Volltod - C. A. Mayer - E-Book

Volltod E-Book

C. A. Mayer

0,0

Beschreibung

Nach einer Überdosis verschlägt es Angel ins Licht und sie trifft auf ihren Führungsengel. Bleiben darf sie nicht. Ein Zurück gibt es aber auch nicht. Sie kann jedoch zum höheren Wesen aufsteigen und sogar Flügel erhalten, wenn es ihr gelingt, eine verlorene Seele zu retten. Nach einigen Fehlschlägen stürzt sich Angel schließlich ins Rotlichtmilieu. Dort trifft sie auf die siebenjährige Lia, deren Mutter als »Sister Luzi« im Nachtclub »Devils Paradise« tanzt. Hier ist sie genau richtig, glaubt Angel. Beim Versuch, Luzis Seele zu retten, gerät sie mit Zuhältern, des Teufels Advokat und dem Jugendamt aneinander.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 323

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären zufällig und sind nicht beabsichtigt.

»Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft.«J. W. von Goethe | Faust I

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

ENGELS HAUCH

Kapitel 2

TEUFELS PARADIES

Kapitel 3

SISTER LUZI

Kapitel 4

TEUFELSWERK

Kapitel 5

BEFLÜGELT

BEVOR ES LOS GEHT ...

Die ganze Scheiße fing an, als ich diese Superdroge in die Finger bekam. Alle redeten nur noch von Mystral. Hammerstoff. Aber arschteuer. Ich kannte nicht mal wen, der wen kannte, der das Zeug schon mal eingeworfen hatte. Und dann taucht dieser Lulli auf. Den kannte ich vom Sehen. So, wie ich den beschreiben könnte, darf man solche Typen heute nicht mehr beschreiben, glaub ich. Sah jedenfalls nicht wie ’n Schwede aus. Ist aber auch egal.

Wo ich her komme, guckt man Leuten zuerst in die Augen. Da siehst du sofort, ob jemand drauf ist oder nicht. Der Typ stand unter einer Überdosis Panik. Kein Zweifel. Der war voll durch den Wind und gab mir dieses winzige Tütchen. Die Kügelchen dadrin waren auch winzig. Sahen aus wie Zuckerstreusel für ’n Kuchen, nur halt nicht bunt. Das sei Mystral im Wert von fünfzigtausend, sagte er noch und schon war er wieder weg, als säße ihm der Deibel im Nacken. Ich stand da. Einen Trip im Wert von fünfzigtausend Ocken in den Fingern.

Wenn du gerne Auto fährst, willst du auch mal in einem Ferrari sitzen. Was hättest du getan, wenn du auf einmal den Ferrari unter den Drogen in die Pfoten kriegst, hä? So ne Chance kommt nie wieder. Schon gar nicht für eine wie mich. Tüte auf und das ganze Zeug in einem Rutsch runter. Wenn schon, denn schon. Woher sollte ich denn wissen, dass ein einziger Krümel gereicht hätte?

Alter Schwede. Ich dachte, mir fliegt die Schädeldecke weg. Ist sie ja auch. Zum Glück nicht ohne mich. Ich bin über die ganze Stadt gedüst. Schneller als ’n getunter Ferrari mit Vollgas. Speed war Zeitlupe dagegen. Ich erkannte jedes Detail, obwohl ich ’n bisschen kurzsichtig bin. Zumindest war ich’s, bevor ich diesen Mist reingezogen habe. Danach konnte ich gucken wie ’n Fernglas. Da war’n Blaulichter und einer lag auf der Straße. Bevor ein Sani den Leichensack zumachte, erkannte ich die arme Sau, von der ich das Tütchen hatte. Ich freu mich noch, dass der Trip aufs Haus geht, da ist mit einem Schlag alles weiß. Kein Schnee, sondern Licht. Und was für ’n Licht. Einen Moment lang dachte ich, das gehört noch zum Programm. Aber Pustekuchen.

Ich so: »Ey Scheiße, wo bin ich’n hier gelandet?«

Wie Neukölln sah das jedenfalls nicht aus. Nicht mal mehr wie Berlin. Das war ne ganz andere Postleitzahl. Mindestens zwölfstellig, schätzte ich mal.

Jedenfalls kommt dann dieses Kerlchen angewackelt. Der sah schon eher aus wie ’n Schwede. Blonde Mähne. Pferdeschwanz. Wie frisch aus nem Ei gepellt. Ne richtige Sissi. Aber mit den schwarzen Lederklamotten passte der in die Kulisse, wie ’n Schwein ins Wohnzimmer, wenn du mich fragst.

Wie der mich schon anguckte. Ich kam mir vor wie eine, die im Bikini zwischen lauter Ordensschwestern steht. Da waren aber keine Ordensschwestern. Da war nix. Nur dieses Wahnsinnslicht und dieses Bürschchen in seinem wehenden schwarzen Lackmäntelchen. Lass den mal zwanzig gewesen sein. Älter war der nicht.

»Sieht so aus, als hätten wir ein Problem«, sagte der Schnösel zu mir.

Mein erster Gedanke waren natürlich die fünfzigtausend Ocken. Die wären wirklich ein Problem gewesen. Aber darum ging es dem gar nicht. Die Sache war ne ganze Ecke komplizierter, wie sich herausstellte. Ich hatte mich mit diesem Mistzeug nämlich ins Nirwana geschossen. So nenne ich das jetzt mal, weil mir nix Besseres einfällt. Und genauso wenig ich damit gerechnet hatte, im Nirwana zu landen, hatte man im Nirwana mit mir gerechnet. Deswegen hat der Schnösel mich wohl auch genauso doof angeguckt, wie ich ihn.

Irgendwie war mir schon klar, dass ich hops bin. Schon, weil ich plötzlich wieder glasklar denken konnte. Nach so einen Ritt kannst du froh sein, wenn du überhaupt noch was denken kannst; irgendwann.

Geholfen hat mir mein wacher Geist wenig. Ich hab kaum ein Wort verstanden, von dem, was der Schnösel da so redete. Irgendwie sollte ich wieder zurück. Ging aber nicht. Bleiben konnte ich auch nicht. Warum? Weiß der Geier. Den juckte nicht mal mein Perso, den ich extra rausgekramt hatte. Und was kam an Ende bei all dem raus? Bewährung. Wieder Mal. Herzlichen Dank auch.

Und so, mein Ende vor Augen, fing alles erst an.

