Die Lungenschwimmprobe - Tore Renberg - E-Book

Die Lungenschwimmprobe E-Book

Tore Renberg

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Beschreibung

Leipzig/Sachsen, im Jahre 1681: die fünfzehnjährige Anna Voigt steht vor Gericht, sie soll ihr neugeborenes Baby getötet haben. Die Obrigkeit will sie verurteilt sehen, es droht ihr der Tod - wie vielen anderen Mädchen und Frauen in dieser Zeit, die des gleichen Verbrechens bezichtigt werden. Aber dieser Fall ist anders: Sie hat nicht nur einen mächtigen Vater, der sich für sie einsetzt. Sondern es findet sich auch ein Arzt, der etwas spektakulär Neues wagt und ein wissenschaftliches Verfahren entwickelt, das in die Medizingeschichte als "Lungenschwimmprobe" eingehen wird. Durch dieses soll nachgewiesen werden, dass es tatsächlich eine Totgeburt war, wie Anna hartnäckig versichert, und kein Mord. Kann sie gerettet werden?

In Renbergs brillantem historischen Roman folgen wir dieser Geschichte durch die Augen verschiedener, unverwechselbarer, historisch belegter Charaktere – da ist der Arzt, der sich der Wissenschaft verpflichtet fühlt und das Neugeborene untersucht; da ist der kontroverse und progressive Anwalt, der sich entscheidet, diesen nahezu aussichtslosen Fall zu übernehmen; und da ist Annas Vater, ein wohlhabender, einflußreicher Mann, der sich sofort auf die Seite seiner jungen Tochter schlägt und alles daran setzt, damit ihr Gerechtigkeit widerfährt, dessen Hass auf ihre Widersacher so groß ist, dass er sich schon bald auf einen unerbittlichen Rachefeldzug begibt. Demgegenüber stehen die Köchin aus seinem Haushalt, die gegen Anna aussagt - und vor allem der erbarmungslose Ankläger, der das Mädchen durch grausame Folter zum Geständnis bringen will. Inmitten all dessen befindet sich die blutjunge Anna, verzweifelt und verängstigt, aber standhaft in ihrem Beharren darauf, unschuldig zu sein.

Die Lungenschwimmprobe ist ein packender historischer Roman über das Zusammenprallen zweier Welten: die Ausläufer des Mittelalters treffen auf die ersten Ansätze der frühen Aufklärung, dies alles vor dem dramatischen Hintergrund einer barocken Lebenswelt - basierend auf wahren Begebenheiten, die der Autor akribisch recherchiert hat, die Lungenschwimmprobe selbst gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin.

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Buch

Leipzig/Sachsen, im Jahre 1681: Der jungen Anna Voigt wird vorgeworfen, ihr neugeborenes Kind getötet haben. Die Obrigkeit will sie verurteilt sehen, es droht ihr der Tod – wie vielen anderen Mädchen und Frauen in dieser Zeit, die eines ähnlichen Verbrechens bezichtigt werden. Aber dieser Fall ist anders: Sie hat nicht nur einen wohlhabenden Vater, der sich für sie einsetzt und einen jungen Rechtsgelehrten mit ihrer Verteidigung beauftragt. Sondern es findet sich auch ein Arzt, der etwas spektakulär Neues wagt und ein wissenschaftliches Verfahren anwendet, das in die Medizingeschichte als »Lungenschwimmprobe« eingehen wird. Durch diese soll nachgewiesen werden, dass es tatsächlich eine Totgeburt war, wie Anna hartnäckig versichert – und kein Mord. Doch wird sie das wirklich retten?

Die Lungenschwimmprobe ist ein packender historischer Roman über das Zusammenprallen zweier Welten: die Ausläufer des Mittelalters treffen auf die ersten Ansätze der frühen Aufklärung, dies alles vor dem dramatischen Hintergrund einer barocken Lebenswelt – basierend auf wahren Begebenheiten, die Lungenschwimmprobe selbst gilt als Beginn der modernen Rechtsmedizin.

Autor

Tore Renberg (geb. 1972) nimmt in der norwegischen Literatur einen außergewöhnlichen Platz ein, da sein literarisches Werk eine große Spannbreite umfasst. Er ist einer von Norwegens populärsten und erfolgreichsten Autoren, vielfach preisgekrönt, seine Bücher erscheinen in 23 Ländern. Die Lungenschwimmprobe ist sein erster historischer Roman, für den er vor Ort in Leipzig akribisch recherchiert hat.

Tore Renberg

DIE LUNGENSCHWIMMPROBE

Verteidigung einer jungen Frau, die des Kindsmords bezichtigt wurde

Roman

Aus dem Norwegischen von Karoline Hippe und Ina Kronenberger

Luchterhand

Die norwegische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »LUNGEFLYTEPRØVEN« im Forlaget Oktober, Oslo.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert.

Der Verlag bedankt sich dafür.

Die Übersetzer:innen danken dem Deutschen Übersetzerfonds sehr herzlich für die Förderung des vorliegenden Romanprojekts

Copyright © der Originalausgabe 2023 Forlaget Oktober ASCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

Luchterhand Literaturverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Abbildung »Auf- und Niedergang des männlichen Alters«, akg-images

Abbildung »Auf- und Niedergang des weiblichen Alters«, akg-images

Umschlaggestaltung: buxdesign | Ruth Botzenhardt nach einem Entwurf und unter Verwendung einer Illustration von Lotta Kühlhorn

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-32379-0V001

www.luchterhand-literaturverlag.de

facebook.com/luchterhandverlag

Die neue Zeit war angebrochen,

aber wir setzten uns ihr zur Wehr.

P. O. Enquist, Lewis Reise

INHALT

AUF- UNDNIEDERGANGDESMÄNNLICHENALTERS

AUF- UNDNIEDERGANGDESWEIBLICHENALTERS

DASERSTEBUCHDer Leichnam eines Kindes

PROLOG

STRAFGESETZBUCH: STRAFEFÜRFRAUEN, DIEIHREKINDERTÖTEN

KOMMT, IHRSTIMMEN

DASERSTEKAPITEL

DoktorJOHANNESSCHREYER wird an seinem freien Tag gestört, hält einen Vortrag zur Lage der Dinge und wird zu einer Leichenbeschau gerufen, am 9. und 10. Oktober 1681.

DASZWEITEKAPITEL

Der privat praktizierende Rechtsanwalt Phil. et J.U.D. CHRISTIANTHOMASIUS bekommt Besuch von einem Mann in großer Not, Leipzig, Montag, den 10. Oktober 1681.

DASDRITTEKAPITEL

Die Köchin ELISABETHWEBER kniet mit gefalteten Händen auf dem Boden, am 11. Oktober 1681, dem Abend vor dem Verhör.

DASVIERTEKAPITEL

CHRISTIANTHOMASIUS hat sich bereit erklärt, die Verteidigung der Familie Voigt zu übernehmen, und um eine Unterredung mit den Angeklagten gebeten, Donnerstag, den 13. Oktober 1681.

DASFÜNFTEKAPITEL

Dem Amtmann von Pegau, ABRAHAMWALTHER, bietet sich am 15. Oktober 1681 die Gelegenheit, seinen Ruf zu retten, und auf dem Weg aus der Amtsstube begegnet er einer Dame, die das, was sie tut, besser kann als alle anderen.

Das sechste Kapitel

Auerbachs Keller, im November 1681, für CHRISTIANTHOMASIUS läuft es nicht wie gewünscht. Am Tag nach dem Wirtshausbesuch stattet er der medizinischen Fakultät einen Besuch ab, auch hier läuft es nicht, wie erhofft, und erst als er Johannes Schreyer wiedertrifft, zeichnet sich eine gewisse Klarheit ab.

Das siebente Kapitel

Anna Voigt schreibt im Dezember 1681 an ihren Vater aus ihrem Versteck bei den Calvinisten in Dessau.

DASACHTEKAPITEL

Wir kehren zurück zu den Monaten vor Pestausbruch und nehmen zwei Tage im Februar 1680 in Augenschein. Dabei lernen wir JACOBTHOMASIUS, seinen Kantor und seine Schüler kennen und erfahren, wie sie die Ereignisse dieser Tage erlebt haben.

Das neunte Kapitel

Schaurige Ballade über Anna Voigt, wie sie gesungen ward an einer Leipziger Straßenecke, irgendwann in den 1680er Jahren.

DASZWEITEBUCHApril 1695Hans Heinrich VoigtErwacht

DASDRITTEBUCHEin Gerichtsprozess

DASZEHNTEKAPITEL

Genehmigen wir uns einen rhapsodischen Moment, ehe wir den Beteiligten erneut von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten.

DASELFTEKAPITEL

FAMILIEVOIGT, Leipzig, im Frühherbst 1682.Verhör und ein paar Worte über Heimlichkeiten.

DASZWÖLFTEKAPITEL

Wir reisen nach Greitschütz und sehen, wie es der FAMILIEVOIGT im zähen Jahr 1683 ergeht – eine Lähmung, ein Streit, zwei Briefe, ein Weihnachtsessen, ein Hoffnungsschimmer.

DASDREIZEHNTEKAPITEL

Wie das, wovon die Familie Voigt nichts erfuhr, eigentlich vonstattenging. Eine gefühlvolle Begegnung zwischen CHRISTIANTHOMASIUS und JOHANNESSCHREYER, im Spätherbst 1683.

DASVIERZEHNTEKAPITEL

Vergib mir, einen so niederträchtigen Menschen auf die Welt gebracht zu haben! Diese Worte nahm seine Mutter jeden Abend in ihr Nachtgebet auf; wir dürfen vorstellen: Simon Arnholdt Habernicht.

DASFÜNFZEHNTEKAPITEL

Es ist der 25. Februar 1684, CHRISTIANTHOMASIUS reicht für Anna Voigt die erste Verteidigungsschrift ein, in Leipzig gießt es in Strömen, er selbst aber strahlt.

DASSECHZEHNTEKAPITEL

1684 bei der FAMILIEVOIGT: Winter, Ostern und Sommer, Magenleiden, Schulunterricht, eine Begegnung in Leipzig, eine Juninacht.

DASSIEBZEHNTEKAPITEL

DIEFAMILIEVOMSPERLINGSBERG.

