Wir sehen uns morgen - Tore Renberg - E-Book

Wir sehen uns morgen E-Book

Tore Renberg

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Beschreibung

Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das um jeden Preis geliebt werden will, sich aber den Falschen aussucht. Ein Geschwisterpaar, das seit frühester Jugend auf sich gestellt ist und sich mit Gaunereien über Wasser hält. Ein alleinerziehender Vater, der der Spielsucht verfällt und bald seine Kinder nicht mehr ernähren kann. Vom Schicksal gezeichnete Figuren, die in einem Strudel aus Brutalität, Humor, Tragik und Liebe aufeinandertreffen und gegen alle Unbill um ihr Glück kämpfen. Wir sehen uns morgen ist ein sprachlich herausragender Roman über Existenzangst, Überleben und die Suche nach Liebe.

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Seitenzahl: 827

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Das Buch

Es ist September in Stavanger, einer der reichsten Städte der Welt in einem der reichsten Länder der Welt. Plötzlich setzen einige Tage mit ungewöhnlich gutem Wetter ein, kurz bevor der Winter mit seiner lang anhaltenden Dunkelheit hereinbrechen wird. Doch nicht alle haben Anteil an den Sonnenseiten des Lebens. Nicht in einer Gesellschaft, in der Geld und Erfolg bestimmen, ob man dazu gehört oder nicht.

Pål ist hoch verschuldet. Der Grund dafür ist seine Spielsucht, von der niemand erfahren darf – ganz besonders nicht seine beiden Töchter oder seine Ex-Frau. Mit seinem bescheidenen Gehalt kann er seine Schulden niemals zurückzahlen. Er muss improvisieren. Auch die fünfzehnjährige Sandra hat ein Geheimnis: Sie hat sich in den charmanten Kriminellen Daniel William verliebt – und dieser tiefen Liebe darf nichts und niemand im Weg stehen. Cecilie schließlich steht vor der größten Herausforderung: Sie ist schwanger und hofft inständig, dass ihr Lebensgefährte auch der Vater ist. Obwohl sie ihn über alles liebt, fühlt sie sich in ihrer Existenz gefangen und sucht einen Ausweg.

An drei Tagen im September treffen Pål, Sandra und Cecilie aufeinander und geraten in einen Strudel aus Brutalität, Humor, Tragik und Liebe. Danach ist nichts mehr wie zuvor.

Der Autor

Tore Renberg, 1972 in Stavanger geboren, ist Schriftsteller, Musiker und Journalist. Seit seinem Debüt 1995 hat er mehrere preisgekrönte Romane geschrieben, die durch ihre Sprachgewalt und ihre ungewöhnliche Themenwahl für Aufsehen sorgten. Der kommerzielle Durchbruch gelang 2003 mit Mannen som elsket Yngve (Der Mann, der Yngve liebte), der zu einem der meistgelesenen Romane des Jahrzehnts in Norwegen avancierte und 2008 verfilmt wurde. Tore Renberg gilt als einer der herausragenden norwegischen Schriftsteller seiner Generation.

TORE RENBERG

WIR SEHENUNS MORGEN

ROMAN

Aus dem Norwegischenvon Elke Ranzinger

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

VI SES I MORGEN

bei Forlaget Oktober, Oslo

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Copyright © 2013 by Tore Renberg

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabeby Wilhelm Heyne Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Leena Flegler

Umschlaggestaltung: Johannes Wiebel / punchdesign, München,© nach einer Vorlage von Asbjørn Jensen

Satz: Schaber Datentechnik, Austria

ISBN: 978-3-641-18949-5V001

www.heyne-encore.de

Dienstag, 25. September

Calling every boy and girl

Calling all around the world

Get ready for love!

NICK CAVE

1 666 (Pål)

Seine Augen fühlen sich an, als wären sie voll Sand.

Als läge eine feine Sandschicht auf der Bindehaut, schon seit mehreren Wochen. Nichts hilft, Augentropfen, Augensalbe – es geht einfach nicht weg. Die Körnchen scheuern über die Bindehaut. Wenn das noch lange dauert, perforieren die Sandkörnchen irgendwann die Hornhaut, und dann wacht er eines Tages auf und ist nicht mehr in der Lage, die Welt zu sehen.

Vielleicht gar nicht so schlecht.

Davon kann einem echt übel werden.

Es wird nie im Leben hinhauen, oder?

Pål wischt die Armaturen trocken, faltet den Lappen und legt ihn über den Wasserhahn. Er stützt sich am Waschbecken auf und atmet tief ein, als würde das helfen. Er hört im Obergeschoss die Spülung rauschen, atmet aus und wirft dem Hund einen Blick zu. Der schwarz-weiße Border Collie döst auf der Decke neben dem Kamin.

»Hm, Zitha? Ganz gut, oder?«

Das Rauschen der Klospülung verstummt, und im Haus ist es wieder still. So still wie draußen, wo sich im gelben Schein der Straßenlaternen nicht mal die Blätter an den Bäumen bewegen. Nicht mal der Bindfaden an der Tanne regt sich, an dem die Mädchen immer Milchtüten befestigt haben, Milchtüten, in die sie Öffnungen geschnitten hatten, um ein Stöckchen hindurchzustecken, damit die Kohlmeise darauf sitzen und fressen konnte.

Papa? Dürfen wir ein paar Rosinen haben? Mögen Singvögel Rosinen?

Die Milchtüte verschwand, die Ehefrau verschwand, aber die Mädchen sind noch da, so wie der Bindfaden.

Pål kneift das rechte Auge zu und presst gereizt den Zeigefinger auf das Lid. Er macht das Radio an. P4. Coldplay. Der Song war vor ein paar Jahren mal ein Hit. Wie heißt er gleich wieder? Echt nervig, wenn sie den Titel nicht singen. Now in the morning I sleep alone. Er macht das Radio wieder aus. Die ganze Welt redet über ihn, und das hält er nicht mehr aus. Er kann nicht mehr fernsehen, er kann die Zeitung nicht lesen, und wenn er mit einem Roman auf dem Schoß dasitzt, liest er dieselbe Seite sechzehnmal, ohne auch nur ansatzweise mitzukriegen, was da steht.

Das Einzige, was er erträgt, ist die Stille. Egal, wie ätzend sie sein kann.

Der Herbst kam in diesem Jahr früh. Die ersten Septemberwochen waren in Regen ertränkt und vom Wind verweht, aber jetzt gibt es plötzlich doch noch ein paar schöne Tage. Als hätte der Sommer den Wunsch, ein letztes Mal Abschied zu nehmen. Am weit offenen Himmel hängt tief die gleißende Sonne. Bereits früh am Vormittag wirft sie lange Schatten auf die Straßen. Sie brennt so stark, dass man glauben könnte, sie wollte erst den Himmel abfackeln und dann sich selbst.

Was, Zitha? Glaubst du, Papa wird es schaffen?

Der Hund hat eine Vorderpfote unter die Brust gezogen, die andere liegt schlaff und schläfrig neben der Wolfsschnauze. Zitha sieht ein bisschen merkwürdig aus, wenn sie sich auf der Decke so flach ausstreckt. Die Ohren ruhen elegant und schön neben ihrem Kopf.

Zitha ist ein zuverlässiger Hund. Und ein schöner Hund. Und sie hat keine Ahnung von dem, was ihrem Herrchen gerade widerfährt. Zitha ist einfach da. Schläft. Spielt. Läuft. Frisst. Steht Tag für Tag mit der immer gleichen unbändigen Hingabe vor Pål: wedelnde Rute, schwänzelnder Hintern, schlabbernde Zunge.

Er sieht aus dem Fenster in den Garten. Mittlerweile wird es früh dunkel. Schon gegen halb acht gehen die Straßenlaternen an, da kommt bereits die Dämmerung, und eine gute halbe Stunde später ist es stockfinster.

Seit einem Monat zieht sich der Sommer leise zurück. Erst trugen die Leute noch T-Shirts und kurze Hosen. Aber dann war’s das für diesmal. Die Birke wurde gelb, der Rhododendron rot, die Laubbäume verblassten allmählich. Die Frauen kramten ihre knielangen Mäntel hervor, man sah häufiger Grau, Braun, Ocker und immer mehr Kopfbedeckungen. Die Leute trugen zusehends Tücher und Schals, die Sommerschuhe wurden weggeräumt, die Kinder rannten in Fleecejacken und Regensachen rum.

Ja, klar dürfen die Singvögel Rosinen haben, die mögen sie.

Kommt Mama zurück, Papa?

Nein, ich glaube nicht.

Schon lange her.

Die Temperaturen fielen, die Abende wurden kühler. Eines Morgens beobachtete er, wie der Nachbar am Auto die Windschutzscheibe freikratzte. Gut, dass er selbst eine Garage hat.

Diese unnatürlich schönen Tage, sie sind nur geliehen. Ein letzter Seufzer des Sommers, das wird nicht lange andauern. Trotzdem muss sich der Körper umstellen, einstellen auf die neue Jahreszeit, auf die anhaltende Dunkelheit, die jetzt kommt, Monate der Kälte und Finsternis. Die Glieder werden steif, der Körper wird schwerer, man braucht mehr Schlaf.

