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Wie soll der Mensch richtig leben im Bewusstsein, dass sein Leben kurz ist? Diese existenzielle Grundfrage erörtert Seneca in einem seiner wichtigsten Texte: Von der Kürze des Lebens. Er lehrt uns, dass der erste Schritt zu einer gelingenden Lebensführung darin besteht, ein Verständnis vom Wesen der Zeit zu entwickeln. Neben diesem Essay enthält der Band noch die Werke Trostschrift an seine Mutter Helvia und Von der Seelenruhe. Sie bieten tiefe Einsichten in die Lebenskunst sowie die Bedeutung von Vernunft und Moral und sind durch ihre Beredsamkeit, Klarheit und zeitlose Weisheit auch heute noch für viele eine wertvolle Anleitung zum besseren Leben. Der römische Staatsmann und Denker Seneca (ca. 5 v. Chr.–65 n. Chr.) ist einer der herausragendsten Vertreter des Stoizismus, der bereits zu Lebzeiten große Berühmtheit erlangte. Seine Schriften sind Glanzstücke der stoischen Ethik, in denen sich sein Wunsch nach Glück und Zufriedenheit für die Menschen seiner Zeit manifestiert.
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Seitenzahl: 168
SENECA
DAS LEBEN IST LANG, WENN DU ES ZU NUTZEN WEISST
DAS LEBEN IST LANG, WENN DU ES ZU NUTZEN WEISST
SENECA
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
1. Auflage 2023
© 2023 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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Copyright der Originalausgabe: Written by Lucius Annaeus Seneca. Translation Copyright © C D N Costa 1997. First published as ON THE SHORTNESS OF LIFE in 2004 by PENGUIN BOOK, an imprint of Penguin Press. Penguin Press is part of the Penguin Random House group of companies.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung ins Deutsche: Kerstin Brömer
Redaktion: Silvia Kinkel
Korrektorat: Dr. Manuela Kahle
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer
Umschlagabbildung: shutterstock.com/Alexander Steamaze
Satz: Röser Media
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-674-0
ISBN E-Book (PDF) 978-3-98609-297-9
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-98609-298-6
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Anmerkungen zur Übersetzung
Von der Kürze des Lebens
Trostschrift an Helvia
Von der Gemütsruhe
Empfohlene Literatur
Seneca circa 5 v. Chr. – 65 n. Chr.
Kein Text lässt sich eins zu eins in eine andere Sprache übertragen. Häufig stehen mehrere Übersetzungsmöglichkeiten mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen zur Auswahl, und so ist jede Übersetzung auch immer zu einem Teil eine Interpretation.
Diese Ausgabe von Senecas Von der Kürze des Lebens fußt auf einer englischsprachigen Übersetzung des lateinischen Originals. Dort wurden bereits zahlreiche Entscheidungen in Bezug auf den Text getroffen. Gleiches gilt nachfolgend für die Übersetzung aus dem Englischen ins Deutsche. Selbstverständlich wurde darauf geachtet, dass die Inhalte, die Seneca in seinem Werk transportieren wollte, sich so auch in dieser Ausgabe, die Sie gerade in den Händen halten, wiederfinden. Darüber hinaus ist es allen Beteiligten an dieser Übersetzung wichtig, dass das Werk mit Blick auf heutige sprachliche Gepflogenheiten gut lesbar ist. Der Inhalt und ein natürlicher Sprachfluss erhielten also den Vorzug vor einer wortwörtlichen Wiedergabe und vor der Reproduktion eines jahrtausendealten Stils.