DASACHTZEHNTEKAPITEL

CHRISTIANTHOMASIUS erhält ein Sachverständigengutachten, das zu seinen Gunsten ausfällt, er erhält eine Einschätzung aus Wittenberg, die ihn in manchem stützt und in anderem nicht, und dann trifft eine befreiende Tragödie die persönliche. Wir werden eine Leichenpredigt zu hören bekommen.

DASNEUNZEHNTEKAPITEL

DASMÄRCHEN vom bösen Mädchen, wie es Kindern in den 1680er Jahren zur Abschreckung erzählt wurde.

DASZWANZIGSTEKAPITEL

Wir schreiben den Dezember 1684, DASGERICHT von Leipzig fällt ein neues Urteil.

DASEINUNDZWANZIGSTEKAPITEL

DERKORRIDOR.

DASVIERTEBUCHApril bis September 1695Hans Heinrich Voigt Rastlos

DASFÜNFTEBUCHGefängnis Folter Verbannung Heimkehr Tod

DASZWEIUNDZWANZIGSTEKAPITEL

DIEREISE nach Leipzig.

DASDREIUNDZWANZIGSTEKAPITEL

Einige GEDANKEN, unsortiert, sortiert, bange, zaghaft.

DASVIERUNDZWANZIGSTEKAPITEL

ANNA im Rathauskerker.

DASFÜNFUNDZWANZIGSTEKAPITEL

Am selben Tag, an dem Anna in den Henkersturm umzieht, wird CHRISTOPHHEINTZE ins Rathaus einbestellt. Er erhält einen Auftrag.

DASSECHSUNDZWANZIGSTEKAPITEL

Es ist immer noch der 17. Januar 1685;CHRISTIANTHOMASIUS bekommt Besuch von einem verzweifelten Gutsbesitzer und findet außerdem, dass es Dinge gibt, die er nicht sagen kann oder sagen sollte.

Das siebenundzwanzigste Kapitel

Anna auf dem Sperlingsberg.

DASACHTUNDZWANZIGSTEKAPITEL

DETORTURA.

DASNEUNUNDZWANZIGSTEKAPITEL

HANSHEINRICHVOIGT klopft ans Tor vom Sperlingsberg, Sommer 1685.

DASDREISSIGSTEKAPITEL

DIEHÜTTEIMWALD.

DASEINUNDDREISSIGSTEKAPITEL

DIEEHELEUTE, ein Blick aus dem Fenster, März 1686.

DASZWEIUNDDREISSIGSTEKAPITEL

ENGELMAGDALENA stattet jemandem einen Besuch ab, und CHRISTOPHHEINTZE tut etwas Ungewöhnliches.

DASDREIUNDDREISSIGSTEKAPITEL

HERZENSKIND.

DASVIERUNDDREISSIGSTEKAPITEL

Was jetzt, JOHANNBENEDICTCARPZOV?

DASFÜNFUNDDREISSIGSTEKAPITEL

Das ARME-SÜNDER-LIED der bedauernswerten Kindsmörderin Marien Dorotheen Költzins, 26. Oktober 1764, Leipzig, ehe sie enthauptet und gerädert wurde. Zum Vergleich.

Melodie:Wer nur den lieben Gott lässt walten

DASSECHSUNDDREISSIGSTEKAPITEL

Ein FRÜHERMORGEN im Juni 1687, tief unter der Erde.

DASSIEBENUNDDREISSIGSTEKAPITEL

»Dieser unruhige MENSCH.«

DASACHTUNDDREISSIGSTEKAPITEL

Über DIENATUR.

DASNEUNUNDDREISSIGSTEKAPITEL

ANNA.

DASVIERZIGSTEKAPITEL

Ein paar Tage in ZEITZ, im Januar 1690.

DASEINUNDVIERZIGSTEKAPITEL

SONETT

DASSECHSTEBUCHLorenz Februar 1696 Der letzte Tod

EPILOG

NACHSCHRIFT

ANHANG

HISTORISCHEPERSONEN

KARTENUNDILLUSTRATIONEN

QUELLENUNDLITERATURVERZEICHNIS

AUF- UND NIEDERGANG DES MÄNNLICHEN ALTERS

AUF- UND NIEDERGANG DES WEIBLICHEN ALTERS

DAS ERSTE BUCH Der Leichnam eines Kindes

PROLOG

Anna Voigt war ihr Name, und sie lebte vor langer Zeit, aber nur kurz. Sie war keine Bauerntochter, keine Magd, sie gehörte nicht der Schar unbedeutender Seelen an, die diese Zeit bevölkerten – sie war die Tochter eines Gutsbesitzers. Sie musste kein Wasser aus dem Brunnen schöpfen, keine harte Arbeit in der Küche verrichten, sie konnte um frische Kirschen vom Markt bitten und um das hübscheste Häubchen, das es überhaupt zu kaufen gab.

Greitschütz hieß das weitläufige Anwesen, auf dem sie aufgewachsen war. Ein vornehmes Gut, zu dem ein Herrenhaus gehörte, ein Gartenhäuschen mit Kräutergarten, eine Scheune und ein Stall für die Kutschen, Felder und Wiesen und Mühlen, und eine ganze Reihe von Angestellten – Diener, Kutscher, Stallburschen, Knechte, Arbeiter, Mägde, eine Gänsemagd, Köche und Käserinnen, ein Hauslehrer. Wir könnten es eine kleine Gemeinschaft nennen, davon gab es in dieser Gegend viele. Das Gut lag am fruchtbaren Westufer der Weißen Elster, deren Mühlgraben und unzähligen Mühlen großen Reichtum in das Fürstentum brachten.

Wir wissen nicht viel über Anna Voigts Kindheit, aber eines wissen wir: Als sie vierzehn oder fünfzehn Jahre alt war, um Weihnachten herum, im Jahre 1680, kam sie in andere Umstände. Was sich zwischen ihr und dem buckligen jungen Knecht auf dem Gutshof abgespielt hatte, mag im Geheimen schön gewesen sein, es mag grauenvoll gewesen sein, vielleicht auch beides; die Konsequenzen jedenfalls waren verhängnisvoll.

Kaum hatte Anna ihre Kindheit hinter sich gelassen, stürzten sie sich auf sie, um sie zu Grunde zu richten.

Das hielten sie für absolut geboten.

STRAFGESETZBUCH: STRAFE FÜR FRAUEN, DIE IHRE KINDER TÖTEN

Jene Frauen, die ein lebendiges oder wohlgebildetes Kind geboren haben und es heimlich, böswillig, vorsätzlich töten, werden gewöhnlich lebendig begraben und gepfählt. Um die damit verbundene Verzweiflung zu verhindern, kann die besagte Übeltäterin indes auch ertränkt werden, sollte das Gericht Zugang zu einer geeigneten Wasserstelle haben. Wo solches Übel öfter geschieht, wollen wir die erwähnte Gewohnheit des Begrabens und Pfählens beibehalten, um Furcht in die Herzen solch bösartiger Frauen zu pflanzen, und auch zulassen, dass die Übeltäterin vor dem Ertränken mit glühenden Zangen zerrissen wird, alles nach dem Rat der Rechtsverständigen.

Falls indes eine Frau, wie oben erwähnt, heimlich ein lebendiges, wohlgebildetes Kind geboren und verborgen hat, das später tot aufgefunden wird, und falls dieselbe Mutter, wenn die Sache schließlich vor uns kommt und sie dazu befragt wird, als Entschuldigung vorbringt, dass das Kind ohne ihr Verschulden tot geboren wurde, so wird sie ihre Unschuld mit ehrlichen, guten Gründen ausführen müssen. Dann soll so gehandelt werden, wie in Artikel 74 festgelegt: Falls solche Behauptungen zu weiteren Untersuchungen einladen und ausreichende Umstände fehlen, um der Entschuldigung Glauben zu schenken, soll man der Frau nicht vertrauen. Andernfalls könnte sich jede Übeltäterin mit einer solchen Geschichte die Freiheit erkaufen.

Wenn eine Frau aus freien Stücken und auf sich allein gestellt ein wohlgebildetes, lebendiges Kind austrägt, ohne den Beistand anderer Frauen bei der Geburt in Anspruch zu nehmen, was nur mit tödlichem Ausgang geschehen kann, weil sie ohne Hilfe ist, ist dies kein glaubhafter Grund. Wenn eine solche Mutter sich in boshafter Vorsätzlichkeit vor oder nach der Geburt an dem Mord des unschuldigen Kindes schuldig macht, geschieht es in dem Willen, ihre Unehrenhaftigkeit zu verbergen.

Beharrt daher solch eine Mörderin auf ihrer gottlosen, unbewiesenen, störrischen Entschuldigung, sollte sie auf Grundlage obiger hinlänglicher Vermutungen zum Geständnis ihrer unmenschlichen und unchristlichen Tat durch ernsthafte und peinliche Befragungen gezwungen und nach dem erfolgten Eingestehen der Wahrheit zum Tode verurteilt werden.

Bestehen indes Zweifel an Schuld oder Unschuld einer solchen Frau, sollten jene, die richten, alle Umstände in Betracht ziehen und den Rat von Rechtsverständigen und anderen einholen.

Constitutio Criminalis Carolina

Deutsches Strafgesetzbuch von 1532, Artikel 131

KOMMT, IHR STIMMEN

DAS ERSTE KAPITEL

DoktorJOHANNESSCHREYER wird an seinem freien Tag gestört, hält einen Vortrag zur Lage der Dinge und wird zu einer Leichenbeschau gerufen, am 9. und 10. Oktober 1681.

Dunkles Dämmerlicht erhellte den Himmel, als Schreyer sich auf den Weg zur berühmten Herbstmesse in der großen Messestadt machte, so viel wissen wir. Bekleidet mit einem Mantel und in guten Stiefeln vom besten Schuster der Stadt Zeitz saß er bester Dinge in der rumpelnden Postkutsche, voller Vorfreude auf das, was vor ihm lag.

Für Johannes Schreyer war das Leben einfach.

Es ging um Wissen. Es ging darum, seine Zeit nicht mit Kindereien und unnützem Kram zu vergeuden, sondern den Tag zu nutzen, um begierig und friedlich so viel Wissen aufzusaugen, wie ein Mensch nur aufzunehmen vermochte, ohne sich an der Suppenschüssel des Wissens zu verschlucken. In Folge dieses intellektuellen Eifers galt es in Johannes Schreyers Leben keine Sekunde zu vergeuden, und alles, was nur den Anschein einer Unterbrechung erweckte, erzeugte in ihm ein ungutes Gefühl von Zeitverschwendung.