Pål reibt sich die herbsttrockenen Hände und wirft Zitha einen Blick zu. Ihr Atem geht in langen Zügen. Wer weiß, ob sie träumt, und wer weiß, wovon sie träumt hinter ihrer schönen Stirn.

Davon kann einem echt unglaublich übel werden.

Mit einem Schnalzer tritt er auf den schlafenden Hund zu. Zitha zuckt zusammen, setzt sich auf, gähnt und streckt sich. Sofort peitscht die Rute los, die Zunge schiebt sich aus dem Maul, die Schnauze wird feucht.

»Jaaa. Komm, Zitha. Jaaa.«

Er geht in den Flur hinaus, Zitha streift um seine Beine. Er räuspert sich, deutlich, und sagt extra laut: »Ja, ja«, als er die Leine aus der obersten Schublade holt und das Leuchten in den Hundeaugen sieht.

Es wird nicht hinhauen. Oder doch?

Die Mädchen.

Die Rute fegt wie ein Scheibenwischer hin und her, und Zitha schwänzelt aufgeregt vor ihm auf und ab. Pål reibt sich die Augen, bevor er sich bückt und spürt, wie das Blut in seinen Kopf stürzt, als wäre sein Schädel ein Kolben und als folgte alles der Schwerkraft. Er krault Zitha unterm Kinn, sieht ihr in die Augen und erkennt darin das bedingungslose, unendliche Vertrauen, das sie ihm entgegenbringt.

Oben fällt eine Tür zu. Pål schlüpft in seine Herbstjacke und zieht sich Schuhe an. Er tastet über die Innentasche und fühlt nach, ob der Briefumschlag dort steckt. Ja, tut er.

Sie sind klug, Collies. Intelligent. Als seine Frau gerade dabei war, ihn zu verlassen, und erfuhr, dass er sich einen Hund zulegen wollte, empfahl sie ihm einen Setter. Auf die Jagd gehen wie andere Männer. Ja, das sieht dir ähnlich, entgegnete Pål. Setter, meinte Christine mit Bewunderung in der Stimme, laufen sich selbst in Grund und Boden, wenn man sie lässt. Collies, erwiderte Pål, sind schön und bewachen dein Zuhause. So einen Hund will ich haben.

Nur laufen. Ausbrechen, verschwinden.

Wie gerne er das tun würde. Sein häufigstes Gefühl in letzter Zeit. Laufen, ausbrechen, verschwinden. Plus Gelähmtsein, Angst, Scham – niemand weiß, was ich treibe.

»Soll ich mit rauskommen, Papa?«

Von oben Schritte auf dem Teppich.

Die Kinder sind das Schlimmste. Es fühlt sich an, als stünden nur noch Tiril und Malene zwischen ihm und dem, was er tun wird. Mit Malene ist es am härtesten. Papas Mädchen sozusagen.

Sie kommt die Treppe runter, er spürt ihre Schritte, so wie er sein eigenes fauliges Herz spürt.

»Hm? Soll ich mitgehen?«

»Nein, nein.« Er schafft es nicht, ihrem Blick zu begegnen. »Mach du nur Hausaufgaben.«

»Hab ich schon.«

Pål lächelt unbeholfen. »Da hab ich dich wohl mit jemandem verwechselt, der seine Hausaufgaben nicht immer macht. Wo ist Tiril?«

»Wahrscheinlich arbeiten.«

»Ja, klar.«

Malene runzelt die Stirn. Sie verzieht merkwürdig den Mund, wie sie es schon als Säugling gemacht hat, sodass sie aussieht wie E.T., kurz bevor er anfängt zu weinen.

Sie geht vor Zitha in die Hocke und streicht ihr liebevoll über den Schädel, sodass der Hund Schlitzaugen bekommt. Dann hält sie ihr das Gesicht hin, und Zitha leckt ihr über die Nase. »Jaaa, braaave Zitha, braaave Zitha, gehst du mit Papa spazieren, hm?«

Pål sieht sie nachdenklich an. Die markanten Wangenknochen, die ihr Gesicht nach oben zu schieben scheinen. Der kräftige Turnerinnenkörper, biegsam, aufrecht. Nie irgendwelchen Ärger mit Malene. So ein Pech, diese Verletzung. Das muss schleunigst wieder gut werden. Er lächelt, und für einen Augenblick vergisst er, wer er ist und was er getan hat.

»Kann ich nicht doch mitkommen?«

Eine Tochter, die vor dir steht und fragt, ob sie mitkommen darf. Er hofft, es wird für immer so bleiben.

»Nein«, sagt er, »es ist schon spät, und du musst noch Hausaufgaben machen.«

»Papa, ich hab doch gesagt, ich hab sie schon gemacht.«

»Brav«, sagt er. »Na ja, wär gut, wenn du hier wärst, wenn Tiril kommt.«

»Och.« Sie schmollt demonstrativ und zieht Zitha an sich. »Willst du vielleicht mit Malene gehen, hm?«

Zitha leckt ihr übers Gesicht, die Zunge rosa, feucht, und der Schwanz peitscht hin und her.

Im Flur neben dem Spiegel hängt immer noch das Bild seiner Frau. Als sie ging, wollten die Kinder es behalten. Ein Bild der Mutter für die Kinder. Seltsam. Im einen Jahr willst du der Frau die Augen auskratzen, und im nächsten vermisst du sie irgendwie.

»Da hat übrigens jemand angerufen.«

Abrupt reißt sie ihn aus den Gedanken.

»Auf dem Festnetz«, fährt Malene fort. »Hat nach dir gefragt.«

»Hat er seinen Namen gesagt?« Er versucht, so unbeteiligt wie nur möglich zu klingen.

»Nein, aber er ruft noch mal an.«

Er spürt, wie der Nebel im Kopf dichter wird. »Der Müll«, hört er Malene sagen und wünscht sich, er könnte alles, was er in den Händen hält, loslassen und auf dem Fußboden zusammensinken. »Die Müllabfuhr kommt morgen.«

»Ach ja, der Müll«, sagt er. »Was würde ich nur ohne dich machen.«

Malene lässt den Hund los, steht auf und zuckt mit den Schultern. »Tja, das wär dann wohl dein Ende, Papa.«

»Haha. Wo ist eigentlich deine Schwester?«

»Arbeiten. Hab ich doch gesagt.«

Er verdreht die Augen und muss über sich selbst grinsen.

»Du wirst echt immer verpeilter.« Malene lässt Zitha Männchen machen, nimmt die Vorderpfoten in die Hände und tanzt mit ihr. Dann wirft sie Pål einen schelmischen Blick zu. »Ist es das Alter? Hm? Hab ich einen Tattergreis zum Vater?«

»Nein, nein.« Er reibt sich die Augen und lacht verlegen. »Nur ein bisschen viel im Kopf gerade. Bisschen viel Arbeit. Aber das regelt sich. Es geht am Ende immer gut aus bei deinem Vater.«

Malene mustert ihn mit zusammengekniffenen Augen, und ihre Wangen werden noch runder. »Immer noch Schmerzen?«

»Ja.« Er blinzelt. »Als wären sie voll Sand.«

»Was ist das nur?«

»Weiß auch nicht. Hm. Geht sicher vorbei.«

»Schon beim Arzt gewesen?«

Da ist er wieder, dieser erwachsene Blick. Wenn sie ihn so ansieht, ähnelt sie Christine.

»Nein, aber ich geh bald, versprochen.« Er ringt sich ein schiefes Lächeln ab.

»Ja, aber dann tu es auch, okay?«

Ganz plötzlich spürt Pål, wie seine Zähne klappern, wie seine Augenlider flattern und der Sauerstoff aus seinem Kopf entweicht. Er beugt sich vor. Schiebt den Hund beiseite, zieht Malene an sich. Er schluckt den Kloß im Hals hinunter.

Er hält seine Tochter fest und sagt kein Wort.

Es wird nie im Leben hinhauen, denkt er insgeheim.

»Papa?«

Man sagt, man liebt all seine Kinder gleich, und das tut man wirklich, aber mit Malene ist es trotzdem anders. Tiril versteht er nie so ganz, kriegt nie ihren Blick zu fassen, als wäre sie immer woanders, ständig auf der Flucht, unaufhaltsam. Wann singt sie gleich wieder, am Donnerstag?

»Papa? Was ist?«

Er hält Malene weiter fest. Schluckt, schnieft, blinzelt. Dann lässt er sie los.

»Wann singt Tiril, am Donnerstag, oder?«

»Das weißt du doch.«

»Ja«, sagt er und schüttelt den Kopf. »Was willst du nur mit so einem sentimentalen Vater, hm? Weißt du, woran ich gerade denken musste? Iron Maiden in der Drammenshallen, klar, war das gut, aber Maiden in London … Malene, das toppt alles. Six, six, six, the number of the beast, sacrifice is going on tonight. Haha, dein alter Metal-Vater, hm? Dein alberner alter Vater, der so sentimental geworden ist. Wie geht’s deinem Knöchel? Bald, Malene, bald stehst du wieder auf der Matte. So, und jetzt geh und mach deine Hausaufgaben, und ich nehme Zitha.«

Sie sieht ihn seltsam an. »Ich habe meine Hausaufgaben gemacht …«

Pål wuschelt ihr durchs Haar. Wie das seine Hände kühlt! Sie ist so schön. Er ist wirklich stolz darauf, eine so schöne Tochter zu haben.