Kapitel 1

ENGELS HAUCH

Katja Bauer trat an das Geländer der Arbeitsplattform. Sie schaute auf den Rhein. Die Lichter der Stadt tanzten auf den sanften Wellen. Es ging tief hinunter. Sehr tief. Tief genug für Katjas Fall.

Wenn, dann heute Nacht. Die Brücke war für den Verkehr gesperrt. Bauarbeiten. Katja hatte ein Stück laufen müssen bis zu der Stelle, an der eine schmale Leiter hinabführte zu der großen Montagebühne. Auf der stand sie nun. Geschützt vor unerwünschten Blicken. Sie rang mit sich. Den nächsten Schritt zu tun, kostete Überwindung. Mehr, als sie erwartet hatte. Ein Zurück gab es nicht.

Wie still es hier oben war. So still, dass Katja das leise Klicken eines Feuerzeugs vernahm, das mit einer sanften Brise herüberwehte. Sie drehte den Kopf und sah die Frau, die ein paar Schritte entfernt rauchend an einer Strebe lehnte. Sie zeigte keinerlei Interesse an Katja. Stand einfach nur da und rauchte. Mitten in der Nacht, auf der Arbeitsbühne unter einer Brücke hoch über dem Rhein. Was hatte die hier zu suchen? Wieso hatte Katja sie nicht kommen hören? Stand einfach da, rauchte und schaute zur Stadt hinüber. Ausgerechnet heute.

Die Anwesenheit der Fremden brachte Katja völlig aus dem Konzept.

»Muss das sein?«, fragte sie ungehalten.

»Was?«

»Rauchen. Hier.«

Die andere schüttelte den Kopf und hauchte seelenruhig eine Wolke in den sternenklaren Himmel.

»Wären Sie bitte so freundlich, wieder zu verschwinden.«

»Ihre Brücke?«

»Nein. Ich wäre nur gerne ungestört. Jetzt.«

»Ich auch.«

»Aber ich war zuerst da.«

»Sicher?«

Katja stutzte. Hatte die Frau etwa schon dort gestanden, als sie die Leiter herabgestiegen war? Unwahrscheinlich. Katja hätte sie bemerkt.

»Todsicher.« Katja nickte nachdrücklich. »Wo kommen Sie überhaupt her?«

Die Raucherin deutete nach oben.

Katja schaute zur Brücke hinauf, dann wieder auf den Rhein hinunter. Eine Zigarette lang standen beide schweigend auf der Plattform. Sie hier am Geländer. Die andere dort an ihrer Strebe. Die Kippe schwirrte in die Nacht. Katjas Augen verfolgten den glimmenden Punkt, bis er in der Dunkelheit verlosch. Ging die Frau jetzt?

Die blieb. Sie steckte sich die nächste Zigarette an.

Katja reichte es langsam: »Was soll das?«

»Was?«

»Na, das hier. Merken Sie nicht, dass Sie stören?«

»Nein.«

»Sie stören aber.«

»Wobei?«

»Das geht Sie gar nichts an.«

»Okay.«

Katjas Augen wurden schmal.

»Sind Sie vom Wachdienst oder so was?«

»Eher so was.«

»Dann gehören Sie zur Baustelle?«

»Nee. Sie?«

»Sehe ich etwa so aus?«

»Ich vielleicht?«

»Wenn Sie nicht zur Baustelle gehören, dann haben Sie hier nichts verloren.«

»Sie auch nicht.«

»Mag sein. Aber das ist meine Sache. Verschwinden Sie endlich.«

»Verschwinden Sie doch.«

»Das will ich ja.«

»Warum sind Sie noch da?«

»Weil ich in Ruhe verschwinden will. Kapiert?«

»Nö.«

Katja besah sich die Raucherin. Die war in ihrem Alter. Wollte die am Ende ...?

»Wollen Sie etwa auch …?« Katja wies nach unten zum Wasser. »Sie wissen schon.«

»Was?«

»Was?«, äffte Katja nach. »Na, ... verschwinden, halt?«

Die Raucherin schüttelte stumm den Kopf.

Als keine Antwort kam, hakte Katja nach.

»Und wie lange, haben Sie vor, da in der Gegend herumzustehen?«

»Bis Sie weg sind.«

»Ich?«

»Sie wollen doch verschwinden.«

Katja lachte patzig und verschränkte demonstrativ ihre Arme vor der Brust: »Da können Sie lange warten. Ich hab Zeit.«

»Und ich erst.«

Katja knickte ein. Ihre Stimme klang plötzlich sehr dünn. »Sie ahnen vermutlich, was ich vorhabe?«

»Nicht mein Problem.«

»Eben. Also lassen Sie mich bitte in Ruhe. Ich möchte allein sein.«

»Sind Sie doch.«

»Ganz allein.«

»Sind Sie doch.«

»Ich meine: Ohne Sie.«

»Ich bin gar nicht da.«

»Ach, nee? Dann träume ich Sie wohl.«

Die Raucherin zuckte mit den Schultern und versuchte, einen Rauchkringel in den Nachthimmel zu zaubern. Es misslang.

Katja atmete tief durch: »Kapieren Sie denn nicht?«

»Was?«

»Ich werde Schluss machen.«

»Nur zu.«

Katja krallte ihre Finger um das Geländer. Sie starrte auf das Wasser. So glitzernd und gleichmäßig, wie es unter ihr dahin zog, kam sie ins Wanken. Sie schaute unsicher zu der Raucherin hinüber. Die hatte nur Augen für das dunstig wabernde Oval, das sich vor ihrer Nase in der Nachtluft verflüchtigte.

Katja sah die andere forschend an: »Sind Sie deswegen hier?«

»Wegen der Kringel?«

»Sie wissen, was ich meine. Sie wollen auch Schluss machen. Stimmt’s?«

»Wieso sollte ich?«

»Was weiß ich? Warum sollten Sie sich wohl sonst hier herumtreiben, verdammt noch mal. Mitten in der Nacht.«

Die Raucherin schnippte den Rest ihrer Zigarette fort und reckte sich.

»Nur so.«

»Nur so?«

»Nur so.«

Katja öffnete den Mund. Ihr fiel nichts ein. Also schwieg sie. Für eine Weile. Mit gesenktem Haupt. Konnte oder wollte die andere sie nicht verstehen?

»Ich hab voll die Krise«, murmelte sie mit Blick auf den Rhein.