»Doktor Schreyer! Seid Ihr’s? Wartet!«

Der hochangesehene Arzt – Stadtphysicus von Zeitz, wie der korrekte Titel lautete – war soeben nach einer gut einstündigen Reise vor dem Wirtshaus des Städtchens Pegau aus der Kutsche gestiegen, um mit anzusehen, wie der Kutscher den Tieren Wasser gab, während er selbst mit Wasserlassen beschäftigt war. Er hatte die sieben oberen Dörfer entlang der Weißen Elster mit den stattlichen Gütern passiert und ärgerte sich über den Anblick des feisten Boten, der völlig außer Atem über den Platz gerannt kam, wild gestikulierend, als wollte er ein Puppenspiel aufführen.

»Herr Doktor Schreyer, seid Ihr’s, Herr Doktor Schreyer!«

Nun war es sein freier Sonntag, auf den er sich so lange gefreut hatte. Selbstverständlich hatte Schreyer den ersehnten Ausflug bis ins kleinste Detail geplant: Früh aufstehen. Sich schicklich kleiden. Sich von der Gemahlin verabschieden. Katharina auf die Stirn küssen. Und dann: Sich auf den Weg machen. Von Zeitz im Süden nach Leipzig im Norden. Durch das sächsische Tiefland. Unterwegs einen Halt einlegen. Im lieblichen Pegau, wo, wie er wusste, das Bier gut war und die Wirtshäuser ordentlich. Anschließend weiterreisen. Rechtzeitig in der Großstadt eintreffen. In seiner Lieblingsherberge Zum Güldenen Arm in der Petersstraße absteigen. Sich ein vorzügliches Abendessen gönnen und dabei in der Abhandlung lesen, die er in der Reisetasche bei sich trug. Seinem guten Freund Frank Grundtner – einem holländischen Apotheker und Bücherliebhaber mit ausgeprägtem Interesse für Astronomie – einen kurzen Besuch abstatten. Besonders wichtig: den Besuch kurz halten, um früh schlafen zu gehen.

Ziel des Ganzen: Am nächsten Tag in bester Verfassung aufzustehen. Um zur Herbstmesse zu gehen. Gleditschs Buchhandlung aufzusuchen.

Regale über Regale mit Büchern.

Der Himmel auf Erden.

Darauf hatte Schreyer sich auf seine ernste und gewichtige Art gefreut – wo er doch sonst so unter Druck stand. Schlimm genug, dass ihm wenig Zeit für die Dinge blieb, die er am meisten mochte, studieren, lesen, in seiner großen Bibliothek sitzen und sich seine eigenen Gedanken machen. Schlimm genug, ständig an der Bettkante nierenkranker Pfarrersfrauen sitzen zu müssen, die die Hand des Doktors ergriffen und Oh, HerrDoktor, ich mache mir solche Sorgen sagten oder einem gichtgeplagten Kaufmann zuhören zu müssen, der mit der Faust auf den Holztisch haute, dass Tassen und Teller nur so schepperten, und klagte, Sie müssen mir etwas Stärkeresgeben, Herr Doktor, oder den Sohn des Prokurators zu betrachten, sein Gesicht voll eitriger Pusteln, und zu wissen, dass man hier bloß noch den Sarg bestellen konnte. Diese wöchentlichen Arztvisiten in den höheren Gesellschaftsschichten langweilten ihn nicht nur – er war der Ansicht, sie sollten von weniger angesehenen Ärzten übernommen werden, als er einer war –, sie standen auch im krassen Gegensatz zu der Sehnsucht, die ihn zu jeder Stunde des Tages begleitete: der Sehnsucht nach Wissen.

Gab es eine edlere Sucht?

Nein.

Sollte er sich nun obendrein von einem keuchenden Dickwanst jagen lassen, an diesem seinem so exakt durchgeplanten freien Sonntag?

Johannes Schreyer war verrückt nach der Welt der Bücher. Er liebte den Anblick der Buchstaben auf einer Buchseite, wie sie sich so sinnlich süß zueinander gesellten, wie sie nachgerade kopulierten, um die Brut des Wissens zu erzeugen, und er genoss die erotische Freude, die in ihm zu brodeln begann, wenn er in diese wogende Landschaft eintauchte. Dies war auch der Grund, weshalb Helena Regina oft, wenn sie in einem der besseren Häuser in Zeitz zu Gast waren, sagte: Ach, mein Mann ist so verliebt in Bücher.

Worauf Schreyer meist etwas verschnupft parierte: Es geht um das Wissen, meine liebe Frau – würden wir Menschen es nicht so sehr lieben, wo wären wir dann? Zurück in der Barbarei, zurück im Krieg, zurück im Elend!

Darüber dachte Schreyer oft nach.

Über das Wesen des Wissens.

An manchen Tagen konnte ihn ein Gefühl großer Freude überkommen, so als hätte er einen unbekannten Gral entdeckt, oder aber als hätte Johannes Schreyer aus Zeitz gefunden, wonach die Menschheit seit Jahrhunderten trachtete und was vor ihm noch niemand erkannt hatte: den Weg zum Frieden.

Wissen!

Natürlich wusste er, dass es so nicht war. Schon vor ihm hatten Menschen Bücher gelesen, ohne dass dies zum Frieden in der Welt geführt hätte.

Dennoch!

Es ließ ihn nicht los.

Schreyer betrachtete sich selbst als eine Figur auf dem Schachbrett der Nachkriegszeit. Eine unscheinbare Figur zwar, aber dennoch von unschätzbarem Wert. Ein Mann von liebenswürdigem Wesen, standhaft und auf Frieden bedacht, ein Hüter des Wissens und der Wissenschaft. Dass er infolge derselben Standhaftigkeit zugleich etwas reizbar und streitsüchtig sein konnte, war ihm nur in Teilen bewusst. Und abgesehen davon, nicht nur er hatte eine kämpferische Natur: Man kreuzte gerne die Klingen in dieser Zeit.

»Herr Doktor Schreyer!«

Der beleibte Bote blieb stehen, stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab und rang nach Luft.

»Mein Herr«, sagte er, »ich habe in Zeitz nach Euch gefragt, habe Euch den ganzen Vormittag gesucht … Herr Schreyer, seid Ihr’s?«

Johannes Schreyer ignorierte den Mann und tat so, als bräche er auf. Neunundvierzig Jahre alt war er zu diesem Zeitpunkt, und ja, in nur dreizehn Tagen würde er fünfzig werden – und wie sah er, nebenbei bemerkt, aus? Er war von mittelgroßer Statur, mit fliehendem Kinn, dafür mit vornehmer Lippenpartie, und die Haut bewegte sich leicht beim Gehen. Nicht, dass der berühmte Arzt aus Zeitz dickleibig gewesen wäre, etwas füllig wirkte er vielleicht.

»Mein Herr … Ich bitte Euch, geht nicht, seid Ihr’s …«

»Guter Mann«, sagte Schreyer und stampfte auf den Boden, dass sich um seine Stiefel eine Staubwolke bildete. »Es reicht. Hört Ihr? Ich habe Zeitz heute Morgen um fünf Uhr verlassen. Habe mein Haus in der Kalck-Gasse verlassen, wo ich mit meiner Gemahlin Helena Regina Schreyer, geborene Lossius, wohne, der Tochter des schwedischen Generalproviantmeisters, und mit meiner reizenden Tochter Katharina, die wunderhübsch singen kann und sich schon lange darauf freut, dass ich ihr von dieser Reise eine Puppe mitbringe, eine Puppe vom Leipziger Markt!« Schreyer zeigte nach links oben, als stünde er in seiner Heimatstadt: »Dort oben, auf der Zeitzer Höhe, mit Blick auf Schloss Moritzburg, die schöne Weiße Elster und die herrlichen Gärten der herzoglichen Residenz – dort wohne ich. Dort habe ich meine Praxis, meine Frau, meine begabte Tochter, dort habe ich meine umfangreiche Bibliothek. Und tagein, tagaus, mein Herr, behelligen mich dort Menschen! Und Ihr seid wohl einer davon?!«

Schreyer hob den Zeigefinger und tippte auf die Brust des Mannes.

»Endlich, habe ich vorhin, als die Postkutsche kam, zur Frau Schreyerin gesagt, endlich kann ich nach Leipzig fahren, ohne mich um die Bogenschützen des Todes zu scheren! Ein gutes Jahr lang waren wir wie gelähmt, vollständig gelähmt von der widerwärtigen Pest! Schwarze giftige Flecken auf menschlichen Körpern. Habt Ihr welche aus nächster Nähe gesehen?«

Der Bote schluckte und schüttelte den Kopf.

»Nun, aber ich«, brach es aus Schreyer heraus, »während ich meinem Beruf nachging! Soll ich Euch die Bilder toter kleiner Kinder vor Augen führen? Hm? Ich habe mit weinenden Vätern zusammengesessen und ihrem verzweifelten Wehklagen gelauscht. Ich habe die trauernden Mütter vor Augen gehabt. Sie hatten alle Hoffnung und alle Freude auf dieser Welt verloren, sehnten sich nur noch danach, ihren Kindern in den seligen Tod zu folgen, ihr beschwerliches Leben hatte jeglichen Sinn eingebüßt! Infizierte Häuser, verbarrikadierte Häuser, Menschen, die vierzig Tage in Quarantäne verbringen mussten, eingesperrt im Haus, deren Hab und Gut auf Karren geworfen, aus der Stadt gebracht und verbrannt wurde! Rollende Pesttransporte auf Kopfsteinpflaster und schlammigen Seitengassen, Pestkutschen und Pestsänften auf dem Weg zu Hospitälern und Friedhöfen, und wieder zurück! Ja? Und die Kaufleute, die Krämer, die Markthändler – was ist aus ihnen geworden? Hm?«

»Ich … ich …«

Schreyer ließ den Mann gar nicht erst zu Wort kommen, sondern fuhr fort:

»Erinnert Ihr Euch an die Stille? Ständig stolperten unsere Füße über schmerzverzerrte Körper – vor gerade einmal einem Jahr saß eines Tages am Stadttor ein totes Ehepaar und daneben ein noch lebendes Kind! Und jetzt kommt Ihr an meinem freien Sonntag daher! Hm?«

