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Endlich! Der neue Eichendorff. Inmitten von Weinbergen wird ein berühmter Schlagersänger erhängt an einer Autobahnbrücke gefunden. Besonders merkwürdig: Sein weißes Hemd ist weindurchtränkt. Schneller, als ihm lieb ist, steckt Sternekoch und Hobbydetektiv Julius Eichendorff mittendrin in einem neuen Fall. Doch die Spuren, die von Naturwein-Winzern über verschmähte Stalkerinnen bis zu weinseligen Schlagerfans führen, machen es Julius' Spürnase nicht leicht. Und dann ist da noch seine Kusine Annemarie, die dem Toten auf ihre ganz eigene Weise huldigt ...
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Seitenzahl: 392
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Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Im Anhang finden sich Rezepte.
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© 2019 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: istockphoto.com/SarapulSar38
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-527-5
Kulinarischer Kriminalroman
Originalausgabe
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Für Vanessa,die Julius so in ihr großes Herz geschlossen hat
Schläft ein Lied in allen Dingen,Die da träumen fort und fort,Und die Welt hebt an zu singen,Triffst du nur das Zauberwort.
Joseph von Eichendorff
Ein Lied kann eine Brücke sein,Komplett mit Pfeilern und BordsteinLass dich niemals einfach hängenZu diesen supertollen Klängen.
Christian See
»Ich werde dich unsterblich machen.«
Seine Pupillen weiten sich, die Schwärze in seinem Inneren zeigt sich.
»Dir bleibt nur noch wenig Zeit auf dieser Welt«, ergänze ich.
Er windet sich, spannt jeden Muskel an, um eine Schwäche in den Knoten auszunutzen. Aber es gibt keine.
Auch der Knebel in seinem Mund sitzt fest. Die Hilferufe erklingen als dumpfes Brummen.
Niemand soll ihn hören. Das ist wichtig. Es muss stumm geschehen.
In aller Friedlichkeit.
Eine starke Böe hebt mich fast von den Beinen, hier oben jagt der Wind wild und frei.
Ich kontrolliere ein letztes Mal die strammen Seile, den festen Knebel, den Knoten am Galgenstrick. Mit sechs Wicklungen, wie es die U.S. Army in ihrem »Procedure for Military Executions« festgelegt hat.
Seine Augen flehen mich an. Selbst im trüben Mondlicht kann ich erkennen, dass etliche Äderchen darin geplatzt sind und es aussieht, als hätte man rote Tinte hineingeträufelt. Es gefällt mir, denn ich will, dass er Angst hat, eine Angst, die ihn von innen verbrennt, die er in jeder Zelle seines Körpers heiß spürt.
Als ich über die Brüstung hinunterblicke, wird mir schwindelig. Die Tiefe hat einen enormen Sog, sie stößt ab und ruft zugleich. Ich hebe meinen Blick über das schlafende Tal; es ist nur von wenigen kleinen Lichtern erhellt und liegt dort in die Senke geschmiegt wie ein lang gestrecktes Tier.
Er versucht wieder, sich fortzuwinden, denkt, es gäbe noch eine Möglichkeit zur Flucht. Dabei ist sein Ende längst beschlossen, unwiderruflich.
Ich nicke, mehr zu mir selbst.
»Es ist so weit«, sage ich und bin selbst verwundert, wie weich, wie mitfühlend meine Stimme klingt. Als würde ich ihm mit den Silben sanft über den Kopf streicheln. Nein, ich habe keinerlei Zweifel, fühle keine Reue.
Er zappelt wie ein Aal, als ich ihn an den Rand der Fahrbahn ziehe. Wenn er sich so viel bewegt, werde ich ihn nicht hinüberwuchten können. Deshalb trete ich ihn in die Magengrube, mehrmals. Er krümmt sich zusammen, und ich hebe ihn hoch. Schwer ist er, ich spüre meinen unteren Rücken, der mir bei großen Lasten immer Probleme macht.
Nur noch ein kleiner Stoß.
Der das Leben vom Tod trennt.
Manchmal ist es so wenig, was den Unterschied ausmacht. Meine Hände legen sich auf seinen Rücken.
Ich drücke.
Dann ist er fort.
Aus meinem Blick.
Aus dieser Welt.
Er fällt lange. Jede Sekunde mehr ist wie ein Geschenk für mich.
Ich höre das Knacken seines Genicks weit unter mir.
Das Landleben ist friedlich.
Leider hatte man vergessen, das dem Ahrtal mitzuteilen.
Und so verhielt es sich trotz seines Alters von mehreren Millionen Jahren immer noch wie ein bockiger Teenager, der darauf bestand, Großbrände und Überschwemmungen zu bekommen, vor allem aber regelmäßig Morde.
Als an diesem Morgen die Sonne wie eine pralle Aprikose über dem kleinen Tal aufstieg, war es wieder einmal so weit.
Der gerade in seinem Himmelbett aufwachende Julius Eichendorff wollte dagegen genau eines nicht: Morde. Er hatte in den letzten Jahren zu viele aufklären müssen. Dabei war er Koch, und zwar aus vollem Herzen sowie aus vollem Magen und aus voller Leber auch. Eigentlich war sein ganzer Körper voll dabei. An diesem hatte er über die Jahre konsequent Extraplatz geschaffen, damit möglichst viele Leckereien hineinpassten. Seine Hüften bestanden eigentlich komplett aus Nuss-Schokolade.
Julius’ zweiter Wunsch war es, aufzustehen, ohne seinen Kater Felix zu wecken, der es sich auf ihm bequem gemacht hatte, und seine Frau Anna, die wie immer ein Bein über ihn legte. Eine Art Aufstehsperre. Julius bewegte sich ganz sachte, es würde gelingen, er spürte es.
»Machst du mir einen Kaffee?«, kam es brummelnd von der rechten Bettseite. Von dort sah ihn sein anderer Kater Herr Bimmel mit großen Augen an. Doch Julius war sich sicher, dass der Kater nicht plötzlich mit dem Kaffeetrinken beginnen wollte. Herr Bimmel gähnte, streckte die Vorderpfoten aus und machte genüsslich einen Katzenbuckel.
»Und gib mir vorher einen Kuss, ist schließlich Morgen, da steht mir einer gesetzlich zu.«
Der Plumeau-Berg bewegte sich, mit einem völlig unbeeindruckt darauf liegenden Herrn Bimmel, und Annas Gesicht erschien, von Kopfkissenabdrücken geziert, die Lippen gespitzt.
»Große Tasse«, sagte sie nach dem Kuss. »Viel Milch.«
»Ist ja nicht der erste Kaffee, den ich für dich zubereite.« Julius steckte die Füße in seine Puschen.
»Ja, aber du machst ihn immer wieder falsch.«
»Mit viel Milch schmeckst du doch gar nix vom Kaffee.«
»Oh wohl, ich bin eine Frau. Wir haben einen besseren Geschmackssinn als ihr Männer.« Sie streckte ihm die Zunge heraus.
»Hätte ich dir das doch bloß nie erzählt …«
»Tja, jetzt ist’s zu spät.«
Julius schlurfte ins Badezimmer, durch dessen Fenster die Morgensonne penetrant hereinschien.