»Und?«

»Geht nicht mehr.«

»Tja, ...«

»Verstehen Sie nicht? Ich habe die Schnauze gestrichen voll. Ich könnte nur noch kotzen.«

»Kotzen ist okay.«

Katja lachte spöttisch auf. »Ich bin ganz bestimmt nicht zum Kotzen hier.«

»Schon klar.« Die Unbekannte löste sich von ihrem Platz und trat an das Geländer. Sie schaute hinunter: »Ganz schön hoch. Oder tief.«

Katja riskierte noch einen Blick nach unten. Dann wich sie einen halben Schritt zurück und schaute die Fremde an.

»Wollen Sie zuerst?«, fragte sie unsicher.

Die andere schüttelte den Kopf.

Katja signalisierte Kooperationsbereitschaft. Sie streckte ihre Hand aus: »Zusammen?«

Die andere tippte sich an die Schläfe.

»Dann verraten Sie mir doch bitte, was Sie hier zu suchen haben«, blaffte Katja.

Das behielt die Fremde für sich. Sie beugte sich vor und kreuzte die Arme auf das Geländer. Versonnen besah sie sich die Lichter der Stadt, blickte entrückt zu den Sternen empor, dann schniebte sie vernehmlich und spuckte herzhaft in den Rhein hinunter.

Katja verzog angewidert das Gesicht.

»Gehts noch?«

»Was ’n?«

»Das ist voll eklig«, maulte Katja. »Hab echt keinen Bock in Ihrer Rotze zu landen.«

»Dann lassen Sie’s.«

»Dafür ist es zu spät.«

»Dann hopp.«

»Das entscheide immer noch ich.«

»Hatten Sie nicht schon?«

»Was?«

»Entschieden?«

»Ja, hatte ich. Aber dann kreuzen Sie auf und qualmen hier rum. Ich könnte längst weg sein.«

»Was hält Sie auf?«

»Sie.«

»Sorry.«

»Ach, leck mich doch.« Katja reichte es. Sie ließ die Fremde einfach stehen und stapfte energisch zum Aufstieg. Eine Hand schon an der Leiter, wandte sie sich noch einmal um. »Ne Ahnung, wie lange die Brücke noch gesperrt bleibt?«

»Ne Woche; vielleicht zwei.«

»Na, dann. Tschüss.«

»Tschüss. Bis zum nächsten Mal.«

»Arschloch«, murmelte Katja.

Frustriert stieg sie Sprosse für Sprosse nach oben. Sie erschrak heftig, als ihr Fuß abglitt. Eisern klammerte sie sich an den Holm. Das war knapp.

***

»Angel, Angel, Angel.«

»Was?«

Angel wandte sich um. Sie lehnte sich rücklings gegen das Geländer der Arbeitsbühne und stützte ihre Ellbogen darauf. Herausfordernd blickte sie zu dem jungen Mann im schwarzen Ledermantel empor, der ein paar Schritte weiter auf die Plattform niedersank und seine gewaltigen Flügel zusammenfaltete.

»Du hattest Glück, dass sie nicht gesprungen ist, Angel.«

»Die hatte Glück, dass ich sie nicht runtergeschmissen habe, die doofe Nuss.«

»So wirst du nie ein höheres Wesen.«

»Das wollen wir doch mal sehen.« Angel tippte energisch mit dem Zeigefinger auf das Geländer: »Ob es dir gefällt oder nicht. Die wirst du mir anrechnen müssen.«

»Zu einem kleinen Teil.«

»Zum Teil? Hab ich irgendwas verpasst?« Angel schnappte nach Luft. »Die Tussi ist in einem Stück nach oben geklettert, also geht die auch in einem Stück auf mein Konto. Da brauchst du gar nicht so theatralisch zu seufzen, du höheres Wesen, du. Ich lass mich doch von dir nicht verscheißern, nur weil du Flügel hast und ich nicht.«

»Du hast noch einen langen Weg vor dir, Angel.«

»Und nenn mich nicht dauernd Angel. Ich habe auch einen Namen.«

»Den hattest du einmal, Angel. In deinem Leben.«

»… das mir ja leider abhandengekommen ist, irgendwie.«

Angel schnaubte verächtlich.

»Du hast im Gegenzug eine faire Chance bekommen. Die solltest du nutzen.«

»Glaubst du wirklich, ich bin scharf auf ein paar Flügel, hä? Ich sag dir was, Bürschchen: Meine Fittiche könnt ihr euch sonst wohin stecken. Ich habe vielleicht Mist gebaut, aber das heißt noch lange nicht, dass ich hier für euch den Flattermann mache. Lass die armen Teufel doch springen, wenn sie die Faxen dicke haben. Denk lieber darüber nach, warum denen ihr ach, so wertvolles Leben voll am Arsch vorbeigeht. Mit tut es eher leid, dass diese arme Sau jetzt wieder zurückmuss, in die Scheiße, die ihr bis zum Hals steht.«

»Das wäre schon mal ein kleiner Fortschritt, Angel. Am Ende bist du doch kein hoffnungsloser Fall.«

»Verrate mir lieber mal, wie viele Seelen ich retten muss, um ein höheres Geflügel zu werden.«

»Die Zahl spielt keine Rolle, Angel.«

»Ach, nee? Dann kannst du mir die Lady auch voll anrechnen, du Erbsenzähler. Wenn ich die Seelen scheibchenweise retten muss, dauert das ja ne halbe Ewigkeit.«

»Du hast alle Zeit der Welt.«

»Jo, damit wüsste ich was Besseres anzufangen.«

»Zum Beispiel?«

»Das wirst du schon sehen, wenn ich erst meine Fittiche habe. Dann zeige ich dir mal, was man damit alles anstellen kann.«

Angel stieß ihre flache Hand durch die Luft und ahmte dabei das Geräusch eines Düsenjägers nach.

Da musste sogar Tamidor lachen.

»Ich denke, du solltest dich jetzt besser wieder um deine Aufgabe kümmern, Angel. Es gibt eine Seele zu retten.«

»Hab ich doch.«

»Du hast nur ein Leben gerettet, Angel. Für eine Seele braucht es etwas mehr.«

»Und wie soll ich das machen?«

»Das herauszufinden, ist Teil der Aufgabe, die du zu erfüllen hast.«

»Junge, Junge, Junge.« Angel schüttelte resigniert den Kopf. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir dein Gesülze auf die Ketten geht, Tamidor. Fehlt nicht viel und ich springe selbst.« Angel blickte in die Tiefe und seufzte schwer. »Bringt nur leider nichts.«

***

Katja Bauer hockte zerknirscht hinter dem Lenkrad ihres klapprigen Golfs. Die Rückfahrt hatte sie nicht eingeplant. Selbst wenn der Sprit noch reichen sollte, war sie nicht sicher, ob der betagte Wagen es noch bis nach Hause schaffen würde. Sie langte zum Zündschlüssel und zuckte zusammen, als jemand an die Seitenscheibe klopfte. Es war die Frau von der Brücke.