Die meisten Menschen, Paulinus,1 klagen über die Gemeinheit der Natur, weil uns nur eine kurze Lebensspanne vergönnt ist und weil diese Zeitspanne so rasch und schnell verfliegt, dass – außer bei einigen wenigen – das Leben bereits erlischt, während sie sich noch darauf vorbereiten. Nicht nur der Mann auf der Straße und die unverständige Menge jammern über dieses – wie sie meinen – allgemeine Übel: Dasselbe Gefühl steckt hinter den Klagen selbst hoch angesehener Männer. Daher jener Ausruf des größten aller Ärzte:2 »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang.« Daher auch der für einen Weisen höchst unangebrachte Groll, den Aristoteles äußerte, als er die Natur dafür tadelte, dass sie den Tieren ein so langes Leben gönne, dass sie fünf oder zehn Menschenleben durchleben könnten, während den Menschen, die zu so Vielem und zu so Großem geboren seien, ein viel früheres Ende gesetzt sei. Doch es ist nicht so, dass wir zu wenig Lebenszeit hätten, sondern wir verschwenden zu viel davon. Das Leben ist lang genug, wir haben selbst für die höchsten Errungenschaften genügend Zeit, wenn wir sie nur gut anlegen würden. Aber wenn wir dieses Leben unachtsam vergeuden und es nicht für etwas Gutes verwenden, erkennen wir schließlich unter dem Druck des Todes, dass es vergangen ist, bevor wir überhaupt bemerkten, dass es voranschreitet. So ist es: Uns wurde kein kurzes Leben gegeben, sondern wir machen es kurz, und wir erhalten nicht zu wenig, sondern wir sind zu verschwenderisch. So wie ein großer, fürstlicher Reichtum, wenn er in die Hände eines unfähigen Besitzers fällt, innerhalb eines Augenblicks verprasst ist, während ein äußerst bescheidener Reichtum, wenn er einem guten Hüter anvertraut wird, anwächst, so bietet auch unsere Lebenszeit einen großzügigen Spielraum, wenn wir sie richtig verwalten.
Warum klagen wir über die Natur? Sie hat sich als großzügig erwiesen: Das Leben ist lang, wenn man es zu nutzen weiß. Aber den einen packt unersättliche Habgier, der andere ist von mühevoller Emsigkeit besessen und ergeht sich in nutzlosen Aufgaben. Der eine ist trunken vom Wein, der andere träge vom Müßiggang. Den einen zermürbt sein politischer Ehrgeiz, der immer vom Urteil anderer abhängt. Einen anderen, einen habgierigen Kaufmann, treibt die Hoffnung auf Gewinn durch alle Länder und über alle Meere. Manche quält ihre Leidenschaft für den Militärdienst, sie denken ständig daran, wie sie andere in Gefahr bringen können, oder sind ängstlich darauf bedacht, Gefahren für sich selbst abzuwenden. Einige sind erschöpft von den undankbaren Diensten, die sie in selbst auferlegter Knechtschaft für die Großen und Mächtigen erbringen. Viele sind damit beschäftigt, entweder dem Geld anderer hinterherzujagen oder sich über ihre eigene Lage zu beklagen. Viele verfolgen kein festes Ziel, sondern wenden sich in ihrem Wankelmut, der ständig schwankt und nie mit sich zufrieden ist, immer neuen Entwürfen zu. Einige haben überhaupt keine Ziele für ihren Lebensweg, aber der Tod holt sie unversehens ein, während sie träge gähnen – sodass ich nicht an der Wahrheit jener orakelhaften Bemerkung des größten aller Dichter zweifeln kann: »Nur ein kleiner Teil des Lebens ist wahres Leben.