht.«
»Stimmt.« Carsten legte ihr eine Hand auf den Arm. »Aber vermutlich nur, weil du neben deinen diversen Allüren auch einen messerscharfen Geschäftssinn besitzt.«
»Allüren?« Sie hob amüsiert die Brauen.
»Wie würdest du es denn nennen?«
Sie grinste. »Special Effects.«
Carsten lachte. »Die nicht selten zu unplanmäßigen Explosionen führen.«
»Besser ein explosives Leben als gar keins.«
»Hoffentlich sieht das Herr Kilian genauso. Du weißt, dass er immer noch ablehnen kann, wenn du ihm nicht gefällst.«
»Bisher habe ich noch jedem Mann gefallen – wenn ich es darauf angelegt habe.« Elena klimperte übertrieben mit den Wimpern. Als sie den Ausdruck auf dem Gesicht ihres Bruders sah, hob sie beschwichtigend die Hände. »Du weißt schon, was ich meine. Ich bin nett. Wirklich. Und ich werde mir Mühe geben, nicht zu sehr auszuflippen. Es wird schon gutgehen.«
»Wie du meinst.« Carsten schüttelte mit einem halben Lächeln den Kopf. »Dir zu widerstehen, dürfte ihm tatsächlich schwerfallen, fürchte ich.«
»Was ist an mir zu fürchten?«
»Nicht an dir. Nur an dem Chaos, das dich überall hin begleitet. Stell die Familie bitte nicht komplett auf den Kopf.«
»Hast du Angst, sie könnten sonst am Ende der zwei Monate nicht mehr auf mich verzichten wollen?« Elena schmunzelte. »Keine Sorge, so weit wird es schon nicht kommen.«
4. Kapitel
 
»Santa Claus, was in aller Welt stellst du jetzt schon wieder an?«
Mit in die Hüften gestemmten Händen betrat Santas Frau das Büro des Weihnachtsmanns und runzelte beim Anblick des Besuchers die Stirn. »Christkind, du bist auch hier? Hätte ich mir ja denken können, dass ihr wieder mal unter einer Decke steckt. Sagt mir bitte nicht, dass ihr wieder um einen Weihnachtswunsch gewettet habt.«
»Aber nicht die Spur, meine Liebe.« Huldvoll lächelnd trat das Christkind auf sie zu. »Mach dir bitte keine Sorgen. Diesmal arbeiten wir zusammen, um einen besonders wichtigen Wunsch zu erfüllen. Schau her.« Mit ausholender Geste wies das Christkind auf die große Wand mit den unzähligen LCD-Bildschirmen, von denen bisher nur ein einziger eingeschaltet war. Über die Bildschirme konnte der Weihnachtsmann die wichtigsten Weihnachtswünsche, oder vielmehr die Menschen, denen er diese Wünsche erfüllen wollte, per Videoüberwachung beobachten. Elfe-Sieben, seine Assistentin, war gerade dabei, die noch ausgeschalteten Bildschirme mit einem Tuch und einer speziellen Pflegelotion zu säubern. »Santa und das Christkind haben eine ganz tolle Idee!«, zwitscherte sie vergnügt. »Ich bin schon sehr gespannt, wie das ausgehen wird.«
»Ich auch, das kannst du mir glauben.« Santas Frau hatte natürlich längst gesehen, was sich auf dem Bildschirm tat. »Elf-Zwei und Elfe-Acht sind eben von ihrem Kundschafterauftrag zurückgekommen und haben etwas von dieser Designerin erzählt und einem Witwer. Was habt ihr da wieder ausgeheckt?«
»Wir wollen nur zwei Menschen glücklich machen. Vier, wenn man die Kinder dazunimmt«, erklärte Santa Claus und stellte sich neben seine Frau. Liebevoll legte er ihr einen Arm um die Hüfte. »Du musst unbedingt den Brief der kleinen Sabrina lesen, dann wirst du mir zustimmen, dass ihr Wunsch höchste Priorität hat.«
»Das mag ja sein, aber ausgerechnet diese Elena?« Skeptisch beobachtete sie, was sich auf der Erde gerade ereignete. »Wessen Idee war das denn? Deine, Christkind?«
»Ich finde sie sehr gelungen.«
»Mhm, dann überlegt euch aber auch einen Plan B, falls das hier nicht klappen sollte.«