Angel wartete nicht, bis sie dazu aufgefordert wurde. Sie öffnete die Beifahrertür und ließ sich in den Sitz fallen.

»Wir müssen reden«, sagte Angel. Unter dem verdatterten Blick der Fahrerin sah sie sich in dem vollgemüllten Fahrzeug um. »Wohnst du etwa in der Karre?«

»Natürlich nicht. Noch nicht.«

»Irgendwas wohnt hier aber.« Angel verzog angewidert das Gesicht.

»Was wollen Sie von mir?«

»Willst du immer noch verschwinden?«

Katja zuckte unsicher mit den Schultern.

»Schon mal besser als ein Nein«, fand Angel.

»Ich hatte nicht den Eindruck, als würde Sie das groß interessieren.«

Angel dachte kurz nach.

»Von mir aus kannst du gern die Biege machen. Ist schließlich deine Entscheidung. So sehe ich das. Andere sehen das aber anders. Und genau die sitzen mir im Nacken und deshalb habe ich dich jetzt an der Backe. Klar?«

Katja nickte unsicher. Dann schüttelte sie den Kopf und schaute die Fremde argwöhnisch an.

»Wollen Sie Geld?«

Angel runzelte die Stirn: »Hä?«

»Haben diese Anderen Sie geschickt, um meine Schulden einzutreiben?«

»Was? Nee, natürlich nicht. Hast du Schulden?«

»Ja, leider.«

»Wolltest du wegen deiner Schulden springen?«

»Auch«, sagte Katja. Sie gab sich alle Mühe aus der Situation schlau zu werden. »Sie wollen kein Geld?«

»Jetzt nicht mehr. Früher schon. Wie viel?«

»Schulden? Ein paar tausend Euro.«

»Mehr nicht?«

»Mir reichts. Ich weiß beim besten Willen nicht, wo ich das Geld herbekommen soll. Ich bin total pleite.«

»Dann solltest du besser keine großen Sprünge machen.«

»Wieso interessieren Sie sich auf einmal für meine Sorgen? Haben Sie keine eigenen?«

»Doch, klar. Oder nein.« Angel hielt inne, um kurz nachzudenken. »Schwer zu erklären. Wenn ich wüsste, dass du dich nicht umbringst, hätte ich jedenfalls ein Problem weniger.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du hast vorhin gesagt, das sei deine Sache. Ist es im Grunde auch. Deshalb könnte es mir auch scheißegal sein. Es wäre aber möglich, dass dein Sprung dir völlig neue Probleme beschert. Sogar das könnte mir scheißegal sein. Das Blöde ist aber, dass ich in deinem Fall auch ein paar unangenehme Fragen beantworten müsste. Verstehst du das?«

»Nee. Wieso Sie?«

»Das kapierst du eh nicht. Es gibt halt Leute, die nicht wollen, dass du springst, und deshalb werde ich dafür sorgen, dass du am Leben bleibst.«

»Verstehe. Sie sollen dafür sorgen, dass ich meine Schulden bezahle. Sie sind von der Inkassofirma.«

»Einigen wir uns auf Schuldenberatung. Oder Lebensberatung. Das klingt besser. Mit Kohle hab ich’s nicht so.«

»Sie wollen mir helfen?«

»Ja. Genau.«

»Und wie?«

»Tja, das ist ’ne gute Frage. Haste noch so eine?«

»Haben Sie auch einen Namen?«

»Nee. Ich bin Angel.«

»Ich bin Katja. Katja Bauer.«

»Ich weiß. Du kannst ruhig Du zu mir sagen. Und nun fahr los, Katja Bauer. Brücken sind keine gute Umgebung für dich.«

»Kann ich Sie ... äh, dich irgendwo absetzen?«

»Kannst du mal versuchen.«

»Bin ich jetzt Ihre ... deine Geisel?«

»Hä? Spinnst du?« Angel schaute die Fahrerin an. »Wir müssen erst mal dein Leben in Ordnung bringen, bevor ich die Flatter mache.«

Angel gluckste leise.

»Und was ist daran so lustig?«, fragte Katja.

»Mach dir darüber keinen Kopf. Fahr schon.«

Beim fünften Versuch sprang der Golf dann doch an. Katja wendete und fuhr in Richtung Innenstadt.

Angel lauschte angestrengt.

»Die Karre hört sich echt krank an«, sagte sie.

»Kennst du dich mit Autos aus?«

»Ein wenig.«

Angel hatte früher gerne zur Rushhour an der Stadtautobahn gesessen und mit geschlossenen Augen versucht, die einzelnen Fahrzeugtypen zu erraten. Sie konnte auch selbst fahren, obwohl sie keinen Führerschein besaß. Hier herrschte so spät in der Nacht kaum Verkehr. Sie folgten der mehrspurigen Straße in Richtung Innenstadt. Angel fiel auf, dass die Fahrerin sehr nervös war.

Katja trat sogar der Schweiß auf die Stirn.

»Fährst wohl noch nicht so lange?«, vermutete Angel.

»Doch. Schon fünf Jahre.«

»Dann entspann dich mal. Die Straßen sind doch total leer.«

»Der Tank auch gleich. Gut möglich, dass wir ein Stück laufen müssen.«

»Du vielleicht.« Angel nahm’s gelassen.

Während Katja brav mit achtzig über den Ring zockelte, donnerten wie aus dem Nichts zwei Fahrzeuge in hohem Tempo an ihnen vorbei. Erst ein Porsche und gleich dahinter ein tiefergelegter Mercedes.

»Alter Schwede.« Angel schaute den Rücklichtern nach, die sich rasch entfernten.

»Die liefern sich garantiert ein Rennen, diese Idioten«, schimpfte Katja.

»Geil.«

Bevor Katja etwas antworten konnte, begann der Motor des Golfs zu stottern. Ein paar Hundert Meter schafften sie noch, dann rollte der Wagen auf dem Seitenstreifen aus.

»Auch das noch.« Katja sank hinter dem Lenkrad in sich zusammen.