« In der Tat ist der gesamte Rest nicht Leben, sondern nur Zeit. Laster umgeben und bedrängen die Menschen von allen Seiten und lassen es nicht zu, dass sie sich erheben und ihren Blick nach oben richten, um die Wahrheit zu erkennen, vielmehr drücken sie die Leute nieder und fesseln sie an ihre Begierden. Niemals können sie zu ihrem wahren Selbst zurückfinden. Selbst wenn ihnen einmal zufällig etwas Ruhe vergönnt ist, schwanken sie doch weiterhin hin und her, so wie auf hoher See weiterhin Wellengang herrscht, nachdem der Wind bereits abgeflaut ist, und sie finden niemals Ruhe vor ihren Begierden. Glaubst du etwa, ich spräche nur von denen, deren schlechte Lage allgemein anerkannt ist? Sieh dir diejenigen an, die so viel Glück haben, dass die Menschen zusammenströmen, um sie zu bestaunen: Sie ersticken an ihrem eigenen Glück. Wie viele empfinden ihren Reichtum als eine Last! Wie vielen rauben das Rednergeschäft und ihr tägliches Bestreben, ihre Talente zur Schau zu stellen, die Lebenskraft! Wie viele sind blass von den ständigen Vergnügungen! Wie vielen lässt die Schar der Kunden, die sich um sie drängt, keinen freien Augenblick! Kurz gesagt, gehe sie alle durch, vom Niedrigsten bis zum Höchsten: Einer ruft nach einem Rechtsbeistand, ein anderer kommt ihm zu Hilfe; einer steht vor Gericht, ein anderer verteidigt ihn, wiederum ein anderer fällt das Urteil; niemand macht Ansprüche auf sich selbst geltend, sondern jeder verzehrt sich zugunsten eines anderen. Frag nach denen, die so bedeutend sind, dass deren Namen auswendig gelernt werden, und du wirst sehen, dass sie folgende Unterscheidungsmerkmale aufweisen: Der eine dient diesem, der andere jenem – aber keiner sich selbst. Völlig sinnlos ist daher die Empörung, die manche Menschen an den Tag legen: Sie beschweren sich über den Hochmut der Höherstehenden, weil diese keine Zeit hatten, ihnen eine Audienz zu gewähren, als sie eine haben wollten. Aber kann es sich tatsächlich jemand herausnehmen, sich über den Hochmut eines anderen zu beklagen, wenn er selbst niemals Zeit für sich hat? Schließlich hat dieser bedeutende Mensch dich, den niemand kennt, hier und da einmal angesehen, möge sein Blick auch herablassend gewesen sein, er hat sein Ohr deinen Worten zugewendet, er hat dich neben sich gehen lassen. Du jedoch hast dich niemals dazu herabgelassen, in dich hineinzublicken, auf dich selbst zu hören. Daher hast du keinen Grund, von irgendjemandem Beachtung zu verlangen, denn als du sie gezeigt hast, geschah das nicht, weil du die Gesellschaft eines anderen wolltest, sondern weil du deine eigene nicht ertragen konntest.
Selbst wenn alle klugen Köpfe, die je gelebt haben, sich in diesem Thema einig wären, könnten sie doch ihr Erstaunen über diese geistige Vernebelung der Menschen nie ausreichend zum Ausdruck bringen. Die Menschen lassen niemanden an ihren Landbesitz heran, und wenn es den geringsten Streit um ihre Grenzen gibt, greifen sie geschwind zu Steinen und Waffen; aber sie lassen zu, dass andere in ihr Leben eingreifen – ja, sie selbst laden andere dazu ein, über ihr Leben zu bestimmen. Du wirst niemanden finden, der bereit ist, sein Geld zu verteilen; aber an wie viele verteilt jeder von uns sein Leben! Die Menschen hüten ihr persönliches Eigentum und verfahren damit äußerst sparsam; aber sobald es um Zeitverlust