»Ich … ich …«

»Leipzig! Die Stadt der Städte, das wissensdurstige Leipzig: meine Lieblingsstadt! Zu der ich unterwegs bin.« Schreyer hob abwehrend die Hände. »Schwindelerregende Todeszahlen! Dreitausendeinhundertneunundsechzig Tote im letzten Jahr, weitere sechshundertachtunddreißig in diesem Jahr. Das sagen die Listen der Notare. Annähernd ein Fünftel der Stadtbevölkerung – und jetzt kommt Ihr! Wie alt mögt Ihr sein? Vierzig? Ich vermute vierzig! Dann seid Ihr in den Tagen des Kriegs geboren, Bote. Wie ich. Und deshalb solltet Ihr wissen, dass wir so etwas nicht noch einmal erleben wollen. Wessen Schuld war es? Glaubt Ihr, es war die Schuld der Juden? Der Bettler, Landstreicher, Huren? Ihr wisst, was die Pfarrer sagen? Die Pest kommt zu denen, die sich in der Schule nicht ordentlich benommen oder ihre Ehe geschändet haben! Wurde Euch am Ende nicht übel von den Pestpsalmen, mein Herr? Ach Gott, die Pest, dein scharfer Pfeil, fleugt jetzt herum in schneller Eil, durchwandert Land und Städte bald, vergift und würget jung und alt! Unser Dompropst in Zeitz sprach von nichts anderem mehr, jeden Sonntag dieselben Ermahnungen von der Predigtkanzel herunter: ›Ach, Herr! Deinem mordenden Engel hast du befohlen, das Schwert der Rache zu zücken und zuzuschlagen!‹ Was sagt Ihr dazu? Hm?«

»Ja, ich …«

»Als Mediziner, als Wissenschaftler ist Doktor Johannes Schreyer, der hier vor Euch steht, keineswegs von den apokalyptischen Visionen der Theologen überzeugt. Nun sind die Gräuel Gott sei Dank vorbei, und ich kann wieder, Gott sei mein Zeuge und Ihr nun auch, in die Stadt der Bücher reisen. Zur Messe. Ohne in eine Horde von Menschen zu geraten, die sich im erfolgreichen öffentlichen Kampf gegen die Pest bemüht. Ja, Elend gibt Arbeit, Bote, das habe ich Katharinchen, meiner heißgeliebten Tochter, heute Morgen gesagt: Pestburschen, Pestdirnen, Pestköche, Pestpfarrer, Pestnotare, Pestgräber, Pestbadefrauen, Pestgesellen, Pestwächter, Pestkinderschwestern und wer weiß, was noch alles. Mein Gott. Das Wehklagen der Sterbenden. Und Katharinchen mit ihren tiefliegenden Augen hat mir zugehört – und ich habe mich auf den Weg gemacht. Um in Gleditschs Buchhandlung eine höchst bedeutsame holländische Abhandlung darüber zu erstehen, ob es der Gesundheit zuträglich ist, das Blut der Verstorbenen zu trinken. Sie mir zu Gemüte zu führen. Und anschließend eine Puppe zu erstehen. Für meine Tochter. Und jetzt. Kommt. Ihr.«

»Ich …«

»Versteht Ihr?«

»Ich …«

Schreyer tippte dem Mann erneut auf die Brust, dieses Mal weniger erregt, dafür insistierender.

»Versteht Ihr, dass es genau das ist, was wir in diesem Land nicht länger dulden können?«

»Ich …«

»Unterbrecht mich bitte nicht! Wir sind Kinder, Ihr und ich, des sinnlosen Krieges, der das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in einem kochenden Bluttümpel versenkt hat. Dreißig Jahre lang! Und wie sah es am Ende aus? Niedergeschlagen, zerschunden, ausgelaugt, halb verhungert! Zum Gespött gemacht in den Augen unserer Nachbarländer. Das können wir nicht länger dulden. Der friedensverachtende Angriff auf das Leben darf sich unter gar keinen Umständen wiederholen! Und wer oder was, glaubt Ihr, kann das verhindern?«

»Äh, ich …«

»Ihr habt darauf keine Antwort?«

»Ich … äh …«

»Dann hört gut zu, so gut Ihr nur könnt, Bote: die Wissenschaft! Habt Ihr gehört? Einzig und allein die Wissenschaft. Versteht Ihr? Und ja, geleitet von der ruhigen Hand der Obrigkeit, wie sie der durchaus verständige Moritz von Sachsen-Zeitz, Fürst meiner Heimatstadt, besitzt. Ja. Ein hervorstechendes Mitglied der Fruchtbringenden Gesellschaft, ein wahrer Literat.«

Schreyer, der sich in Rage geredet hatte, seufzte demonstrativ, so wie er es zu tun pflegte, wenn er seinen Sorgen freien Lauf gelassen hatte. Dann nickte er zufrieden und richtete seinen Blick auf den keuchenden Dickwanst vor ihm.

»Ja«, sagte der Mann, ohne zu erkennen zu geben, ob er verstanden hatte – zumindest schien einiges zu ihm durchgedrungen, wie Schreyer festzustellen meinte. Demnach waren Thema und Mann auf ihren Platz verwiesen worden.

»Jahrgang einunddreißig bin ich«, sagte Schreyer und nickte, ruhiger jetzt. »Und Ihr, guter Mann?«

»Äh … ach ja, äh, ich glaube, zweiundvierzig.«

»Gewiss. Dann habe ich um ein Jahr danebengelegen. Ihr geht in das neununddreißigste Lebensjahr.«

Er richtete den Hut, der auf der Perücke ein wenig verrutscht war, und bestätigte endlich dem Mann vor ihm:

»Doktor Johannes Schreyer, Stadtphysicus von Zeitz.«

Der Bote erwiderte etwas verschreckt:

»Thonat Berner, mein Herr. Stadtbote von Pegau.«

»So«, sagte Schreyer. »Sagt mir jetzt, Herr Berner, was diese Störung soll. Soll Doktor Schreyer einer Adelsfrau mit Bauchschmerzen zu Hilfe eilen? Soll Doktor Schreyer sich einen Pastor mit Herzklappern anschauen?«

Der Bote schüttelte den Kopf, dass die Wülste an seinem Hals nur so schwabbelten.

»Nein«, sagte er, »ich glaube nicht, dass es sich um dergleichen handelt.«

Thonat Berner streckte sich und verneigte sich, endlich konnte er sein Anliegen vorbringen:

»Ausgewählt kraft seines Amtes und überdies auf Wunsch des Amtmanns zu Pegau Abraham Walther wird Herr Doktor Schreyer hiermit beauftragt, dem Amtmann in einer Angelegenheit von größter Wichtigkeit und Dringlichkeit beizustehen.«

Schreyer zog die Augenbrauen hoch.

»So?«

»Mehr weiß ich nicht, mein Herr«, sagte der Bote, »Doktor Schreyer soll sich am morgigen Montag in aller Früh in der Amtsstube des Amtmanns einfinden.«

Schreyer entließ den konfusen Diener – Herr Thonat Berner war alles in allem eine angenehme Erscheinung, musste aber dringend etwas gegen sein Gewicht tun, wollte er noch länger auf dieser Erde wandeln – und machte sich widerstrebend auf zur Pegauer Herberge, wo er in Erwartung der Begegnung mit besagtem Amtmann, der nach seiner Anwesenheit verlangt hatte, notgedrungen die Nacht verbringen musste.

Unterwegs murmelte er halblaut vor sich hin: »Johannes Schreyer, geboren da und da, unter den und den Umständen, gekommen so und so weit, mit erworbenem Wissen als steter Begleiter.« Dann fügte er hinzu: »Und keineswegs bloß eine entfernte Grußbekanntschaft des edlen Fürsten Moritz von Sachsen-Zeitz – die Rede ist hier vom leibhaftigen Bruder des Kurfürsten –, nein, auch aufgrund diverser Anlässe in seine Gemächer geladen, um beispielsweise die Augenkrankheit von des Fürsten Geliebter zu behandeln, ja, sogar den Fürsten selbst und seine rektalen Plagen! Einmal hatte er überdies Gelegenheit, den Fürsten durch seine Bibliothek zu führen! In aller Bescheidenheit! Wie vielen Menschen wird eine solche Ehre zuteil? Der Fürst Moritz höchstselbst! Im selben Raum, zu Hause in der Kalck-Gasse, direkt vor Katharinchen und ihm, in seiner eigenen Bibliothek. Hatte der Fürst nicht sogar Katharina über den Kopf gestrichen mit der Bemerkung, sie sei ein tüchtiges Mädchen, und wie klug ihr Vater doch sei, ihr Latein, Griechisch und Mathematik beizubringen? Genau das hatte er getan. Der Fürst höchstpersönlich.«

Er wischte sich eine Träne weg, die sich ganz von selbst in sein Auge geschlichen hatte. Wie oft hatte er nicht schon darüber nachgedacht, woher diese Tränen so unvermittelt kamen und woher sie den Auftrag zu ihrer Entstehung erhielten. Ja, er konnte sich nur allzu gut vorstellen, einmal eine umfangreiche Abhandlung über die Bestimmung der Tränen zu verfassen.

»Und selbstverständlich wird Vater dir eine Puppe besorgen, Katharinchen«, sagte er gemessen leise, bevor er stimmlich wieder voll aufdrehte, »gesetzt den Fall, er schafft es im Verlauf des morgigen Tages überhaupt bis nach Leipzig!«

In Pegau brach der Morgen an, aber Schreyer hatte keineswegs gut geschlafen. Sein Schlaf war unruhig gewesen. Er frühstückte in der Herberge, antwortete lediglich kurz angebunden auf die Frage der Wirtin, ob alles zu seiner Zufriedenheit sei, und schaute zugleich aus dem Fenster, wo er sah, wie eine Frau auf der anderen Straßenseite eine Tür öffnete, einen Eimer in der Hand, den sie umdrehte, sodass das Wasser über die Türschwelle floss.

Schreyer putzte seine Stiefel, schlüpfte in seinen Umhang und machte sich auf den Weg zur Amtsstube des Amtmanns.

Nachdem er sich bei einem Bediensteten angemeldet hatte und mehrere Minuten hatte warten müssen, trat Schreyer nun durch die Tür der Amtsstube, überaus gereizt. Er erspähte Abraham Walther hinter einem Schreibtisch voller nachlässig hingeworfener Papiere. Ganz offensichtlich ein äußerst unordentliches Mannsbild.

