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Tore Renberg

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Beschreibung

Intensiv, lustig, hemmungslos und ergreifend - ein Buch voller Wahrheit

Ben hat die Nase voll von seinem geizigen Vater und seiner psychotischen Mutter. Ihn langweilt sein tristes Leben, nur ab und zu unterbrochen von kurzen Glücksmomenten beim Benzinschnüffeln. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Rikki macht er sich auf die Suche nach einem neuen Leben, nach seinem Leben, und nichts und niemand wird ihn aufhalten. Ziel ist Stavanger, ein paar Kilometer weiter nördlich. Dort lebt sein Onkel Rudi, der sich einen Dreck schert um Recht und Gesetz. Allein das große Geld zählt. Ben und Rikki verlassen ihr Zuhause mit der kleinen Hoffnung auf ein bisschen Glück, doch das Schicksal hat etwas anderes mit ihnen vor.

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Das Buch

Ben hat die Nase voll von seinem geizigen Vater und seiner psychotischen Mutter. Ihn langweilt sein tristes Leben, nur ab und zu unterbrochen von kurzen Glücksmomenten beim Benzinschnüffeln. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder Rikki macht er sich auf die Suche nach einem neuen Leben, nach seinem Leben, und nichts und niemand wird ihn aufhalten. Ziel ist Stavanger, ein paar Kilometer weiter nördlich. Dort leben ihr Onkel Rudi, der sich einen Dreck schert um Recht und Gesetz. Allein das große Geld zählt. Ben und Rikki verlassen ihr Zuhause mit der kleinen Hoffnung auf ein bisschen Glück, doch das Schicksal hat etwas anderes mit ihnen vor.

Der Autor

Tore Renberg, 1972 in Stavanger geboren, ist Schriftsteller und Musiker. Seit seinem Debüt 1995 hat er mehrere preisgekrönte Romane geschrieben, die durch ihre Sprachgewalt für Aufsehen sorgten. Der kommerzielle Durchbruch gelang mit »Mannen som elsket Yngve« (»Der Mann, der Yngve liebte«), der zu einem der meistgelesenen Romane des Jahrzehnts in Norwegen avancierte und später erfolgreich verfilmt wurde.

Lieferbare Titel

978-3-453-27073-2 – Wir sehen uns morgen

TORE RENBERG

VONALLENSEITEN

ROMAN

Aus dem Norwegischenvon Elke Ranzinger

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

Angrep fra alle kanter

bei Forlaget Oktober, Oslo

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2014 by Tore Renberg

Copyright © 2019 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München

Umschlagabbildung: Johannes Wiebel, unter Verwendungeines Motivs von photocase.de (pollography)

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-21937-6V001

www.heyne-encore.de

You’re the same kind of bad as me

TOM WAITS

Oktober

1    Benzin am Gravarslia

Die Temperaturen sanken.

Von einem Oktobertag zum anderen war es Herbst, und für die Leute im Vestlandet hieß es ab jetzt wieder frieren. Die Luft wurde frischer, sie stach auf der Haut, und Wolken trieben über dem Gandsfjord. Zeit, sich einen Schal um den Hals zu schlingen, Zeit, die seit letztem Winter im Keller verstaute Jacke rauszukramen, die knielange, die richtig warm hält, und Rikki und Ben kotzte es verdammt an, dass sie sich die Ärsche abfroren, als sie an diesem Montagabend mit Kiwi-Einkaufstüten und einer Plastikflasche bewaffnet zwischen den paar Bäumen am Gravarslia hockten und Benzin schnüffelten. Während sie darauf warteten, dass sie der Kraftstoff anheizte, ruhte ihr Blick auf dem Jahrmarkt, der unten am Maxi-Markt-Parkplatz stand wie ein bunter Geburtstagskuchen, entzündet in der Dunkelheit von Sandnes.

Rikki rutschte die Tüte zuerst aus der Hand, und langsam glitt er rückwärts ins Gras. Endlich kam das Gefühl, dass die Zunge hinter seinen kreuzbissigen Kauern zu einer fetten Sohle wurde. Endlich kapitulierte die Kieferklemme, sackte der Vorbiss in Richtung Boden, und in der Mundhöhle machten die Zähne sich quasi locker. Rikki seufzte, und auf seinen aufgesprungenen Lippen breitete sich ein schiefes Grinsen aus. Ein paar Sekunden lang versuchte er, den oberhalb der Baumwipfel funkelnden Sternenhimmel zu betrachten, dann gab er auf und konzentrierte sich lieber auf das Karussell in seinem Kopf.

Kurz darauf sank neben ihm sein jüngerer Bruder Ben ins Gras, auch ihm hatte das Benzin ganz schön eingeheizt, doch er machte die Augen nicht zu. Er riss sie auf, sie strahlten. Seine feminin weiche Gesichtshaut glühte glimmerbraun, seine ozeangrünen Augen funkelten mit dem Sternenhimmel um die Wette, und seine vollen Lippen waren leicht geöffnet.

»Hörst du Musik, ey?«, murmelte Rikki.

»Musik?«, kam es nach einer langen Pause von Ben.

»Mhm?«

»Musik, Musik, Musik«, wiederholte Ben, und sein Blick fraß sich wie ein schnappender Mund von Stern zu Stern.

»Ja, Musik. Hörst du ’ne Musik, ey?«

Bei einem Stern hielt Ben inne und liebkoste ihn regelrecht. »Neein … Ich hör Hubschraubergeräusche … Musik?«

»Jaa … Hörst du keine Musik?«

Ben schüttelte langsam den Kopf und streckte die Zungenspitze nach dem Stern aus, leckte ihn sauber. »Nein, ich hör keine Musik.«

»Ich hör Musik«, murmelte Rikki mit noch immer geschlossenen Augen. »Faithless.«

»Hm.« Ben nickte. »Ich hör Faithless nicht.«

»Ich schon. Und zwar verdammt laut. Mit verdammt viel Bass.«

»Mhm.«

»Dieses, äh … ›God is a DJ‹«, nuschelte Rikki.

Mühsam stemmte Ben den Oberkörper etwas hoch und betrachtete seinen abgeschossenen großen Bruder. »Läuft nur in deinem Kopf«, sagte er, tätschelte sich leicht die Wangen und zupfte den vom Herumliegen im Gras total verkrumpelten Hoodie zurecht.

»Mmmmmmhm, meinem Kopf, scheißgut.«

Mit Schwung wuchtete sich Ben in die Hocke und stand auf. Seine Beine zitterten, die Muskeln schwächelten. Er kramte das Feuerzeug und eine Prince aus der Hoodietasche und sog die kalte Luft durch die Zähne. Die Flamme des Feuerzeugs warf ein zitterndes Licht auf seine reine Haut. Ben nahm einen tiefen Zug, das Benzingas fickte noch immer sein Sehvermögen, hoffentlich beruhigte es sich bald.

»Eigentlich gehen wir nie auf den Jahrmarkt«, stellte er fest.

Rikki hörte nicht, was sein Bruder sagte. In seinem Kopf spielte gerade Faithless. Jetzt war Konzert. Gigantische Scheinwerferkegel glitten über seinen Gehirnhimmel. Ohne Kopfhörer im Körper deepen Technogroove zu erzeugen, das war echt pyro.

Ben trat auf dem Plateau drei Schritte nach vorn, vor die Eichen mit den dicken Wurzeln, blieb breitbeinig stehen und sah zum Jahrmarkt hinunter. Ein Blitzen und Blinken, monoton, beschwörend, wie eine abstrakte Installation. Ein gotischer Geräuschbrei stieg zu ihnen herauf, ein Durcheinander aus Schreien von Kindern, die in rotierenden Tassen lauthals kreischten, von Jugendlichen, die zwanzig Meter in die Höhe katapultiert wurden und sofort wieder in die Tiefe stürzten. Maschinendröhnen, Kolbenschläge. Ben klemmte sich die Zigarette zwischen die Schneidezähne und schob den Unterkiefer leicht vor und zurück.

So war das oft. Während Rikki sich mit Benzin richtig zudröhnte, war Ben nur die ersten Meter mit am Start. Es kam schon vor, dass sie zum Beispiel auf einer Party landeten und Rikki wie immer alles voll ausreizte, während sich Ben gegen Mitternacht ins nächtliche Dunkel verdrückte, herumstand, nachdachte und mit dem Mond eine rauchte.

»This is my church«, hörte er von hinten.

Ben nahm noch einen Lungenzug und schnipste die Kippe in die Nacht. Er drehte sich um, sein Bruder lag ausgestreckt wie ein Engel mit Hoodie unter dem Baum.

»This is my church«, wiederholte Rikki, und sein Lächeln reichte jetzt fast bis zu den Ohren.

»Jedem seine Kirche, Rikki«, flüsterte Ben.

Er wandte sich wieder dem glitzernden Jahrmarkt zu, der seinen Augen so gut gefiel, als wäre sein Blick ein kleines Kind und die Farben dort unten eine Babyrassel.