»Bisher konnte ich noch immer alle Wünsche erfüllen«, protestierte Santa. »Ich weiß gar nicht, was du hast. Diesmal hilft mir das Christkind sogar dabei. Da kann doch überhaupt nichts schiefgehen.«
»Hast du vergessen, was in den vergangenen Jahren alles schiefgegangen ist?« Besorgt schüttelte Santas Frau den Kopf. »Deinen Optimismus möchte ich haben.« Plötzlich stutzte sie. »Moment mal, wer ist das denn? Etwa die kleine Lulu?« Auf dem Bildschirm hatte der Schauplatz gewechselt und nun war eine hübsche hellbraune Cockerspanieldame zu sehen, die neben einem Baby auf einer Decke in einem Wohnzimmer saß und offenbar sehr ernsthaft über den Schlaf des kleinen Mädchens wachte. »Gehört sie etwa auch zu deinem Plan?«
»Wir dachten daran, sie für unsere Zwecke einzuspannen«, bestätigte das Christkind. »Ich bin sicher, sie wird uns gerne helfen.«
»Na ja, wenn das so ist ...« Nun endlich lächelte auch Santas Frau. »Wenn ein Hund im Spiel ist, sind die Chancen ja deutlich besser, dass ihr euch nicht blamiert. Seid bitte trotzdem vorsichtig und wachsam. Man kann nie wissen, wie die Menschen reagieren.«
»Ach was, es wird schon alles gutgehen, so wie immer.« Der Weihnachtsmann küsste sie auf die Wange. »Bis jetzt läuft jedenfalls alles nach Plan.«
»Und was für ein Plan ist das überhaupt?«
»Das erklären wir dir gerne.« Das Christkind zog einen Stuhl heran und bedeutete ihr, sich zu setzen. »Pass auf, wir haben alles ganz akribisch vorbereitet ...«
5. Kapitel
 
»Das ist jetzt wohl nicht dein Ernst!« Entgeistert starrte Steffen seine Schwester an. »Du hast was?«
»Dir eine Haushaltshilfe besorgt. Na ja, keine Putzfrau oder so, die hast du ja schon, sondern eher eine Nanny.« Annalenas Miene glich der vollkommener Unschuld. »Da gibt es doch diese Aktion des Magazins Zeitschritte. Die arbeiten mit dem Jugendamt und mehreren sozialen Einrichtungen zusammen und vermitteln Leute, die in Familien aushelfen, in denen ein Elternteil nicht mehr da ist. Ich dachte, das könnte euch auch mal guttun, wieder eine Frau im Haus zu haben.«
»Wir haben doch dich.« Steffen schüttelte noch immer fassungslos den Kopf.
»Ich muss mit meinem neuen Buchprojekt anfangen. Im April ist Abgabetermin und ich habe noch Berge zu recherchieren. Ganz zu schweigen von der Ausarbeitung des ... Ach, Steffen, du weißt, dass ich immer gerne einspringe, aber ich muss auch an meinen Beruf denken, sonst werde ich irgendwann verhungern, weil ich kein Geld verdiene. Vor ein paar Wochen habe ich zufällig von der Aktion gelesen und ganz spontan beschlossen, eine Bewerbung für euch einzureichen.«
»Ich finde das toll.« Jan saß auf einem der dunkelblauen Ledersessel im Wohnzimmer und spielte einhändig mit seiner Switch. »Was ist das denn für eine Frau?«
Annalena räusperte sich. »Sie heißt Elena und ist eine sehr erfolgreiche Mode-Designerin, die sich extra zwei Monate Zeit nimmt, um euch hier zu helfen.«
»Elena?« Steffens Augen weiteten sich. »Elena? Etwa Elena Gante, diese Skandalnudel?«
»Mit richtigem Namen heißt sie Elena Braumann. Elena Gante ist doch nur ihr Künstlername und natürlich der ihres Modelabels.« Vorsorglich zog Annalena ein wenig den Kopf ein. Sie hatte zunächst auch nicht damit gerechnet, dass diese bekannte Designerin, die oft in den Klatschblättern zu sehen war, bei der Aktion mitmachen und sich ausgerechnet auf diese Stelle bewerben würde. Aber ihr Anschreiben war sehr nett gewesen und irgendwie fröhlich. Gar nicht hochnäsig oder abgehoben, deshalb hatte Annalena sich spontan entschieden, ihr eine Chance zu geben. Steffen sah allerdings nicht so aus, als könnte er sich mit dieser Wahl anfreunden.