Was, wenn er es sagen würde? Wenn er ihr alles erzählen würde?

»Du?« Er streichelt Malene über die Wange. »Ihr solltet eine neue Milchtüte für die Vögel raushängen. Der Herbst ist da.«

2 Willst du mich? (Sandra)

Bin ich ein Sturm? Bin ich elektrisch?

Sie wird in ein paar Monaten sechzehn, sie hat eine bis zum Haaransatz schweißnasse Stirn, sie hat zitternde Mundwinkel, und sie weiß, sie muss sich beeilen. Sie hat total weiche Knie, einen exakt geschnittenen Pony und glänzenden Lipgloss. Ihr Herz schlägt wild und stark, sie fühlt sich schwach, sie fühlt sich stark.

Eins einundsechzig groß, zwei glühende Augen, drei Sommersprossen auf der Nase.

Ist sie diejenige, die er einfach haben muss? Ist sie unwiderstehlich? Diesen weißen BH, den sie gekauft hat, ohne dass ihre Mutter davon weiß, und den ihre Mutter ganz sicher vulgär finden würde, wird er den mögen?

Sandra braucht keinen Schlaf, sie braucht keine Ruhe, warum sollte sie die Sekunden verschlafen? Nie mehr will sie schlafen, Sandra will wach bleiben bis zum Ende aller Tage, denn sie hat keine Zeit, auch nur einen einzigen Augenblick dieses Lebens zu verpassen.

Terror, Umweltkatastrophen, Wirtschaftskrisen. Mag sein, dass es das alles gibt, mag sein, dass das wichtig ist, für Mama, für Papa, für die Lehrer, für die Erwachsenen, aber für sie gibt es das nicht. Die Welt ist verschwunden. Sie kennt nur noch Hitze und Furcht, Eile und Sorge. Sie fühlt nur noch dieses Kribbeln in ihrem Körper, als würde in ihr drinnen ein unbekannter Regen fallen, gefährlich und wunderbar. Denn Sandra wird hinausgehen und den treffen, den sie liebt.

Er wird doch hoffentlich da sein?

Sie schließt die Hand um das Silberkreuz, das in ihrem Halsgrübchen ruht, und wischt sich mit dem Ärmel über die klatschnasse Stirn. Echt peinlich, das hat sie von ihrem Vater. Der hat immer Schweißflecken unter den Achseln, wenn er nach der Arbeit das Jackett aufhängt und sagt: »Ach, gut, daheim zu sein.«

Vielleicht sollte sie sich einen Schal kaufen, den sie sich vom Nacken her um die Stirn bindet. Vielleicht würde er das mögen. Er wird doch hoffentlich nicht gegangen sein?

So schnell sie kann, zieht Sandra den schweren Industriestaubsauger über den Fußboden des Ladens. Sie holt ihr Handy nicht einmal pro Minute heraus und sieht auf die Uhr, nein, sie sieht alle fünf Sekunden nach, und jetzt ist es schon viel zu spät: 20:50.

Er wartet am Stromhäuschen im Gosenskogen auf sie. Direkt neben der Madlavollgrundschule. Direkt neben dem Gosenkindergarten. Beides hat sie besucht. Er wird auf sie warten. Und er lügt nicht, das tut er doch nicht, oder, denn die Liebe lügt nicht, das tut sie doch nicht, oder?

Oh Gott, stell dir vor, Mama hätte es gesehen!

Er hat ihr Gesicht zwischen seine warmen Hände genommen, und seine Pupillen sahen aus wie Flammen. Sie hielt den Atem an, spürte seine Daumen über ihre Lippen streichen, dann küsste er sie und sagte, was sie hören wollte: Ich bin um neun da. Wir sehen uns morgen.

Die Liebe lügt nicht.

Draußen ist es wieder schön. Nach ein paar verregneten Wochen leuchtet der Septemberhimmel, auch wenn die Temperaturen gesunken sind und alle wissen, was ihnen bevorsteht. Es ist kälter geworden. Alles Leben wird verblassen.

Sandra ist das egal. Komm Regen, komm Sturm. Und sollte Krieg ausbrechen, wäre das für sie auch okay, solange sie nur bei ihm sein kann, bei ihm. Das Mädchen kann kaum fassen, womit es sich beschäftigt hat, bevor sie Daniel traf. All die Tage und Abende mit ihren Freundinnen – im Pausenhof stehen, vor dem Laden rumhängen, Arm in Arm gehen und kichern und gackern, im Chor singen. Wie armselig und dumm und kindisch! Sollen sie doch sagen, sie wäre in letzter Zeit irgendwie distanziert. Mira kann es sagen, so laut sie will. Sandra hat uns verraten, Sandra ist total loco. Und Mathilde, die Arme, die aussieht, als hätte sie kein Dach über dem Kopf, wie Mama behauptet, lass sie es ruhig sagen. Sandra hat sich verändert. Was die denken, ist ihr egal, das ist Luft, das ist Wind, das ist nichts. Es gibt nur eine einzige Sache, die noch etwas bedeutet: zu dem zu laufen, den man liebt, und das eigene Herz mit seinem zu verschmelzen.

Einen Schal.

Ja.

Könnte hübsch aussehen.

Gleich ist sie fertig. Nur noch den hinteren Bereich des Ladens staubsaugen, dann ist ihr Teil erledigt. Tiril trödelt und arbeitet im Schneckentempo, aber soll die doch machen, was sie will. Wenn Sandra staubgesaugt hat, ist für sie zumindest Schluss. Dann schlüpft sie aus Jogginghose und Kapuzenpulli und zieht die eng sitzende Met-Jeans an, weil er gesagt hat, dass er die mag. Ich finde dich echt verdammt sexy in der Hose. Sie wird noch mehr Lipgloss auflegen, denn dass er das mag, hat er auch gesagt. Find’s echt scharf, wenn deine Lippen so glänzen.

Tausendmal hat sie nervös vorm Spiegel gestanden und versucht, dieses Gesicht zu machen, diesen Ausdruck, den sie offenbar manchmal bekommt, wie er ebenfalls gesagt hat. Du bist echt verdammt süß, wenn du das machst. Irgendwas mit dem Mund, irgendwas mit den Nasenflügeln, die sich ein wenig weiten. Mehrmals hat sie nachgefragt. Was meinst du damit? Sie hat ihm gegen den Arm geboxt, hat ihn angelacht, aber er hat nur geantwortet: Kann ich dir nicht erklären, du bist einfach echt verdammt süß, wenn du das machst.

Bin ich das? Findest du?

Ja, Sandra, bist du, Scheiße, du bist echt verdammt süß, du bist eine verdammte Blume, du.

Sandra holt das Handy heraus. Keine Nachrichten. 20:52. Wenn er nur die Zeit nicht vergessen hat, wenn er nur nicht genug von ihr hat, einem dummen kleinen Mädchen von gerade einmal fünfzehn Jahren.

Zehn Uhr, hat sie zu ihren Eltern gesagt. Weil sie ja den ganzen Laden alleine putzen muss, dauert es bis zehn. Sie sind nicht mehr zu zweit wie früher, und deswegen dauert es jetzt länger. Ist allerdings gelogen, denn Tiril ist ja da, und die Lüge prasselt in Sandras Kopf, als würde sie vom Zwerchfell in den Hals hinaufwogen. Eine Stunde. Eine Stunde hat sie sich erschwindelt. Mit ihm.

Sandra steht der Schweiß auf der Stirn. Ja, klar, Mama, ich komme nach der Arbeit direkt heim, aber nein, Papa, ich treibe mich abends nicht draußen herum. Als wir jung waren, da trieb sich niemand mitten in der Woche nachts draußen herum, das waren damals ganz andere Verhältnisse. Ja, vielleicht, na und? Es kratzt sie überhaupt nicht, wie es in den blöden Siebzigern und den bekloppten Achtzigern war, genau wie auch die Musik sie nicht weniger kratzen könnte, die ihr Vater ihr andauernd vorspielen will, die echte Musik, wie er sagt. The Police und Sting und all das. Leute, die noch selbst spielten und nicht dachten, echte Musik könnte man mit ProTools machen. Oder ihre Mutter, die mit ihrem Girls just wanna have fun nervt. Mein Gott, und dann das ganze Gerede über den Kalten Krieg und die Berliner Mauer – na und, na und, na und?

Sie lebt jetzt, kapieren sie das denn nicht?