Bis Ben sechs gewesen war und Rikki sieben, hatte kaum jemand die zwei Söhne von Melissa Dahle und Frank Martin Digervold unterscheiden können. Sie hatten in ihrem Garten oben in Trones gespielt, wie Jungs es eben tun, also laut, und waren einander im Aussehen ähnlich gewesen. Im Sommer 2003 änderte sich das. Klein Bens Blick bekam plötzlich eine Schärfe. Er ging auf Distanz zur Welt, vor allem zu seinem Bruder. Wenn Melissa den beiden morgens Klamotten raussuchte, weigerte er sich, das Gleiche wie Rikki anzuziehen. Wenn es Zeit war fürs Abendessen, setzte er sich möglichst weit von seinem Bruder weg ans entgegengesetzte Tischende. Wenn Rikki weinte, lachte Ben. Wenn Rikki rannte, stand Ben still. Mehr und mehr musterte er seine Umgebung, er sah die Leute an, als schätzte er sie ab, wie ein Erwachsener, von Kopf bis Fuß. Wen er aber mit dem größten Interesse betrachtete, war sein großer Bruder Rikki. Als nähme er dessen Maße, Größe, Breite, Umfang, Tiefe und stellte all das sich selbst gegenüber. Als bildete der kleine Kerl seine Persönlichkeit förmlich im Kontrast zu der von Rikki aus. Als empfände er es als Beleidigung, einem anderen Menschen mal so ähnlich gewesen zu sein.

Im selben Sommer veränderte sich auch Bens Aussehen, und jetzt wurde es leicht, die beiden zu unterscheiden. Bens Augen wurden anders, das Haar bekam einen anderen Glanz, die Haut einen anderen Teint. Er sah zusehends der Familie mütterlicherseits ähnlich, worüber Melissa sich freute, denn in der Dahle-Familie hatte man extrem intensive Augen, rosige Haut und war bekannt dafür, schöne Kinder in die Welt zu setzen.

Was da aber sonst noch in Ben heraufzog, verwirrte sie. Sprach man mit ihm, antwortete er nicht. Er starrte einfach mit einer auffälligen, fast schon überheblichen Geistesabwesenheit ins Leere. Irgendwelche strahlte er eine unbehagliche Einsamkeit aus, war seltsam in sich gekehrt, und an manchen Tagen schien es ihr schon an der Grenze des Unnatürlichen, dass er so selten, ja so gut wie nie Angst hatte.

Rikki hingegen, der hatte Angst. Und während Ben nach und nach Gestalt annahm, bewunderte Rikki seinen kleinen Bruder immer mehr. Für ihn waren Bens Finger aus Eisen und die Hornhaut in Bens Augen aus kugelsicherem Glas. Anscheinend war in Ben eine Fabrik am Werk, eine, die ihn zu einem furchtlosen Superhelden umbaute. Rikki wünschte sich, auch so zu sein, er stand vor dem Spiegel und bat seinen Körper, doch vielleicht auch bald dem von Ben zu ähneln, aber sein Körper wollte und wollte einfach nicht. Rikki war ein grobes Stück Holz, und sein Geist blieb schlicht. Er entwickelte nichts von der Schönheit seines Bruders und noch weniger von dessen Exklusivität. So wirkte Ben nach und nach abstrakt und quasi übervoll, Rikki aber begreiflich und vorhersehbar. Er bekam Pickel und furchige Haut, die Stimme wurde raspelig, und alles an ihm erinnerte an die Familie väterlicherseits, wo sich alle anhörten, als hätten sie gegen den Sturm angebrüllt, seit sie aus dem Mutterleib geplumpst waren.

Ein Schwätzer war er sowieso, als schlechter Schüler sollte er sich bald erweisen, und wie fast alle Digervold-Männer hatte er keine Geduld. Ein gewöhnlicher und taktloser, riesiger Schlaks. Das Schlimmste aber waren seine Zähne. Die sahen aus, als hätte man ihm den Mund aufgesperrt, dann die Zähne in den Schlund geschleudert, und wo sie auch gelandet waren, hatten sie direkt Wurzeln geschlagen.

Von einer Zahnspange für den Jungen konnte Melissa aber lange träumen, denn einen größeren Geizkragen als Frank Martin Digervold hatte es am letzten Ende des Gandsfjord noch nie gegeben. Wir verbessern jetzt also die Natur, hä?, hatte Frank Martin nur gefragt. Und du willst dann bald Botox, oder wie? Und einen neuen Vorbau?

Wenn sie die Zähne dieses Waldtrolls in Ordnung bringen wolle, dann müsse Rikki schon selbst dafür aufkommen, meinte Frank Martin und zog seinem Sohn die Kosten für die Spange vom Taschengeld ab, das er sowieso schon bis auf die Knochen abgespeckt hatte, als Strafe für jeden Abend, an dem Rikki und Ben zu spät nach Hause gekommen waren, dampfhirnig vom Benzin.

Kate wiederum, dachte Melissa, lief kettenrauchend durch das Haus in Trones, das Frank Martin eigenhändig gebaut hatte, und fluchte, weil ihr Mann wieder einmal bis halb zehn Uhr abends arbeitete und ihre beiden Drecksjungs immer noch nicht nach Hause gekommen waren, ja, Kate müsste ich sein. Mit einem eigenen Salon an der Storgata in Bryne, Kate’s. Drei Angestellte, Meisterbrief statt Schuldbrief, Inkassobrief, Aids-Brief oder was für Scheißbriefe man eben so bekommen konnte, wenn sich das Leben gegen einen gewendet hatte wie gegen Melissa Dahle, 42, Mutter von drei Kindern, manisch-depressiv, Kinderpflegerin aus Ganddal auf Berufsunfähigkeitsrente und Sammlerin von so kleinen japanischen Püppchen, die sie in riesigen Mengen bei eBay kaufte und mit denen sie das Haus überflutete.

Der dümmste Fehler ihres Lebens sei gewesen, einen Digervold zu heiraten, erklärte Rikkis und Bens Mutter immer. Der zweitdümmste Fehler ihres Lebens, fügte sie dann hinzu, sei gewesen, einen Typen zu heiraten, der enorm viel Geld verdiene. Und dann zerschmiss sie einen Teller oder warf einen Apfel nach ihren Söhnen, während sie schluchzend weiterwetterte. Denn wer würde schon einen Mann verlassen, der enorm viel Geld verdiente? Zu guter Letzt brüllte sie dann, der drittdümmste Fehler ihres Lebens sei gewesen, einen Typen zu heiraten, der enorm viel Geld verdiene und so viel schwarzarbeite, dass er bald schwarz wie ein Neger sei, der aber so eisern auf seinen Kronen hocke, dass niemand je auch nur einen Schimmer davon zu sehen bekomme.

Rikki und Ben – an jenem Abend hasenherzig von etwas zu viel Benzin – waren mit ihrer Mutter nicht bei allem einer Meinung, fanden aber beide, dass ihr Geschrei und Geheule, wenn sie sich mal aus dem Bett mühte, nervte.

»Magst du Mama lieber manisch oder depri?«, fragte Rikki immer wieder.

»Ich mag sie grundsätzlich nicht«, antwortete Ben dann.

Ben dachte oft an Geld. Kaum dass er alt genug gewesen war, um zu verstehen, dass man Geld brauchte, um sich was anschaffen zu können, brachte er ihm Ehrfurcht entgegen wie einem König und begann, sich danach auszustrecken. Abends im Bett schloss er bewusst die Augen, und hinter seinen Augenlidern füllte sich sein ganzer Kopf mit imaginiertem Geld, mit Münzen, Scheinen, Ziffern und Größen, und er liebte, was er da sah.

Er war ein versonnener Junge. Die Lehrer sprachen Melissa darauf an, als sie selbst gerade bemerkte, dass an ihrem Jüngsten irgendwas merkwürdig war. Er wirke oftmals, als sei er nicht ganz anwesend, beschrieben sie, ja manchmal scheine er sogar ganz woanders zu sein als die anderen. Frank Martin winkte unwirsch ab und kommentierte Melissas Vorschlag, mit Ben mal darüber zu sprechen, sie sollte verdammt noch mal dem Jungen ja keine Flausen in den Kopf setzen. Man wird, was man tut, das war sein Motto, beendete Frank Martin das Thema.

Dass Ben etwas in der Ferne entdeckte wie an jenem Abend am Gravarslia, kam oft vor. Dann heftete er den Blick aus seinen grünen Augen an irgendwas weit draußen und versenkte ihn mit träumerischer Miene quasi im Horizont. Bens Lehrerin in der dritten Klasse, eine feinfühlige Dame mit einem Schal in den Haaren und großen Ohrringen, die irgendwann das staatliche Schulsystem zugunsten der Rudolf-Steiner-Schule verließ, hatte mal bei einer Elternsprechstunde gesagt, was auch immer Ben ansehe, scheine sein Gehirn zu öffnen, um es dann mit den Gehirnpfoten zu durchwühlen.