»Ihr habt nach mir geschickt, mein Herr?« Schreyer setzte die Füße entschlossen nebeneinander, nickte kurz und stellte sich vor: »Johannes Schreyer, Stadtphysicus von Zeitz.«

»Auf dem Weg nach Norden wart Ihr ohnehin«, sagte der Amtmann, der erst jetzt beschloss, hochzuschauen, zu nicken und sich zu erheben. Er streckte Schreyer die Hand entgegen und fügte hinzu: »Hochgeehrter Herr Doktor.«

»Nach Norden? Schon. Das trifft zu«, sagte Schreyer kühl. »Ich war auf dem Weg zur Herbstmesse in Leipzig, zum Buchhändler …«

Der Amtmann würgte Schreyer ab, indem er desinteressiert mit der Hand wedelte, er war ganz offensichtlich kein Freund des Buches.

»Nun«, sagte Schreyer, der das Thema noch nicht ganz fallenlassen wollte, »so ist es! Man hat seine Pläne, doch jäh befinden es Menschen für rechtens, in diese Pläne einzugreifen und sie zu vereiteln. Schnell, Herr Schreyer, die Hand eines Jungen wurde von einem Wagenrad überrollt! Aha! Und was hat die Hand des Jungen überhaupt unter dem Wagenrad zu suchen? Niemals kommt es jemandem in den Sinn, Herrn Doktor Schreyer, den langjährigen treuen Diener seines Landes, in Ruhe dasitzen, lesen und schreiben zu lassen.«

Der Amtmann verzog den Mund; besonders einfühlsam war er offensichtlich nicht.

Schreyer nahm ihn näher in Augenschein.

Zunächst hatte er recht groß gewirkt, wie er da mit aufgeblasenem Kopf und zerfurchten Wangen hinter seinem Schreibtisch saß, aber als er um den Tisch herumhumpelte, erwies Walther sich als lächerlich klein. Es plagten ihn die Hüften, das sah Schreyer sofort.

»Auf dem Weg nach Norden wart Ihr ohnehin«, wiederholte der Amtmann, »sehr große Umstände sind Euch dadurch also nicht entstanden.« Seine Augen verengten sich zu Schlitzen: »Ihr wollt Euch doch wohl kaum einem amtlichen Auftrag widersetzen?«

»Mitnichten«, sagte Schreyer und verkniff sich eine Bemerkung, »keinesfalls wollte ich mich einem Auftrag des Herrn Amtmanns entziehen.«

»Gut«, sagte Walther und streckte sich nach einem Schreiben. Er zog es heraus und reichte es Herrn Schreyer. Der Doktor warf einen kurzen Blick darauf, es war eine amtliche Anordnung zur Inspektion einer Leiche. »Ja«, fuhr der Amtmann fort, »wir haben es hier mit einer dieser ewigen Kindsmörderinnen zu tun.«

Schreyer hatte eigentlich weitere Einwände vorbringen wollen, doch angesichts dieser Information zog er die Augenbrauen hoch, in denen in letzter Zeit mehrere widerspenstige graue Haare aufgetaucht waren.

»Kindsmörderin?«

»Schon wieder«, nickte Walther, »die heutigen Frauen töten, ohne mit der Wimper zu zucken. Was reitet sie nur, was meint Ihr?«

»Dazu kann ich mich nicht äußern«, sagte Schreyer, »ich bin Mediziner, ich bewege mich in der Landschaft des Wissens, nicht in der Landschaft der Geistesgestörtheit.«

Der Amtmann nickte: »Gottlob.« Er zeigte auf das Schreiben. »Hier findet Ihr den Beschluss des Zeitzer Amtes, das meinem Ersuchen um Eure Dienste zugrunde liegt. Die Kindsmörderin ist flüchtig, zusammen mit ihrer schändlichen Mutter, die dem Mädchen bei der gottlosen Tat geholfen hat. Darum kümmere ich mich. Heute Morgen habe ich am Wirtshaus einen Steckbrief aufhängen lassen, die beiden schaffen es nicht weit. Der bedauernswerte Leichnam befindet sich im Rathauskeller, Ihr werdet ihn gleich zu Gesicht bekommen.«

Er sprach abgehackt, mit zornigem Blick – ein Hitzkopf, notierte Schreyer für sich.

»Im Übrigen«, schob der Amtmann hinterher, plötzlich mit großer Dringlichkeit in der Stimme, »wo Ihr gerade hier seid, Herr Doktor … Habt Ihr Kinder?«

»Ob ich Kinder habe? Ja, ich habe eine entzückende, begabte Tochter.«

»Nun«, sagte Walther, »ich selbst habe einen Sohn, Hans Georg … ja, dummerweise hat er angefangen zu stottern, versteht Ihr! Er klingt wie ein Idiot. Aber er ist kein Idiot! Das soll bloß keiner glauben!«

»Natürlich nicht«, sagte Schreyer entnervt.

»Nein, natürlich nicht«, fuhr Walther fort. »Ganz gleich wie. Dieses Stottern, Herr Doktor. Das ist eine Unart, die er sich zugelegt hat, das verstehen alle. Hättet Ihr da vielleicht einen guten Rat?«

Schreyer seufzte.

»Nun«, erwiderte er kalt, »Ihr könntet den Kiefer mit einem Tuch zusammenbinden, es strammziehen und sehen, ob es hilft. Ansonsten habe ich gute Erfahrungen mit einem Klaps auf die Wange gemacht. Man kann dem Stotterer anfangs einen solchen Klaps verabreichen und ihm dann beibringen, es selbst zu übernehmen, wenn das Stottern anfängt.« Schreyer richtete sich auf. »So. Die Kindsmörderin. Wer ist sie denn?«

»Nun ja, das ist es ja gerade«, brummte der Amtmann, er war wirklich von außergewöhnlich kleiner Statur. »Es ist die Tochter des Gutsbesitzers von Greitschütz.«

»Alle Achtung«, sagte Schreyer und zog erneut die Augenbrauen hoch.

»Ja«, sagte der Amtmann, »heutzutage passiert es überall. Nicht nur Bettelhuren ermorden ihre Kinder, sondern auch die Töchter von Gutsbesitzern. So weit ist es mit uns gekommen. Im Namen Gottes, das dürfen wir nicht zulassen.«

»Natürlich nicht«, sagte Schreyer.

»Sie gehört unter das Schwert«, sagte der Amtmann.

»Ja, das kommt am Ende nicht selten dabei heraus«, meinte Schreyer.

»Ich war letztes Jahr im Februar in Leipzig, mein Herr«, sagte Walther und lehnte sich an den Tisch, »es war ein warmer Tag, fast sommerlich warm, und es war der Tag einer Hinrichtung, ein Bandit aus Halle, ein Dieb, sollte enthauptet werden …«

»Herr Walther«, unterbrach ihn Schreyer voller Ungeduld, »worauf wollt Ihr hinaus?«

»Der Scharfrichter hat nicht richtig getroffen«, sagte Walther, »er musste zweimal zuschlagen.«

»Warum erzählt Ihr mir das?«, fragte Schreyer, der auch schon von der missglückten Hinrichtung gehört hatte.

»Hoffen wir, dass er den Nacken dieser Kindsmörderin besser trifft.«

Dem hatte Schreyer nichts hinzuzufügen.

»Es ist außerdem keine große Überraschung«, sagte Walther, »ihr Vater, dieser Voigt, ist ein Parvenü, kein Mann von Adel, er hat sich den Gutshof durch Tauschgeschäfte erworben, aus dieser Ecke ist daher nichts anderes zu erwarten. Ein Geizhals ist er obendrein. Nun denn.« Der Amtmann trat einen Schritt vor und reckte das Kinn. »Ansonsten ist der Fall recht einfach. Und sehr brutal. Wollen wir uns den Leichnam anschauen?«

Gemeinsam verließen sie die Stube des Amtmanns. Der Wind hatte zugelegt, er blies über Pegau, und Schreyer zog den Umhang fester um den Körper.

Am Marktplatz zeigte Walther am Brunnen vorbei auf das schöne Rathaus.

»Ja, Ihr seht, wir haben ein stattliches Rathaus, es ist Lotters Werk, ja, das Werk des großen Hieronymus Lotter, Ihr könnt sehen, dass es dem Leipziger Rathaus ähnelt …«

Wie unpassend, dachte Schreyer und versuchte sich zu beherrschen, wollte dieser Mensch ihm einen Vortrag über stattliche Gebäude halten? Musste er sich das tumbe Geschwätz eines Mannes anhören, der ihn über Lotter belehren wollte?

»Nun«, sagte Walther, »Stadtarzt Wechern hier aus Pegau wird Euch zur Seite gestellt …«

»Wechern, ja, der Name sagt mir was …«

»Etwas in die Jahre gekommen, aber … ja … Außerdem der Amtsbarbier Stolz, Christian Stolz.«

»Der wiederum sagt mir nichts«, antwortete Schreyer. »Solange Ihr mir keinen herumreisenden Amateur präsentiert, der sich Doktor nennt und Kräutermixturen in seinen Taschen herumschleppt, oder einen dieser Scharfrichter, die sich Arzt schimpfen. Ich mag es nicht, wenn mir unfähige Menschen assistieren.«

»Nein, das mag keiner von uns«, stimmte ihm der Amtmann zu.

»Wahre Worte, Herr Walther«, sprach Schreyer weiter.

Sie waren bei dem Brunnen angekommen, der Amtmann blieb stehen und drehte sich zu ihm.

»Ja, Herr Doktor?«

»Diese Gutsbesitzertochter.«

»Ja.«

»Sie ist geflohen, sagt Ihr?«

»Geflohen, ja. Das sollte wohl Beweis genug sein – neben der Gottesbeleidigung, die Ihr gleich zu sehen bekommt. Unser Arzt und der Barbier erwarten Euch. Bald bringen wir das Mädchen unter das Schwert.«

»Herr Walther!«, stieß Schreyer aus, jetzt mit unerwartetem Nachdruck in der Stimme. »Es scheint so, als hättet Ihr Euch schon eine klare Meinung gebildet, noch bevor unsere Untersuchungen abgeschlossen sind, bevor das Gericht getagt hat?«

Der Amtmann riss die vor Erregung feuchten Augen auf – er trinkt viel Wein, notierte sich Schreyer.

»Was heißt das, was wollt Ihr damit sagen?«

»Ich bin hier«, sagte Schreyer, »um meine Arbeit tadellos bis in die Fingerspitzen auszuführen, wie ich es stets zu tun pflege, versteht Ihr? Sollte ich mit einer vorgefassten Meinung in einen Raum hineinspazieren? Ist das für Euch Wissenschaft?«

Walther antwortete nicht sofort, sondern öffnete die Tür zum Rathaus.