Angel schaute sich um. »Steht doch gut hier.«

»Fragt sich nur, wie lange.«

»Hast du Schiss, dass die Kiste geklaut wird?«

»Ein bisschen.«

»Träum weiter. Außerdem ist der Tank leer.«

»Und jetzt?«

»Bin ich vom Automobilclub? Du gehst jetzt schön vorsichtig nach Hause. Komm mir bloß nicht unter die Räder. Wir sehen uns.« Angel stieg aus und warf die Tür zu.

Katja kramte ein paar Sachen zusammen und stieg ebenfalls aus. Von ihrer Beifahrerin war weit und breit nichts mehr zu sehen. Niedergeschlagen machte sie sich zu Fuß auf den Heimweg.

IN DER SCHWEBE

Fliegen konnte Angel nicht. Schweben schon. Knapp oberhalb der Straßenbeleuchtung glitt sie gemächlich durch die Nacht. Viel zu gemächlich für ihren Geschmack. Schneller ging es aber nicht. Da konnte sie noch so mit den Beinen strampeln oder mit den Armen rudern. Deshalb ließ sie es gemütlich angehen und zündete sich lieber eine Zigarette an. Geraucht hatte sie immer. Nun, da sie so gut wie tot war, sah sie erst recht keinen Grund, sich das abzugewöhnen. Was hatte sie denn noch? Sie folgte der zweispurigen Straße weiter stadteinwärts.

Schweben war nicht Fliegen, aber es war angenehm und eine Fähigkeit, die ihr sicher noch zugute kommen würde. Sie hatte gehofft, auch durch Wände gehen zu können. Das war aber nicht der Fall. Versucht hatte sie es schon. Aus purer Neugier. Im Kölner Hauptbahnhof. Vielleicht hätte sie mehr Anlauf nehmen müssen. Es hatte aber auch so schon ordentlich gerumst. Und es hatte wehgetan. Dabei hatte sie extra eine Wand in Leichtbauweise gewählt. Woher hatte sie denn ahnen sollen, dass es sich dabei um die Rückseite eines Souvenirladens gehandelt hatte? Die Wand hatte standgehalten. Demnach konnte nur eine schlampige Verschraubung der Regale im Inneren die Ursache für deren Einsturz gewesen sein. Zum Glück konnte sie wenigstens schweben. Der aufgebrachte Ladenbesitzer hatte überall nach dem Randalierer gesucht. Nur nicht an der Decke des hohen Korridors.

Sie hatte noch nicht ganz ausgeraucht, da erblickte sie den tiefergelegten Mercedes wieder, der sie kurz zuvor auf dem Ring überholt hatte. Zumindest das, was davon noch übrig war. Große Bruchstücke der Karosserie lagen über die Fahrbahn verstreut. Inmitten des Trümmerfelds lag der blutüberströmte Fahrer. Er lebte. Noch. Angel ging etwas tiefer, um sich das Elend aus der Nähe anzuschauen.

Ihr Blick wanderte über die Wrackteile.

»Was für ein Jammer.«

Sie blickte sich um. Noch war kein Blaulicht weit und breit zu sehen. Auch vom Porsche keine Spur. Sie sank neben dem Fahrer auf den Asphalt hinab.

»Hilfe.«

Der Schwerverletzte krächzte mit dünner Stimme und versuchte, den zerfetzten Arm zu heben.

Sie nahm einen letzten Zug und schnippte ihre Kippe in die Nacht. Noch einmal besah sie sich die herumliegenden Fahrzeugteile.

»Sieht verdammt übel aus, Alter. Die Karre kannst du vergessen. Bricht einem das Herz, wenn man so was sieht.«

Sie schüttelte fassungslos den Kopf.

»Hättest die Kurve ein wenig mehr innen nehmen müssen. Dann hätte es geklappt.«

Der Verletzte antwortete mit einem leisen Röcheln. Er spuckte Blut und hustete. Seine Stimme klang sehr schwach.

»Hilf mir.«

Angel tippte sich an die Schläfe.

»Vergiss es. So wie du aussiehst, pack ich dich bestimmt nicht an. Ist eh zu spät, wenn du mich fragst.«

Sein Röcheln wurde leiser.

Sie besah sich den Fahrer abschätzend.

»Was hast’n mit deiner Seele vor? Du hast doch eine? Oder?«

»W... was?«

»Wäre bei mir in guten Händen«, versicherte Angel.

Sie fuhr leicht zusammen, als aus dem Nichts ein Schatten an ihr vorbei huschte und auf den Sterbenden herabsank. Einen Wimpernschlag später formte sich daraus eine Gestalt, die sich auf die Straße hockte und über den Verletzten beugte. Die Kapuze der Kutte hing so tief über das Gesicht herab, dass Angel nicht einmal erkennen konnte, ob es Mann oder Frau war.

»Das wars dann wohl.«

Angel ahnte, dass sie leer ausgehen würde.

»Das ist nicht deine Sache.« Die Stimme krächzte genderneutral.

»Kein Stress.«, Angel hob beschwichtigend die Hände. »Bin rein zufällig hier.« Sie hielt ihre Zigaretten in die Höhe: »Sargnagel, Kollege?«

Ein scharfes Fauchen kam aus der Kapuze.

»Schon gut. Dachte nur. Wegen der Stimme.«

Schon schoss der Schatten wieder in den Nachthimmel. Der Fahrer röchelte nicht mehr.

Angel wartete, bis der unangenehme Patron außer Hörweite war. Dann machte sie ihrer Enttäuschung Luft.

»Und den Müll lassen wir einfach liegen oder was? Blöder Nichtraucher, du.«

***

Katja Bauer war hundemüde. Ihr taten die Füße weh, als sie endlich ihre Wohnung in der Kölner Altstadt erreichte. Sie glaubte, nicht recht zu sehen, als sie die Frau erkannte, die rauchend auf der Treppe vor dem Hauseingang hockte.

»Du? Wie bist du so schnell hierher gekommen?«

»Luftlinie. Ist kürzer.« Angel rappelte sich auf.

Katja gähnte demonstrativ und sah Angel argwöhnisch an.