»Du lädst sie wieder aus. Wir brauchen kein Schickimicki-Mäuschen, das unseren Haushalt auf den Kopf stellt.«
»Also für ein Mäuschen halte ich sie nicht gerade.« Annalena bemühte sich, ruhig ihre Argumente vorzubringen. »Immerhin ist sie schon Mitte dreißig und eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Seit ihrer Scheidung von diesem Brauereibesitzer ist sie auch gar nicht mehr in der Presse aufgetaucht. Sie schrieb mir in ihrer Bewerbung, dass sie sich jetzt aus der Öffentlichkeit zurückziehen und mehr sozialen Projekten widmen möchte. Und dass sie sich darauf freut, euch hier auszuhelfen und die Vorweihnachtszeit gemütlich und stressfrei zu gestalten.«
»Stressfrei? Diese ... Person?« Steffen verdrehte die Augen. »Was hast du mir da bloß eingebrockt? Hättest du mich nicht zuerst fragen können?«
»Das hat sie nicht gemacht, weil du sonst gleich nein gesagt hättest.« Sabrina, die ebenfalls mit einer Hand die Steuerung der Switch bediente, grinste über die Schulter. »Jetzt kannst du das nicht mehr machen.«
»Und wie ich das kann.« Verärgert verzog Steffen die Lippen. »So einen Quatsch kann ich jetzt nicht brauchen. Dazu habe ich viel zu viel am Hals.«
»Genau deshalb kommt sie ja her«, erklärte Annalena geduldig. »Damit sie dich ein bisschen entlasten kann. Ich habe das Gästezimmer schon für sie vorbereitet und auch schon den gesamten Papierkram erledigt. Du musst zwar auch noch unterschreiben, aber das eilt jetzt nicht so. Heute ist sowieso Freitag und vor Montag brauchen wir die Papiere gar nicht abzugeben.«
»Sie soll hier einziehen?« Steffen schnappte nach Luft.
»Für die nächsten zwei Monate«, bestätigte sie.
»Du spinnst wohl!«
»Nein, überhaupt nicht. Sie soll ja ...« Annalena unterbrach sich, als der melodische Türgong erklang. »Oh, das wird sie schon sein.«
»Was? Ich glaube, mein Schwein pfeift! Sie kommt heute schon hierher? Jetzt?«
»Ich geh schon!« Wie der Blitz war Sabrina aufgesprungen, hatte die Steuerung der Switch auf den Couchtisch gepfeffert und war bereits auf dem Weg zur Haustür, bevor Annalena oder Steffen reagieren konnten. Jan folgte ihr auf dem Fuße.
Annalena beeilte sich, ebenfalls hinaus in die Diele zu kommen, doch da hatte Sabrina die Tür bereits geöffnet.
»Hallo. Sind Sie Elena? Sie sind aber hübsch!« Das Mädchen sah mit großen Augen zu der blonden Erscheinung auf, die, in einen flauschigen, weißen Plüschmantel gehüllt, auf der Türschwelle stand.