»Du sollst mir doch einen Kaffee machen«, rief Anna vom Bett. »Zur Küche geht es nach unten.«
»Ich werde keiner edlen Kaffeebohne ungewaschen gegenübertreten«, antwortete Julius. »Sie haben nicht den weiten Weg von Äthiopien ins Ahrtal auf sich genommen, um so etwas sehen zu müssen.«
»Auch wieder wahr. Ich gestatte dir, dich zu säubern.«
»Du bist ein Engel.«
»Sowieso.«
Julius hatte nicht gehört, wie Herr Bimmel hereingekommen war, aber jetzt saß er auf dem Klodeckel und blickte ihn interessiert an. Auf dem Rand der Badewanne balancierte Kater Felix, der eigentlich eine Katze war, was Julius aber erst nach der Taufe erfahren hatte. Den Namen behielt er der Einfachheit halber. Bisher hatte Felix sich noch nicht darüber beschwert. Und die anderen Heppinger Katzen verspotteten ihn dafür anscheinend auch nicht.
Julius wusch sich die Hände, das Gesicht und stellte die Uhr für die Zahnpflege. Dann bemerkte er, dass beide Kater fasziniert zum Fenster blickten.
Und ihre Köpfchen leicht rhythmisch bewegten.
Zu sehen war aber nichts.
Das heißt …
Das Sonnenlicht schien sich in regelmäßigen Abständen kurz zu verdunkeln.
Die beiden Kater machten sich auf den Weg zum Fensterbrett, wo Anna ihre Pflegeprodukte aufbewahrte, von denen Julius weder wusste noch wissen wollte, wofür sie eigentlich gut waren. Auch den Katern schienen sie herzlich egal zu sein, denn sie stießen beim Hinaufkraxeln etliche davon zu Boden.
»Was veranstaltest du da im Bad?«, rief Anna.
»Nix, das sind die Kater.«
»Ja, klar. Es sind immer die Kater. Ich will jetzt endlich Kaffee. Und Rührei.«
»Sonst noch was?« Julius trat näher ans Fenster.
»Speck! Ich will auch Speck. Schön kross. Und Toast. Zwei Stück.«
Julius schaute hinaus. Seine Augen mussten sich erst an das grelle Morgenlicht gewöhnen, vor allem da er mitten hineinblickte. Die Sonne verdunkelte sich tatsächlich immer wieder für einen kurzen Augenblick. Als ob sie blinzelte.
Zuerst begriff er nicht, was da geschah, weil seine Augen nicht sehen konnten, was seine Hirnzellen sich nicht vorzustellen vermochten. Er sah die Ahrtalbrücke, so hoch wie ein zwanzigstöckiges Haus, er sah die Stahlbetonpfeiler und hinter ihnen die Sonne, deren morgendliche Strahlen dazwischen hindurchschienen.
Und er sah den Schatten.
Dann eine dünne gerade Linie, die oben an der Ahrtalbrücke ihren Anfang hatte und weit hinunterführte. Elegant bewegte sie sich hin und her, wie das Pendel einer großen Standuhr.
Geradezu beruhigend in ihrer Regelmäßigkeit.
Am Ende hing etwas, mit dem die Sonne neckisch spielte.
»Anna, kommst du bitte mal?«
»Lass mich schlafen, es ist Sonntag, ich hab frei.«
Julius wollte es ihr schonend beibringen, zärtlich. Morgens musste man sehr behutsam mit Anna umgehen. Bevor sich Koffein in ihrem Blut befand, war sie reizbarer als ein hungriges Wildschwein – was er mit diesen Worten, seinem Überlebensinstinkt folgend, allerdings noch nie gesagt hatte.
»Komm doch mal her, du kleines Hasenohr.«
»Hasenohr? Was soll der Blödsinn?« Ein Kissen wurde geworfen und schaffte es tatsächlich bis ins Badezimmer.
»Oh, Traum meiner schlaflosen Nächte. Tritt zu mir ans Fenster.«
»Tritt doch selbst ans Fenster! Solange ich keinen Kaffee und kein Rührei bekomme, stehe ich nicht auf.«
Julius seufzte. »Ich fürchte, du wirst keine Zeit dafür haben. Weder für Kaffee noch für Rührei noch für sonst irgendein Frühstück. Es gibt nämlich Arbeit.«
Sekunden später stand eine wütende Anna mit langem Schlaf-T-Shirt und wilder Frisur neben ihm.
In diesem Moment klingelte ihr Diensthandy. Dann ihr privates. Und der Festnetzanschluss des Hauses.
Julius zeigte nur stumm Richtung Fenster.
Herr Bimmel versuchte, den Schatten zu fangen, indem er gegen die Scheibe tatzte.
Es sah süß aus.
Anna streichelte ihm kurz über das Köpfchen und blickte dann hinaus.
Ihr stockte der Atem. »Ist das …?«
Es sah aus wie eine Marionette, deren Glieder leblos herabhingen.
Mittlerweile flog ein Hubschrauber darum, auf dem das Logo eines Fernsehsenders prangte.
»Ja, das ist deine Arbeit für die nächsten Wochen, Frau Hauptkommissarin.«
Es war Herbst, die Zeit des Vergehens, doch niemals war die Natur des Ahrtals praller, reifer, so voller Leben als in dieser Jahreszeit. Die Weinberge hingen voller Trauben, reife rote mit violetten Reflexen, süße goldene mit braunen Punkten wie Sommersprossen. Der Sommer war heiß gewesen, der heißeste, den das Tal je erlebt hatte, selbst jetzt noch schien die Hitze in den Böden und Reben zu stecken, gespeichert in Monaten des Sonnenbadens.
Der Morgen, in den Julius trat, war warm, der Wind nur leicht, die Luft erfüllt von den Sirenen der Polizeifahrzeuge, die auf der Brücke und im Tal zum Fundort der Leiche rasten.
Das weiß getünchte Restaurant »Zur Alten Eiche«, zu dem auch ein kleines Bistro namens »Eichenklause« gehörte, lag nur einen Katzensprung von Julius’ Haus entfernt an der Heppinger Landstraße. Mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet, war es weit über das Ahrtal hinaus bekannt. Herr Bimmel und Felix begleiteten Julius wieder einmal dorthin, ein Kater links, einer rechts, sodass sie wie eine gefährliche Straßengang aussahen. Allerdings eine mit kuscheligem Fell, die sich an jeder Hausecke rieb, um sie zu markieren.
Heute war das Restaurant geschlossen, doch Julius wollte probekochen. Genauer: probegrillen. Er hatte sich einen Holzkohlegrill besorgt und würde alles darauflegen, was ihm in die Finger kam.
Als er das dachte, verschwanden seine beiden Kater.
Julius versuchte angestrengt, nicht an die Leiche am Seil zu denken. Stattdessen an Gegrilltes. Gegrilltes statt Gehängtes. Aber er musste wieder einmal erfahren: Je mehr man an etwas nicht dachte, umso mehr dachte man daran. Das war bei Frauen so, die man sich aus dem Kopf schlagen wollte, traf aber auch auf Eissplittertorte zu. Und auf Tote.
Er wollte nicht mehr ermitteln.
Sagte Anna.
Er wollte sich ganz auf das Kochen konzentrieren.
Sagte sie.
Julius rammte den Schlüssel in die Hintertür der »Alten Eiche« und trat in die dunkle Küche, deren Neonlichter er durch einen Druck auf den Schalter flackernd aufleuchten ließ.
Hier in seinem Reich ging es ihm sofort besser. Seine Hand glitt über die Gasherde, den Dampfgarer, den Fleischwolf, den Standmixer und die Eismaschine, als seien es die Tasten eines teuren Flügels. Der Grill, in Form und Farbe an ein großes grünes Ei erinnernd, war eine brandneue Taste, die er erst einspielen musste.
Ein ganzer Tag allein in der Küche, ohne Termine, ohne Gäste, was für ein Luxus! Er würde ihn so was von genießen und dabei nicht ein Mal an die Leiche denken.