»Du willst aber nicht mit zu mir rauf?«

»Mach dir mal nicht ins Hemd, Katja Bauer. Kann mir schon denken, wie deine Hütte aussieht. Hab ja dein Auto gesehen.«

»Ich bin todmüde. Sorry. Außerdem hab ich keinen Platz für dich.«

»Schon gut. Hast du Schlafmittel im Haus?«

»Die werde ich heute ganz sicher nicht brauchen.«

»Ehrenwort?«

Katja nickte matt. Sie war zu müde für lange Debatten und wollte nur noch ins Bett. Sie schob sich an Angel vorbei ins Haus und drückte rasch die Tür hinter sich ins Schloss. In der Annahme, die anhängliche Unbekannte abgeschüttelt zu haben, stieg sie die Treppe hinauf, bis in den zweiten Stock. Die Wohnung war winzig. Ein Zimmer mit Kochnische und Bad. Hoch, aber klein. Alles war noch so, wie sie es am Abend verlassen hatte. Im schwachen Licht der Straßenlaterne legte sie ab, was unbedingt abzulegen war und ließ sich auf die Schlafcouch fallen. Kaum unter der Bettdecke dämmerte Katja auch schon weg.

Mit dem ersten Blinzeln kehrten die Sorgen zurück. Wie lange oder ob sie überhaupt geschlafen hatte, konnte Katja nicht einmal schätzen. Sie versuchte, wieder einzuschlafen, aber es funktionierte nicht. Draußen war es schon zu hell und im Zimmer auch. Widerstrebend fand sich Katja damit ab, dass ein neuer Tag voller Probleme auf sie wartete. Sie wälzte sich auf den Rücken und starrte zur Decke empor.

»Ausgeschlafen?«

Mit einem spitzen Schrei schnellte Katja senkrecht in die Höhe. Kreidebleich stand sie auf ihrem Bett, fiel gegen die Wand und starrte die Frau an, die seelenruhig im einzigen Sessel hockte und in einem Magazin blätterte. Katja rang nach Luft. Ihr zitterten die Knie.

»Sind S ... bist du ...? Wie ... wie bist du hier hereingekommen?«

Angel winkte ab und blätterte zur nächsten Seite. Durch Wände mochte sie nicht gehen können, aber Türen waren schon zu Lebzeiten kein Problem für sie gewesen.

Katja rang nach Luft. »Ich hätte fast einen Herzschlag bekommen.«

Angels Kopf zuckte hoch. »Bloß nicht. Reiß dich mal ein bisschen zusammen, Mensch.«

»Was ... was willst du von mir?«

»Reden. Was sonst?«

Katja hockte sich im Schneidersitz auf die Matratze und schlug die Hände vor das Gesicht. Sie war noch immer fix und fertig. Sie gestikulierte nur hilflos. Ihr fehlten einfach die Worte.

Angel legte das Magazin beiseite und faltete erwartungsvoll die Hände. Sie ließ Katja alle Zeit, die sie brauchte, um ihre Fassung zurückzugewinnen. Das dauerte länger, als Angel erwartet hatte, aber sie übte sich in Geduld.

Schließlich hob Katja abwehrend beide Hände.

»Ich muss jetzt erst mal duschen.«

»Lohnt sich das? Hast du noch saubere Wäsche?«

Katja schaute ihr Gegenüber argwöhnisch an: »Warst du etwa an meinem Schrank?«

Angel sah sich erstaunt um.

»Im Schrank hast du auch noch Klamotten?«

»Leck mich doch.«

Katja rutschte von ihrer Schlafstelle und stakste ins Badezimmer. Nachdem sie sich frisch gemacht und angekleidet hatte, hockte die unheimliche Besucherin immer noch in ihrem Sessel und blätterte wieder in der Zeitschrift.

»Deine Kaffeemaschine ist im Arsch«, sagte Angel.

»Die ist nicht im Arsch. Ich hab nur keinen Strom.«

»Verstehe. Hör auf rumzurennen und setz dich mal hin. Ich will mit dir reden.«

»Worüber?« Katja ging zum Kühlschrank.

»Worüber wohl? Wieso warst du gestern auf der Brücke?«

»Warum warst du denn da?«

»Dienstlich, gewissermaßen. Ich habe zuerst gefragt.«

»Das kannst du dir doch denken oder?« Mit einer Tüte Orangensaft kehrte Katja zu ihrem Bett zurück und nahm einen Schluck. Sie bot Angel die Tüte ebenfalls an, aber die lehnte dankend ab.

Es dauerte, bis Katja sich dazu durchringen konnte, mit einer wildfremden Frau über ihre verzweifelte Situation zu sprechen. Nach und nach erfuhr Angel, dass Katja nach einigen Enttäuschungen endlich den Mann fürs Leben gefunden hatte. Im Internet. Ihre Augen leuchteten noch immer, als sie davon erzählte. Was dann folgte, verschlug selbst Angel die Sprache. Der Typ war Surflehrer in Spanien. Hatte er zumindest behauptet. Und er brauchte Geld, um wieder nach Deutschland zurückzukehren, wo er ein Haus geerbt hatte. Angeblich.

Angel sah Katja ahnungsvoll an: »Du hast ihm das Geld jetzt nicht gegeben oder?«

»Ich liebe ihn aber.«

»Liebe.« Angel tippte sich an die Schläfe. »Liebe is ne Droge, du Idiot. Wahrscheinlich die schlimmste Droge von allen. Ich weiß, wovon ich rede. Kannst du mir glauben. Ich brauch mir Verliebte nur anschauen, dann sehe ich schon, dass die nicht mehr alle Latten am Zaun haben. Wie kann man nur so blöd sein? Wie viel hast du diesem Typen bezahlt?«

»Fünftausend. Erst mal.«

»Erst mal?«

»Mehr hatte ich nicht auf meinem Konto.«

»Du hast für das Arschloch dein Konto leer geräumt?«

»Was sollte ich denn machen? Dennis musste doch irgendwie nach Deutschland zurückkommen.«

»Und dafür brauchte der fünftausend Steine?«

»Zehn.«

»Was, zehn?«

»Zehntausend. Dennis hatte Schulden in Spanien.«

Angel starrte Katja an. Ihr fehlten die Worte.

Katja gab sich alle Mühe, ihr Handeln zu erklären: »Wegen der Erbschaft brauchte er ja auch noch was. Hast du ne Ahnung, was so ein Notar kostet?«

Angel sagte nichts. Sie schloss nur kurz die Augen.

»Wir wollten ja in das Haus einziehen, das Dennis geerbt hat«, fuhr Katja fort. »Nach der Hochzeit. Sobald es renoviert war.«

»Wie viel?« Angel blieb erstaunlich ruhig.

»Alles in allem? So genau kann ich das gar nicht sagen. Vielleicht dreißig.«

»Tausend?«

Katja nickte.