geht, zeigen sie sich als die größten Verschwender, obwohl es sich um die einzige Sache handelt, bei der es ehrbar ist, geizig zu sein. Ich möchte also jemanden aus der älteren Generation ansprechen und zu ihm sagen: »Wie ich sehe, bist du in die letzte Phase des menschlichen Lebens eingetreten; du stehst kurz vor deinem hundertsten Geburtstag oder hast ihn sogar schon hinter dir gelassen: Also komm, ziehe eine Bilanz deines Lebens. Überlege, wie viel Zeit dir ein Geldverleiher geraubt hat, wie viel eine Geliebte, ein Gönner, ein Kunde, die Streitereien mit deiner Frau, die Bestrafung deiner Sklaven, das Herumhetzen in der Stadt, um deinen gesellschaftlichen Verpflichtungen nachzukommen. Denke dabei auch an die Krankheiten, die du selbst verschuldet hast, und an die Zeit, die ungenutzt verstrichen ist. Du wirst feststellen, dass du weniger Jahre zur Verfügung hattest, als du meinst. Erinnere dich daran, wann du einmal ein wirklich festes Ziel hattest; wie wenige Tage so verlaufen sind, wie du es geplant hattest; wie selten du zu deiner eigenen Verfügung standest; wie selten du dein wahres Gesicht zeigtest; wie selten dein Geist nicht beunruhigt war; welche Leistungen du in einem solch langen Leben vollbracht hast; wie viele dir etwas von deiner Lebenszeit geraubt haben, ohne dass du dir dieser Verluste bewusst warst; wie viel Zeit du durch grundlosen Kummer, törichte Freude, gieriges Verlangen, die Verführungen der Gesellschaft verloren hast; wie wenig von dir selbst dir geblieben ist. Du wirst erkennen, dass du zu früh stirbst.«
Was also ist der Grund dafür? Ihr lebt, als ob ihr dazu bestimmt wäret, ewig zu leben; eure eigene Gebrechlichkeit kommt euch nie in den Sinn; ihr merkt nicht, wie viel Zeit bereits vergangen ist, sondern vergeudet sie, als ob ihr einen unerschöpflichen Vorrat davon hättet – obwohl gerade dieser Tag, den ihr jemandem oder etwas widmet, euer letzter sein könnte. Bei allem, was ihr fürchtet, verhaltet ihr euch wie Sterbliche, und bei allem, was ihr begehrt, wie Unsterbliche. Du wirst viele Menschen sagen hören: »Wenn ich fünfzig bin, werde ich mich in den Ruhestand zurückziehen; wenn ich sechzig bin, werde ich die öffentlichen Aufgaben niederlegen.« Und welche Garantie hast du für ein längeres Leben? Wer soll dafür sorgen, dass dein Weg genau so verläuft, wie es dir vorschwebt? Schämst du dich nicht, nur den Rest deines Lebens für dich zu behalten und der Weisheit nur die Zeit zu widmen, die du nicht mit irgendwelchen anderen Angelegenheiten verbringen kannst? Welche Verspätung, erst dann wirklich zu leben, wenn das Leben enden muss! Welche Torheit, unsere Sterblichkeit zu vergessen und wesentliche Pläne auf unser fünfzigstes und sechzigstes Lebensjahr zu verschieben, um das Leben an einem Punkt zu beginnen, bis zu dem es nur wenige schaffen!
Du wirst bemerken, dass die mächtigsten und höchstgestellten Männer Bemerkungen fallen lassen, in denen sie ihren Wunsch nach Ruhe zum Ausdruck bringen, diese preisen und ihr einen höheren Wert beimessen als all ihren Gütern. Zuweilen sehnen sie sich danach, von ihrem Gipfel herabzusteigen, wenn sie dies gefahrlos tun können; denn selbst wenn von außen kein Angriff und keine Erschütterung erfolgen, stürzt solch großes Glück von selbst zusammen.