»Hallo zurück. Du musst Sabrina sein.« Elenas Stimme klang angenehm. Nicht zu hell und samtig weich. »Du bist aber auch eine ganz Hübsche.« Ihr Blick wanderte über den Kopf des Mädchens hinweg ins Innere des Hauses und traf auf den von Annalena. »Guten Tag.«
»Guten Tag, Frau Braumann.« Annalena trat rasch auf sie zu und streckte die Hand aus. »Ich bin Annalena Kilian. Wir hatten E-Mails ausgetauscht.« Elenas Händedruck war warm und fest. »Herzlich willkommen in unserer Räuberhöhle. Oder vielmehr in der meines Bruders und seiner beiden kleinen Monsterchen.« Sie legte Sabrina eine Hand auf die Schulter und sah sich nach Jan um, der in etwas Abstand stehengeblieben war und Elena anstaunte. »Kommen Sie doch herein. Sind Sie mit dem Auto da?« Annalena warf einen Blick durch die Tür und sah einen nagelneuen weißen SUV in der Auffahrt parken. »Mein Bruder Steffen wird Ihnen nachher beim Hereintragen Ihres Gepäcks helfen.«
»Danke.« Elena betrat das Haus und sah sich neugierig um. »Schön ist es hier. So freundlich und hell.«
»Sie sehen ja aus wie eine von Sabrinas Barbies«, entfuhr es Jan, der noch immer wie festgewachsen auf der gleichen Stelle stand.
»Jan!« Tadelnd schüttelte Annalena den Kopf. »Was redest du denn da? Willst du Frau Braumann nicht erst mal höflich begrüßen?«
»Ja, klar. Hallo.« Nun kam der Junge doch ein paar Schritte näher.
»Hallo Jan. Nett, dich kennenzulernen.« Elena schenkte dem Jungen ein hinreißendes Lächeln, das vermutlich sogar Steine zum Zerfließen hätte bringen können.
Annalena musterte die Frau unauffällig. Jan hatte recht, sie wirkte wie eine zum Leben erwachte Barbiepuppe. Auf ihren hochhackigen Stiefeletten war sie annähernd einen Meter achtzig groß, schlank und mit beneidenswerten Kurven an genau den richtigen Stellen. Ihre langen Beine steckten in hellgrauen, mit Nieten und Stickereien verzierten Designerjeans ihres eigenen Modelabels. Das seidige, blonde Haar fiel ihr duftig auf die Schultern und umrahmte ein geradezu skandalös ebenmäßiges Gesicht mit hohen Wangenknochen, großen graublauen Augen und vollen Lippen. Sie war nur dezent geschminkt, doch so vorteilhaft, dass sie wirkte wie gerade aus einer Plakatwerbung für den frischen Frühlingsmorgen entstiegen.
»Darf ich Ihnen den Mantel abnehmen?« Annalena streckte erneut eine Hand aus und warf kurz einen Blick über die Schulter zu ihrem Bruder. Steffen stand im Durchgang zum Wohnbereich, mit der Schulter gegen einen Mauervorsprung gelehnt, die Arme verschränkt. Sein Blick war in einer Mischung aus Misstrauen und Verblüffung auf Elena gerichtet.
»Das ist sehr nett.« Elena schälte sich anmutig aus dem Mantel und reichte ihn Annalena. Dabei machte sie zwei Schritte vorwärts. Plötzlich geriet sie ins Schlingern und fuchtelte hektisch mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten. Sie stieß einen erschrockenen Laut aus und landete im nächsten Moment unsanft auf ihrem Hinterteil. Eines von Jans Matchbox-Autos schoss ein Stück über den bunten Läufer und knallte gegen Jans Fuß.
Für einen langen Moment war es totenstill. Annalena starrte erschrocken auf die Frau am Boden. Als sie sich wieder fing und ihr zu Hilfe eilen wollte, hörte sie zu ihrer Überraschung Elena herzlich auflachen. Verblüfft hielt sie inne.
»Na, so was!« Elena machte keine Anstalten aufzustehen. Stattdessen beugte sie sich vor und angelte nach dem kleinen schwarzen Auto. »Was ist das denn? Ein Porsche 911? Sie blickte zu Jan auf, dessen Gesicht sich puterrot verfärbt hatte. »Gehört der dir?«
»Ähm, ja, ähm, Tschuldigung. Den hab ich total vergessen ...«
»Schicker Schlitten. Mein Bruder wollte sich mal so einen kaufen.«
»Echt?« Jan starrte sie an.