»Mein hochgeehrter Herr Doktor Schreyer«, sagte er, »Ihr habt einen guten Ruf.«

»Dessen bin ich mir bewusst«, kam es rasch von Schreyer.

»Ihr macht den Eindruck eines rechtschaffenen, gründlichen Mannes.«

»Alles andere würde mich überraschen.«

»Ich will Euch auf gar keinen Fall im Weg stehen. So, bitte schön, tretet ein.«

Die schweren Rathaustüren fielen hinter ihnen ins Schloss, und Schreyer wurde durch einen Raum geführt, in dem vier Männer an ihren Tischen saßen und schrieben. Durch diesen Raum gelangten sie zu einer Tür, die ihrerseits in den Rathauskeller führte. Walther öffnete die Tür, und ein unangenehmer Geruch schlug Schreyer entgegen, modrig und stickig. Er nahm einen tiefen Atemzug, versuchte dabei, etwas frische Luft zu erwischen, und folgte dem Amtmann die Stufen hinunter.

Sie gelangten in den trostlosen Keller.

Walther zeigte in den schmalen Flur und öffnete die Tür zu dem Ort, der gegenwärtig der Leichenbeschau diente. Sie betraten einen kargen kalten Raum mit Steinwänden, der allen anderen Rathauskellern ähnelte, die Schreyer bisher gesehen hatte. Zwei Herren, der Arzt und der Barbier, warteten schweigend hinter einem massiven Holztisch. Auf dem Tisch konnte Schreyer ein Stoffbündel erkennen.

Schreyer begrüßte den Doktor von Pegau und auch den Barbier und nahm beide in Augenschein. Wechern dürfte auf die siebzig zugehen, er hatte einen krummen Rücken, seine rechte Hand zitterte, und unter ein paar blassen Augen saß eine tropfende Nase. Stolz war vermutlich Anfang dreißig, ein Mann mit einem länglichen Gesicht und einer hervorstechenden Nase, insgesamt eine vertrauenerweckende Erscheinung.

Die Männer erwiderten sein Nicken, bedienten sich der korrekten Anrede, und der alte Wechern sagte mit durchweg knarrender Stimme, es sei ihm eine Freude, unter dem berühmten Herrn Doktor Schreyer arbeiten zu dürfen. Stolz pflichtete ihm bei und sagte, er stehe dem hochangesehenen Herrn Doktor Schreyer in allem zur Verfügung. Schreyer war zufrieden und nickte.

Er sah sich um. Kaum Licht, keine Fenster. Daraufhin schüttelte er den Kopf und wandte sich an Walther.

»Der Raum ist völlig ungeeignet. Unter gar keinen Umständen kann ich meine Untersuchungen bei diesem Licht oder vielmehr bei einem Mangel desselben durchführen.«

»Aber …«

»Nichts Aber. Mehr Licht, Herr Amtmann!«

»Aber wir haben nicht …«

»Nun denn«, sagte Schreyer. »Entweder bringt Ihr das Kind in einen anständigen Raum ein Stockwerk höher, wo ich die Untersuchung im Einklang mit meinem Mandat durchführen kann, oder ich informiere Zeitz, unter welch erbärmlichen Verhältnissen man hier in Pegau arbeitet.«

»Gut, meine Herren«, sagte er schließlich und nickte Wechern und Stolz zu, nachdem sie von einer fülligen alten Frau in eine nüchterne Stube im Erdgeschoss des Rathauses gewiesen worden waren.

Wie im Untergeschoss stand auch hier ein Tisch, auf dem Stolz das Bündel mit dem Kind vorsichtig ablegte. Der Barbier trug seinen Arbeitsbeutel bei sich, von dem Schreyer hoffte, er wäre für die bevorstehende Aufgabe mit allem Notwendigen ausgerüstet. Er selbst hatte lediglich seine bescheiden ausgestattete Reisetasche dabei, er war ja nicht aufgebrochen, um eine Leiche zu inspizieren, sondern um seine Tasche mit Büchern aus Gleditschs reichhaltigem Sortiment zu füllen.

Noch eine fünfte Person hatte den Raum betreten, ein Schreiber im schwarzen Mantel, dessen rechte Wange mit knotigen Warzen übersät war. Der Schreiber nannte nickend seinen Namen, bevor er sich ohne ein weiteres Wort ans Tischende setzte.

Schreyer machte ein paar Schritte auf das Tuch zu.

»Mein Name ist Doktor Johannes Schreyer«, sagte er, als ob die Umstehenden dies nicht längst wussten. »Stadtphysicus mit Ausbildung in Jena, und ich wurde hierherbeordert, um dieses Kind zu inspizieren und dem Amt medizinischen Beistand zu leisten, wenn sie den Fall vor Gericht bringen – es besteht der Verdacht einer gottlosen Kindstötung.«

Wechern bekreuzigte sich, und Stolz schürzte die Lippen.

»Folglich ist es unsere Pflicht«, sagte Schreyer, »uns exakt an das zu halten, was wir sehen, also an die Fakten, die die Leiche vor uns aufweist, die sichtbaren, wie auch die Fakten, von denen sie erzählt, die unsichtbaren, die aus dem Sichtbaren hervorgehen, ja?«

»Unbedingt«, sagte Wechern.

Stolz sagte nichts. Er tut sich sehr positiv durch Schweigen und Beobachten hervor, dachte Schreyer.

»Wir wollen versuchen«, fuhr er fort, als jemand, der es gewöhnt war, dergleichen Einführungen zu halten, Einführungen, wie er sie sich von den weitschweifigen Dozenten aus seiner Studienzeit abgeschaut hatte, »mithilfe jener Kunst, die sich nüchterne medizinische Untersuchung nennt, herauszufinden, ob die Kindsmutter willentlich und bösartig ihre kleine Brut ermordet hat oder ob das Kind im Gegenteil bei der Niederkunft bereits tot war und folglich nie das Licht der Welt erblickt hat. Auf diese Frage wollen wir eine Antwort geben, ja?«

»Ganz entschieden, mein Herr«, sagte Wechern und nickte, wodurch sich ein Tropfen von seiner Nase löste und auf den Steinboden fiel.

Schreyer legte eine Pause ein, um den Raum mit andächtiger Stille zu füllen, ehe er weitersprach:

»Merkt Euch folglich, dass Ihr im Dienste der Wissenschaft steht und somit im Dienste der Menschen und somit des Gerichts und im Dienste Gottes, ja?«

Sie pflichteten ihm bei, aber Schreyer konnte hören, wie sich der Amtmann neben ihm räusperte und von einem Fuß auf den anderen trat. Darauf reagierte Schreyer, indem er übertrieben tief und mit lauten Nasengeräuschen Luft holte, wie es seine Angewohnheit war, wenn seine Frau oder andere anfingen, sich hervorzutun.

»Ihr notiert alles, was wir sagen, und alles, was wir tun«, sagte er zu dem Schreiber, der nickte und sogleich die Federspitze auf dem Blatt Papier aufsetzte.

»Herr Amtmann?« Schreyer wandte sich an Walther.

»Ja?«

»Bevor ich das Kind inspiziere, benötige ich von Euch Auskunft.«

»Selbstverständlich, Herr Doktor.« Walther räusperte sich und verlagerte sein Gewicht wieder auf den anderen Fuß.

»So«, sagte Schreyer, »sagt mir ohne Nennung von Widerwärtigkeiten und ohne Übertreibung, wo wurde das Kind gefunden?«

»Auf Gut Greitschütz. Gleich hier unten, am Fluss.«

»Wo auf Gut Greitschütz?«

»Im Kräutergarten der Frau des Gutsbesitzers, Herr Doktor. Eine schändliche Frau. Es war im Kräutergarten vergraben, wo die elenden …«

»Wer hat es dort gefunden?«, fiel Schreyer ihm ins Wort.

»Die Köchin – die Köchin, Lehrer Mentzel und ein Knecht.«

»Wann? Wann genau geschah das?«

»Es geschah am Freitag, gegen neun Uhr abends. Ich habe noch keinen dieser Menschen verhört, bald werde ich mehr wissen.«

Schreyer nickte.

Demnach hatte die Kinderleiche eine Weile in der kalten Oktobererde gelegen und anschließend weitere Tage in einer etwas temperierteren Umgebung zugebracht. Das war tatsächlich besser, als er es hatte erwarten können. Schreyer hatte mehr als einmal Leichen inspiziert, Kinder wie auch Erwachsene, die im Freien gelegen hatten, zur Sommerzeit, von Vogelschnäbeln angepickt, halb von Aasfressern verschlungen, und er hatte mehr als einmal die Leiche Ertrunkener untersucht, grässlich aufgeblasen und ziemlich unangenehm in der Handhabung. Mit einer in der kühlen Erde vergrabenen Leiche ließ sich besser umgehen. Die Konservierung machte die Arbeit leichter, da man unter der Erde auf nicht viel anderes traf, was den analytischen Blick beeinträchtigen könnte, als höchstens ein paar Würmer und Schnecken.

»Außerdem ist es so, Herr Doktor«, kam es von dem eifrigen Walther, »dass die Köchin sich dem Pfarrer von Profen anvertraut hat – Gottlob gibt es in diesem Rattennest wenigstens einen Menschen mit einem Gewissen – ja, sie ist sofort zum Pastor gelaufen und hat ihr Herz erleichtert über das, was sie gesehen und gehört …«

Schreyer hielt ihm entschlossen eine Hand entgegen.

»Genug«, sagte er, »ich will kein weiteres Wort mehr hören. Jetzt sind wir an dem Punkt angekommen, an dem ich das Kind sehen und meine Einschätzungen vornehmen will, und sollten, sobald dies erfolgt ist, Fragen in mir aufsteigen, werde ich diese stellen.«

Es war nun an der Zeit, sich das Kind anzuschauen. Schreyer führte seine Hände zusammen, rieb allen Schmutz ab und streckte sie nach dem Stück Stoff aus. Schwer zu sagen, worum es sich dabei handelte, ein Laken vielleicht, aber es war sauber und nicht von Erde verschmiert, auch wies es keinerlei Blutspuren auf.