»Mein Gott«, hatte Frank Martin Digervold geantwortet, »sind wir hier jetzt im französischen Fernsehtheater?«

»Kirche«, murmelte Rikki im Gras, »Kirche ist scheißgut. Wär da nicht das ganze Jesuszeug, würd ich ständig in die Kirche gehen.«

Ben antwortete nicht. Er sah weiter zum Jahrmarkt. Das Schimmern auf seiner glimmerbraunen Haut veränderte sich ständig, und wer weiß, woher diese eigenartigen Farben kamen, von den Jahrmarktlichtern oder von dem, was in Ben vor sich ging. Der Benzinkick, der immer nur kurz andauerte, war jetzt weg. Keine Sterne mehr zum Schlürfen. Nach einer Weile zündete er sich eine weitere Prince an und blickte zu seinem Bruder.

»Was haben wir eigentlich vor, Rikki?«

Auch aus Rikkis Kopf verflüchtigte sich das Benzin allmählich. Er stemmte sich hoch auf die Ellbogen und betrachtete Bens breiten Rücken. Der wiegte leicht hin und her – was für ein imposanter Anblick: eine dunkle Silhouette vor einem Abendhimmel.

»Shit, Bruder, du siehst aus wie ein Sheriff. Was meinst du denn mit vorhaben?«

Um Bens Kopf waberte Zigarettenrauch. Sein Blick glitt von dem prächtigen Riesenrad, das unwiderstehlich anziehend durch die Dunkelheit leuchtete wie eine sich langsam drehende Zaubermaschine, zu seinem Bruder.

»Das läuft so nicht«, sagte er.

»Hä?«

»Es läuft nicht.«

»Das Benzin?«

»Nein, nein.«

»Faithless?«, hakte Rikki nach. »Was meinst du?«

Ben drehte sich weg, wie magnetisch wurde sein Blick sofort wieder vom Jahrmarkt angezogen. Ein dreifüßiges Fahrgeschäft mit blinkenden Lichtern schoss eine Gruppe Menschen in den Himmel, sie waren mit Sicherheitsbügeln an dem Gerät festgeschnallt, aber in Bens Fantasie öffneten sich die Bügel plötzlich und schleuderten die Menschen, diese Wichte, in die Dunkelheit.

»Ich meine, dass wir was machen müssen«, sagte er.

»Was denn? Warum sollen wir denn was machen? Machen wir nicht sowieso immer was?«

»Wir müssen Geld ranschaffen. Eigenes Geld. Wir müssen irgendwas werden.«

Ein schmerzhafter Seufzer löste sich in Rikkis Brust. Er stand auf und bugsierte seinen langen Körper neben seinen Bruder.

»Jetzt hörst du dich an wie Papa«, sagte er. »Werd dies, werd das, mach dies und das und den und den Scheiß auch und verfickt noch mal nicht das oder das. Uns geht’s doch gut, Mann?«

Ben nahm einen langen Zug von seiner Zigarette.

»Nein, uns geht’s nicht gut.«

»Mir geht’s gut.«

»Nein, tut’s nicht. Du glaubst nur, dass es dir gut geht.«

»Hä?«

»Wir sollten Onkel Rudi anrufen«, sagte Ben ruhig.

»Yeahright«, platzte es aus Rikki heraus. Er riss die Arme in die Luft, und schlagartig war seine Birne klar, so als hätte der Name des Onkels in seinem Kopf eingeschlagen wie ein Chinaböller.

»Spitzenidee.«

»Ich mein’s ernst«, sagte Ben mit klarer Stimme.

»Yeahright«, wiederholte Rikki. »Gib mir ’ne Kippe und hör auf, Scheiß zu labern.«

Ben richtete die ausgeträumten Augen auf seinen großen Bruder.

»Ich mein’s ernst«, wiederholte er und hielt Rikki eine Zigarette hin.

Rikki zündete sie sich an, die Flamme spiegelte sich in zwei geröteten Augen.

»Fuck, Ben«, sagte er und schüttelte langsam den Kopf.

»Ich mein’s ernst.«

»Hab ich kapiert.«

»Onkel Rudi hat Kontakte, Onkel Rudi kann uns was zum Arbeiten geben. Wir können was werden, wir brauchen nicht weiter hier oben am Gravarslia liegen, eine Flasche nach der anderen durchziehen, Faithless im Kopf hören und nichts werden.«

»Mir gefällt Faithless im Kopf und nichts werden.«

»Das sagst du nur wegen unseres Vaters«, sagte Ben und schnipste seine Zigarette in die Dunkelheit. Die Glut drehte sich wie der Glühfaden einer Glühbirne und vermischte sich mit den Lichtern des Jahrmarkts.

»Ja und? Wenn wir mit Rudi sprechen, dann gibt’s Schläge.«

»So what? Schläge gibt’s sowieso.«

Rikki zuckte mit den Schultern. Auch wieder wahr. Wenn sie nach Hause kamen und ihre Mutter im Wohnzimmer rumstapfte, rauchte und schrie, dass Frank Martin da mal sehen konnte, was aus dem Leben in diesem Haus wurde, wenn er jeden Tag zwölf Stunden am Arbeiten war, und wenn sie weiterkeifte, dass Jungs ohne eine väterliche Hand nun mal so werden würden, dann holte Frank Martin aus und brüllte, dass er ihnen die väterliche Hand gern zeigen konnte. Und dann verfolgte er Rikki um den Wohnzimmertisch, bis er ihn erwischte und verdrosch, dann baute er sich vor Ben auf, der nie vor ihm abhaute, schlug ihm mit der flachen Hand ins Gesicht und fragte, ob das der Dank dafür war, dass sie schuldenfrei in einem großen Haus in Trones leben konnten, mit den weltbesten Möglichkeiten auf ein anständiges Leben.

Also, Schläge gab es sowieso.

Die Tracht Prügel aber, die auf die Brüder wartete, wenn ihr Vater herausfand, dass sie mit Rudi Kontakt aufgenommen hatten, an die dachte man lieber nicht. Ging es nach ihrem Vater, hatte Rudi eine solche Schande über die Familie gebracht, dass man sich schämen musste, Digervold zu heißen: Gnade dem, der es wagt, auch nur ein Foto von diesem Drecksköter anzuschauen! Zuletzt hatten sie ihren Onkel vor drei Jahren bei der Beerdigung ihrer Uroma gesehen. An dem Tag hatte es pausenlos in Strömen geregnet, und nachdem die meisten Begräbnisgäste die Kapelle verlassen hatten, spannte Frank Martin seinen Regenschirm auf und marschierte auf Rudi zu. Der stand da, heulte und stierte rauchend auf die Gräber in Eiganes. Ihr Vater spuckte Rudi geradewegs ins Gesicht und sagte, Großmutter würde sich bei einem so ekelerregenden Enkel wie Rudi im Grab umdrehen. Rikki und Ben sahen den Spuckebatzen an der Wange des Onkels hinabgleiten und fanden die Aktion echt krass. Als sie dann in ihrem Opel über die Schnellstraße heim nach Sandnes fuhren, drehte Melissa ihren Hexenschädel Richtung Rückbank und meinte zu ihnen, ihr Vater hätte mehr spucken sollen, denn allein der Gedanke, mit einem kriminellen Typen verwandt zu sein, der psychotische Pornos drehe, sei so ekelhaft, dass sie fast spüren könne, wie an der Innenseite ihres Gehirns der Schleim nach unten rinne. Kate hatte daraufhin das Gesicht zur Scheibe gewandt, draußen war das Kvadrat-Einkaufscenter vorbeigerauscht, sie hatte, angewidert von ihrer Familie, das Gesicht verzogen und war auf der Stelle in ihre Wohnung nach Bryne gefahren.

»Ich hab Onkel Rudi immer gemocht«, sagte Rikki. Er sah seinen Bruder verstohlen an. »Wir knallen uns nicht noch ’ne Runde Benzin rein, oder?«

Ben rührte sich nicht. Er fragte sich, wie viele Sterne wohl dort oben waren und ob stimmte, was Onkel Rudi mal gesagt hatte, als Ben noch klein und die Familie noch vereint gewesen war: dass jedes Mal, wenn ein Mensch stirbt, ein neuer Stern am Himmelszelt entzündet wird.

Nach einer Weile schüttelte er den Kopf.

»Nein. Schluss jetzt mit Benzin. Bin mir nicht sicher, ob uns das so guttut.«

»Ich mag die Musik, die ich höre«, schmollte Rikki, »ich mag den Hubschrauber in meinem Kopf, und ich mag alles, was ich da zu sehen krieg.«

»Ja«, sagte Ben, »aber das ist nicht echt.«

»Hä?«

»Echt. Es ist nicht echt.«

»Echt genug für mich.«

»Für mich nicht.«

»Scheiße.« Rikki fasste sich an den Kopf. »Dann mach ich damit jetzt allein weiter?«

»Rikki, hör mal. Heut hab ich Sterne gegessen.«

»Haha.«

»Gestern bin ich in ein fünf Meter tiefes brennendes Loch gestürzt.«

»Haha.«

»Da gibt’s nichts zu lachen.«

»Aber das ist doch lustig.«

»Du musst lernen, dass nicht alles, was lustig ist, auch zum Lachen ist.«

»Hä?«

»Ich hab da unten in dem Erdloch gelegen, und ich hab gebrannt. Während die Flammen angefangen haben, mein Gesicht abzulecken, und meine Haut kurz vorm Schmelzen war, hab ich einen Menschen gesehen. Der hat oben an der Kante gestanden und zu mir runtergeschaut.«

»Shit.«

»Das war ich selbst, Rikki.«

»Hä?«

»Ich hab oben am Rand gestanden und auf mich selbst runtergeschaut. Verstehst du?«

»Nein.«

»Nicht so wichtig. Der Punkt ist, weder die Sterne noch die Flammen waren echt.«

»Ist doch egal. Du hast es doch gespürt. Hast es gesehen. Wie in ’nem Film, nur umsonst.«

»Ich will lieber die Welt sehen«, sagte Ben.