»Ja.« Elena sah lächelnd zu dem Jungen hoch. »Aber dann war ihm der Wagen doch zu teuer. Und unpraktisch ist er auch. Mein Bruder ist nämlich im Sommer Vater geworden und da braucht man eher eine Familienkutsche als einen Sportwagen.« Grinsend streckte sie die Hand in Jans Richtung aus. »Hilfst du mir aufzustehen?«
»Äh, ja, klar.« Jan ergriff Elenas Hand, und obwohl er gar nicht die Kraft hatte, sie hochzuziehen, brachte sie es fertig, so aufzustehen, dass es aussah, als habe er sie auf die Füße gezogen.
»Danke, Jan. Du bist ja ein echter Gentleman.« Vollkommen unbefangen und ohne den geringsten Ärger über den kleinen Vorfall zu zeigen, betrachtete Elena Jans eingegipste linke Hand. »Was hast du denn da angestellt? Boxkampf?«
Jan grinste schief. »Nö, der Jonathan ist auf meine Hand draufgefallen. Beim Fußballtraining.«
»Autsch!«
»Ja.« Der Junge nickte. »Hat ziemlich wehgetan.«
»Da sind ja noch gar keine Verzierungen drauf.«
»Was für Verzierungen?« Fragend sah Jan zu ihr auf.
Elena lächelte. »Na, der Gips muss doch verziert werden. Angemalt. Darin bin ich Meisterin. Ich hatte nämlich schon dreimal einen Gips.«
»Echt, dreimal? An der Hand?« Seine Augen wurden kugelrund.
»Nein, einmal am Arm, blöderweise auch noch rechts. Damals war ich acht und bin mit dem Fahrrad gestürzt. Dann, als ich zwölf war, habe ich mir beim Skifahren das Bein gebrochen. Seitdem kriegen mich keine zehn Pferde mehr auf ein Paar Skier. Und das dritte Mal ...« Sie zögerte. »Das sollte ich eigentlich nicht erzählen, weil es peinlich ist und kindisch.« Sie zuckte die Achseln. »Da war ich schon fünfundzwanzig und geriet in einen bösen Streit mit einer Frau, die meine erste Kollektion von Abendkleidern beleidigt hatte. Erst bin ich ja noch ruhig geblieben, aber sie hat mich immer weiter provoziert und, na ja, ich war ein wenig angetrunken. Das Ganze ist nämlich auf einer Party passiert. Irgendwann bin ich ausgeflippt und hab ihr eine gescheuert. Mit der Faust.«
Jan stieß einen überraschten Laut aus, Sabrina kicherte.
»Und, haben Sie sie umgehauen?« Sabrina hing erwartungsvoll an Elenas Lippen.
»Sabrina!« Annalena schüttelte empört den Kopf.
Elena nickte. »Allerdings. Dafür musste ich später Sozialstunden leisten. Was auch vollkommen okay war, denn man schlägt keinen Menschen, auch wenn er einen zur Weißglut bringt. Allerdings hab ich mir dabei die Hand gebrochen. Ihr glaubt nicht, wie hart ein Kopf ist, wenn man dagegen boxt. Und wieder mit rechts, ich konnte wochenlang nicht arbeiten!«
»Cool!« Für Jan hatte Elena offensichtlich bereits Heldenstatus erreicht.
»Nein, nicht cool. Die Sache ist mir jahrelang in der Klatschpresse nachgetragen worden. Manchmal wird sie heute noch aufgewärmt.« Erneut erschien ein Lächeln auf Elenas Lippen. »Aber zumindest habe ich seither einiges an Übung im Verschönern von Gipsverbänden. Wenn du möchtest, helfe ich dir dabei. Ich brauche nur ein paar wasserfeste Stifte dazu.«
»Au ja! Jetzt gleich?« Jans Augen funkelten erwartungsvoll.