»Bist du irre?«

»Was hättest du denn gemacht, an meiner Stelle?«

»Ich hätte diesem Dennis die Eier abgeschnitten.«

»Ha«, triumphierte Katja. »Dafür muss er aber erst mal nach Deutschland kommen.«

»Dreißigtausend.« Angel tippte sich heftig an die Schläfe. »Wo hattest du die Kohle überhaupt her? Dein Konto war doch platt.«

»Kredit.«

»Welche Bank gibt dir einen Kredit über dreißigtausend?«

»Ich habe sogar fünfzig bekommen. Da staunst du, was?«

Angel blinzelte ein paar Mal. »Du hast einen Kredit über fünfzigtausend Euro aufgenommen?«

»Aber nur, weil Dennis mich erpresst hat.«

»Womit hat er dich erpresst? Wolltet ihr nicht heiraten?«

»Ja, wollten wir. Als ich kein Geld mehr hatte, drohte Dennis, meine Nacktfotos online zu stellen. Da kannst du mal sehen, in was für einer Notlage er war.«

»Wieso hatte der Nacktfotos von dir?«

»Weil ich ihm welche geschickt habe. Woher sollte der die wohl sonst haben?«

Angel atmete ein paar Mal tief durch.

»Sonst noch was?«, fragte sie dann vorsichtig.

»Was meinst du?«

»War das alles? Ich meine, wolltest du dich wegen

Dennis und deiner Schulden umbringen?«

»Vor allem deswegen.«

»Vor allem?«

»Auch weil ich meinen Job verloren habe, nachdem Dennis die ersten Bilder online gestellt hat. Du würdest staunen, wenn du siehst, wie viele Herzchen ich bekommen habe.«

Das reichte Angel. »Hör mir jetzt gut zu, Herzchen. Ich werde vermutlich einen Haufen Ärger bekommen, aber ich hole dir die Kohle zurück. Tu mir nur einen Gefallen und spring in der Zwischenzeit nirgendwo runter. Nicht mal von einem Tisch. Kann ich mich auf dich verlassen?«

Katja nickte.

»Lass mich mal machen, Katja. Wir kriegen das wieder hin.«

Angels Stimme klang ungewöhnlich sanft.

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte Katja.

»Keine Ahnung. Aber ich schaffe es, das verspreche ich dir. Jeden Cent bekommst du zurück.«

»Dennis auch?«

»Hä?«

»Bekomme ich Dennis auch zurück?« Katja machte sich schreckliche Vorwürfe, weil sie ihrem Verehrer unterstellt hatte, es ginge ihm nur ums Geld. Seitdem hatte sich Dennis nicht mehr bei ihr gemeldet.

Angel wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie starrte ihr Gegenüber ungläubig an. Dann fing sie sich wieder.

»Hast du ’n Foto von dem Arsch?«

»Leider nicht. Nur von Gesicht und Oberkörper.«

»Okay. Ich würde es gerne mal sehen.«

Katja griff nach ihrem Handy und zeigte Angel das Bild eines sonnengebräunten Modellathleten. Da Angel kein Mobiltelefon besaß, prägte sie sich das Foto sorgfältig ein.

Katjas Handy hatte nur noch wenig Saft gehabt und ihr Computer funktionierte ohne Strom überhaupt nicht. In einem Internetcafé nutzte Angel die Bildersuche. Sie fand das Foto eines Fitnesssportlers, das jenem auf Katjas Handy schon recht nahekam, und suchte nach ähnlichen Abbildungen. Es dauerte nicht lange, dann entdeckte sie genau die Aufnahme, der Katja auf den Leim gegangen war. Im Internet benutzte Dennis den Namen Timo Öchsle und war Fotomodell. Bevorzugt für Unterwäsche und Bademode. Es gab sogar ein Profil gleichen Namens auf Instagram. Angel klickte sich durch die letzten Posts. Sie waren erst am Abend zuvor hochgeladen worden. In Spanien.

FLÜGELSCHLÄGE

Im Schatten eines ausladenden Sonnenschirms hockte Timo Öchsle in Badehose neben einem Wohnmobil der Luxusklasse. Er zuckte nicht ein einziges Mal mit der Wimper, während die Maskenbildnerin noch einige winzige Korrekturen am Make-up des Österreichers vornahm. Mit den Fingerspitzen zupfte sie das gegelte Haar zurecht. Timos durchtrainierter Körper war bereits für die bevorstehenden Aufnahmen präpariert und schimmerte seidenmatt im warmen Licht der Nachmittagssonne an der spanischen Mittelmeerküste. Die Visagistin trat einen Schritt zurück und betrachtete ihr Werk. »Perfekt, Timo. Du siehst einfach fabelhaft aus.«

Das wusste Timo Öchsle ohnehin, aber er lächelte trotzdem zufrieden, wenn auch nur ganz vorsichtig. Er versprach unter keinen Umständen in seinem Gesicht herumzufingern und saß kerzengrade in seinem Stuhl, um jeden unnötigen Abdruck auf der Haut zu vermeiden. Dann ließ ihn die Maskenbildnerin allein.

Bis die Reihe an ihm war, hatte er im Schatten zu sitzen und zu warten. Das konnte Timo Öchsle. Er war schließlich Profi und hatte schon oft genug für neue Bademodenkollektionen einer internationalen Sportmarke vor der Kamera gestanden. Mit spitzen Lippen saugte er vorsichtig am Strohhalm seiner eisgekühlten Diätlimonade. Bis er sich vor Schreck verschluckte und einen Hustenanfall bekam. Die Unbekannte stand so plötzlich neben ihm, als hätte sie jemand dorthin gebeamt.

Angel war mehr als zufrieden mit sich. Noch hatte sie nicht herausgefunden, wie es genau funktionierte, wenn es mal funktionierte. In bestimmten Situationen konnte sie sich Orte vorstellen oder Menschen. Wenn sie dann die Augen schloss, kam es ihr vor, als fiele sie in ein tiefes Loch und zack, war die genau dort, wo sie hinwollte. Manchmal zumindest. Dieses Mal hatte es geklappt. Vor ihr hockte das Fotomodell stocksteif im Schatten und die Computergebühr hatte sie auch noch gespart. Da konnte Öchsle noch so doof gucken. Dieses Gesicht hätte sie, geschminkt oder nicht, unter hunderttausenden sofort wiedererkannt. Sie wartete geduldig, bis der Modellathlet eilig die Spuren des kleinen Missgeschicks mit einem Papiertuch von seinem Modellkörper getupft hatte.