Rikki verdrehte die Augen. »Du musst immer so scheißpoetisch sein. Werd du mal Dichter, fang mit dem Fliegenfischen an und setz dir ’ne Baskenmütze auf.«

Ben schloss die Augen. In der Grundschule war er gemobbt worden, weil er so gute Gedichte geschrieben hatte, sein Lehrer hatte sie der Klasse laut vorgelesen, und alle Mädchen hatten sie sauschön gefunden, aber die Jungs hatten ihn deswegen verprügelt, wie auch dafür, dass er mit verträumtem Gesichtsausdruck rumgelaufen war und geglaubt hatte, was zu sein.

»Gut«, sagte Ben nach einer ganzen Weile. »Bist du dabei?«

Rikki zuckte unsicher mit den Schultern.

»Find’s seltsam, dass sie Brüder sind. Papa und Rudi, mein ich. Die sind so scheißverschieden wie Country und Metal.«

Ben antwortete nicht. Rikki betrachtete die Silhouette seines Bruders, der weiter über Sandnes schaute.

»Oder Dance und Klassik«, versuchte er es noch mal.

Ben antwortete nicht. Er machte ein paar Schritte näher an den Rand des Plateaus heran, weg von seinem Bruder.

Durch Rikkis Körper schoss so was wie ein Kältepfeil. Er kannte das. Seit er denken konnte, war das so. Wenn sein Bruder sagte, sie sollten etwas tun, wenn sich sein Bruder mit seinen ozeangrünen Augen in etwas hineinträumte, wenn Bens Haut glühte, dann hatte Rikki keine Wahl. Denn ihm war klar, ohne seinen Bruder war er nichts, ohne seinen Bruder lag dann er tief unten in einem brennenden Loch in der Erde und verbrannte, und niemand, nicht mal er selbst, stand oben am Rand und schaute zu ihm runter.

»Ja, Ben«, flüsterte Rikki und stellte sich neben Ben, »ich bin dabei.«

2    Kind des Regenbogens

Wie ein alter Gaul mühte sich der Transporter den steilen Auglendsbakken hoch. Rudi fältelte die Oberlippe wie eine Serviette und sah durch die Windschutzscheibe des Hiace, draußen tanzte ockerfarbenes Laub durch die Luft, wer unterwegs war, lehnte sich beim Laufen gegen den Wind. Er schüttelte den im Fahrzeugtakt wippenden Kopf.

»A-ah«, sagte er laut, um Accept zu übertönen, und trommelte mit dem Stinkefinger aufs Armaturenbrett des Hiace.

Jan Inge schaltete runter, um den Anstieg überhaupt zu schaffen.

»Rudi, es gibt Dinge, mit denen kennst du dich ganz einfach nicht aus.«

»Yeahright«, sagte Rudi.

»Und das ist so was, womit du dich ganz einfach nicht auskennst«, fuhr Jan Inge fort.

»Pff!« Rudi schnaubte.

Jan Inge drehte »Son of a Bitch« leiser. Dann schob er die Unterlippe über die Oberlippe und versuchte, maestro auszusehen, indem er die Mundwinkel nach unten zog. In letzter Zeit hatte er häufiger darüber nachgedacht, wie wichtig es war, so rüberzukommen. Besonnen und entschlossen, mit dem richtigen Führungsstil. Denn worum seine Gedanken jetzt schon länger kreisten und was er Rudi und Cecilie bald mal eröffnen musste, erforderte enorme Bestimmtheit.

»Nope«, rief Rudi und trommelte erneut mit dem Stinkefinger aufs Armaturenbrett. »Nicht deiner Meinung. Garnischgarnisch.«

»Ja, gut«, sagte Jan Inge und packte das große Lenkrad wie ein Lastwagenfahrer, dachte er zumindest, um den Transporter quasi den Hügel hochzuschieben, vorbei an Kristianlyst und der Rudolf-Steiner-Schule, wo die ganzen verdrehten Künstler ihre Kinder hinschickten, »sei du mal nicht meiner Meinung, aber ich bin ja nun mal der Chef dieser Firma, und du bist bei mir angestellt …«

»Pff! Angestellt?«

»Ja, angestellt.«

»Hab ich irgendwann mal irgendwelche Papiere bekommen? Wo ist denn mein Vertrag? Wo ist die Gewerkschaft?«

»Rudi, please! Hör auf zu sticheln und tu nicht so, als würdest du nicht begreifen, worüber ich spreche …«

»Sticheln?! Wer ist denn hier der Judas? Du bist doch der, der stichelt, rumcheft, spaltet und schwanzt! Nur weil ich Warzen im Hirn hab und weniger Schulerfahrung als du.«

Jan Inge zählte innerlich bis zehn – sollte er darauf eingehen oder nicht? –, atmete ein, atmete wieder aus. Mariero Moving ist gerade im Dienst, sagte er sich. Anstand also.

»Wir haben beide wenig beziehungsweise keine Schulerfahrung«, sagte Jan Inge mit neutraler Miene, als sie gerade die Hügelkuppe erreichten und der Kurve nach Norden folgten. Ein kriegerischer Himmel erhob sich um den Ullandhaugturm im Süden, und der Wind blies an diesem Vormittag mit voller Kraft.

»Ich bleib bei meiner Meinung.« Rudi verschränkte die Arme. »Wir werden dafür nicht extra bezahlt, und meistens ist es nur Gequatsche.«

»Gequatsche?«

Jan Inges Gesichtsausdruck sollte Rudi zeigen, dass er jetzt wirklich Blödsinn redete.

»Ja, Gequatsche«, wiederholte Rudi. »Richtiges Quatschgequatsche. Rumstehen und rumlabern, was zu tun ist. Blabla Illustrierte, und ach so, ja, Frau Holmestrand, Sie bitten also darum, dass wir vorsichtig mit dem Büfett sind, weil Sie das von Ihrem Muschileckergroßonkel aus Lillesand geerbt haben. Fühlt sich einfach so wasted an, Jani. Ich bin mehr so der Macher. Du weißt schon. Carpe dieng.«

»Diem«, murmelte Jan Inge.

»Hm?«

»Nichts.«

Jan Inge bremste ab. Er setzte den rechten Blinker und bog in den Auglendsdalen ein, und der Transporter holperte auf der Zufahrt zu der Siedlung mit den schwarz-weißen Reihenhäusern aus den Siebzigern über eine Bremsschwelle.

Rudi beugte sich vor zur Windschutzscheibe.

»Hier war ich echt noch nie. Da wohnst du seit vierzig Jahren in einer Stadt, und dann gibt’s da ’nen Hügel mit Straßen, wo du noch nie warst. Welche Nummer wohnt der Typ? Søllesvik?«

»Sølleland«, korrigierte ihn Jan Inge. »Neununddreißig.«

Das Lenkradleder scheuerte an seinem fetten Bauch, der zwar durch Trainingseinheiten und strenge Ernährungsdisziplin in letzter Zeit kleiner geworden war, aber lange nicht so klein, wie er es sich wünschte.

»Der Macher? Du?« Jan Inge sah grinsend zu seinem besten Freund und musterte ihn mit seinen kleinen Blaubeeraugen. »Du bist ein echter Laberer, das bist du.«

»Ja, ja«, sagte Rudi und schnipste beidhändig mit den Fingern, »aber ich labere beim Machen. Das ist der Unterschied zwischen mir und anderen Labersäcken. Ich betreibe Multitalking.«

»Meinst du jetzt nicht Multitasking?«

»Mein ich das?«

»Glaub schon«, antwortete Jan Inge, um nett zu sein, obwohl er genau wusste, dass er recht hatte.

»Na gut. Dachte immer, das heißt Multitalking. Ist auch scheißegal, wie es heißt, ich kann’s jedenfalls verdammt gut. Labern und gleichzeitig machen.«

»Ich glaub nicht, dass das mit dem Begriff gemeint ist«, entgegnete Jan Inge.