»Vielleicht lässt du mich zuerst mal deinen Vater begrüßen.« Elena trat nun endlich auf Steffen zu, der nach wie vor schweigend am Mauervorsprung lehnte, sich nun aber aufrichtete, als sie ihm ihre Hand hinhielt. »Sie müssen Herr Kilian sein. Sehr erfreut.«
»Mhm. Guten Tag.« Steffen ergriff zögernd ihre Hand und runzelte die Stirn. »Wir ... Ich hatte Sie nicht so rasch hier erwartet. Meine Schwester hat es verabsäumt, mir mitzuteilen, dass sie Sie hier ... eingestellt hat.«
»Tatsächlich?« Überrascht sah Elena Annalena an, die daraufhin etwas hilflos die Schultern hob.
»Ja, also, das war eine taktische Entscheidung. Steffen glaubt nicht, dass er Entlastung braucht, ich hingegen schon.«
»Ich auch!«, rief Jan.
»Und ich auch«, fiel Sabrina mit ein.
Nachdenklich blickte Elena von einem zum anderen, dann nickte sie leicht. »So ist das also. Ein Anschlag auf das Familienoberhaupt.« Sie lächelte Steffen zu. »Das tut mir leid. Ich hoffe, Sie können sich trotzdem mit dem Gedanken anfreunden, mich für ein Weilchen im Haus zu haben. Ich würde wirklich gerne helfen.«
 
***
 
Steffen war sich alles andere als sicher, was er von der Situation halten sollte. Während er noch überlegte, was er auf Elenas Worte sagen sollte, fiel ihm auf, dass er noch immer ihre Hand in der seinen hielt, und ließ sie rasch los. Ihr Händedruck war überraschend fest und entschlossen gewesen. Und trotzdem sanft. Sicherheitshalber verschränkte er die Arme wieder vor der Brust. Ein Hauch teuren Parfüms wehte ihn an, während ihr Blick offen und erwartungsvoll auf ihm ruhte. Ihre Augen waren von einem klaren, funkelnden Graublau, ihre hell rosa geschminkten Lippen zu einem betörenden Lächeln verzogen, das seinen Blutdruck unwillkürlich ansteigen ließ. Am liebsten hätte er sie gleich wieder vor die Tür gesetzt. Schon ihre bloße Gegenwart ließ sämtliche Alarmglocken in seinem Kopf schrillen. »Mir scheint, ich wurde soeben überstimmt«, antwortete er schließlich etwas lahm. Zwar hatte sie ihn mit ihrer Reaktion auf den Matchbox-Autounfall gleich in Erstaunen versetzt, ebenso mit ihrer offenen Art, über vergangene Untaten zu sprechen, doch das hatte bestimmt nichts weiter zu bedeuten. Selbst, wenn er sie nicht gleich wegschickte – eine Frau wie diese würde es auf keinen Fall länger als einen oder zwei Tage bei ihnen aushalten. Ganz ausgeschlossen.
»Kommen Sie, Frau Braumann, gehen wir ins Wohnzimmer.« Annalena wies auf den Durchgang. »Dort ist es gemütlicher.«
»Ja, kommen Sie!« Sabrina nahm spontan Elenas eine Hand, Jan ihre andere und gemeinsam führten sie die Besucherin zur Couch.
»Zwei Fans hat sie schon«, flüsterte Annalena amüsiert.
Steffen runzelte etwas ungehalten die Stirn. »Dabei wird es auch bleiben.«
»Warum? Sie ist doch nett.«
»Nett? Schau sie dir doch mal an!« Er selbst tat dies gerade eingehend, zumindest ihre kurvige Rückansicht, die in hautengen Jeans und einem ebenfalls eng anliegenden schwarz-rosa gemusterten Pullover gehüllt war, der hinten einen kleinen, vorne einen deutlich tieferen V-Ausschnitt besaß, der ihre Figur hervorragend in Szene setzte, ohne billig zu wirken. Er ertappte sich dabei, dass er den sanften Schwung ihrer Hüften bewunderte und, als sie sich umdrehte und auf der Couch niederließ, den ihrer vollen Brüste. Entsetzt riss er sich zusammen. Das fehlte noch, dass er sich von ihrer schönen Larve beeindrucken ließ und sich benahm wie ein Spätpubertierender.