»Ist das Kind in diesem Stück Tuch hier angekommen?«, fragte er. »Kam es so hier an?«

»So war es.« Walther zeigte auf den Tisch, auf dem die Inspektion erfolgen sollte. »So kam das Kind hier an, nachdem der Gerichtsdiener es auf amtliche Anordnung heute Nacht vom Gutshof hergebracht hat. Der Gerichtsdiener hat es selbst in dieses Tuch gewickelt.«

»Das Kind war also nicht in diesem Tuch begraben?«

»Nein, das war es nicht«, sagte der Amtmann. »Es lag in einem anderen Tuch begraben, das nass und voller Flecken war.«

»Und wo befindet sich dieses andere Tuch jetzt?«

»Das habe ich noch nicht herausgefunden.«

»Sehr bedauerlich!«, sagte Schreyer gereizt.

»Ja«, meinte der Amtmann, »Ihr wisst ja, die Leute vom Land.«

Schreyer schüttelte den Kopf und begann das Kind vorsichtig aus dem Tuch zu wickeln.

Es war ein Mädchen. Der Körper schlaff. Es lag da wie eine Stoffpuppe, so eine, wie Katharina sie sich wünschte, nur nicht so lustig und mit weniger hübschen Farben. Das Kind war voll ausgetragen, der Kopf recht groß, die Augen geschlossen, zwei schwarze Striche unter der Stirn. Sorgenvoll. Der Mund wie in gequältem Unbehagen verzogen. Das Mädchen hatte eine fast abnormal dicke Unterlippe. Es hatte ein spitzes Kinn, eine breite Stirn, ziemlich flache Wangen – und also diese übertrieben dicke Unterlippe, die Schreyer sogleich für eine familiäre Eigenheit hielt.

Man konnte sich durchaus vorstellen, wie das kleine Kind als junges Mädchen, als erwachsene Frau und als alte Frau ausgesehen hätte.

Ansonsten war auffällig, welch starke Ausstrahlung das Kindergesicht hatte, es war alles andere als zurückgenommen, unfertig, hilflos und zart. Das war Schreyer früher schon aufgefallen, in fast allen Fällen von Inspektionen an Kindern in diesem Stadium. Kurzum, das Kind sah nicht aus wie ein Neugeborenes. Es schien, als hätte ihm das furchtbare Ereignis, von dem es ereilt worden war, der Tod im Mutterleib oder außerhalb, die Schwermut eines erwachsenen, nahezu alten Menschen verliehen.

Der Körper hatte sich erwartungsgemäß verfärbt. Er war übersät mit dunkelroten Stellen, rötlichblauen Malen und Flecken, und die Oberhaut hatte einen blassgrau bis grünen Ton angenommen, sie war aufgedunsen. Hände wie Füße waren klein und runzlig mit kräftigen Nägeln. Beide Händchen waren zu Fäusten geformt. Auf dem Kopf hatte das Mädchen einen hellblonden Flaum. Der Körper war vertrocknet, hatte fast alle Flüssigkeit eingebüßt.

Schreyer nahm an, dass das Kind etwa achtzehn Zoll maß.

Alles in allem ein hübsches Kind, richtig hübsch.

Ein Schauder durchfuhr ihn, und für einen kurzen Moment sah er das kleine Mädchen vor sich, das Helena Regina vor acht, neun Jahren entbunden hatte, ein totgeborenes Kind, das sie Gertine genannt hatten.

»Nun«, sagte er, »da haben wir das Kind. Es weint nicht, es lacht nicht, es zeigt diesen letzten Gesichtsausdruck des Schreckens. So wird es uns übrigens allen ergehen«, fügte er rasch hinzu, »Ihr braucht Euch daher nicht zu einer unbedachten Äußerung hinreißen zu lassen, Herr Amtmann.«

»Nein – ich …«

»Das Mädchen hat eine Weile in der Erde gelegen«, fiel Schreyer ihm ins Wort und widmete sich dem, was er an der Kinderleiche bemerkenswert fand und was ihm aufgefallen war, nachdem er das Stück Tuch auseinandergefaltet hatte.

Während fast alles so aussah, wie man es erwarten konnte, zeichnete sich dieser Leichnam dadurch aus, dass er mit kleinen Löchern übersät war.

Kleinen dunklen Löchern, sie sahen aus wie Stichwunden.

Abraham Walther nickte.

»Ja«, sagte er, »ich sage nichts, Herr Doktor, aber Ihr seht ja selbst …«

»Nein«, sagte Schreyer, »Sagt nichts.«

Er winkte Stolz und Wechern zu sich heran.

»Eine kleine Zange, bitte, Herr Stolz«, sagte er und bekam vom Barbier sogleich eine kleine Zange gereicht, die dieser aus seiner Tasche zog.

Schreyer zeigte auf die erste Wunde, berührte sie vorsichtig.

»Eine Wunde wie von einem Stich, an der linken Achsel«, sagte er. »Sind wir uns da einig?«

Stolz und Wechern nickten, der Schreiber am Tischende notierte.

»Zwei Wunden wie von einem Stich auf dem rechten Arm und unter dem Schlüsselbein«, fuhr Schreyer fort und zeigte mit der Zange darauf. Die anderen nickten. Der Schreiber notierte.

»Eine Wunde unter dem rechten Arm.« Schreyer zeigte erneut. Die anderen nickten.

»Zwei Wunden wie von Stichen unter dem linken Arm.« Schreyer kniff die Augen zusammen. »Was sagt Ihr, meine Herren? Sechste? Siebte Rippe?«

»So in etwa«, sagte Wechern.

»So in etwa reicht nicht«, sagte Schreyer.

»Ich würde sagen, eine zwischen der sechsten und der siebten Rippe, die andere zwischen der siebten und der achten«, sagte Stolz, und Schreyer registrierte erfreut den erfahrenen Blick des Fachmanns. Er schürzte die Lippen und trat einen Schritt zur Seite.

»Ihr bezeugt, was wir gesehen haben. Herr Stolz? Wir drehen die Leiche um.«

Der Schreiber notierte, und Stolz packte den Leichnam. Er drehte ihn auf den Bauch.

Auch auf dem Rücken hatte das Kind mehrere Stiche.

Insgesamt vier auf der rechten Seite sowie einen auf dem linken Schulterblatt.

Schreyer studierte die Wunden. Sie sahen alle gleich aus und schienen mit derselben Stichwaffe herbeigeführt worden zu sein. Die Wunden waren willkürlich angeordnet, sie befanden sich an höchst unterschiedlichen, gleichsam zufälligen Stellen am Körper, als hätte jemand blind auf das Kind eingestochen, und sie waren ihm aus unterschiedlichen Winkeln zugeführt worden.

Es hatte den Anschein von etwas Ungestümem, Wildem.

Hinter ihm räusperte sich der Amtmann, als ob es ihn erneut danach drängte, etwas zu sagen, und Schreyer hielt ihm noch einmal die Hand entgegen, um ihn zu stoppen.

War die verrückte Mutter, die nur für kurze Zeit Mutter gewesen war, mit einem Messer oder etwas Ähnlichem auf das Kind losgegangen?, fragte er sich. Das war keineswegs üblich. Solche unglücklichen Kindsmörderinnen erwürgten ihr Kind mit einem Tuch, warfen es in den Abort, ertränkten es im Fluss oder ließen es zu Boden fallen. Verzweifelte Handlungen dieser Art.

So etwas wie hier hatte er noch nie gesehen. Er hatte schon viele Kinderleichen in der Hand gehalten, und sie erfüllten ihn immer mit Pietät, aber selten bis nie lösten sie lebendige Gefühle in ihm aus, sie waren der Tatort für die Arbeit, die Schreyer zu erledigen hatte, aber das hier?

»Herr Wechern?«

Der alte Pegauer Arzt schniefte und trat einen Schritt vor.

»Wie viele dieser Stiche sind durch die Haut gegangen, was würdet Ihr sagen?«

»Nun ja«, sagte der alte Wechern und zog ein Taschentuch heraus, das er zur Nase führte, »es könnten gut zwei, drei oder vier, fünf sein, würde ich sagen.«

Schreyer seufzte über die vage Angabe des Alten und wandte sich an den Barbier.

»Herr Stolz?«

Der Barbier nahm die Leiche in Augenschein.

»Ich würde sagen«, fing er an, »dass drei durch die Haut gegangen sind. Eine Wunde in der Kehle, Ihr seht, die ist ziemlich tief«, er zeigte darauf, »und die zwei hier am Bauch, die sehen ziemlich bedrohlich aus.«

Schreyer nickte. Das entsprach exakt seinem eigenen Fazit. Stolz war in der Tat ein Mann, der sich auf seine Arbeit verstand.

»Dann ist die Sache wohl ganz einfach«, kam es von Walther.

Schreyer würdigte ihn keiner Antwort. Er wartete darauf, dass Stolz das Wort ergriff und sagte, worüber er selbst gerade nachdachte.

Es war alles andere als einfach. Es gab keinerlei Anzeichen von Blut. Vor ihnen lag eine Leiche mit elf Stichwunden, mehrere davon ziemlich tief, vermutlich tödlich, aber an der Leiche gab es keine Blutspuren.

»Habt Ihr etwas zu sagen, meine Herren?«, fragte Schreyer nach einer Weile.

»Nein, ich stimme Euch ganz und gar zu«, sagte Wechern, ohne dass deutlich wurde, worin er zustimmte.

»Das Kind wurde erstochen«, sagte Stolz, »das ist eindeutig. Die Wunden stammen von einer Stichwaffe. Wir können sehen«, sagte er und zeigte auf die Stellen, »dass höchstwahrscheinlich mehrere tödlich waren. Die Kehle wurde getroffen, und auch die Leber. Aber«, hier hielt er kurz inne, als wüsste er nicht so recht, ob er sagen sollte, was er dachte, »es ist eigenartig, dass es an der Leiche keine Blutspuren gibt. Das Blut kann natürlich abgewaschen worden sein, aber … Ja.« Er blickte zu Schreyer. »Kein Blut, Herr Doktor.«

»Hervorragend!«, sagte Schreyer und klatschte in die Hände. »Völlig richtig, Herr Stolz, keinerlei Anzeichen von Blut. Lasst es uns so sagen. Die Mutter ist auf das Kind losgegangen. Vermutlich mit einem Messer.«

»Genau!«, kam es von Walther.