Der selige Augustus, dem die Götter mehr gewährten als jedem anderen, hörte nicht auf, um Ruhe zu bitten und nach Erholung von den Aufgaben im öffentlichen Dienst zu streben. Wann auch immer er etwas sagte, kam er auf dieses Thema zurück – seine Hoffnung auf Muße. Er versuchte, sich seine Arbeitslast mit dem süßen, wenn auch falschen Trost zu erleichtern, dass er eines Tages so leben würde, wie es ihm gefiel. In einem Brief, den er an den Senat schrieb und in dem er versprach, dass seine Ruhe nicht der Würde entbehren und nicht im Widerspruch zu seinem früheren Ruhm stehen werde, finde ich diese Worte: »Aber es ist eindrucksvoller, diese Dinge zu verwirklichen, als sie zu versprechen. Da aber die herrliche Wirklichkeit noch in weiter Ferne liegt, hat mich der Wunsch nach dieser ersehnten Zeit dazu veranlasst, etwas von ihrem Vergnügen durch die süße Freude an den Worten vorwegzunehmen.« Die Muße schien ihm von so hohem Wert zu sein, dass er sie sich, weil er sie in der Wirklichkeit nicht genießen konnte, im Voraus im Geiste vorstellte. Er, der wusste, dass alles von ihm allein abhing, der über das Schicksal von Menschen und Nationen entschied, war am glücklichsten, wenn er an den Tag dachte, an dem er seine Größe ablegen würde. Er wusste aus Erfahrung, wie viel Schweiß das über alle Länder strahlende Glück kostete, wie viele geheime Ängste es in sich barg. Er war gezwungen, zuerst gegen seine Mitbürger, dann gegen seine Amtskollegen und schließlich gegen seine Verwandten zu kämpfen und dabei zu Land und zu Wasser Blut zu vergießen. In Makedonien, Sizilien, Ägypten, Syrien, Asien – in fast allen Ländern – wandte er seine Armeen, die es leid waren, römisches Blut zu vergießen, gegen fremde Feinde. Während er im Alpengebiet für Ruhe sorgte und sich die Feinde unterwarf, die inmitten des Friedens in sein Reich eingedrungen waren, während er die Grenzen seines Reiches über den Rhein, den Euphrat und die Donau hinaus verschob, wetzten in Rom selbst Murena, Caepio, Lepidus, Egnatius und andere ihre Schwerter gegen ihn. Noch war er ihren Ränkespielen nicht entgangen, da versetzten seine Tochter und all die edlen Jünglinge, die durch Ehebruch wie durch einen Eid an sie gebunden waren, den durch das Alter bereits Geschwächten in Angst und Schrecken, ebenso wie Iullus und eine zweite furchtbare Frau an der Seite des Antonius. Er schnitt diese Geschwüre mitsamt den Gliedern ab, aber neue wuchsen an ihrer Stelle nach: wie ein Körper mit einem Übermaß an Blut, der ständig an irgendeiner Stelle aufbricht und Blut verliert. Daher sehnte er sich nach Muße, und in der Hoffnung und im Gedanken an sie fand er Erleichterung von seinen Arbeitsmühen: Sie war der Wunsch desjenigen, der die Macht hatte, der Menschheit Wünsche zu erfüllen.
Marcus Cicero war hin- und hergeworfen zwischen Männern wie Catilina und Clodius, Pompeius und Crassus – einige von ihnen unverhohlene Feinde, einige zweifelhafte Freunde –, während er mitsamt der Republik wankte und sie, als sie ihrem Untergang entgegenging, zu bewahren versuchte; aber schließlich wurde er beiseitegeschoben. Weder fand er Frieden im Glück, noch war er gegen Unglück gewappnet, und wie oft verdammt er gerade das Konsulat, das er, wenn auch nicht ohne guten Grund, zuvor unaufhörlich gepriesen hatte! Welch kläglicher Worte bedient er sich in einem Brief an Atticus, als der ältere Pompeius schon bezwungen war und sein Sohn noch versuchte, seine besiegten Truppen in Spanien wieder aufleben zu lassen! »Willst du wissen«, fragte er, »was ich hier tue? Ich lebe als Halbgefangener, als Halbfreier in meiner Villa in Tusculum.« Im weiteren Verlauf bejammert er sein früheres Leben, klagt über die Gegenwart und äußert sich verzweifelt über die Zukunft. Cicero nannte sich selbst einen Halbfreien, aber ein wahrhaft Weiser wird niemals einen solch erbärmlichen Begriff für sich verwenden. Er wird niemals ein Halbfreier sein, sondern stets die beständige und vollkommene Freiheit genießen, sein eigener Herr sein und alle anderen überragen. Denn was könnte den überragen, der über dem Schicksal steht?