»Du lebst ja nicht schlecht, Freundchen«, sagte sie.

»Wer sind Sie? Wo kommen Sie auf einmal her?«

»Wir haben eine gemeinsame Freundin, du Kleiderständer.«

»Welche Freundin?« Timo Öchsle unterzog seinen Körper noch einer gewissenhaften Überprüfung, bevor er die Fremde aufklärte: »Ich habe viele Freundinnen.«

»Oh ja, das glaube ich dir gerne, du Wichser. Ich habe leider nur eine. Im Moment. Aber die liegt mir sehr am Herzen.«

»Von wem reden Sie? Schnell, bitte. Ich muss gleich vor die Kamera.«

»Entspann dich, Dennis. Wir haben alle Zeit der Welt. Wo ich bin, gehen die Uhren anders.«

»Wieso Dennis? Ich heiße Timo. Timo Öchsle.«

»Du kannst dir so viele Namen zulegen, wie du willst, Timodennis. Du hast aber leider nur ein Gesicht. Das wird dir jetzt zum Verhängnis, fürchte ich.«

Timo Öchsle schrak auf: »Was ist mit meinem Gesicht? Ist da was?«

»Noch nicht. Ich will die Kohle, Freundchen. Und zwar alles.«

»Welche Kohle? Wovon reden Sie und wer sind Sie überhaupt?«

»Ich rede von den fünfzigtausend, die du Katja Bauer aus dem Kreuz geleiert hast, du Arschnase.«

»Was reden Sie da?« Timo Öchsle straffte sich. »Ich kenne keine Katja Bauer. Sie sollten jetzt besser gehen. Bitte. Ich bin gleich dran.«

»Das bist du ganz sicher. Ich gehe erst, wenn ich das Geld habe.« Angel schaute sich um. »Hast du es hier gebunkert? In deinem Camper?«

»Ich weiß beim besten Willen nicht, wovon Sie reden.«

»Kein Problem, Bürschchen. Ich bin Gedächtnistrainerin. Gleich fällt dir alles wieder ein.«

»Timo? Du bist dran.«

Laut dröhnte das Megafon über den Strand. Am Set wartete alles auf den Star. Das Licht war perfekt. Die Kamera war bereit und die Maskenbildnerin hielt sich mit Puderquaste und Einwegtüchern sprungbereit. Jetzt fehlte nur noch Timo Öchsle.

»Timo? Bist du eingeschlafen?«

Da kam er. Angekrochen. Auf allen vieren. Hier fielen Puderquaste und Papiertücher herab, dort die Kinnladen. Alles starrte fassungslos auf den Mann, dessen Gesicht aussah, als habe er zwei Runden gegen die Brüder Klitschko geboxt. Gegen beide gleichzeitig.

»Mapfke. Mapfke.« Timo war kaum zu verstehen. Er versuchte tapfer, sich an der zuvor vereinbarten Stelle aufzurichten. Es gelang. Kurz. Dann kippte er der Länge nach vornüber in den Sand.

***

»Angel, Angel, Angel«, vernahm Angel eine inzwischen wohlbekannte Stimme mit dem ebenso wohlbekannten Unterton. Es war das erste Mal seit ihrem Supertrip, dass sie wieder im Licht stand. Ein schlechtes Gewissen hatte sie zwar schon, aber sie versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen. Es gelang nur bedingt.

»Wie konntest du dich nur so gehen lassen?«

Tamidor nahm die junge Frau mit vorwurfsvoller Miene ins Visier. Wenn Tamidor eins konnte, dann vorwurfsvoll gucken.

»Ich habe vielleicht etwas überreagiert«, räumte Angel ein.

»Du bist gewalttätig geworden. Was hat dieser arme Mann dir getan?«

»Armer Mann? Hast du seinen Camper gesehen? Wenn der Typ arm ist, will ich sofort auch so ne Kiste.«

»Er hatte überhaupt nichts mit Katja Bauer zu tun. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hättest du noch lange nicht das Recht gehabt ...«

»Das hättest du mir auch vorher sagen können.« Angel platzte der Kragen. »Aber unser feiner Herr Tamidor hat sicher Wichtigeres zu tun, während ich mich mit kranken Seelen herumschlagen muss. Hinterher kann jeder große Reden schwingen. Sogar ich.«

Tamidor wollte etwas sagen, aber Angel ließ das höhere Wesen gar nicht erst zu Wort kommen. Nach wie vor hielt sie Angriff für die beste Verteidigung.

»Woher sollte ich denn wissen, dass es im Internet vor Bildern von diesem Öchsle nur so wimmelt, hä? Ohne Handy, hä? Wie soll ich bitte schön auch nur eine Seele retten, wenn ich nicht mal ein Handy bekomme?«

»Darüber, Angel, musst du dir keine Gedanken mehr machen. Deine Bewährungsphase ist hiermit beendet.«

Angels Augen wurden schmal.

»Ach, ja? Schön. Dann kann ich ja wieder nach Neukölln zurück. Warum nicht gleich so?«

Die Art, wie Tamidor sie anschaute, verunsicherte sie aber doch ein wenig.

»Ich kann doch nach Berlin zurück. Oder?«

»Wohl eher nicht«, seufzte Tamidor schwer.

Beide sahen sich an. In Angels Augen war bange Erwartung zu lesen, in Tamidors Blick lag aufrichtiges Bedauern.

»Nu sag doch mal was«, quengelte Angel.

»Du wirst noch einmal ganz von vorne anfangen müssen, Angel.«

»In Neukölln?«

»Ganz vorne, fürchte ich.«

»Das heißt?«

»Du wirst dich von deiner Identität vollständig verabschieden müssen, Angel.«

»Wie jetzt?«

»Du kehrst zurück ins Kollektiv. Also nicht du, sondern dein Innerstes.«

»Hä? Versteh ich nicht.«

Angels Stimme klang ungewohnt dünn.

»Das hatte man schon vor, als du so unvorhergesehen zum ersten Mal hier erschienen bist, Angel. Da sah man jedoch davon ab, weil ich mich für dich verwendet habe. Es tut mir wirklich leid, Angel. Aber nun kann ich leider nichts mehr für dich tun.«

»Und was heißt das jetzt? Von was für einem Kollektiv redest du da? Ne Art Wohngruppe?«

Tamidor wies in das Licht, das allgegenwärtig war, wo Angel den Blick auch hinwandte.