Sie lebt jetzt, und sie lügt, dass der Schweiß nur so tropft. Es ist riskant. Mama und Papa könnten es herausfinden. Sie könnten Tirils Vater begegnen. Sie kennen ihn. Oder sie könnten Tiril begegnen. Die Lüge ist alles andere als wasserdicht. »Hallo, Tiril, schön, dich zu sehen, schade, dass du aufgehört hast, bei Prixen zu putzen.«

Diese bescheuerte Tiril. Glaubt, sie wär bereits jemand mit ihren vierzehn Jahren. Sie geht mit der Sprühflasche hinüber zur Kühltruhe. Schwieriges Kind. Immer schon mürrisch und widerspenstig. Ihre Schwester nicht ganz so schwierig, vielleicht ein bisschen still, von der ernsteren Sorte. Ist unglaublich gut im Turnen, Malene, ein Supertalent, allerdings hat sie sich den Knöchel verletzt. Die zwei Mädchen sind sehr unterschiedlich. Ein bisschen seltsam, jede auf ihre Weise. Jeder weiß, dass sie ein bisschen seltsam sind. Vielleicht hat Mama recht, wenn sie missbilligend die Augenbraue hochzieht. Sie sind halt nicht mit einer Mutter und einem Vater im Haus aufgewachsen.

Es ist so heiß.

Sandra schiebt die Unterlippe vor, pustet sich unter den Pony.

So unglaublich heiß.

Die Lüge ist ein Risiko, das sie bereit ist einzugehen. Wenn sie es herausfinden, dann sollen sie ihretwegen doch sagen, was sie wollen, auch wenn sie ihr bestimmt das Taschengeld streichen und sie abends nicht mehr rauslassen, denn was wissen sie schon von Liebe? Sie sitzen da und sehen sich Serien auf Blu-ray an, Abend für Abend Mad Men und Kommissarin Lund. Ist das Liebe? Was wissen die schon von den Lippen eines Jungen auf ihrem Mund und den Händen eines Jungen auf ihrem Körper? Was wissen die schon von der Tiefe in seinen Augen, wenn er sie in der Dunkelheit des Waldes eindringlich ansieht?

Sandra lügt, aber das macht nichts, denn sie ist ein Kind des Himmels. Die Bereitschaft zu lügen bestätigt nur, dass ihr Tun wahrhaftig ist. Und wenn dem so ist, dann ist es richtig, dann handelt das Herz. Denn was sollte auf dieser Welt richtig sein, wenn nicht die Liebe?

Sie greift an ihr Halsgrübchen, wo der silberne Anhänger ruht, den sie von Tante Astrid und Onkel Franz zur Konfirmation geschenkt bekommen hat, das diamantbesetzte Kreuz. Sie umschließt es fest.

Sie ist nervös angesichts dessen, was passieren wird.

Du bist kostbar, Sandra. Vergiss das nicht.

Du schenkst dich nicht für irgendwen her, nicht wahr, Schatz?

Aber nein, Mama.

Sie schwitzt nicht nur bis zum Haaransatz, sie schwitzt am Hals, schwitzt zwischen den Schulterblättern, schwitzt an den Händen. Sie schiebt den Gedanken an ihre Mutter beiseite und denkt daran, was im ersten Korintherbrief steht, dass die Liebe alles erträgt, alles glaubt, alles hofft und allem standhält. Und daran, was da weiter steht, dass man wie ein Kind redete, wie ein Kind dachte und wie ein Kind urteilte, als man ein Kind war, sobald man dann aber erwachsen wurde, lachte man über das Kindische. Genauso fühlt sie sich. All das Kindische wirkt so dumm, so weit weg, dass es schier unbegreiflich ist, dass sie das gewesen sein soll.

Sandra staubsaugt, so schnell sie kann. Tiril mit ihren Kopfhörern wirft ihr einen verstohlenen Blick zu. Schwarz geschminkt. Evanescence, Susanne Sundfør, My Chemical Romance. Sandras Haut kribbelt. Seine Hände, seine Augen, seine Stimme. Willst du mich? Sexy?

Sie beeilt sich, sie nähert sich dem Leergutautomaten und der Tür zum Hinterzimmer, doch kurz bevor sie fertig ist, reißt sie den Angebotsaufsteller mit dem Honig um, der neben dem Gewürzregal steht. Die Pyramide fällt in sich zusammen, Honigtöpfe krachen zu Boden und kullern in alle Richtungen. Sandra schlägt das Herz bis zum Hals, sie flucht in sich hinein und geht sofort in die Hocke, um alles wieder an seinen Platz zu stellen.

»He, Tiril? Kannst du mir mal helfen?«

Jetzt verliert sie Zeit. Sie verliert Sekunden mit ihm.

Willst du mich, Sandra?

»Tiril, magst du mir bitte helfen?«

Ich bin kostbar.

Ich schenke mich nicht irgendjemandem.

Ich will dich. Nimm mich. Öffne mich. Jetzt. Heute Abend.

3 Viva la vida (Rudi)

»Hey, Chessi? Bist du da, Baby?«

Mit seinen kaffeebraunen Augen sieht Rudi in den Rückspiegel.

»Hey? Chessibaby?«

Keine Antwort.

Der alte Volvo stottert aus dem Kreisverkehr bei Åsen, und Rudi gibt Gas. Wenn das hier eine Firma sein soll und dieses Auto hier ein Firmenauto, dann sieht’s düster aus. Wann haben sie den noch mal gekauft? Zweiundneunzig. Von einem alten Bauern auf Finnøy. Der Volvo stand draußen auf einem Feld, in eine Plane gehüllt, Schafe beschnupperten ihn unter seiner Plastiktracht. Ein Standard 240er. Hatte nur 19000 Kilometer drauf. Aber so ist es wohl mit alten Leuten und Autos, sie passen genauso gut darauf auf wie auf ihr Geld. Jetzt hat er 288654 und sollte besser bei Knoksen verschrottet werden.

Aber mit dem Volvo ist es nun mal so wie mit all dem anderen Kram, den du jahraus, jahrein mit dir herumschleppst. Du hast ihn einfach verdammt gern.

»Hey, Chessilein?«

Erneut wirft Rudi einen Blick in den Rückspiegel. Sie sitzt einfach nur da. Eine bockigere Frau kannst du echt lange suchen. Nur ein kleiner Streit, Scheiße, nicht mal ein Streit, und sie ist eingeschnappt.

Mit seiner Reibeisenstimme schlägt er ein höheres Register an. »Hey, Chessi, bist du da, oder träumst du gerade einfach von meinem Schwanz und Metal-Balladen?«

Sie dreht den Kopf weg und blickt aus dem Fenster.

Na, vielen Dank auch. Ein Witz, und sie blickt aus dem Fenster. Superplan, sie zu einem Job mitzunehmen. Was Jani sagt, stimmt echt, das Mädchen wurde mit der bockigen Seite zuerst geboren. Sie schwappte im Dezember 1972 aus ihrer Mutter, über und über bedeckt mit Stacheln. Sie ist ganz einfach stachelig. Sommersprossig und blass, war sie schon immer, kantig und empfindlich, schräg wie Windwurf, aber sie hatte auch schon immer dichtes, schönes Haar, kastanienfarben, Hüften wie Regale und einen Arsch, der einem echt die Sicherungen raushaut, ja, und ohne sie zu leben ist so was von unmöglich.

»Chessi?« Rudi versucht, seine Stimme wie Watte klingen zu lassen. »Honeybunch? War nur Spaß, hm. He? Sollen wir mal schauen, ob’s bald ein Konzert gibt? Ich glaub, Europe kommt ins Folken.«

Er lässt ihr Zeit, um wieder zur Besinnung zu kommen. Aber nein, sie starrt bloß jähzornig vor sich hin. Ihre leicht auseinanderstehenden Augen, mit denen sie einem Tier ähnelt, das unter der Erde lebt, scheinen regelrecht noch weiter auseinanderzurutschen. Wie wär’s mit ein bisschen Mitleid? Hier sitzt er, deinkerlseitsiebenundzwanzigjahren, thebaronoflove, und sie weiß, er hat die ganze Nacht kein Auge zugemacht, sie weiß, er hat schlecht geträumt, kann man da vielleicht mal ein bisschen Mitleid bekommen? Ein lausiges Lächeln? Ein winziges freundliches Wort?

Cecilie starrt weiter aus dem Fenster. Dann kramt sie ihre Zigaretten hervor. Großartig. Jetzt will sie ihn bestrafen. Sie weiß verdammt genau, dass er Rauchen im Volvo nicht ausstehen kann. Und sie weiß, dass er gerade erst aufgehört hat. Und sie weiß, wie knallhart es ist zu widerstehen. Na großartig.

Demonstrativ kurbelt Rudi das Fenster nach unten.

Sie steigt, und sie sinkt, die Laune. Man hat sie verdammt noch mal nicht unter Kontrolle. Gestern? Gestern war doch alles supersmooth. Filmabend in Hillevåg, die guten alten I Spit on Your Grave und Nightmare in a Damaged Brain. Lo-fi-Klassikerabend, sagte Jani und stellte Chips und Cola auf den Tisch. Klassikerabend. Jani kann gut mit Worten. Sie sahen sich die Filme an, es gab Goodtimes und Gore, Chessi hatte richtig gute Laune, hing in ihrer alten Jogginghose ab und kuschelte sich in seinen Arm. Und dann am nächsten Tag? Bloß Rumgezicke. Alles ist Kacke und Pisse und Scheiße. Dabei hatte doch er und nicht sie eine schlimme Nacht. Da umarmt er sie, aber ihr Körper ist hart wie Eisen. Da versucht er, ihr in die Augen zu schauen, aber die sind nur gelb und jähzornig. Und zu guter Letzt sagt er ihr seine Meinung, dass sie sich jetzt verfickt noch mal zusammenreißen und ein bisschen nett sein soll. Und da bricht das Unwetter los.