Julius öffnete den Grill, ohne an die Leiche zu denken, füllte Holzkohle ein, ohne über die Leiche nachzusinnen, und entzündete sie, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden.
Er würde als Erstes ein gut abgehangenes Stück Fleisch auf den Grill legen.
Julius merkte es nicht, aber er schlang eine Kordel um das Stück und ließ es über der Glut pendeln.
Fasziniert blickte er das kleine Kunstwerk an.
In diesem Moment stürmte Annemarie herein.
Julius’ zweiundsiebzigjährige Kusine war eine Naturgewalt, eine derjenigen, die ganze Dörfer dem Erdboden gleichmacht. Nichts konnte sich Annemarie in den Weg stellen. Tunnelarbeiten wären im Nu erledigt, würde man sie bitten, einfach geradeaus durch ein Gebirge zu gehen.
»Mit Essen spielt man nicht!«, sagte sie statt einer Begrüßung, griff sich eine Schere von der Wandhalterung und schnitt die Kordel durch. »Das arme Stück Fleisch kann einem ja richtig leidtun.«
Niemand hatte Annemarie je gesagt, dass die Zeit der Dauerwelle vorbei war. Auch die ihrer Haarfarbe, die man am ehesten als Pfannkuchengelb beschreiben konnte. Immerhin passte ihr Blümchenkleid farblich hervorragend dazu. Julius hatte allerdings das Gefühl, ein Testbild zu sehen.
»Was machst du denn an einem Sonntag hier, Kusinchen? Solltest du nicht das Grab deines Mannes pflegen? Schön Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht pflanzen? Der wartet sicher drauf.«
Annemarie schnaubte missmutig wie eine alte Dampflok. »Der hat noch nie viel um Blumen gegeben. Wenn es nach Dieter ginge, müsste ich Wacholderschnaps aufs Grab kippen.« Sie sah sich in der Küche um. »Mach schnell deinen Fernseher an, die bringen was über den Aufgehängten an der Brücke, hat mir eben die Lisbeth über die Straße zugerufen. Jetzt guck mich nicht an wie eine Kuh beim Kalben! Fernseher! An! Flott!«
Auf das Flehen seiner Belegschaft hin hatte Julius zur Fußball-Weltmeisterschaft ein kleines Gerät angeschafft, das in einer Küchenecke an der Decke hing. Er musste es erst einstöpseln, und es dauerte, bis er die Fernbedienung im Büro fand.
»Bild kommt sicher gleich«, sagte er. »Aber interessiert mich überhaupt nicht.«
»Krieg ich nix zu trinken hier? Behandelst du so deine Lieblingskusine?«
»Seit wann bist du denn meine Lieblingskusine?«
»Schon immer. Und ich nehm ein Malzbier.«
Aber Julius bewegte sich nicht, denn in diesem Moment erschien Anna auf dem Bildschirm. Sie sah ganz anders aus als noch am Morgen im Bett. Das war natürlich gut so. Aber auch irritierend. Sie hielt ein Funkgerät am Ohr und sprach hinein.
Er riss sich vom Fernseher los, holte ein Malzbier aus dem Kühlschrank und stellte es vor Annemarie hin. »Du hast immer noch nicht gesagt, was du eigentlich hier willst. Fernsehgucken kannst du ja auch schön bei dir zu Hause.«
Der Fernseher zeigte nun die Kamera des Hubschraubers, der versuchte, sich dem Leichnam zu nähern. Doch der Wind war aufgefrischt und ließ ihn heftig schwanken.
»Ich krieg heute Nachmittag Besuch und hab gestern ganz vergessen, dafür Kuchen zu kaufen. Du hast doch sicher was Schönes für mich übrig.«
»Leider nicht, aber in Neuenahr hat bestimmt eine Konditorei auf.«
»Ach, Konditorei. Hör mir bloß auf damit.« Annemarie richtete ihre Frisur, als sei diese durch Julius’ gefühllose Aussage in Unordnung geraten. »Das sehen meine Kegelschwestern doch gleich, wenn der aus irgendeiner Konditorei kommt. Wie steh ich denn dann da? Die Annemarie kann nicht mehr selber backen, heißt es dann. Ob die krank ist? Oder bloß alt geworden? Nee, nee, den Verzäll, den spar ich mir mal schön. Dann backst du mir halt schnell einen. Ich warte solange. Aber mit viel Sahne.«
»Und du meinst, der sieht dann so aus, als hättest du ihn gebacken?«
»Ja, sicher. Ich bin eine großartige Bäckerin. Alle meine drei Ehen kamen nur wegen meiner Kuchen zustande, das kannst du mir glauben! Wenn du mal einen Mann einfangen willst, back ihm einen Mürbeteig.«
»Ich habe aktuell nicht vor, einen Mann einzufangen.«
»Ich sag ja auch nur: wenn. Dann weißte jetzt, wie es geht. Viel gute Butter ist das Geheimnis. Immer mehr, als im Rezept steht. Tu auch in meinen Kuchen tüchtig rein, ich bin bei so was ja nicht knausrig.«
»Von Ghostwriting hab ich ja schon gehört, aber Ghostbaking …«
Weiter kam er nicht, denn die Kamera hatte es endlich geschafft, den Toten groß ins Bild zu bekommen.
Annemarie sog die Luft ruckartig ein. Nicht nur ihr Gesicht, auch ihre Haare schienen mit einem Schlag blass zu werden.
»Nee, ist das …? Das ist doch nicht …! Ist das wirklich …? Das …«
Die Kamera zoomte heran.
Annemarie schlug drei Kreuze. »Leeven Herrjott!« In großer Aufregung fiel sie manchmal ins rheinische Idiom. Beispielsweise wenn Sommerschlussverkauf bei Ulla Popken war oder es ein Büfett mit Mettigeln gab. Ihr Mund bewegte sich, ohne dass ein Wort herauskam, still sprach sie das »Vaterunser«. Und zur Sicherheit gleich noch zwei »Ave Maria« hinterher.
»Mein Christian!« Sie fasste sich ans Herz.
Der Tote war niemand anderes als Christian See, der früher sehr berühmte, heute etwas abgehalfterte Schlagersänger mit dem engelsgleichen Gesicht. Einst hatte er mit seinen Schnulzen Frauenherzen höher schlagen lassen. Als das nicht mehr funktionierte, ließ er sich eine Mähne wachsen und veröffentlichte unter dem Namen Manuu esoterische Bücher und Meditations-CDs. Auf den Pressefotos, die Julius von ihm kannte, hatte er immer tiefenentspannt gelächelt. Jetzt waren seine Augen vor Schreck geweitet, die langen blonden Haare zerzaust vom Wind, das weiße Leinenhemd blutdurchtränkt. Julius trat näher an den Fernseher, versuchte, einen klaren Blick zu bekommen, denn etwas irritierte ihn. Endlich hielt die Kamera frontal auf das Hemd.
Er kannte dieses Rot.
Man bekam es verdammt schlecht aus weißen Tischdecken heraus.
Was in der »Alten Eiche« leider regelmäßig nötig war.
Das war kein Blut.
Das war Wein.
Irgendjemand im Fernsehsender, mit dem Fingerspitzengefühl eines Brontosaurus, unterlegte die Nahaufnahme von Christian See mit seinem größten Hit »Die Glocken meiner Liebe läuten nur für dich«. Es klang wie eine Melodie gewordene Butterfahrt samt beheizbarer Rheumadecke. Den Text konnte nur jemand geschrieben haben, der nicht mehr bei Bewusstsein war. Oder ein betrunkener Orang-Utan mit einer Schreibmaschine. Als der Refrain einsetzte, schaltete Julius aus, weil es sich nicht gehörte zu lachen, wenn jemand tot von einer Brücke hing.