Schreyer ignorierte den Amtmann und fuhr fort: »Mit einem wie auch immer gearteten spitzen Gegenstand. Aber warum sollte sie auf ein schon totes Kind einstechen? Können wir uns darauf verständigen, meine Herren: Was schon tot ist, kann nicht mehr getötet werden – ja?«

Schreyer betrachtete die Männer um sich herum. Stolz nickte, Wecherns Blick flackerte, und der Amtmann brummte sichtlich gereizt: »Könnte Herr Schreyer so liebenswürdig sein, sich zu erklären?«

»Schreyer kann sich erklären«, sagte er, entnervt von diesem Amtmann, der nicht die geringste Ahnung vom einfachen, universellen Wissen hatte, »hier findet sich kein Blut, Herr Amtmann.«

»Aha, na und?«

»Sagt schon, Herr Walther«, sagte Schreyer ruhig. »Seht Ihr irgendwelche Blutreste?«

»Nein, ich sehe keine«, sagte der Amtmann gereizt und betrachtete das Kind, »ich habe aber auch keine Ahnung, wo man an so einem graugrünen Klumpen getrocknetes Blut finden sollte.«

»Bleibt noch zu verstehen«, fuhr Schreyer fort, »warum eine junge Mutter auf derart gottlose Weise auf ihr schon totes Kind einstechen sollte.«

»Vermutlich hat sie die Besinnung verloren, und den Verstand«, kam es trocken von Walther, bevor er rasch hinzufügte: »Das schon tote Kind?«

»Nun«, sagte Schreyer, »Es fällt Euch wohl schwer, dies zu begreifen. Die Heilkunst hat ihre Regeln. Hinweise, ja. Beweise? Mal sehen. Schon tot? Das weiß kein Mensch, es ist ja gerade Sinn und Zweck unserer heutigen Aktivitäten, in die Nähe von so etwas wie Gewissheit zu kommen.«

Er ließ dem verwirrten Amtmann nicht die Zeit, darauf zu antworten, sondern wandte sich an Wechern und seinen neuen Liebling Stolz:

»Meine Herren, ich sehe keinen anderen Weg, als den Leichnam aufzumachen.«

Der Barbier nickte und ging zu seiner Tasche, der er rasch die Instrumente entnahm: ein Messer, zwei Scheren von unterschiedlicher Größe, eine weitere kleine Zange, eine Senknadel und ein Haken.

»Wir müssen uns anschauen, wie die Wunden von innen aussehen«, sagte Schreyer, »wir müssen sehen, was vor sich gegangen ist, mit anderen Worten: Wurden die Stiche vor oder nach dem Tod zugefügt, gibt es Spuren einer inneren Blutung?«

»Herr Doktor«, kam es von Walther, »es gibt den Spruch, warum einfach, wenn es auch umständlich geht …«

»Nein!«, sagte Schreyer, »das hier gehört nicht in die Kategorie des Einfachen. Hier verbergen sich grauenhafte Umstände, daran besteht kein Zweifel, Herr Amtmann! Aber hört, was ich zu sagen habe: Hätte das Kind in dem Moment gelebt, in dem es dem Gemetzel ausgesetzt war, hätte es geblutet, Blut wäre aus ihm herausgeströmt – wisst Ihr, wie viel Blut sich in unserem Körper befindet? Kübelweise Blut! Es wäre Blut herausgeschossen, von dem wir Reste sehen würden, und wir … wir …«

Schreyer hielt inne.

Walther sah ihn fragend an. Wechern blickte genauso verwirrt drein wie während der ganzen Untersuchung. Stolz hörte aufmerksam zu.

Schreyer merkte, dass seine Mundwinkel zu zucken begannen.

»Herr Schreyer?«

Er starrte unverwandt vor sich hin.

War jetzt der Augenblick gekommen?

»Äh … Herr Schreyer?«

»Ich habe gerade einen Beschluss gefasst«, sagte er mit plötzlich trockenem Mund. Es war ihm schon früher aufgefallen, wie er bei Aufregung innerhalb von Sekunden einen trockenen Mund bekam, hochinteressant.

Schreyer nahm den Blick von dem klein gewachsenen Amtmann. Er sah Stolz und den alten Wechern an sowie den Schreiber, der mit der Feder in der Hand dasaß und wartete.

»Ich erwäge«, sagte Schreyer ruhig, »eine Untersuchung durchzuführen.«

Er zeigte auf das Kind.

»Wenn wir schon die Leiche öffnen, um uns in dem menschlichen Körper umzuschauen, dann wollen wir eine Lungenschwimmprobe machen.«

Wechern und Stolz schauten sich entgeistert an, und der Schreiber notierte.

»Eine was?«, fragte Walther.

Eine Lungenschwimmprobe, dachte Schreyer erregt, und jetzt hatte er die Buchhandlung Gleditsch ebenso vergessen wie die Puppe für Katharina: Es war an der Zeit, eine Lungenschwimmprobe vorzunehmen.

Er hatte davon gelesen.

Es war nicht etwa so, dass die Lungenschwimmprobe ganz von selbst in ihm hochstieg, nein, er hatte in den letzten Jahren mehrmals von diesem Experiment gelesen, und zwar mit großem Interesse, mit einer Art begierigem Interesse, das ihn hin und wieder überkam. Sein ausgeprägtes Interesse war bezeichnend für Johannes Schreyer. Alle, die ihn kannten, bestätigten, dass seine Neigung zum Grübeln, zu langen Nächten in der Bibliothek äußerst auffällig war. Sitzt Ihr schon wieder hier und lest, lieber Vater, sagte seine geliebte Katharina, wenn sie auf dem Weg ins Bett war, und er strich ihr dann über das seidige Haar und sagte: Ja, hier sitzt dein Vater und liest. Willst du nicht endlich zu Bett gehen, mein lieber Doktor?, fragte Helena Regina, willst du schon wieder aufbleiben und lesen? Ja, das habe ich vor, sagte er dann, nicht ohne Freude in der Brust, denn dass er den Ruf hatte, sich von seinen Interessen überwältigen zu lassen, damit war er überaus einverstanden. Schreyer kultivierte das bereitwillig und so oft er konnte, und wenn seine Frau am nächsten Tag zu ihm sagte, Oh, du hast schon wieder diese großen Augen, deine Leseaugen, freute es ihn, und als er erfuhr, dass es dem Fürsten zu Ohren gekommen war, dass kein Mensch in ganz Zeitz so gründlich las und studierte wie er, erfüllte ihn auch dies mit seltener Freude.

Es gab eine Untersuchung – eine ganz neue Untersuchung, von konservativen Theologen und Juristen verspottet –, die beweisen konnte, ob ein Kind vor der Geburt gestorben war und somit nie außerhalb des Mutterleibs gelebt hatte.

Seit Galen war bekannt, dass der Fötus im Mutterleib nicht atmete. Erst wenn sich der Atem nach der Ankunft des Kindes in der Welt einstellte, begann das eigentliche Leben. Des Weiteren war dank dem Holländer Swammerdam bekannt, dass der Fötus im Mutterleib deshalb nicht atmete, weil er in Wasser schwamm. Und es war bekannt, dass erst durch den Atem, das Erkennungszeichen des Lebens, Luft in die Lunge gelangte, und indem sie wieder herausströmte, die Stimmmodulation erfolgte. Denn in der Gebärmutter gab es kein Jammern, kein Wimmern, wie manche es sich vorstellten. Nein, so etwas gab es nicht, kein Atem, kein Laut, nur Schwimmen im Fruchtwasser. Auch der Kopenhagener Arzt Bartholin hatte eindeutig festgestellt: Erst durch die Geburt bekam das Kind Luft.

Die Wunder des Körpers!

Man denke nur, schrieb der Engländer William Harvey, dass ein Fötus, ohne zu atmen, neun Monate in der Gebärmutter ausharren kann, aber nur wenige Sekunden draußen in der Welt.

Schreyer hatte von all diesen Dingen gelesen: Die Luft, die von der Lunge eingesogen wird, wird nicht vollständig wieder hinausgeblasen, die Lunge ist komprimiertes Gewebe, das sich mit Luft füllt, aber ganz hinaus soll die Luft nicht. Wenn die Luft in die kleinen Bläschen eindringt, weitet sich die Lunge, die zunächst zusammengefaltet ist, aus. Sobald die Lunge Luft bekommt, dehnt sie sich aus und wird leichter, und was sagt Swammerdam? Ja, er sagt Folgendes: Aufgrund der vorhandenen Luft sinkt die Lunge, die in Wasser gelegt wird, nachdem ein Lebewesen seinen ersten Atemzug gemacht hat, nie zu Boden.

Sie schwimmt.

Nächtelang hatte er darüber gelesen. Das Wissen hatte in seiner Neugier weitergelebt, er hatte die schwimmenden Lungen vor sich gesehen und auch die sinkenden, und das alles hatte Schreyer unmittelbar eingeleuchtet: Wenn die Lunge infolge der eingedrungenen Luft im Wasser schwimmt, heißt das im Umkehrschluss, dass dieselbe Lunge, wenn noch keine Luft eingedrungen ist, im Wasser sinken muss.

Das war absolut logisch.

Gegner der Untersuchung konnten sich unmöglich gründlich damit auseinandergesetzt haben.

Und als wäre das noch nicht genug, hatte er auch von Karl Rayger gelesen, einem Arzt aus Bratislava, der 1675 so weit gegangen war, bei der Leichenöffnung eines Zwillingspaars eine solche Lungenschwimmprobe durchzuführen. Rayger hatte herausgefunden, dass die Vermutungen wohl stimmten, und er ging noch einen bedeutsamen Schritt weiter, er empfahl die Probe zur Anwendung in Gerichtssälen und gelangte zu folgendem Schluss:

»Ich glaube, sie beweist zweifelsfrei, ob das Kind im Mutterleib gestorben ist oder nach der Niederkunft erdrosselt beziehungsweise getötet wurde, sie dient somit zur Wahrheitsfindung und um die Schuld von Kindsmördern zu ermitteln.«

Schreyer schob seine Erinnerungen aus der Bibliothek beiseite und lief an dem großen Kopf des Amtmanns Walther vorbei, der ihm lediglich bis zur Brust reichte.

Er trat an den Tisch, auf dem die Kinderleiche lag, und dachte:

So, was wird nun passieren – sinkt oder schwimmt die Lunge? Heißt es, leben oder sterben für die junge Frau?

Schreyer spürte, wie seine Mundwinkel bebten, und er erinnerte den Schreiber erneut daran, alles zu notieren, »so gründlich, wie es in Eurer Macht steht«, bevor er Christian Stolz anwies, sich ans Werk zu machen.