Aber du musst raus zum Job. Egal, was für ein Menstruationswetter gerade ist.

Rudi lehnt sich ans offene Fenster, er atmet ein und wieder aus. Auf der Rückbank sitzt Chessi und pumpt, als wäre das die letzte Zigarette ihres Lebens, bald ist ihr Kopf vor lauter Rauch nicht mehr zu sehen.

Er fährt über Auglend und blinkt am südlichen Ufer des Mosvannet links, schaltet runter, um es den steilen Ullandhaugbakken hinauf zu schaffen.

Der schönste Platz auf der ganzen Welt, wie seine Großmutter immer gesagt hatte. Friede der alten Haut, meinte sein Großvater, als der Krebs sie dahingerafft hatte. Sie hatte wie ein runzliges Eichenblatt im Krankenbett gelegen. War echt heftig, sie so zu sehen. Hey, Großmutter, bist du da drinnen? Ach, Rudilein, von mir ist nicht mehr viel übrig. Wolltest wohl ein Stück Kuchen haben? Zu deiner Großmutter auf ein Stück Kuchen kommen? Großmutter zu besuchen hatte immer gutgetan. Nach Stokka rauszudüsen. Ganz egal, wann er kam, den Volvo vors Haus fuhr, kurz hupte – damals, als die Hupe noch funktionierte –, sie watschelte ihm in ihrem blauen Kleid entgegen und strahlte ihn wie eine runzlige Sonne an. Biskuitrolle und koffeinfreier Pulverkaffee. Ja, darüber mag man lachen, be my verdammter guest, aber das war tausendprozentig echt. Würde die Welt von mehr Menschen wie seiner Großmutter regiert, wäre überhaupt nie die Rede von Streit oder Internet oder Krieg.

Eineverdammteweltauspulsierenderliebe.

Diese alten Sachen. Wie die auf einen einstürzen können.

Manchmal mit riesiger Freude. Ein andermal mit Übelkeit, und du kannst deshalb nicht schlafen. Und dann bleibt dir nichts übrig, als dich zusammenzurollen und zu warten, bis es wieder vorbei ist. Nur auf eine Umarmung von deiner Freundin, auf die kannst du lange warten.

Der Volvo schleppt sich mühsam den Hügel hinauf. Rudi spürt es im Kopf knistern, als er sich der Kuppe nähert und den Ullandhaugturm erblickt, der sich gen Himmel streckt, und schließlich die Anhöhe erreicht. Die Welt öffnet sich zum Fjord. In seinem Bauch kribbelt es, und der Kopf wird frei.

Seine Augen werden sanft, ihr Braun wird wärmer. Rudi ist zurück in den Gefilden seiner Jugend. Jetzt hat er Lust auf eine Zigarette, ja, er auch, aber hast du erst mal aufgehört, dann gilt es, standhaft zu bleiben. Stay clean, Lemmy. Metal und Motörhead und alte Gefilde forever.

Diese Landschaft hier, Großmutter.

Die kann man nicht beschreiben.

Was sie in den Reisebüros sagen, stimmt, das muss man selbst erleben, man muss es einfach sehen.

Rudi gibt Gas. In seinem Kopf rauscht es, und er schließt für ein paar Sekunden die Augen, atmet tief ein, schlägt die Augen wieder auf und legt los: »Hey, Chessi. Bist du da?« Er versucht, seine Stimme so unbekümmert wie nur möglich klingen zu lassen. »He? Siehst du? Der schönste Platz auf der ganzen Welt, hm?«

»Verdammter Scheißplatz«, kommt es vom Rücksitz.

Rudi seufzt. Es ist Ende September. Du fährst zu einem Job. Der Volvo ist gut unterwegs. Nach wochenlangem Regen endlich ein paar tolle Tage mit echt gutem Wetter, als wollte der Sommer noch mal auf eine Zugabe vorbeischauen. Du lebst im reichsten Land der Welt. Du wohnst in der reichsten Stadt der Welt. Essen steht auf dem Tisch, Geld ist in der Kasse, vielleicht etwas weniger, als Jani gerne hätte, aber es sind genug Kronen, und seine Großmutter geistert wie ein häkelnder Engel in seinem Kopf herum, und fuck, das Leben ist doch eigentlich echt geil, und du denkst, du willst nach einem schlechten Morgen einfach nur was Nettes sagen. Ganz einfach nur was Nettes. Und dann das. So was kann dir schon mal dein ganzes Glückshäuschen einreißen.

»Scheiße, du bist echt so eine beschissene Schlampe, verdammt«, sagt Rudi und haut mit der Faust aufs Lenkrad.

»Ja, und wann wolltest du anfangen, mich wie was anderes zu behandeln?«

Er sieht, wie der Rauch aus ihrem Mund quillt.

»Was, wenn ich ein normales Leben haben will und nicht so ein Schwanzleben, hä? Scheiße, verdammt, Rudi, du bist kein Mann, du bist ein Waschlappen.«

»Waschlappen!« Rudi muss sich zusammenreißen, um nicht auszuflippen. »Waschlappen? Was verda… fu… Waschla… Warum sagst du so was?«

Er sieht in den Rückspiegel. Jetzt heult sie auch noch. Na toll. Waschlappen? Tränen laufen ihr über die schneebleiche Wange, rinnen an ihrer schmalen Nase entlang, reißen die Schminke mit sich, es ist mal wieder Dramazeit. Dramadramadrama. Komisch, dass sie immer nur mit dem einen Auge weint. Waschlappen? Es ist echt anstrengend. Sie sind jetzt seit siebenundzwanzig Jahren zusammen. Sie kennen einander. Sie sind doch wie ein Mensch! Es ist, wie Jani sagt: Sie ist so Drama, sie könnte glatt ein Theater eröffnen.

Ist nicht deine Schuld, Rudi. Ist angeboren. Hat sie von ihrer Mutter.

»Ich weiß nicht«, sagt Cecilie leise. Und schnieft. »Ist mir nur so eingefallen. Waschlappen.« Sie sieht hoch, begegnet zum ersten Mal seit einer Ewigkeit seinem Blick. »Ich lieb dich doch, mein Muschibärchen.«

Der Volvo rollt an der Eisenzeitsiedlung vorbei. Hinten sitzt Cecilie, blass und sommersprossig, mit ihren auftoupierten Haaren, den Regalhüften und der Schminke, die über ihre linke Wange läuft und sich von den nassen Wimpern wie ein Flussdelta ausbreitet. Die dünnen, leicht windschiefen Lippen, die osterglockengelben Zähne, die kleinen Ohren, die an Muscheln erinnern.

Rudi hat einen Kloß im Hals, und sein Bauch bläht sich.

Fuck, wie er dieses Mädchen liebt.

Und fuck, wie er diese Landschaft liebt.

Skål, Großmutter.

Es zieht im Nacken, und Rudi kurbelt das Fenster wieder hoch. Macht das Radio an. Popmusik. Er sollte abschalten, schließlich sind sie absolut anti Popmusik, aber er kann nicht. Die Melodie hat er schon mal gehört. Geigen. Du-du-du du-du-du du-du-du. Irgendwas über einen König, der es gewohnt war, die Welt zu regieren. Coldplay? Er tut, als nähme er den Song nicht wahr, und hofft, Chessi merkt nicht, dass er sich gerade tatsächlich Popmusik anhört.

Er beugt sich ein Stück vor, reckt das Kinn zur Windschutzscheibe und blinzelt. Dann wollen wir doch mal sehen, denkt er und bremst. Den Hügel am Wald hinunter. Das hat er gesagt. Runter zum Laden dort. Ja. Irgendwo dahinter parken.

Merkwürdiges Vorhaben, das Ganze. Fühlt sich ein klein bisschen riskant an.

Hör gut zu, hat Jani gesagt. Ich bin mir bei der Sache nicht sicher.

Rudi dreht sich zu ihr um.

»Hey, Chessi, komm schon, lass uns jetzt damit aufhören. Worüber haben wir eigentlich gestritten, wo kommt denn diese lousy Stimmung her, he?«

»Vergessen«, kommt es leise vom Rücksitz.

»Siehst du – es ist weg. Vom Winde verweht. He, Baby, du weißt doch, du und ich und dein Arsch! Du weißt, ich bringe jeden um, der dir zu nahe kommt. Hm? Du weißt, du kannst drauf zählen, dass Rudi seinen Monsterschwanz rausholt und sie zu Tode peitscht. Hm? Und dass ich, wenn dich irgendjemand anders als Rudi fickt – ja, und verdammt viele schauen sich nach dir um –, dass ich denen dann jeden einzelnen Knochen breche? Ja, genau. Rudi ist ein richtiger Mann! Oder wie Großmutter immer sagte: Dir kann ich vertrauen.«

»Ach, Scheiße, jetzt geht’s wieder los …«

»Hä?«, sagt Rudi und tut so, als hätte er nicht verstanden, was sie gesagt hat.