Die erste Zeile lautete: »Meine Glocken hängen schwer, wenn du nicht bei mir bist, ma Chère«.
Julius buk Annemarie einen schönen Schokoladenkuchen – wegen Christian Sees großem Hit »Frau aus Schokolade«. Der Refrain lautete: »Du bist mit Rüschen getüllt/Und Schokolade gefüllt. Schmeckst so zuckersüß/Viel besser als Gemüs.« In den Kuchen gab er ein wenig zu viel Zucker, ein wenig zu wenig Salz und maß alles andere nicht ganz exakt ab. Es tat ihm körperlich weh, so ungenau zu arbeiten, doch er sagte sich immer wieder, dass dies ein Theaterstück sei und er Annemarie beim Backen spiele.
Irgendwann war er so in der Rolle drin, dass er die Hüften schwang.
Währenddessen bekam seine Kusine ein Bier. Ein richtiges. Also ein Kölsch. Und noch eines. Annemarie war wegen Christian Sees Tod völlig durch den Wind, was er daran bemerkte, dass sie nichts mehr sagte. Julius wusste gar nicht, dass ihre Stimmbänder zu Stillstand in der Lage waren. Und dass ihre Tränendrüsen so viel produzieren konnten, denn sie weinte fast ununterbrochen.
Zum Abschied umarmte er sie lange, danach nahm Annemarie sein Gesicht in ihre schweißigen Hände. »Du bist ein guter Mensch, Julius. Pass auf dich auf, ja?«
Julius war so erstaunt über diese warmherzigen Worte, dass er nur nickte.
Als Annemarie aus der Tür war, klatschte er tatendurstig in die Hände. Jetzt würde er grillen, bis die »Alte Eiche« wie eine Räucherkammer roch! Die Kohle im Grill glomm immer noch, er musste nur etwas nachfüllen und sachte hineinpusten, um das Höllenfeuer wieder zu entfachen. Grillen war doch die ursprünglichste Form des Garens, vermutlich hatten Steinzeitmenschen nach einem Waldbrand ein verkohltes Rind gefunden und vor lauter Hunger die schwarze Kruste aufgebrochen – um darunter köstlich dampfendes Fleisch zu finden. Was ein Waldbrand konnte, konnte er erst recht!
Eine Bratwurst auf dem Recher Weinfest war als Kind sein erstes Fleisch vom Grill gewesen, viel zu trocken und schwarz, aber da er wusste, dass sie auf einem heißen Metallrost liegend dem Feuer widerstanden hatte, war es ein geradezu abenteuerlicher Genuss gewesen. Julius hatte sich wie ein echter Mann gefühlt – und das mit gerade einmal fünf Jahren.
Kaum strahlte die Kohle so gleichmäßig Hitze aus, dass er endlich beginnen konnte, klopfte es schwungvoll an der zum Garten führenden Tür.
»Noch einen Kuchen?«, fragte Julius. »Oder soll es jetzt ein komplettes Abendessen für deinen Kirchenchor sein?«
Die Tür öffnete sich, und eine Fernsehkamera hielt auf ihn drauf. »Wir sind’s! Hast du unseren Termin etwa vergessen, Jay?«
Es war Ludger Maurer von TRL, die Lässigkeit in Person. Immer gekleidet, als wäre Sommer und er säße in einer Cocktailbar am Strand von Honolulu – nachdem er die Nacht durchzecht hatte. Maurer nannte ihn ständig Jay, obwohl er wusste, dass Julius es nicht leiden konnte.
Hatte er tatsächlich einen Termin mit ihm vergessen? Sah ihm gar nicht ähnlich. Aber falls doch, wäre es kein Wunder bei einem toten Schlagersänger und einer lebendigen Annemarie. Die konnten das Hirn schon durcheinanderbringen. Er blickte auf den Terminkalender an der Wand. Wusste er es doch: nichts vergessen. »Hier steht nur was von einem Telefongespräch.«
»Viel zu unpersönlich! Wir machen das face to face. Ist schließlich eine wichtige Nummer.«
Julius blickte traurig in die Kohle, die am äußeren Rand das Glimmen wieder einstellte. »Es ging doch nur um einen kurzen Bericht über Grillen in der Spitzenküche?«
»Ha!«, sagte Ludger und legte einen Arm um Julius. »Und ich sag’s noch mal: Ha! Oder?« Er blickte seine Crew an, die folgsam nickte.
»Ha?«, fragte Julius.
»Wir haben jetzt das Go für mehrere Folgen. Haltet auf sein Gesicht!«
»Aber …«
»Ja, da explodierst du vor Freude! Das wird jetzt viel, viel größer!«
Julius wollte sehr gern in seine Glut pusten.
»Freust du dich?«
»Ja, schon.«
»Dann sag es deinem Gesicht, Jay!«
Julius sagte es seinem Gesicht, doch es hörte nicht zu. »Was heißt ›viel größer‹?«
»Eine richtige Serie! Wir haben auch schon den Titel der Show. Alle sind total happy damit. Und erst recht mir dir! Wir brauchen mal wieder was Echtes, nicht diese gelackten dynamischen Jungköche, sondern einen Gestandenen, dem man ansieht, dass er in der Küche steht und isst.«
»Also einen schwitzenden Dicken.«
»Ganz genau, Jay! Aber einen, der das auf höchstem Niveau ist.«
»Auf höchstem Niveau dick?«
Der Kamera-Assistent setzte einen Scheinwerfer, während der Tonmann ein Mikrofon über Julius baumeln ließ.
»Ich erklär dir alles. Willst du dich setzen?«, fragte Ludger. »Ist echt der Hammer.«
»Ach, ich hab schon so viel im Stehen ertragen, da werde ich das auch noch schaffen.«
Ludger hielt die Hände empor und zog sie auseinander, als entrolle er ein Transparent. »Die Show heißt: ›Grill! Den! Eichendorff!‹«
Julius hob die Augenbrauen. »Gibt es da nicht … so heißt doch …?«
»Das ist ja ganz was anderes!«
»Aber …«
»In deiner Show treten zwei Prominente in einem kulinarischen Wettkampf gegen dich an. Im Verlauf der Sendung werden vier Gänge gekocht.«
»Das ist doch genauso wie bei …«
»Nein, da sind es drei Prominente und vier Gänge. Bei dir ist alles kompakter und moderner!«
Julius stocherte in der Glut, sie schien ihm weniger gefährlich als Ludger. Der legte jetzt wieder eine Hand auf seine Schulter.
»Der Sendetermin liegt da, wo früher ›Lafer, Lichter, Lecker‹ gezeigt wurde.«
»Aber das ist doch ein ganz anderer Sender.«
»Ein unwichtiges Detail, Jay!«
Der Tonmann setzte sich auf die Fernbedienung, und die Live-Berichterstattung sprang wieder an. Statt Christian Sees Leichnam hoch auf die Autobahnbrücke zu ziehen, wurde er langsam herabgelassen. Der Bereich war großräumig abgesperrt, Hunderte Schaulustige standen vor den Schutzgittern.