»Hör dir mal zu, Jani!« Rudi schüttelte den Kopf. »Wie oft haben wir darüber schon gesprochen! Du hast verdammt noch mal einen Riesenhaufen topmenschlicher Fähigkeiten, du hättest leicht Professor werden können, hättest du andere Freunde gehabt als mich und Tong und alle möglichen Ratten aus der Rogalandkloake … aber dass du immer redest, als hättest du mehr Ahnung als jeder andere, das geht so einfach …«

»Rudi, hör …«

»Unterbrich mich nicht! Ist nicht mehr in Mode, raff das mal! So hat man früher geredet, Priester und Lehrer und so. Ist nicht mehr cool. Untenauf sein ist jetzt cool. Raff das endlich! Du verletzt die Leute, wenn du so weitermachst und glaubst, du wärst was. Also, voll in Ordnung, dass du ja wirklich etwas bist – da herrscht absolut Topeinigkeit drüber, dass du verdammt viel smarter bist als wir –, aber da kommt nicht gerade Topstimmung auf, wenn du damit rumprotzt. Weißt du, woran mich das erinnert? Das erinnert mich an diesen Psychologen, zu dem man mich in der Grundschule geschickt hat, nachdem Remi und ich in der Cafeteria was gesnitcht hatten. Der Arsch quatschte, als wüsst er allen möglichen Dreck über mich. Fragte, ob mir die Nähe von Erwachsenen fehlt. Nähe?, hab ich gefragt. Willst du, dass ich dir einen blase? Scheiße, was für ein beschissener Typ. So knapp davor, der Schwuchtel das Zäpfchen rauszureißen.«

»Rudi, Rudi, Rudi.« In Jan Inges Stimme war viel Luft. Er seufzte. »Wir haben doch darüber gesprochen.«

»Was?«

»Deine Ausdrucksweise.«

»Ahsch. Weiß schon.«

»Du wirst Vater.«

»Daddy Digervold.«

»Du bist jetzt über vierzig. Höchste Zeit, dass du mal dran arbeitest. Kommunikation.«

»Ja, ja, ja«, brummte Rudi, »aber dein ganzes Mojo mal so über Scheißnacht zu verändern ist echt verdammt schwer.«

»Ist mir schon klar«, sagte Jan Inge nachsichtig, »deshalb haben wir ja auch Geduld mit dir.«

»Dschieses«, sagte Rudi. »Du redest, als wär ich so ’n Problemkind. Als wär ich der Loonie überhaupt – was denn, hab ich ’nen Buckel? Bin ich Eddie the Head? Tropft da Sabber aus meinem Mund?«

»Eine Inspektion«, sagte Jan Inge nachsichtig und um seinem Freund klarzumachen, dass mit dem Quatschgerede jetzt Schluss sei, »bei einer Inspektion geht es um Kundenpflege und Effektivierung. So was verstehst du nicht, du Kind des Regenbogens.«

»Kind des Regenbogens?«

»Ja. Du bist ein Kind des Regenbogens.«

»Hm.« Rudi ließ sich in den Sitz zurückfallen.

»Komische Vorstellung, wenn man genau darüber nachdenkt.«

»Findest du?«

»Wie der Regenbogen vögelt und Kinder kriegt.«

Rudi sah Jan Inge bewundernd an.

»Fuck, ich frag mich echt verdammt oft, wo du das hernimmst, Bruder.«

»Aus dem Himmel in meinem Kopf«, sagte Jan Inge, lehnte sich zu der riesigen Windschutzscheibe vor und ließ den Blick von Hausnummer zu Hausnummer schweifen. »Und bei einer Inspektion dieser Firma hier geht es darum, dass wir bei den Häusern, die wir besuchen, gern den Extradurchblick haben.«

Rudi schnipste und setzte ein schiefes Lächeln auf. »Haha.«

Jan Inge grinste vertraulich zurück. »In dieser Firma begutachten wir einen Safe gern im Voraus, um es mal so zu sagen.«

»Haha.«

Rudi wieherte förmlich bei der Erinnerung an jenen legendären Nachmittag vor beinahe zehn Jahren, als die Inspektion einer Fjordvilla in Vaulen ihnen den Code für die Alarmanlage und den ganzen Kram beschert hatte und sie in derselben Nacht ganz einfach noch mal hingefahren und direkt in ein Jahreseinkommen spaziert waren.

Als Jan Inge ein weiß-braunes Haus mit der Nummer neununddreißig sah, stieg er auf die Bremse.

»Fuck«, sagte Rudi kopfschüttelnd, »du hast so verdammt recht, brother of patience. Ich bin ein multitalkender Idiot aus Tjensvoll, und ich muss alles tausendmal hören, bevor ich’s intus hab, und dann plumpst es ein paar Sekunden später trotzdem wieder raus – also, what’s the point mit mir, also, so überhaupt. Mal abgesehen von meinem Schwanz« – Rudi fasste sich in den Schritt –, »denn der funktioniert ja absolutely perfect.«

Jan Inge manövrierte den Hiace in die Einfahrt und ärgerte sich darüber, wie vulgär sein bester Freund war und dass höchstwahrscheinlich auch keine Aussicht auf Erfolg bestand, aus einem so groben Rindenstück einen Menschen zu machen. Er parkte und zog die Handbremse.

Ja.

Rudi dazu zu bringen, bei seinen Plänen mitzumachen, würde noch ein hartes Stück Arbeit werden.

Durch die Windschutzscheibe sah er, wie eine Eingangstür aufging und ein zerzauster Männerkopf erschien.

Rudi hatte keine Ahnung, worüber Jan Inge so nachdachte. Er spürte ein Kribbeln im Schritt und holte sein Handy raus.

Sind im Auglendsdalen und sehn uns nen Job an. Inspektion weißte. Bin grad verdammt geil. Denk an dein Arsch, muss aber ackern. Bist echt so psychosexy, dass dem Papa der Schädel klickert. Tausend Prozent Looooove vom Bruderherz und ne Million von mir. Hoff, dein Bauch is wieder besser. Auf mit dir und hopphopp nen Kaffee. Liebe dich, meine Sexfabrik. Grüß das Baby. Sag ihm, sein Papa freut sich voll zu sehn, wie es aussieht. See you! Knutsch, Rudi Rudischwanz.

Der Zauskopftyp nannte sich Kjell Arvid Sølleland, murmelte was von Scheidung und Scheißschlampe und zeigte währenddessen auf die Möbel, die tags darauf in seine neue Wohnung in Kvernevik gebracht werden sollten.

»Kann mir nicht leisten, das Haus zu behalten.«

Er verzog den Mund.

»So kann’s gehen«, sagte Rudi und stellte sich vor, Cecilie würde ihn verlassen. »Mein Mitgefühl, Mann. Wieder bei null anfangen.«

»Null, ja«, sagte Kjell Arvid, »Sie sagen es.«

»So, dann haben wir’s«, warf Jan Inge ein, »wir kommen also morgen und holen die markierten Möbel.«

Der Zauskopftyp nickte. Dann kam ihm ein Gedanke, und er legte den Kopf leicht schräg. Sah Jan Inge an. »Sie, ähm … ja … Sie sind doch hier der Boss, oder?«

»Richtig«, sagte Jan Inge, nicht ohne sich sichtlich darüber zu freuen, wie deutlich man ihm den Chef ansehen konnte.

»Jawohl, ja … Wär’s okay für Sie, wenn wir das cash machen? Ähm … schwarz?«

»Entschuldigung?«

Jan Inges Blaubeeraugen wurden dunkler.

»Ja?«

Sølleland zog die Augenbrauen in die Höhe.

»Sagen wir mal, ich hätte diese Frage nicht gehört.« Jan Inge pochte resolut mit der Schuhspitze auf den Boden.

»Schwarz«, schnaubte Rudi, »na, danke auch. Typisch Leute wie du, Søllesvik.«

»Ähm … land«, sagte der Mann. »Sølleland.«

»Dschieses!« Rudi schnaubte. Willst du jetzt auch darüber noch streiten? Mein Gott. Und wie würde diese Gesellschaft aussehen, SølleLAND, wenn keiner Steuern zahlen würde? Hm? Tsch! Wer hätte dann für die neue Tjensvollkreuzung bezahlt? Oder für deine Leber, falls du dir die wegsäufst? Hm? Willst du das bezahlen? Hä? Du?«

Baff stand Sølleland vor den zwei Kriminellen und blickte von einem beleidigten Gesicht zum anderen.

Rudi drillte ihm dreimal den Finger in den Solarplexus.

»Du, Sølleland. Trinkst du? Ehrliche Antwort jetzt. Siehst fast wie jemand aus, der ein paar Koskenkorva runterstürzt, wenn du rumhängst und deine einzige Gesellschaft TV3 ist, weil du dich ganz einfach so bescheuert aufgeführt hast, dass deine Frau Reißaus genommen hat. Hä? Vielleicht solltest du mal bei den AA anrufen?«

»Ich …«

»Oh, hold the fuck up, du Schwindler! Ich will nichts mehr hören«, unterbrach ihn Rudi, fuchtelte mit den Armen und haute dabei eine Vase vom Büfett. Sie krachte zu Boden und zersprang in tausend Stücke. »Jetzt schau dir das an«, sagte Rudi und sah Sølleland vorwurfsvoll an, »jetzt schau, wozu du mich da gebracht hast.«

»Lieber Himmel«, sagte der Mann mit einem schnellen Schritt auf Rudi zu, »ich? Jetzt mal im Ernst, die Vase hatte ich von meiner Großmutter!«

»Deiner Großmutter? Ha! Ja, dann willst du also ihr jetzt die Schuld geben? Echt mieser Stil, Søllesvik! Alte und Kranke in deinen ganzen Schlamassel reinzuziehen! Was denn, willst du ihnen jetzt auch noch ihren Rollator wegnehmen? Willst du bei der Altersvorsorge auch nicht mehr mitbezahlen? Beim Gedanken an dich dreht sie sich doch im Grabe um!«

»Sie ist nicht tot … Lieber Himmel, was sind Sie für ein Wahnsinniger! Sie ist in …«

»Wahnsinnig! Hast du das gehört, Jani?«

»Tut uns vielmals leid«, griff Jan Inge ein und stellte sich resolut vor Rudi.