»Nichts.«

Sie sieht kurz in den Spiegel. Die Tränen sind versiegt. Sie streckt ihre kleine rosa Zungenspitze raus und befeuchtet ihre schmalen Lippen.

»Ganz genau«, sagt er. Der Anblick erregt ihn irgendwie. »Nichts und no problemo, Signorita bonita. Wir gehen jetzt zu dem Job, und es ist schwer zu sagen, was dort im Wald auf uns wartet, aber Pål heißt er, und ein problemo, das hat er.« Rudi runzelt jäh die Stirn und trommelt mit dem Finger aufs Lenkrad. »Pål, du kennst keinen Pål, oder?«

»Pål, hm, nein, glaub nicht.«

»Was ist los, Pål Snål?«, lacht Rudi und schüttelt seine Bedenken ab. »There’s only one way out of here: Piece by piece! Würde Slayer sagen. Was geht ab, Pål Bål? No one knows, baby! Würden die Foo Fighters sagen.«

»Queens of the Stone Age.«

»Hä?«

»Queens of the Stone Age. ›No One Knows‹.«

»Dschieses! Willst du da jetzt auch noch rummeckern? Wer ist denn hier der Waschlappen?«

Rudi ruft sein gereiztes Herz zur Ruhe und schweigt. Der Wald kommt näher, und im Radio läuft Coldplay. Das ist Popmusik. Und er hasst Popmusik. Aber diese Geigen und die Melodie, die hämmern sich in seine Hirnwindungen, und dieser Text treibt durch seinen Körper, und alles daran erinnert ihn an diesen Troll, der auf der Rückbank sitzt: Er muss ihn einfach haben.

Weil er ihn liebt. Und er ist nun mal ein Mann der Liebe.

»Kannst du bitte endlich mal diese Schwulenmusik ausmachen? Davon krieg ich Pickel.«

Rudi tut so, als hätte er nichts gehört. Er hebt die Stimme, die etwas Maschinelles bekommt, wenn er ihr auf diese Weise Nachdruck verleiht: »Ja, ja, Waschlappen oder nicht, eins weiß Rudi ganz genau, und zwar heute Nacht, Chessi, heute Nacht werd ich dich so was von komplett durchvögeln.«

4 Sie sind echt verdammt schön (Daniel William)

Eigentlich noch ein Kind, dieses Mädchen.

Fünfzehn Jahre alt. Die Mutter arbeitet für die Kirche, der Vater ist Anwalt, und das Mädchen strotzt nur so vor Naivität. Im Januar wird es sechzehn. Falls es die Wahrheit sagt. Gut möglich, dass es sich ein paar Monate älter macht. Mädchen lügen die ganze Zeit, besonders wenn’s ums Alter geht. Das ist das Problem mit Mädchen. Ihre Einstellung zur Wahrheit ist nicht die gleiche wie unsere. Die Wahrheit ist bei Mädchen fließend. Sie fließt aus ihrem Mund wie Sabber bei alten Leuten.

Aber sie sind echt verdammt schön.

Echt verdammt, verdammt schön.

Mit einem Mann zu leben wäre so viel einfacher, wie sein letzter Pflegevater immer sagte, bevor er dann hinzufügte: Aber ich bin halt verdammt noch mal nicht schwul.

Schwul. Das wäre auch echt zu krank. Jungs gut zu finden ist das eine, aber Mädchen nicht gut zu finden ist echt unfassbar.

Sind Mädchen im Raum, verschwindet die Welt. Sie fucking explodiert einfach. Nichts anderes existiert dann mehr im Raum als Mädchen. Und das ist ein gutes Gefühl, genau wie Klebstoff schnüffeln. Hubschrauber. Schon tausendmal hat Daniel das gespürt, und er will mehr von dem Gefühl, denn genau darauf kommt es doch in diesem Leben an: Man will mehr von dem, was gut ist.

Mehr, mehr, mehr.

Wenn man diesen Schrotthaufen von einem Leben auf seine Essenz eindampft, kommen nur Mädchen dabei raus. Daniel kann hinterm Schlagzeug sitzen und spielen, er ist ein guter Drummer, er spielt dynamisch, tight wie ein enges Arschloch, aber während die Sticks auf das Set knallen, geht es oben in seinem Kopf doch nur um Mädchen. Während er schlägt, strömen sie hervor – große und kleine und dicke und dünne und weiß der Himmel. Titten, Muschis, Ärsche, Schenkel, Lippenstift, Nylons, Strümpfe, Röcke, BHs, Kleider, Kopftücher, Schminke, diese Strapse zwischen Strümpfen und Slip und alles Mögliche, was zu Mädchen eben dazugehört. So war das schon, als er klein war. Schon als er am anderen Ende der Stadt in den Kindergarten ging. Sein Schädel wurde von Gedanken an Mädchen genauso überschwemmt, während er dort spielte, wie später dann auf dem Fußballplatz, wenn er Elfmeter um Elfmeter schoss, und wie jetzt, wenn er aufs Schlagzeug eindrischt.

Und was, bitte, ist falsch daran?

Manchmal hat er das Gefühl, die Leute meinten, es wäre etwas falsch daran, dass sich das Leben um Mädchen dreht. Aber das ist Daniel so was von egal. Sobald er von diesem fucking Jugendamt die Erlaubnis hat, will er sich einfach nur eine eigene Wohnung zulegen. Ein paarmal die Woche trainieren, sich am Wochenende betrinken, in einer guten Band spielen, Konzertjobs bekommen, Platten rausbringen und Zeug auf iTunes, YouTube und Spotify stellen, vielleicht Festivaljobs machen, vielleicht von der Musik leben wie Kvelertak, Purified in Blood oder Kaizers Orchestra. Dejans Bruder – voll krank, was Dejans Familie in Serbien erlebt hat –, Dejans Bruder kennt jemanden, der einen Gitarristen von Purified kennt. Daniel und Dejan haben Purified beim Rått-og-Råde-Festival gesehen, das war endgeil: En himmel som faller, døden som kaller, mot grav. Nicht nur Leute aus Rogaland, sondern auch Osloer stehen auf die. Er muss nur durchhalten. Wenn nicht, muss er sich eben einen Job suchen, und er ist ja kein Schwachmat, auch wenn seine Noten nachgelassen haben, Dreierkandidat in allen Fächern außer Sport. Vor Arbeit hat er sich nie gedrückt. Wenn die Leute sagen, er soll was tun, beißt er die Zähne zusammen, bis es im Kiefer zieht, und legt los, scheißegal, wie dreckig die Arbeit ist.

Und dann will er den Rest seiner Zeit – und das Geld – für Mädchen nutzen.

Das fühlt sich für ihn sinnvoll an, um mit den Worten seiner Pflegemutter und der Jugendamtsbetreuerin zu sprechen. Und wenn jemand glaubt, das wäre ein falsches Leben, dann soll er das eben glauben. Wenn die Leute glauben, es wäre falsch, dass er Mädchen so verdammt sexy, weich und scharf findet und dass er Lust hat, Sachen für sie zu kaufen, ein Haus und Schminkzeug oder was immer sie wollen, dann sollen sie das seinetwegen glauben.

Daniels felsenfester Fickplan ist, ein Mädchen zu finden, mit dem man leicht zurechtkommt. Sie darf echt keinen an der Waffel haben, sie darf morgens nicht so zickig sein, dass man denkt, sie wär ’ne Ziege, und sie darf auch nicht drei Stunden brauchen, um sich zu entscheiden, welche Hose sie kaufen will. Sie muss ganz einfach finden, dass die Hose, die ihm an ihr gefällt, gut ist. Schließlich muss er sie anschauen und nicht sie. So ein Mädchen braucht er. Ein Mädchen, dem es gefällt, dass er es verdammt scharf und verdammt sexy findet, ein Mädchen, das nicht anderen Jungs hinterherglotzt und durch die Gegend flattert und flirtet.

Womöglich hat er so ein Mädchen schon gefunden.

Denn Sandra ist sexy.

Und sie treibt sich nicht rum und glotzt anderen Jungs hinterher. Und sie ist nicht zickig.

Entscheidend wird allerdings sein, wie oft sie’s mit ihm will.

Was gäbe das für ein Chaos, mit einer Frau zusammen zu sein, die nur selten will, er aber oft. Im Durchschnitt einmal am Tag, hat er sich überlegt. Da braucht er wirklich keine Frau, die nur jeden vierten Tag will. Und dann ist da nicht zuletzt noch etwas ganz Entscheidendes, und zwar dass sie nicht nachfragt und rumbohrt. Davon hat er von früher, von Jugendamt und Pflegeeltern und Sozialpädagogen und Psychologen, mehr als genug. Deshalb kann er kein Mädchen mit sich rumschleppen, das rumstochert und nervt. Respekt für Sandra, denn sie hat es begriffen. Wenn sie auf etwas stoßen, worüber er nicht sprechen will, dann sieht sie ihn mit diesen wahnsinnigen scharfen Augen an, die Daniel an eine Art Vogel erinnern, es glitzert auf ihren Lippen, die drei Sommersprossen auf ihrer Nase scheinen zu brennen, und er wird verrückt nach ihrem Mausemund, diesem spitzen Mund mit den leicht auseinanderstehenden Zähnen, und sie kapiert einfach, das ist nichts, worin man rumbohren sollte. Sie versteht, was all die öffentlich angestellten Loser nicht verstanden haben: Wenn man über Sachen redet und redet, daran zieht und zerrt, als wären es Kaninchen in ihrem Bau, na dann gute Nacht.