Livius Drusus, ein kühner und tatkräftiger Mann, hatte Gesetzesvorschläge eingereicht, die die unheilvolle Politik der Gracchen wieder aufleben ließen, wobei er von einem großen Teil der Bevölkerung aus allen Teilen Italiens unterstützt wurde. Dennoch konnte er keinen Erfolg für seine Maßnahmen absehen, die er sie weder durchsetzen noch – nachdem er sie einmal begonnen hatte – aufgeben konnte. Es heißt, er habe das ruhelose Leben, das er immer geführt hatte, verflucht und gesagt, er sei der Einzige, der nicht einmal als Kind einen Feiertag gehabt habe. Denn er hatte es bereits als Unmündiger noch mit der Knabentoga bekleidet gewagt, als Anwalt von Angeklagten vor Richtern aufzutreten, und er gewann derartig viel Einfluss bei Gericht, dass er, wie wir alle wissen, einige für seine Mandanten günstige Urteile erzwang. Was würde jemand mit solch frühzeitigem Ehrgeiz wohl nicht alles tun? Es lag auf der Hand, dass diese verfrühte Kühnheit zu schrecklichen Schwierigkeiten führen würde, sowohl für den Staat als auch für ihn persönlich. Er beklagte sich also zu spät darüber, keine Feiertage gehabt zu haben, da er seit seiner Jugend beträchtliche Unruhe auf dem Forum stiftete. Es ist ungewiss, ob er durch eigene Hand starb, denn er brach zusammen, nachdem er plötzlich eine Stichwunde im Unterleib erlitten hatte; manche bezweifeln, dass er seinen Tod selbst verursachte, aber niemand bezweifelt, dass dieser zur rechten Zeit eintrat.
Es wäre überflüssig, noch weitere anzuführen, die, obwohl sie anderen als die glücklichsten Menschen der Welt erschienen, sich selbst ein wahrheitsgetreues Zeugnis ausstellten, indem sie ihren Hass auf alles, was sie jemals in ihrem Leben getan haben, zum Ausdruck brachten. Doch durch diese Klagen veränderten sie weder sich selbst noch andere, denn sobald diese Worte aus ihnen herausgeplatzt waren, kehrten ihre üblichen Leidenschaften zurück.
Sicherlich wird euer Leben, selbst wenn es mehr als tausend Jahre andauern sollte, auf eine winzige Zeitspanne zusammenschrumpfen; diese Laster verschlingen gewaltige Zeiträume. Was ihr tatsächlich als Zeitspanne zur Verfügung habt – welche die Vernunft verlängern kann, obwohl sie naturgemäß rasch vergeht – muss euch unweigerlich schnell entrinnen, denn ihr ergreift sie nicht, haltet sie nicht zurück und versucht nicht, dieses schnellste aller Dinge zu verzögern, sondern ihr lasst sie entschwinden, als wäre sie etwas Überflüssiges und leicht Ersetzbares.
Aber zu den größten Übeltätern zähle ich diejenigen, die ihre gesamte Zeit für Wein und Wollust aufwenden, denn das sind die schlimmsten Beschäftigungen von allen. Andere Menschen, mögen sie auch vom Trugbild des Ruhmes besessen sein, leiden immerhin unter einer respektablen Verblendung. Du kannst mir eine Reihe von Habgierigen oder Jähzornigen zeigen oder von Männern, die ungerechterweise hassen oder Kriege führen, aber sie alle sündigen wenigstens auf mannhafte Weise. Diejenigen jedoch, die sich der Völlerei und der Wollust hingeben, beflecken sich mit Schande. Sieh dir nur einmal genau an, wie all diese Menschen ihre Zeit verbringen – wie viel davon sie für ihr Vermögen aufwenden, wie lange sie sich damit beschäftigen, anderen Fallen zu stellen oder sich vor den Fallen zu fürchten, die ihnen gestellt werden könnten, wie lange sie andere hofieren oder andere dazu nötigen, ihnen ihre Gunst zu erweisen, wie viel Zeit es ihnen raubt, Bürgschaften zu gewähren oder zu empfangen, Bankette zu geben (die jetzt als Amtstätigkeit gelten): Du wirst feststellen, dass ihre vielen Aktivitäten, ob gut oder schlecht, ihnen nicht einmal Zeit zum Atmen lassen.