»Ja, die dürft ihr erstatten«, sagte der Zaushaartyp sachlich zu Jan Inge. »Ich zieh es von der Bezahlung ab. Die ist fünftausend wert, diese Vase.«

»Fünftausend!« Rudi fuchtelte wieder mit den Armen und schob sich an Jan Inge vorbei, stand erneut direkt vor Sølleland. »Ich glaub, du hast Grütze im Hirn, Mann!«

»Fünftausend«, wiederholte Kjell Arvid.

»Du, jetzt reiß dich aber mal zusammen«, sagte Rudi.

»Entschuldigung?«

Unnachgiebig ging Rudi einen Schritt auf ihn zu. Jetzt standen sie Gesicht an Gesicht.

Jan Inge sah, wie sich Rudis Genick versteifte, als würde eine Eisenstange hindurchgeschossen werden. Die Ohren vergrößerten sich quasi, die Lippen schwollen an, und die Adern unter der Haut wurden dicker.

Jan Inge verschränkte die Arme und ließ der Sache ihren Lauf.

Rudis Blick war jetzt der eines Tiers, die Wut pulsierte durch seinen Körper, und er versetzte dem Mann einen Kopfstoß gegen die Nase. Blut strömte über Gesicht und Kleidung, und Sølleland ging in die Knie, brüllte und fasste sich ins Gesicht.

Genervt schüttelte Rudi den Kopf und hievte sämtliche Muskeln wieder dorthin, wo sie hingehörten. Sein Blick fiel auf den Wohnzimmertisch, wo ein aufgeklappter Laptop stand.

»Weißt du, was«, sagte er, »in unserer Firma sind wir echt anticomputer, für uns sind Computer so was wie Dauermenstruation, aber dieses Gerät da, das nehmen wir jetzt mit. Und du kannst dann darüber nachdenken, wie du Menschen so behandelst. Ist Scheiße noch mal nicht verwunderlich, dass du geschieden bist, weil du bist eindeutig kein Mann der Liebe.«

Rudi nahm das Gerät, im selben Moment wachte es aus dem Ruhemodus auf, und der Bildschirm wurde hell. Rudi starrte auf den Laptop in seinen Händen. Runzelte die Augenbrauen. Seine wulstigen Lippen öffneten sich, und ihm klappte das Kinn nach unten, denn da flimmerte jetzt eine Pornoseite.

»Nein!« Er stampfte auf dem Boden auf. »Jani!«

»Was ist?«, fragte Jan Inge und kam schnell zu Rudi.

»Kannst du das glauben?« Rudi stellte das Gerät zurück auf den Tisch.

Jan Inge betrachtete die Seite. Zwei asiatische Mädchen, die auf einem fluffy rosafarbenen Teppich saßen. Die Mädchen waren jung, nackt, und sie knutschten.

»Schau dir diese nordkoreanische Nuttenschweinerei da an«, sagte Rudi und schüttelte heftig den Kopf. Dann blickte er zu dem Mann, der vor Schreck immer noch auf den Knien kauerte.

»Oh nein oh nein oh nein.« Jan Inge schnalzte mit der Zunge.

»Und dazu reibst du dir die Nudel? Du hast ja echt überhaupt gar keinen Respekt vor Frauen!«

»Du Armer«, sagte Jan Inge, und in seinen Schläfen tickte es sachte.

»Scheiße verdammt, du musst dich echt mal zusammenreißen«, sagte Rudi.

»Oh uff oh uff«, kam es von Jan Inge, und ihm wurde immer wärmer.

»Weißt du, was?« Rudi spuckte dem Mann ins Gesicht. »Das ist echt unglaublich enttäuschend.«

»Hä?«

Die Spucke glitt an Søllelands Wange hinunter.

»Was für eine Partei wählst du?«

»Hä?«

»Tu nicht so, als könntest du kein Norwegisch. Was für eine Partei wählst du?«

»Na ja … ich … also, meistens die Høyre.« Sølleland wischte sich die Spucke mit dem Pulloverärmel weg. »Manchmal auch die Arbeiterpartei. Oder Fortschritt.«

»Siehst du«, sagte Rudi und trat dem Mann gegen den Kopf.

»Aaaaaauuu!«

»Du musst die Christliche Volkspartei wählen.«

Rudi trat dem sich am Boden windenden Mann in den Bauch. »Du musst Frauen respektieren, Mann!«

»Aaauuuu!«

»Sie sind das Schönste, was wir haben!«

»Aaaaaaiiiiii!«

»Sie sind Sonnen! Sie sind Sterne! Sie sind verdammt noch mal echt fantastisch!«

»Aaaaaauuuuuuu!«

»Du bist ein Scheißtier! Du musst die Christliche Volkspartei wählen!« Rudi trat dem Mann in den Rücken. »Sprich mir nach! ICH WERDE DIE CHRISTLICHE VOLKSPARTEI WÄHLEN!«

»Ich w-w-w-erde die Christliche Volkspartei wählen …«

»LAUTER!« Rudi trat dem Mann erneut gegen den Kopf.

»Ich werde – aaaauuuuuu– die Chr-chr-christliche Volkspartei – aaaaiiii – wählen!«

»LAUTER! UND OHNE STOTTERN!«

»ICH WERDE DIE – AUUUUUUU – CHRISTLICHE VOLKSPARTEI WÄHLEN!«

»SAG: FRAUEN SIND SONNEN UND STERNE!«

»FRAUEN SIND SONNEN UND STERNE!«

»SO MUSS SICH DAS ANHÖREN, SØLLELAND!«

»Kind des Regenbogens«, flüsterte Jan Inge, und er schien Rudis Fuß beim Treten wie in Zeitlupe zu sehen. Und der Fuß machte weiter und immer weiter, selbst als Rudi schon aufgehört hatte, trat der Fuß die ganze Zeit weiter, bis die erlösende Gnade sich erwies, als wäre sie des Herrn eigene wunderbare, himmlische Extremität.

Eine gute halbe Stunde später kamen die beiden Freunde aus der Herrenumkleide im Elixia-Fitnessstudio in der St.-Olavs-Passage. Ein bisschen Training passe jetzt gut, meinte Jan Inge, nach diesem befreienden Erlebnis bei Kjell Arvid Sølleland. Rudi stand dieser ganzen Trainiererei, die Jan Inge der Firma zurzeit verordnete, eigentlich skeptisch gegenüber, aber das ergab für ihn Sinn: Sich dieses Erlebnis rauszuschwitzen war womöglich positiv.

Jan Inge wirkte wie ausgestopft, wie er so im grellen Fitnessstudiolicht durch die Gänge schlurfte. Die kleinen Puma-Sneakers erweckten nicht gerade den Eindruck, als könnten sie den massigen Körper tragen, und so sah er eher wie ein Elefant auf zwei Beinen aus. Sie liefen am Solarium und am Spinning-Saal vorbei, Jan Inge in seinem engen The-Shining-T-Shirt, einer ausgewaschenen grauen Jogginghose und einem weißen Schweißband um die Stirn, Rudi in schwarzem Slayer-Shirt, schwarzer Jogginghose und schwarzen Adidas-Latschen, die langen Haare in einem Pferdeschwanz.

Unterwegs hoch zum Trainingssaal im ersten Stock wirkte Rudi zwar nicht so ausgestopft wie Jan Inge, aber genauso fehl am Platz, dürr, bleich und voller Tätowierungen, wie er war.

»Schon ’ne Antwort von Cecilie?«, fragte Jan Inge, als sie oben angekommen waren.

Rudi checkte sein Handy und schüttelte den Kopf.

»Schläft wohl«, sagte Jan Inge.

»Da wett ich drauf«, sagte Rudi. »Frauen brauchen ihren verdammten Schlaf, wenn wir ihnen mit unsrer riesigen Liebe einen Braten in die Röhre geschoben haben. Ist nur natürlich.«

Jan Inge zeigte keinerlei Anzeichen von Nervosität, als er wie eine fette Ente in den Saal voller Fahrräder, Rudergeräte und Laufbänder watschelte. Schon beeindruckend, wie ihn die Atmosphäre hier nicht aus der Fassung brachte. All diese bedrohlichen Geräte, all die Menschen mit glänzender Haut und schneeweißen Zähnen, bestimmt fuhren die Porsche und tranken morgens, mittags und abends Bier und hatten Mitleid mit Leuten, die in einem anderen, von der Eurokrise betroffenen Land lebten, und all das perlte ab wie Tau vor der Sonne ihres Selbstvertrauens. Jan Inge zupfte nur mit derselben stilbewussten Sicherheit sein Stirnband zurecht und zeigte zu zwei Rädern, die in der vordersten Reihe frei waren und wie missgebildete Pferde wirkten.