»Mach das über den Christian aus, das mag ich nicht sehen«, sagte Ludger. »Wir haben den letztes Jahr noch im ›Dschungelcamp‹ gefilmt. Ein total Netter. Und Känguruhoden essen konnte der wie kein Zweiter. Das mit ihm geht mir gerade echt nahe. Machst du da dein Ermittlerding?«
»Nein, ich grille ja ab jetzt. Meine Frau Anna kümmert sich darum«, sagte Julius und schaute zum Fernseher, wobei Fragen wie ein Pfeilhagel durch seinen Kopf flogen: Was hatte den Berliner Schlagersänger ins Ahrtal geführt? Warum hatte er für seinen Selbstmord solch eine spektakuläre Erhängung gewählt? Wollte Christian See den spektakulärsten Abgang?
Julius wurde geschüttelt.
Von Ludgers Händen an seinen Schultern. »Hey, Jay, wo bist du mit deinen Gedanken?«
»Ich grille im Kopf«, sagte Julius. »Ich denke an nichts anderes.«
»Super! Perfekt! Pass auf, wir filmen Dienstag und Mittwoch ein paar Beautys im Tal und deinen Vorstellungsclip. Da musst du dann grillen, ganz natürlich, das wird sicher drei bis vier Stunden dauern. Grill am besten verschiedene Sachen und denk dran, nichts Kleinkariertes anzuziehen, sonst bekommen wir diesen doofen Effekt im Bild.«
»Dann ziehe ich meine kleinkarierte Kochjacke nicht an«, sagte Julius augenzwinkernd. »Sondern eine von den weißen.«
»Genial, so machst du das!«
»Ich muss aber wegen der Zeit prüfen, wie viele Reservierungen wir Mittwoch haben.«
»Tu das, mein Bester. Wir filmen schon mal die Kohle.«
Das Reservierungsbuch befand sich im noch dunklen Gastraum der »Alten Eiche«. Dick und in schwarzes Leder gebunden lag es auf dem edlen Eingangstresen aus Kirschholz.
Julius schlug es auf und blätterte zum Mittwoch. Dann traf ihn fast der Schlag.
Nie zuvor hatte darin etwas Erschreckendes gestanden.
Manche Reservierungen erfreuten ihn zwar nicht, aber er nahm chronische Meckerer als Herausforderung. Bange machen galt nicht.
Mit der Fingerspitze fuhr er über die Buchstaben der Reservierung, als würden die richtigen erscheinen, wenn er nur darüberrieb.
Doch sie blieben.
Dort stand der Name Christian See.
Er hatte mit einer Begleitung reserviert. Einer sehr ungewöhnlichen Begleitung, deren Namen Julius nur zu gut kannte.
Seine Kusine Annemarie.
Julius’ alter VW Käfer, ein 1950er Model in Grau-Weiß, mit Brezelfenster und Faltdach, war trotz seiner runden Form nicht für Männer mit runder Form gebaut worden. Der Sitz ließ sich nicht weit genug zurückschieben, der Anschnallgurt nicht weit genug herausziehen, und ein verstellbares Lenkrad hatte man bei der Produktion für Science-Fiction gehalten. Trotzdem liebte Julius seinen fahrbaren Untersatz aus tiefstem Herzen. Er war für ihn wie ein Haustier, wie ein dritter Kater – er schnurrte ja auch so.
Julius startete den Motor, kurbelte das Fahrerfenster herunter, streckte den Ellbogen heraus, stellte das Radio an und machte sich auf den Weg zu Annemarie nach Dernau – wobei er einen Umweg fahren musste, da die Landskroner Straße von der Polizei gesperrt worden war. Überholen konnte man mit dem Käfer nicht, der Wagen hatte sein eigenes Tempo. Dafür fand er den Weg nach Hause wie von alleine. Kein Wunder in einem engen Tal, das eigentlich nur eine Hauptachse besaß, mit einigen Seiten-, Neben- und Parallelstraßen. Wer sich im Ahrtal verfuhr, musste das räumliche Vorstellungsvermögen eines Steins haben.
Der Blick auf die steilen Hänge des Tals beruhigte ihn. Als er gerade tief durchatmete, betätigte ein knallgelber VW Golf hinter ihm die Lichthupe.
Julius reagierte nicht.
Wieder Lichthupe, diesmal plus echte Hupe.
Julius fuhr näher an den rechten Rand und gab Handzeichen, dass er überholt werden konnte.
Der knallgelbe Golf schaltete die Warnblinkanlage ein. Jetzt sah der Wagen noch mehr aus wie ein wild gewordener Kanarienvogel.
Julius wurde es zu bunt, und er bog in einen Feldweg ab.
Der Kanarienvogel hinterher.
Im Rückspiegel konnte Julius erkennen, dass am Steuer eine Frau mit einer Frisur saß, die an Jennifer Hart aus »Hart aber herzlich« erinnerte. Also auch als Sturzhelm super funktionierte.
Julius hatte sie noch nie gesehen, daran hätte er sich erinnert.
Er trat auf die Bremse, wuchtete sich aus dem Käfer und schritt entschlossen über den lehmigen Boden auf den Golf zu. Angriff war schließlich die beste Verteidigung.
Auch die Frau sprang aus dem Wagen und lief auf ihn zu.
Dann fiel sie ihm schluchzend um den Hals.
Julius reagierte ganz automatisch und legte tröstend die Arme um sie.
»Wir kennen uns nicht, oder?«
»Ich kenne Sie! Sie sind meine Rettung, ganz bestimmt.«
Ihre Wimperntusche begann sich aufzulösen, wodurch sie nun aussah wie ein Panda mit Föhnfrisur. »Gerade als ich vor Ihrem Restaurant geparkt hab, sind Sie losgefahren. Da bin ich natürlich sofort hinterher. Ich hoffe, ich habe Ihnen keine Angst eingejagt.«
Julius hüstelte. »Worum geht es denn?«
Sie blickte nervös zur Straße. »Um meinen Christian!«
Jetzt, wo er sie im Profil sah, wusste Julius plötzlich, wer da vor ihm stand: Julia Berg, die Verrückte aus Godeneltern, die verurteilte Stalkerin von Christian See. Sie war wochenlang Thema der lokalen Presse gewesen. Wer wie das Ahrtal wenig Berühmtheiten hervorgebracht hat, entwickelt selbst für eine Stalkerin von deutschlandweiter Bedeutung einen gewissen Stolz. Julia Berg hatte vor Gericht ausgesagt, Berg und See gehörten zusammen, also Christian und sie. Dabei war See gar nicht der richtige Nachname des Schlagersängers gewesen.
»Mein Beileid«, sagte Julius, wobei er nicht wusste, ob es politically correct war, einer Stalkerin sein Beileid auszudrücken.
»Die Presse belagert mein Haus, ich musste durch den Garten raus.«
»Bei diesem Problem werde ich Ihnen aber leider nicht helfen können.«
Julia Berg drückte ihn hinter den Käfer, augenscheinlich etwas Sichtschutz suchend. »Sie werden mir helfen, da bin ich mir ganz sicher. Sie heißen Julius, und ich heiße Julia, das kann kein Zufall sein.«
Julius presste die Lippen aufeinander.
»Ich sehe in Ihren Augen, dass Sie auch denken, ich wäre verrückt. Aber das bin ich nicht! Nur weil ich an das Schicksal glaube!« Sie packte ihn fest an den Oberarmen. »Ich bin nur eine Frau, die gespürt hat, dass ein Künstler sie versteht! Sie sind doch selber Künstler, am Herd, Sie haben doch bestimmt auch eine Muse.«
»Drei«, sagte Julius. »Deshalb hab ich auch kaum noch Platz in meinem eigenen Bett.«
Julia Berg schaute verdutzt.