»Ich weiß nicht, was du hast. Sie scheint doch ganz in Ordnung zu sein. Gib ihr eine Chance. Ihr Brief war wirklich nett und so, wie es aussieht, kann sie gut mit Kindern umgehen.«
»Ach ja?« Entschlossen, seiner Schwester das Gegenteil zu beweisen, ging er ebenfalls ins Wohnzimmer und setzte sich Elena gegenüber auf einen Sessel. »Warum haben Sie sich denn für diese ... Aktion beworben? Sie führen doch eine eigene Modefirma, oder nicht?«
»Ja, das stimmt. Aber Elena Gante kann auch mal ein Weilchen ohne mich auskommen. Falls es brennen sollte, kann meine Assistentin mich jederzeit übers Handy oder per E-Mail erreichen.« Elena schlug ein Bein über das andere; eine ganz normale Bewegung, die bei ihr jedoch ausgesprochen erotisch wirkte.
Steffen richtete seinen Blick starr auf ihr Gesicht. »Sie überlassen die Leitung anderen?«
»Weitgehend. Ich wollte schon immer am liebsten meine Kleider designen. Um die Produktion und Vermarktung kümmern sich Spezialisten, oder zumindest meistens. Die wichtigen Entscheidungen müssen stets erst über meinen Schreibtisch gehen. Auf diese Weise halte ich die Fäden in der Hand, habe aber genügend Freiraum für mein kreatives Arbeiten.«
So erfolgreich, wie ihr Unternehmen war, zweifelte er nicht daran, dass sie gute Leute um sich geschart hatte. Und sie wirkte alles andere als dumm. Wahrscheinlich steckte sogar eine knallharte Geschäftsfrau hinter der schillernden Fassade. Ganz sicher aber keine Familienfrau. »Wie man hörte, sind Sie geschieden.« Er musterte sie sehr eingehend. »Und Sie haben keine Kinder. Verzeihen Sie die Frage, aber haben Sie überhaupt eine Ahnung von Kindererziehung?«
Elena erwiderte seinen Blick ruhig und offen. »Nicht die Spur.« Sie lachte ein samtiges Lachen, das die Härchen auf seinen Armen dazu brachte, sich aufzustellen. »Ganz ehrlich? Ich habe nie viel mit Kindern zu tun. Was schade ist, denn neuerdings entwerfe ich auch Kleider für Jungen und Mädchen ab acht. Hin und wieder treffe ich natürlich unsere Kindermodels, wenn ich Schnittmuster anfertige oder bei der Produktion des Katalogs. Nun ja, und dann ist da natürlich noch meine süße Nichte Kristina, die ich besuche, so oft ich kann. Sie ist jetzt fünf Monate alt, da ist es mit der Erziehung noch nicht so weit her.« Wieder lachte sie. »Aber auch wenn es mir an Erfahrung mangelt – ich war immerhin selbst mal ein Kind.«
Er war erneut überrascht über ihre unbeschwerte Offenheit. »Das waren wir wohl alle mal. Inwiefern halten Sie das für eine Qualifikation?«
»Tja, ich erinnere mich noch gut daran, was ich damals toll fand und was Spaß gemacht hat.« Sie zwinkerte Sabrina und Jan zu. »Da ich inzwischen erwachsen bin, kann ich unterscheiden, was davon man gefahrlos wiederholen kann und was nicht.«
Fast hatte Steffen gelacht. Nur fast. Er hielt sich gerade noch zurück. Diese Frau wusste, wie man sich verkauft, das stand fest. Er weigerte sich jedoch strikt, darauf anzuspringen. »Können Sie kochen?«
»Das Nötigste. Leider hatte ich in den vergangenen Jahren nicht viel Gelegenheit zum Üben, aber das kriegen wir schon hin. Im Improvisieren bin ich einsame Spitze.«
»Tatsächlich. Kennen Sie sich mit Erster Hilfe aus?«
»Steffen!« Annalena starrte ihn verärgert an. »Was willst du denn noch alles ...?«