Er nickte einer jungen Frau zu, sie war circa achtzehn Jahre, hatte Pippizöpfchen, ein rosarotes Top, und um ihre hüpfenden Brüste verlief ein feiner Schweißrand.

»Herrlicher Tag für ein bisschen Sport, oder?«

Jan Inge suchte sich ein Fahrrad aus, setzte sich darauf und studierte die Einstellungen auf dem Display.

»Na dann, ja«, sagte er, »dann trainieren wir uns mal ein paar Kalorien ab.«

Rudi blieb vor seinem Fahrrad stehen. Starrte aufs Display, als wäre es ein Feind. Beugte sich vor und kniff die Augen zusammen. »Was bedeutet denn das da? Body fat, recovery, calories … fuck!«

Rudi zog dem Sattel eins über. Schön und gut, dass sie ein Stückchen höher hinaufwollten, schön und gut, dass Jan Inge mit Pioniersmiene rumlief und Ideen im Kopf hatte, wie sich quasi alles verändern sollte, nur weil da ein Kind unterwegs war, und dass er innerhalb eines Monats auf neunzig Kilo runterwollte, dass sie Rohkost essen, ihre Schlafgewohnheiten und alles Scheißmögliche ändern sollten, aber das hier, viermal pro Woche ins Fitnessstudio gehen – und dass Rudi auch noch mitkommen musste, der sowieso dünn wie ein Lineal war –, das war völlig falsch.

Jan Inge wuchtete seinen schweren Hintern vom Sattel, schlenderte zu seinem Kumpel, legte ihm die Hand auf die Schulter, stellte am Display das Gerät für ihn ein und zeigte ihm, wie einfach es war. Lächelte.

»So. Jetzt heißt es nur noch losradeln. Und hör auf, so jähzornig zu sein. Du wirst Papa, weißt du. Cecilie liegt gerade zu Hause, isst Eis, kotzt und spürt das Regiment der Frauennatur, da heißt es für dich jetzt, ein Mann zu sein.«

»Ich hör dich, Lance Armstrong«, sagte Rudi schmollend und strampelte lustlos los.

Voll unerschütterlichem Vertrauen in die Zukunft stellte Jan Inge die Füße auf die Pedale.

»Dieser Vergleich«, sagte er, »war ein bisschen unappetitlich. Bei dem ganzen Doping von Armstrong. Ein unehrlicher Typ. Ich dope nicht und bin ein ehrlicher Typ. Und wenn wir gerade schon dabei sind, dann muss ich dir noch zu Sølleland vorhin was sagen, das mit den Sonnen und Sternen, also das ist dasselbe. Die Sonne ist ein Stern.«

Rudis Mund war total ausgetrocknet, die Zunge fühlte sich an wie ein Stück Pappe.

»Dschieses.« Er seufzte. »Manchmal, Jani, ist es Scheiße verdammt noch mal unmöglich, mit dir zu sprechen, du bist quasi bei jedem Satz wie ein Richter. He! Falsch! Du hast einen Fehler gemacht! Das heißt nicht schwul, das heißt homosexuell! Sonnen, Sterne, Lance Armstrong! Sofuckwhat! Bald kann ich mein Maul gar nicht mehr aufmachen, weil alles, was ich sage, sowieso nur falsch ist! Willst du, dass ich in die Abendschule geh und ’nen Kurs mach? Geht’s darum? Schämst du dich für mich, geht’s darum?«

Jan Inge strampelte ein paar Aufwärmrunden, ohne Rudis Gejammer zu kommentieren. Offenbar hatte sein Kumpel einen dünnhäutigen Tag. Meistens war Rudi froh darüber, etwas Neues lernen zu dürfen, meistens bewunderte er Jan Inges Wissen eher, als dass es ihn beleidigte. Aber an manchen Tagen war es einfach nur mühsam.

So war das wohl mit werdenden Eltern, dachte Jan Inge nicht ohne ein wenig Neid.

Sie werden empfindlich.

Vielleicht besonders, wenn sie kriminell sind.

Da können sie offensichtlich besonders sensibel werden, weil kriminell zu sein heißt, rechtlos zu sein. So viel Unsicherheit. So viel Verlegenheit. Diese Elternabende im Kindergarten, zu denen man muss. Dieses Gemeinschaftsaufräumen mit anderen Blaskapellen- oder Pfadfindereltern, das unvermeidbar ist. Dieses Näherrücken an die Gesellschaft, von der man sich distanziert hatte.

Aber, sagte er sich, das Ganze betrifft auch andere Familienmitglieder.

Onkel, zum Beispiel. Auch ein Onkel kann sensibel werden.

Insbesondere ein Onkel mit Plänen.

Kompliziert.

Noch ein Grund, mit dem rauszurücken, was er auf dem Herzen hatte.

Jan Inge schloss die Augen und mochte, wie seine Gedanken strömten. Er strampelte schneller und erhöhte gleichzeitig auf dem Display den Widerstand. Das Fahrradgefahre setzte ihm ganz schön zu. Die imaginäre Steigung, die ihm das Gerät vorgaukelte, wurde für ihn real. Jan Inge sah vor sich den Riesenberg, dem er sich gerade stellte, verschlungen, hügelig, umgeben von Büschen und Bäumen, überstrahlt von einer mächtigen Sonne, und dachte: Hier kommt dein Onkel, ein Mann des Horrors und der Liebe, ein Mann mit Plänen.

Neben ihm hatte Rudi beim Radfahren mittlerweile den Dreh raus. Er saß total locker im Sattel, Po und Beine arbeiteten hervorragend zusammen, ein guter Tretrhythmus, und der mürrische Ausdruck war seinem typischen leichten und glühenden Enthusiasmus gewichen.

»Läuft super hier«, raspelte Rudis Reibeisenstimme durch den Saal.

Jan Inge lief der Schweiß in Strömen, ihm war leicht eng in der Brust, und sein Kopf kochte.

»Großartig«, presste er atemlos hervor.

Rudi ließ den Lenker los und stützte die riesigen Hände in die Hüften, als hätte er bei der Tour de France mehrere Hundert Meter vor allen Konkurrenten die Ziellinie überquert.

»Ah.« Jan Inge verzog das Gesicht, zweifellos rang er um Atem. »Wir … ups, Sportler sein ist echt anstrengend«, keuchte er, »Richter … Es geht mir … ein bisschen nah … wenn du so was sagst … Ich bin doch nur ein einfacher Onkel … Shit, ah, ganz schön … anstrengend … Also, Richter, ich mein doch ni… Ah … nicht, dass ich …«

Rudi nahm die Hände von den Hüften und klatschte die imaginären Zuschauer entlang der Radstrecke ab, formte dann mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand einen Ring und rammelte den rechten Zeigefinger hinein.

»Gracias! Thankyouthankyou! Tour de Fuck! Grand le Dick!«

Jan Inges Beine und Oberarme zitterten. Seine Zähne klapperten irgendwie, und er konnte kaum noch atmen. Aber da galt es wohl durchzuhalten, über den Berg zu kommen, wie sonst beim Erzfeind des Trainings auch, dem Essen, mit dem Jan Inge die Erfahrung gemacht hatte, dass er, wenn er satt war und trotzdem ganz einfach noch mehr in sich reinschaufelte, eine Grenze überschritt und immer weiteressen konnte, forever.

Rudi wurde langsamer und sah zu Jan Inge, der schwer keuchte.

»Alles okay, Bruder? Hab das Gefühl, du quälst dich ganz schön. Sollen wir nicht einfach sagen: Callitaday, reicht erst mal, dieses Aufneunzigrunter gehen wir Schritt für Schritt an?«

Jan Inge biss die Zähne zusammen und schüttelte den Kopf.

»Du weißt, Rudi«, stieß er nach einem hastigen Einatmen hervor und strampelte heftig weiter, »ich bin keiner, der aufgibt, dieser Onkel ist kein Schlaffi …«

»Nein, nein …«

»Ich hab große Pläne«, sprach Jan Inge weiter, sein Atem begann sich zu stabilisieren, die Beine zitterten weniger, »und du musst einfach wissen, ja, Rudi, du bist in sicheren Händen, du und das Baby und Cecilie«, fuhr er fort und zog bedeutsam die Augenbrauen hoch, während Rudi den nächsten scharfen Spurt einlegte.