»Zwei sind Katzen«, erläuterte Julius. »Hören Sie, die Polizei wird sich sicher bei Ihnen melden. Dann wird klar, dass Sie mit der Sache nichts zu tun haben, und die Medienmeute sucht sich ein anderes Opfer. Vielleicht fahren Sie für einige Zeit zu Verwandten in einer anderen Ecke Deutschlands.«
Julia Berg krempelte den rechten Ärmel ihrer Bluse hoch. »Hier hat Chris unterschrieben, und ich habe es mir eintätowieren lassen. Sehen Sie das Herz mit dem Pfeil? Das hat er bei niemand sonst gemalt.«
Julius sagte nicht, dass die Signatur aussah, als wäre eine betrunkene Ente mit dreckigen Schwimmfüßen über den Arm gelaufen.
»Ich bin seine Muse. Mir hat er seine größten Hits zu verdanken!«
»Das ist … wirklich sehr schön für Sie. Ich muss leider weiter.«
Aber Julia Berg ließ seine Oberarme nicht los. »Chris hat unsere ganz besondere Verbindung gespürt, weil er um das Wesen der Spiritualität wusste. Alle haben in ihm nur den Schlagersänger gesehen und zuerst gar nicht mitbekommen, wie er sich der Spiritualität zugewandt hat. Erst als er sich in Manuu umbenannt hat, ist es allen klar geworden. Aber diese Spiritualität, die war schon immer in seinen Liedern. Ganz tief drin.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Weil da auch ein Schmerz in Chris war. Ein riesengroßer. Er hatte eine schwere Kindheit, das hat er immer verheimlicht, sein Bruder ist früh bei einem Fahrradunfall gestorben, der Vater war ein Schläger, und er als sensibler Junge mit glockenheller Stimme ist in der Schule ständig gehänselt worden. Seine Mutter war sein einziger Halt, Chris hat immer starke Frauen in seinem Leben gebraucht. Ich bin jetzt seit vielen Jahren sein Schutzengel … gewesen …« Sie unterdrückte die Tränen.
»Frau Berg, Sie sind verurteilt worden, weil Sie ihn gestalkt haben.«
»Ja, natürlich hat es dieses Urteil gegeben. Das musste es auch geben, wegen Christians Frau, die wollte das. Christian selbst nicht, das hat er mir gesagt.«
»Natürlich.« Julius löste unter erheblicher Kraftanstrengung ihre verkrampften Hände von seinen Oberarmen und ging zum Käfer.
»Ich habe auch gestern auf Christian aufgepasst …«
Julius öffnete die Fahrertür und quetschte sich schnell ins Innere, damit sie ihn nicht wieder zu fassen bekam.
Julia Berg folgte ihm. »Ich habe auf ihn aufgepasst, bis ich ihn verloren habe.«
»Sagen Sie das alles der Polizei, die sind dankbar für jeden Hinweis.« Er griff sich den Anschnallgurt.
Sie beugte sich zu ihm hinein. »Er ist gestern Abend um Punkt neunzehn Uhr siebzehn in Ihr Restaurant gegangen – und nie wieder rausgekommen.«
Julius strich den Besuch bei Annemarie und fuhr zurück zur »Alten Eiche«. Fast im Schritttempo, denn er konnte sich kaum aufs Fahren konzentrieren, weil er ständig den Kopf schüttelte. Nein, Christian See war gestern Abend ganz bestimmt nicht in seinem Restaurant gewesen. Aber konnte ein Mensch, selbst einer wie Julia Berg, wirklich so verstrahlt sein, dass er sich das ausdachte? Oder konnte sie einerseits eine durchgeknallte Stalkerin sein, andererseits Christian See aber tatsächlich gesehen haben, konnten also Wahnsinn und Wahrheit gleichermaßen bei ihr vorhanden sein?
Julius musste an seine Sippe denken: Onkel Jupp und Tante Traudchen, Kusine Anke mit Anhang, Großtante Käthe, Vetter Willi, dessen Frau Gertrud, Annemarie, Gisela und der Rest des im gesamten Tal verstreuten Eichendorff-Nögel-Burbach-Clans – oder der »Landplage«, wie Julius sie zu nennen pflegte. Wahrheit und Wahnsinn wiesen sie alle auf. Wenn er ehrlich war, konnte er sich selbst da nicht ausnehmen. Lag vermutlich an den Genen.
Julius fuhr diesmal ohne hinausgestreckten Ellbogen, ohne angestelltes Radio – die Gedanken in seinem Kopf waren dafür einfach viel zu laut. Immer wieder geriet ihm die Ahrtalbrücke in den Blick, und er hielt automatisch Ausschau, ob dort wieder jemand hing. Er betete innerlich, dass es nicht so war, doch Selbstmorde hatten manchmal Nachahmungstäter zur Folge.
Nach der nächsten Kurve kam die Ahrtalbrücke mit ihren mächtigen Stahlbetonpfeilern wieder in Sicht.
Erneut blickte Julius unwillkürlich hin.
Sie wirkte verändert.
Etwas stimmte nicht damit.
Über die Pfeiler zuckten rote, blaue und gelbe Lichtreflexe, als wären exotische Vögel aus einem Zoo entkommen.
Je näher Julius der Brücke kam, desto größer wurden sie, desto deutlicher ihre Farben.
Die Polizei hatte die Sperrung der Landskroner Straße aufgehoben. Trotzdem war das Weiterkommen schwer, denn auf ihrem Standstreifen, genau unter der Brücke, befand sich die Quelle der Farben. Lichtorgeln strahlten eine Blondine an, die mit großen Gesten in ein Mikrofon sang. Im Hintergrund parkte ein Stromgenerator. Die Sängerin stand inmitten so vieler Kränze und Blumengestecke, dass sie sich kaum bewegen konnte. Davor flackerten unzählige entzündete Teelichter. Und vor diesen stand eine Ansammlung von Menschen, von denen viele das Geschehen mit ihren Handys filmten.
Die Musik klang wie Kaugummi, der Rhythmus holperte plump, die Stimme quietschte. Das Gegenteil von stiller Trauer.
Julius hielt trotzdem an und stieg aus.
Die Zuschauer waren bunt gemischt, einige gekleidet wie Hippies, obwohl es die doch nur noch auf Ibiza gab, andere waren Frauen mit weißen Haaren, die aussahen, als hätten sie gerade noch eine Kittelschürze getragen, oder Männer im Anzug mit Krawatte, die wirkten, als seien sie eben von der Arbeit gekommen. All diesen Menschen hatte Christian See offenbar etwas bedeutet, etliche hielten sich an den Händen, in vielen Gesichtern funkelten Tränen.
Eine junge Frau, vielleicht gerade einmal zwanzig, kam zu ihm, lächelte ihn an, nahm sanft seine Hand und zog ihn mit sich zu den anderen. Dort hakte sie sich bei ihm unter, ein älterer Mann tat es ihr auf der anderen Seite gleich.
»Wer ist die mit dem Mikro?«, rief Julius über den Lärm.
»Das ist Schantalle de Malle, die Mallorca-Sängerin, mit der Christian mal ein Lied aufgenommen hat. Sie ist extra hergekommen, um für ihn zu singen.«
So laut, wie sie das tat, würde Christian See es sicher auch im Jenseits hören.
Julius kam sich mit einem Mal vor wie ein Betrüger, er gehörte nicht in diese Gruppe, er kannte weder den Toten noch seine Lieder. Er fühlte sich wie ein Schaulustiger. Und das wollte er nicht sein.
Er ging, jedoch nicht zurück ins Auto, sondern er schritt über die Wiese, um sich das Ganze aus der Entfernung anzusehen.