Daniel wirft einen Blick zum Fußballplatz neben der Schule. Er holt das Handy aus der Lederjacke. 20:52. Normalerweise ist sie pünktlich.

Das ist vielleicht eine Scheiße mit Sachen, die es nur verdient haben, tausend Kilometer unter der Erde begraben zu liegen.

Aber dass sie ihn William genannt haben.

Verdammte Scheiße, was haben sie sich dabei gedacht? Standen sie da im Krankenhaus, sahen ihn aus seiner Mutter plumpsen und dachten: Ah, der muss William heißen? Daniel William? Was ist das denn bitte für ein Schwulenname?

Daniel spuckt aus.

Du bekommst das Leben, das du bekommst, und dann ist es dein Job, damit zu leben.

Das ist vielleicht eine Scheiße mit Sachen, die es nur verdient haben, tausend Kilometer unter der Erde begraben zu liegen.

Manchmal denkt er daran. Einfach töten. Einfach rausgehen, irgendwohin, und töten. Einen Menschen verschwinden lassen, einfach nur, weil er es kann. Was für eine Befreiung muss das sein. Die Fäuste ballen, bis sie hart wie Eisenkugeln sind, in irgendein Gesicht schlagen, bis es nicht länger als Gesicht erkennbar ist.

Vielleicht passiert es ja heute Abend?

Ficken.

Ficken.

Ficken.

5 Amy Lee (Tiril)

»Tiril, ey bitte, kannst du mir mal helfen?«

Die Honigtöpfe kullern kreuz und quer übers Linoleum, sie hört sie klappern wie kranke Glocken, sieht das christliche Schwitzemädchen auf allen vieren vorwärtskriechen, sie macht die Musik auf ihrem iPhone lauter, wischt mit dem Lappen über die Gefriertruhe mit Eis und schaut demonstrativ weg.

Thea wird am Klavier sitzen, Tiril wird davorstehen. I’m so tired of being here, suppressed by all my childish fears. Thea wird sich weiß anziehen, weißes Oberteil, weißes Kleid, weiße Strumpfhose und weiße Schuhe. Sie selbst kommt in Schwarz, schwarzes Oberteil, schwarzes Kleid, schwarze Strumpfhose und schwarze Schuhe. And if you have to leave I wish that you would just leave, cause your presence still lingers here, and it won’t leave me alone. Das wird das Dach der Turnhalle wegblasen. These wounds won’t seem to heal, this pain is just too real, there’s just too much that time can not erase. Tiril spürt, wie sich die Haare an ihren Armen aufstellen, wie damals, als sie auf YouTube diese Zeile zum ersten Mal gehört hat. When you cried I’d wipe away all of your tears.

Donnerstag. Internationale Kulturwerkstatt. Ein bisschen albern, aber was soll’s.

»Tiril! Kannst du so nett sein und mir helfen?«

Sie ignoriert die Despi-Stimme des Christenmädchens und geht in die Hocke. Mit Evanescence in ihrem Kopf trocknet sie die großen Flächen der Gefriertruhe gründlich ab.

Thea ist eine wahnsinnig begabte Pianistin, sie spielt seit Jahren Klavier, und ihre Eltern glauben, sie wird es richtig weit bringen. Beethoven, Brahms und alles Mögliche trillert nur so aus ihren Fingern, und wenn sie eine Melodie bloß hört, kann sie die nachspielen. Echt krank. Die Finger fliegen nur so über die Tasten. Und dabei ist »My Immortal« echt nicht leicht. Technisch gesehen vielleicht, aber die richtige Innerlichkeit hinzukriegen, das kann nur Thea. Und Amy Lee.

Und Tiril Fagerland.

Sie haben versucht, ein schwarzes Klavier oder einen Flügel aufzutreiben, aber die Schule hat nur ein E-Piano. Das sieht nicht ganz so gut aus. Doch an der Bühnenshow wird niemand etwas aussetzen können. Sie werden die Fenster der Turnhalle mit schwarzen Tüchern verhängen, eine schwarze Filzdecke über das Klavier legen, und Tiril hat bei Fretex einen fünfarmigen Kerzenleuchter gefunden. Darauf werden weiße Kerzen brennen.

You used to captivate me by your resonating light, now I’m bound by the life you left behind.

Nach dem zweiten Refrain wird sich Tiril einen transparenten schwarzen Schal übers Gesicht fallen lassen. Sie wird völlig reglos dastehen, den Blick gesenkt, den Körper starr und aufrecht wie eine Statue, die Finger gespreizt wie ein Blatt. Dann wird sie den Blick heben, langsam, ganz langsam, während sie die heftigsten Zeilen des Songs singt.

I’ve tried so hard to tell myself that you’re gone.

But though you’re still with me I’ve been alone all along.

Diese Zeilen will sie im Dunkeln singen, und dann soll es während des Schlussrefrains heller werden, am liebsten über rote und grüne Filter. Da muss sie alles geben. Sie muss wie Amy Lee singen, sie muss denken, sie ist Amy Lee und wäre in Little Rock, Arkansas, aufgewachsen.

Eines Tages will Tiril dort hinfahren. Sie will sehen, wo Evanescence herkommt. Sie wird durch die Straßen laufen, wird die Luft dort einatmen. Am tollsten wäre, Evanescence in deren Heimatstadt live zu sehen, wie Papa damals Maiden. Als er jung war, war er ein eingefleischter Metaller und stand vor allem auf Maiden, erzählt er, und auch wenn er heutzutage keinen Metal mehr hört, wird er niemals vergessen, wie er die Band in London gesehen hat. Er hat ihr unzählige Male beschrieben, was für ein fantastisches Gefühl es ist, die Lieblingsband in ihrer Heimatstadt zu sehen. Und sie und nicht Malene wird das machen. Sie wird in die USA fliegen, sie wird dort hinreisen, nach Little Rock, Arkansas.

Hätte Evanescence acht Buchstaben, hätte sie sich das auf die Finger getuscht. Geht aber nicht. »My Immortal« auch nicht. Oder Little Rock. Aber Tiril ist etwas anderes eingefallen. Etwas, was noch besser zu ihr passt. Acht Buchstaben, zwei Hände, zwei Worte. Die Turnhalle wird kochen, Tiril wird die Hände heben und sie sich wie einen Schild vors Gesicht halten: LOVE HATE.

These wounds won’t seem to heal, this pain is just too real, there’s just too much that time can not erase.

Verpiss dich, Mama.

Tiril steht auf. Sie wirft sich den Lappen über die Schulter und schaltet das iPhone auf Pause. Dann sieht sie zu Sandra hinüber, die dahockt und die Honigtöpfe einsammelt, ihre blöden Finger sind regelrecht panisch. Tiril macht ein paar Schritte auf sie zu.

»Hast du was gesagt?«

Sandra sieht sie böse an, während sie die letzten Töpfe wieder aufstapelt. Sie schüttelt den Kopf.

»Ich versteh echt nicht, wie du drauf bist, Tiril«, sagt sie. »Was hab ich dir denn getan?«

Tiril bleibt stehen und lehnt sich ans Kräuterregal.

»Ist schon spät«, sagt sie.

»Hä?« Sandra wird rot.

»Na, geh schon. Yolo.«

»Keine Ahnung, wovon du sprichst«, entgegnet Sandra. Sie stellt den letzten Honigtopf auf die Spitze des Angebotsaufstellers. »Bis dann.« Dann schnappt sie sich den Staubsauger und geht zur Hintertür.

Tiril nickt.

Glaubst du vielleicht, ich schnall es nicht?

Ich weiß, wo du hinwillst, Shiza.

Ich weiß, was du treibst, Biatch.

Ich mag dich sowieso nicht, weder dich noch den Anhänger an deinem Hals oder deinen Schweißgeruch oder deinen Anwaltsvater oder deine Jesusmutter oder deine Lügen. Du glaubst, du wärst ach so perfekt, dabei bist du nur so eine Canada-Goose-Fotze, eine Jimmy-Choo-Hoe, eine Chanel-Poontag, ein Capone-Püppchen, aber sorry, ich hab News für dich: Du wirst dem, den du mal heiratest, davonlaufen, du wirst die, die du um dich hast, verlassen, du wirst deine eigenen Leute verraten, und du wirst nie nach Little Rock, Arkansas, fahren, weil du keinen eigenen Stil hast, Schlampe.

6 Du sollst mich haben (Sandra)

Sie fühlt sich klamm, am Hals feuchtkalt, schwitzig am Rücken und patschnass auf der Stirn. Sie muss sich diesen Schal besorgen. Hennes & Mauritz? Sie weiß, H&M verkauft Sachen, die nach nur einem Mal Waschen kaputtgehen. Mama hat nicht oft recht, aber das stimmt. Qualität hat ihren Preis, und Hennes & Mauritz ist kein Geschäft, das für Qualität steht, Sandra.