»Ja, Jani.« Rudi schmunzelte. »Du bist echt so verdammt on, muss man dir lassen. Und du knabberst schon länger auf was rum. Yessir. Du grübelst und chefst. Echt super. Aber du weißt schon, zu viel davon ist nicht gut? Das fickt dir den Schädel, die Augen werden klein, und du kriegst Ablagerungen an den Nerven, und dann sitzt du auf einmal rum und spielst Geige oder whatnot.«

»Haha.« Jan Inge musste lachen, und mit einem Mal stach es in seiner Brust, ihm wurde schwarz vor Augen, aber dem gab er nicht nach und redete atemlos und heftig strampelnd weiter. »Dass du an meine Gesundheit denkst, ist nett, aber es gibt da was, worüber ich mit dir sprechen muss …«

»Jaha?«

Zwei Elixia-Trainerinnen halfen Rudi dabei, Jan Inge auf dem Weg runter zur Umkleide zu stützen, nachdem er vom Fahrrad gekippt war. Der fette Mann war schweißüberströmt, er schnaubte und japste, als würde er erdrosselt, hinterließ auf dem Boden eine Tropfenspur, und als sie ihn zu der Bank neben den Spinden geschafft hatten, sackte er erst mal zusammen. Dann stürzte er vier Gläser Wasser in sich rein und erholte sich allmählich wieder, nickte bloß, als die Trainerinnen zu ihm sagten, wie toll es sei, dass er sich dafür entschieden habe, seinen Lebensstil zu ändern und etwas gegen sein Übergewicht zu tun, und murmelte »Ja«, als sie sagten, er müsse geduldig sein und es Schritt für Schritt angehen, und zuckte mit den Schultern, als Rudi meinte, dass er genau das auch gesagt habe, dass es um Geduld gehe. Diesen Fehler machten viele, bestätigten die Trainerinnen, zwei junge Frauen mit polierter Haut, glänzenden Wangenknochen und strohblonden Haaren. Die Leute kämen mit einer Riesenenergie hier rein, und dann gingen sie es zu hart an und bekämen Entzündungen und so.

»Ist nur mein Asthma«, sagte Jan Inge, »das muss sich erst dran gewöhnen, dass ich mich in einer Veränderung befinde.«

Sie duschten lange.

Jan Inge mit geschlossenen Augen, Rudis waren offen. Er wusste zwar nicht, ob Jan Inge es seltsam fand, so miteinander zu duschen, also, schon irgendwie ziemlich schwul, aber er war froh, dass er sie beide schonte, indem er die Augen zumachte, während er sich die Haare schamponierte und das warme Wasser über seinen hügeligen Körper lief.

So viel, dachte Jan Inge hinter seinen geschlossenen Augenlidern und stellte sich ein schickes Haus am Fjord vor. Die Sonne brennt durch frisch geputzte Fenster. Eine ziemlich dünne Frau im Sessel stillt ihr neugeborenes Baby. Eine etwas ältere, mollige, elegante Frau wuselt herum, wischt Staub und spricht ruhig mit den Pflanzen und Menschen. Ein großer Mann mit Metal-Tattoo erzählt Witze und hält die Laune hoch. Und mittendrin er selbst, Jan Inge, der Denker aus Hillevåg, der neue Jan Inge, gut trainiert und straff, immer auf Zack, mit einer gut laufenden Firma.

So viel, dachte er und sah zu Rudi, ich hab so viel auf dem Herzen.

»Rudi?«

»Mhm?«

»Ich muss dir was sagen.«

»Hab ich kapiert. Deshalb steh ich hier ja stumm wie ’ne Auster.«

»Wir müssen nach dem Duschen am Solastranden spazieren gehen. Gesprächszeit.«

»Shit. Also rückst du mit irgend ’nem Mist raus?«

»Möglicherweise wirst du das so empfinden«, sagte Jan Inge. »Aber eigentlich ist es die Lösung für all unsere Probleme.«

»Hm.« Rudi seifte sich im Schritt ein. »Wenn du so redest, werd ich echt nervös.«

»Musst du nicht«, beschwichtigte Jan Inge.

Rudi versuchte, an etwas anderes zu denken. Er lauschte dem Rieseln des Wassers in der Dusche. Er betrachtete die Pfützen auf dem Fliesenboden. Er richtete den Blick auf die Schlösser an den Spinden. Aber nichts half.

Jan Inge machte ihn nervös.

Das Einzige, was ihm Sicherheit geben konnte, lag in seinen Händen.

»Hm«, sagte Rudi und schäumte die Seife auf, »dass dieser Schwanz ein Kind gemacht hat. Fantastisch.«

»Kind des Regenbogens«, flüsterte Jan Inge, sodass nur er es hören konnte.

3    Rikki und Ben gehen auf den Jahrmarkt

Im Lauf des Abends sanken die Temperaturen weiter. Die Brüder froren an den Beinen, und Rikki sehnte sich nach mehr Benzin, weil aber sein Bruder so was wie einen Zaun darum errichtet hatte und er nicht gerade darauf brannte, nur wegen des Benzinfeelings außerhalb dieses Zauns zu landen, beherrschte er sich. Rikki war nämlich ein Großmaul, aber auch ein Hänfling, und war er einsam, schrumpfte er ganz in sich zusammen. Weit vor seinem sechzehnten Geburtstag hatte er erkannt, dass er unmöglich allein sein konnte, ganz im Gegensatz zu seinem Bruder, der an diesem Abend fünfzehn war und allem Anschein nach am liebsten allein. Schon lange bevor Rikki alt genug gewesen war, darüber überhaupt nachzudenken, hatte er gespürt, dass er von einer Person auf Erden vollkommen abhängig war, und zwar von Ben Dahle Digervold, und es war ein schmerzhafter Tag gewesen, als er kapiert hatte, dass dies nicht auf Gegenseitigkeit beruhte.

Irgendwann verschwindet Ben vielleicht einfach, weg von ihm, wie ein Pollenkorn im Wind, und kommt nie mehr zurück.

Rikki brauchte Benzin, und was hier abging, fand er ziemlich scheiße. Der Blick des Bruders machte ihn nervös, wie er so statuenmäßig in die Nacht hinausglotzte, machte ihn nervös, und die weiße Kälte, die nach dem Ende des Benzinkicks in ihm aufgezogen war, machte ihn ebenfalls nervös. Er dachte kurz darüber nach zu fragen, ob sie dann vielleicht auf Imprägnierspray umsteigen könnten, Pål Ole Hana hatte damit angegeben, oder einfach nur auf Farbe oder Kleber, ließ es aber bleiben, weil er kapierte, dass Ben es ernst meinte.

»Eigentlich gehen wir nie auf den Jahrmarkt«, sagte Ben nach einer Weile.

»Hast du das nicht schon vor ’ner Stunde gesagt?«, fragte Rikki, ziemlich froh darüber, dass sein Bruder endlich wieder mit ihm sprach. »Hab ich das geträumt, oder hast du das schon vor ’ner Stunde gesagt?«

Ben nickte.

»Dacht ich’s mir doch«, sagte Rikki.

Ben nickte wieder.

»Also, willst du auf den Jahrmarkt, willst du das damit sagen?«, wollte Rikki wissen.

Ben nickte zum dritten Mal.

»Und woher willst du das Geld dafür nehmen? Jahrmarkt ist echt arschteuer, und ich mag so Kaffeetassen oder Scooter oder so Wirbelzeug nicht. Davon wird mir schlecht.«

Bens Träumerblick war jetzt echt umwerfend, Rikki glaubte fast, sein Bruder wäre zu einem Gemälde mutiert.

»Weiß ich«, sagte Ben.

»Was?«

»Dass dir davon schlecht wird und wir kein Geld haben.«

»Ja? Und?«

Ben sah seinen Bruder an, seine Augen waren klar wie poliertes Glas.

»Wir werden Rudi zeigen, dass wir würdig sind«, flüsterte er.

Rikki runzelte die Augenbrauen. »Wie, würdig?«

»Würdig«, wiederholte Ben.

»Ich kann doch keine Fremdwörter«, murmelte Rikki und rieb sich die kalten Hände. »Red so, dass dich auch ein Beta aus Trones versteht.«

»Würdig bedeutet, wir sind good shit«, erklärte Ben.

»Sind wir aber nicht«, entgegnete Rikki. »Wir sind nur zwei Idioten, die nach den Sängern von den Cars benannt wurden, weil unser Vater in den Achtzigern Vorsitzender vom Cars-Fanclub war.«

»Heute redet keiner mehr von den Cars«, sagte Ben. »Hab kein Problem damit.«

»Ja, ja. Also was? Was ist das mit diesem Würdigzeug?«

Ben zeigte auf den Jahrmarkt, der sich immer noch bunt drehte, und erzählte dabei, was ihm in der letzten Stunde gedämmert hatte. Es war von den Kerzen auf diesem Kuchen in der Ferne aufgestiegen, während zwischen Rikkis Schädelwänden Faithless this is my church, this is where I heal my hurt gesungen hatte.

Ben erzählte seinem großen Bruder, dass nur noch an unglaublich wenigen Orten cash gezahlt wurde, aber weil der Jahrmarkt aus Osteuropa stammte, wo das Internet fast noch nicht angekommen war und es kaum Visa-Karten gab und die Leute so verzweifelt waren, dass sie für Geld alles taten, und weil solche Jahrmärkte von Businesstypen betrieben wurden, von Kriminellen, einer Art Mafia, lag dort unten ein Haufen Cash.