Plötzlich hörte er ein bekanntes Maunzen. Und kurz danach ein sich näherndes Glöckchen.
»Was machst du denn hier?«, fragte Julius den sich an sein Bein schmiegenden Herrn Bimmel. »Das ist ja schon ein Tagesausflug.«
Der Kater drückte schnurrend sein Köpfchen gegen Julius’ Knöchel. Dieser ging in die Knie und kraulte dem alten Freund das Fell. »Gibt es hier besonders leckere Mäuse? Oder attraktive Katzendamen, du alter Schwerenöter?«
Herr Bimmel sah ihn an, lief dann in Richtung Heimat, drehte sich um und maunzte auffordernd. Vermutlich dachte er an sein Abendessen. Herr Bimmel dachte immer an sein Abendessen. Schon beim Frühstück.
Julius ging hinter ihm her, doch dann stolperte er.
Wahrscheinlich ein Maulwurfshügel, dachte er und blickte zurück, um den Missetäter zumindest mit einem Blick zu strafen. Obwohl Maulwurfshügel das zumeist sehr lässig hinnahmen.
Ein ganz leichtes Glänzen war an dem vermeintlichen Hügel zu sehen. Nicht wie von einem Spiegel oder von Glas, sondern so, wie poliertes Leder glänzt. Die Stelle lag einige Meter außerhalb des von der Polizei großzügig abgesperrten Bereichs.
Herr Bimmel maunzte noch einmal auffordernd, doch Julius zögerte. Sollte er nachschauen, was dort lag? Vermutlich lohnte sich das Zurückgehen nicht – und sein Vierbeiner verlangte eindringlich, dass das Personal endlich folgte.
Doch Neugierde war wie ein Juckreiz des Geistes. Manchmal konnte man nicht anders, als nachzugeben.
Julius ging schnell zurück, bückte sich und strich die hochgewachsenen Grashalme zur Seite.
Vor ihm lag ein dickes Bündel Hundert-Euro-Scheine, von einem roten Einmachglasgummi zusammengehalten. Der Dicke nach sicher einige tausend Euro.
Doch das war nicht das Ungewöhnlichste.
An einem Ende war das Bündel rot. Die gleiche Farbe wie auf dem durchtränkten Hemd des erhängten Christian See.
Aber auch das war nicht das Ungewöhnlichste.
Das fand sich am anderen Ende des Bündels.
Es war ebenfalls rot, allerdings nicht weinrot. Dies war die Farbe von Blut. So intensiv, als wäre das Bündel in eine offene Wunde gesteckt worden.
»Da, du hast es schon wieder getan«, sagte Julius.
»Na und? Ich darf das!«
Punkt zwanzig Uhr fünfzehn war Anna mit zwei Gläsern Wein aus der Küche gekommen, hatte eines an Julius gereicht und sich mit dem anderen auf das Sofa gekuschelt, um den »Tatort« zu gucken. Herr Bimmel und Felix sahen dabei schläfrig von ihrem Platz auf der bollernden Heizung aus zu.
»Es zerstört völlig die Illusion, wenn du schaust, ob sich eine Leiche bewegt.«
»Beim letzten ›Tatort‹ hat die Leiche in der Gerichtsmedizin zweimal mit den Augenlidern gezuckt! Zweimal! Die Leichen heute sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Warum kümmert es dich überhaupt, ob ich danach gucke?«
»Weil ich das spüre.«
»Dann spüre es halt nicht. Ihr Männer spürt doch sonst nie was.«
Julius schüttelte den Kopf. »Und beim Krimi liest du immer zuerst das Ende. Ich kenne keinen anderen Menschen, der sich so konsequent den eigenen Spaß verdirbt.«
»Du hast ja keine Ahnung. Der Spaß wird dadurch ja erst richtig groß. Und jetzt lass uns weitergucken.«
»Reden wir danach dann über Christian See?«
»Du weißt, dass ich das nicht darf.«
»Ja, weiß ich. Ich weiß aber auch, dass du es trotzdem machst.« Er sah sie erwartungsvoll an.
Anna setzte sich aufrecht hin. »So kann ich mich nicht auf die Leichen konzentrieren!«
»Willst du vielleicht mich angucken und schauen, ob ich mich bewege?«
»Wenn du erst mal auf dem Sofa liegst, kann ich da lange warten.« Sie knuffte ihn. »Okay, ich erzähl dir alles, aber dann gibst du Ruhe!«
Julius fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Lippen, als zöge er einen Reißverschluss zu.
»Und danach darf ich mir so lange Leichen angucken, wie ich will!«
Julius nickte und setzte sich jetzt auch aufrecht.
»Gut, also: Es war kein Selbstmord.«
Julius atmete tief durch. Obwohl er es geahnt hatte, erschütterte ihn die Bestätigung. Noch mehr, weil Christian See in der »Alten Eiche« gewesen war, bevor er ermordet wurde. Es war, als wäre einem seiner Gäste etwas Schreckliches widerfahren. Und Julius verspürte für jeden, der in sein Restaurant kam, eine Verantwortung. Wer die »Alte Eiche« betrat, hatte eine gute Zeit. Sterben gehörte nicht dazu. »Kein Abschiedsbrief?«
»Nein. Aber das wäre noch kein Beweis. Wir haben eine große Wunde an Christian Sees Hinterkopf gefunden, mit Spuren von Schiefer. Deshalb vermuten wir, dass er vor der Erhängung ohnmächtig geschlagen wurde.«
»See war nicht bei Bewusstsein, als er …?«
»Das werden wir wohl nie wissen.« Anna rieb sich über den Nacken. »Ich sag dir, was wir wissen. Die Autobahnbrücke ist in den frühen Morgenstunden, genauer gesagt von vier Uhr siebzehn bis vier Uhr zweiunddreißig, abgesperrt worden. Die Gatter dafür wurden bei der Feuerwehr Bad Neuenahr geklaut und nach der Aktion einfach stehen gelassen – der Rückstau reichte kilometerweit. Auch das Seil stammt von dort, wurde wohl seit Jahren beim alljährlichen Grillfest fürs Tauziehen verwendet. Bei der Feuerwehr hat niemand etwas mitbekommen, da musste allerdings auch nur eine Kette am Tor geknackt werden, um die im Freien gestapelten Gatter wegzuschaffen.«
»Ganz schöner Aufwand …«
»Und eigentlich gilt: Je komplizierter eine Aktion, desto mehr Spuren finden sich.«
Julius sah Anna fragend an. »Aber ihr habt noch keine einzige gefunden?«
»Jep, weder DNA-Spuren noch Fingerabdrücke. Und das, obwohl wir eine Personaldecke haben, mit der man eine Weltverschwörung aufklären könnte. Für das Präsidium hat der Fall absolute Priorität, die Medien haben sich ja wie die Irren draufgestürzt. Man will zeigen, wie perfekt die deutsche Exekutive funktioniert. Wir werden deshalb in den nächsten Tagen und vielleicht Wochen nicht viel Zeit füreinander haben.« Anna strich Julius zärtlich über den Nacken.