Ob sie will?

Er hat sie lange angesehen, mit diesen Augen, die manchmal so tief in seinem Kopf zu liegen scheinen, dass sie glaubt hineinzustürzen. Er hat sie umarmt und sie an sich gepresst, und sie hat gespürt, wie kräftig und hart er war. Wenn er sie fragt – willst du mich haben, Sandra? –, dann leuchtet es aus ihm. Es leuchtet voll wildem Hunger, und in genau diesem Moment hat sie gedacht, auch wenn sie nicht weiß, ob sie das wirklich will, wovon er spricht, will sie es trotz allem. Weil er es will. Weil er so hungrig ist.

Wenn er das nächste Mal fragt, weiß sie, was sie sagen wird.

Ja, ich will dich haben.

Nimm mich, Daniel.

Vom Aufwachen bis zum Einschlafen und noch weit in ihre Träume hinein klingt sein Name in ihrem Kopf: Daniel William Moi. Er kann seinen zweiten Vornamen nicht ausstehen. Voll affig, sagt er, als wär ich irgendwie Engländer, so affiges Getue kann ich verdammt noch mal echt nicht ab. Doch Sandra möchte seinen Namen am liebsten in die Hände nehmen und ihn liebkosen, ihn wie einen Vogel halten, mit den Fingern über seine weichen Federn streicheln, ihm die Lippen an den Kopf legen und ihn küssen. Scheiße verdammt, wehe, du benutzt diesen Namen, hat er gesagt. Daniel flucht ziemlich viel, und eigentlich mag sie das grundsätzlich nicht, aber wenn er flucht, ist es für sie wie Gesang.

Ich benutze diesen Namen nicht, Sandra, und du darfst das genauso wenig. Keiner weiß, dass ich so heiße, nur du, und gnade dir Gott, wenn du ihn weitersagst.

Nur sie. Nur Sandra Vikadal.

Ich will mehr über dich wissen, als sonst irgendjemand weiß.

Ich will von dir haben, was sonst niemand bekommt.

Ich will dir näher sein als alle anderen.

Früher fand sie Verliebte eklig, sie fand Jungs lästig, ständig zu laut und echt bescheuert, zumindest solange sie nicht Johnny Depp hießen und ihre Wand zierten. Dieses Mädchen von früher erkennt sie nicht mehr wieder, denn noch nie war etwas so echt. Ob sie auch das Richtige tut, ist furchtbar schwer zu sagen. Sagt sie denn, was er hören will? Findet er eklig, wenn sie so schwitzt? Schämt er sich, wenn sie spricht, findet er ihren einen Zahn hässlich, findet er ihre Stimme bescheuert? Manchmal kriegt die so einen eigenartigen Klang, ganz hohl und klumpig, als steckte eine Kartoffel in ihrem Rachen. Findet er das disgusting? Und was ist mit ihrem Alter? Er sagt, es macht ihm nichts aus, dass sie erst fünfzehn ist, dann wieder denkt sie, er lügt, beziehungsweise er lügt natürlich nicht, denn Liebende lügen nicht, aber trotzdem: Sagt er das eigentlich nur, um zu vertuschen, wie abstoßend er es findet?

Am allerwenigsten weiß sie, ob sie schön genug ist.

Egal, wie oft er sagt, er finde sie in dieser Jeans echt sexy – einer Jeans, die sie glatt bügelt und nicht allzu oft wäscht –, weiß sie doch nicht, ob er das einfach nur so dahinsagt. Ob es nicht tausend andere Mädchen gibt, die genauso schön sind, deren Po mindestens genauso schön ist. Und egal, wie oft er mit seinem leuchtenden Mund lächelt, wenn er jenen Ausdruck in ihrem Gesicht erhascht, den er so unglaublich süß findet, weiß sie doch nicht, ob er das einfach nur so tut. Auch wenn sie ihm vertraut. Natürlich tut sie das. Denn das ist Liebe. Trotzdem ist sie nervös, trotzdem braucht sie irre lange, um sich schön zu machen.

Ihre Brüste, sind die schön genug?

Die sieht er zwar mit höchster Konzentration an, aber wer weiß, was er insgeheim denkt?

Er durfte sie bereits mehrmals anfassen. Voll krass, wie lange er mit zusammengebissenen Zähnen und den feingezeichneten Wangen dastehen kann und ihre Brüste berührt. Gestern durfte er sie küssen. Sie hat ihren BH ausgezogen, mitten im Wald, die Finger zitterten, und sie konnte selbst kaum glauben, dass sie das tatsächlich machte, dass sie die Hände unter ihr Oberteil schob, den BH aufhakte und vorsichtig durch den Ärmel zog und da hinterm Stromhäuschen quasi nackt dastand, während es um sie herum dunkel wurde. Lieber Jesus, stell dir vor, es wäre jemand gekommen! Stell dir vor, jemand hätte sie dort stehen sehen, als Daniel seinen leuchtenden Mund öffnete und sagte: Oh mein Gott, oh mein Gott, die sind echt verdammt schön.

Als er das sagte, konnte sie auf einmal gar nichts mehr fühlen.

Sie konnte sich ihm nur noch zeigen. Weil sie spürte, dass er es wollte, wurde das ihr eigener Wille. Sich herzuzeigen und ihn ihre Brüste anfassen und küssen zu lassen. Dann allmählich kroch das Glück durch ihren Körper, und trotzdem konnte sie nur eines denken: Sind sie schön genug? Sind meine Brüste so weich und so fest, wie er sie haben will, sind sie so groß, wie er sie will, haben sie die Form, die er mag? Ihre Brüste sind weder besonders klein noch besonders groß, verglichen mit denen der anderen Mädchen aus der Klasse sind sie vielleicht ein winziges bisschen größer, aber was heißt das schon, und was will Daniel haben? Natürlich hat sie schon vor geraumer Zeit kapiert, dass Jungs auf Brüste und auf gute Hintern stehen. Und was ist mit ihren Waden? Mädchen zu sein ist echt nicht leicht, nicht alle schaffen es, einfach auf alles zu pfeifen, wie Tiril, nicht alle schaffen es, sich einfach Kopfhörer aufzusetzen, sich schwarz zu schminken und sich gegen die Welt aufzulehnen. Mädchen zu sein ist schwer, denn an einem Mädchen soll immer alles schön sein, und das ist echt nicht fair. Sandra hat kurze, vielleicht ein bisschen klotzige Beine, manchmal kommen sie ihr vor wie verunstaltete Räder. Und Daniel hat noch nie etwas über ihre Waden gesagt. Er hat sie sich nicht einmal angesehen. Die Oberschenkel, die im Verhältnis zum Körper ein bisschen zu dick sind, hat er zwar angefasst, aber eben nicht mit demselben Hunger, wie er Hintern und Brüste anfasst. Aber die Waden? Nichts. Mag er die etwa nicht?

Und meinen Mund? Magst du meinen Mund, Daniel?

Er ist klein, etwas spitz, die vordersten Schneidezähne stehen ein bisschen vor, ich weiß schon, dadurch sehe ich irgendwie aus wie ein Nagetier. Magst du das? Dein Nagemädchen?

Das ist alles, was sie sein will: schön genug für Daniel William Moi. Für den Rest des Lebens, denkt sie und sieht kurz zu Tiril hinüber, bevor sie den Staubsauger mitnimmt und ins Hinterzimmer geht. Dieses Mädchen ist echt unglaublich. Sie hat gesehen, wie sich der Honigstapel über den ganzen Fußboden verteilt hat. Sie hat gehört, wie Sandra sie um Hilfe gebeten hat. Aber sie hat einfach drauf gepfiffen. Und sie hat es genossen. Wie ist die denn drauf? Würde Sandra dem Chef sagen, wie wenig Tiril arbeitet, sie würde gefeuert werden. Aber Sandra petzt nicht.

20:54.

Sandra fasst sich an den Hals und schließt die Hand um das Kreuz.

Sie öffnet die Tür zur Abstellkammer und verstaut den Staubsauger, so schnell sie kann. Hastig schlüpft sie aus der Arbeitskleidung.

Abends ist nie jemand im Wald. Hinter der alten Schule, hinter dem Stromhäuschen. Nur einen bellenden Hund haben sie mal gehört. Wüssten ihre Freundinnen, was sie treibt, sie würden den Kopf schütteln. Herrgott, würden sie sagen, du gehst da in den Wald und triffst einen siebzehnjährigen Jungen, weißt du, worauf der aus ist? Wüssten sie, mit wem sie zusammen ist, sie würden einen Schock kriegen. Sie wären neidisch, würden ihr kaum glauben. Sandra, reiß dich zusammen, Daniel Moi, bei dem stimmt doch was nicht, das weiß jeder. Er geht aufs Gymnasium, fährt Moped, spielt in einer Metal-Band, er ist megahot, aber es stimmt was nicht bei ihm, er ist ein Pflegekind, angeblich ist in seinem Leben was echt Krankes passiert, Sandra, du weißt schon, dass er gefährlich ist?