»Habt ihr etwas Besonderes an dem Seil entdeckt? Das musste ja einiges aushalten.«
Anna zog die Hand zurück. »Es war eine geschickte Seilkonstruktion. Christian See hat sich den Hals gebrochen, ist aber von zwei kleinen Stricken so festgehalten worden, dass der Kopf trotz der enormen Fallhöhe nicht abgerissen ist. Der oder die Täter wollten, dass er im Ganzen zu sehen ist.«
»Und das Hemd?«
»War durchtränkt von Wein, vermutlich derselbe wie auf dem Geldscheinbündel, das du gefunden hast. Wir prüfen das gerade, genau wie die Herkunft des Blutes. In Christian Sees Magen ist übrigens auch Wein gefunden worden, in seinem Blut Alkohol, und zwar nicht zu knapp. Die Untersuchungen dauern noch. Auch die zu dem Geldscheinbündel. Das waren übrigens neuntausendneunhundert Euro. Komisch unrunde Summe, findest du nicht? Von seinem Bankkonto abgehoben hat er das Geld nicht, das wissen wir. Zurzeit sitzt meine Soko dran, Sees Tagesablauf genau zu rekonstruieren. Um zwölf Uhr vierzig ist er aus Berlin kommend in Köln/Bonn gelandet, er hatte nur Handgepäck dabei. Dann verliert sich seine Spur. Sein Handy war die ganze Zeit ausgeschaltet. Das hat er aber ohnehin nur in Ausnahmefällen benutzt, weil er anscheinend Angst vor der Strahlung hatte. So, das wär’s mit unseren bisherigen Ermittlungsergebnissen.« Anna holte tief Luft und sah Julius lange an. »Du?«
»Ja, bin hier.«
Sie wies auf die beiden träge schlummernden Kater. »Ich trag seit Wochen Herrn Bimmel oder Felix herum, obwohl die das manchmal total doof finden. Das geht so nicht weiter.«
»Sollen wir ihnen was unters Essen mischen, damit sie es besser ertragen? Baldrian oder so?«
Anna schubste ihn leicht. »Nein, du Blödmann. Ich mein was anderes.«
»Dass du einen Hund willst?«
Sie fuhr sich mit den Händen durch die Haare. »In welchem Alter treibt man euch Männern eigentlich das feine Gespür dafür aus, was Frauen meinen?«
»Das ist bei uns serienmäßig nicht eingebaut. So was kostet extra.«
»Das kostet vor allem viel Nerven!« Anna sah Julius wieder an und nahm dann seine Hand.
Julius strich ihr über die Wange. »Bist du dir ganz sicher?«
»Ja.«
»Es wird alles verändern.«
»Manchmal ist Veränderung gut.«
»Du willst also eine kleine Anna machen.«
»Oder einen kleinen Julius.«
»Oder eine kleine Anna, die irgendwann ein kleiner Julius wird. Oder umgekehrt. Dann hat man beides in nur einem Kind!«
»Blödmann!«, sagte Anna wieder und lachte. »Aber von mir aus auch das. Wenn es glücklich damit ist.«
Julius legte den Kopf schief. »Ein Schlagersänger hängt tot von der Ahrtalbrücke, und du kommst auf die Idee, Kinder in die Welt zu setzen?«
»Vielleicht weil ich denke: Wer weiß, wie viel Zeit wir noch haben? Oder Christian Sees Hit ›Kinderlachen am Ballermann‹, der heute bei uns im Kommissariat lief, hat mich inspiriert. Der Refrain geht so: ›Kinderlachen am Ballermann/Zieht dich total in seinen Bann/Komasaufen ist vorbei/Ab jetzt heißt’s nur noch Heiteitei.‹«
»Mein dichtender Vorfahr ist ein Stümper dagegen.«
Eine Stille entstand, die so unter Spannung war, dass elektrische Entladungen keinen Physiker gewundert hätten.
»Willst du trotz ›Tatort‹ jetzt sofort loslegen …?«, fragte Julius.
Anna hob abwehrend die Hände. »Wenn das für dich ein Problem ist, musst du es nur sagen.«
»Nein, ist schon okay. Was muss, das muss. Ich bekomme das hin.« Er grinste breit.
»Du bist so ein unverbesserlicher Romantiker.«
»Sollen wir es gleich hier erledigen?« Er wies auf das Sofa.
»Damit die Nachbarn was zu sehen haben? Ich glaube nicht. Dies ist ein ordentlicher Haushalt. Hier wird nur im Schlafzimmer für Nachwuchs gesorgt, das Licht bleibt dabei aus, und die Decke liegt schön drüber.«
»Ach, das wilde, verrückte Leben der Spitzenköche.« Julius nahm sanft Annas Hand und stand auf. »Man macht sich keine Vorstellung davon!«
Am nächsten Morgen fuhr Julius zu seinem alljährlichen Erste-Hilfe-Seminar und dann direkt zur »Alten Eiche«. Doch hinein ging er nicht, sondern stellte sich in den Eingang und schaute ihn sich genau an. Kein Zweifel: Wer hier reinging, konnte entweder in den Speisesaal, hinunter zu den Toiletten oder wieder hinaus – Letzteres aber nicht ungesehen.
»Willst noch lang da draußen stehen?«, fragte Maître d’hôtel Franz-Xaver Pichler, genannt FX, der die Tür zum Restaurant öffnete. Sein Zwirbelbart war wie immer perfekt aufgedreht und hätte Salvador Dalí zu einer Fortbildungsreise an die Ahr veranlasst. »Bleib ruhig bis übermorgen dort. Die Gäste meinen eh schon, dass du a weng wunderlich bist.«
»Das sagt der Richtige.«
»Ich bin Wiener, bei uns ist die Wunderlichkeit Traditionspflege!«
Julius sah ein, dass er den Eingang noch so lange anschauen konnte, es würde sich kein Geheimgang auftun. Er klopfte trotzdem gegen die Außenwand. Sie war nicht aus Pappe.
»Hast heut wieder deinen depperten Erste-Hilfe-Kurs absolviert?«
»Irgendwann schneidet sich der wunderliche Herr in den Finger, dann ist das Geheule groß.« Julius tätschelte die Wand der »Alten Eiche«, als wäre es die Flanke eines treuen Pferdes. »Andere Sache: Hast du Samstagabend zufällig den Schlagersänger Christian See bei uns gesehen? Einen Tisch reserviert hat er nicht, aber vielleicht kam er ja unter falschem Namen.«
»Der hatte für übermorgen reserviert. Aber den Tisch hab ich jetzt wieder freigegeben. Oder rechnest damit, dass er trotz seines Todes erscheint? Und falls ja: Was sollen wir dem Zombie servieren? Menschenhirn ist die übliche Wahl.«
»Du bist mal wieder so gar keine Hilfe.« Julius schob sich an FX vorbei in die »Alte Eiche«.
»Ich bin sicherlich keine Hilfe, wenn der Herr Meisterkoch sich lächerlich machen möcht.« FX folgte ihm in den Speisesaal.
»Christian See ist gesehen worden, wie er Samstagabend in die ›Alte Eiche‹ gegangen ist, aber nicht, wie er wieder herauskam. Dabei ist er kein Zauberkünstler.«
»Da hat sich sicher wer verguckt. Ich hab übrigens gelesen, der Christian See hätte eigentlich Schmölsch geheißen und wär in Wanne-Eickel geboren. Dabei hat der Wappler in Interviews immer Heidelberg angegeben.«
Sommelier François van der Merwe kam aus dem Weinkeller hoch. »Sees letztes Album heißt ›Der Fluss, der See, das Meer‹ und ist gerade auf die Eins gegangen. Hallo, Chef, übrigens.« Der blonde Südafrikaner war ebenso hochgewachsen wie elegant. Hätte man einen Adligen malen wollen, wäre François dabei herausgekommen. »Die Lieder darauf haben so einfallsreiche Titel wie ›Der See so weit‹ und ›Der See wird zum Meer‹.«
»Mit dem seinem echten Namen würden die Wortspiele schön deppert klingen: ›Der Schmölsch so weit‹. Oder: ›Der Schmölsch wird zum Meer‹.«