Von Göttern und Menschen - Sarah Iles Johnston - E-Book

Von Göttern und Menschen E-Book

Sarah Iles Johnston

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Beschreibung

Die griechischen Sagen gehören mit ihren zeitlosen Bildern und Geschichten zum Erbe der Menschheit. Sarah Iles Johnston hat auf der Grundlage einer souveränen Quellenkenntnis die griechischen Mythen in einer modernen, frischen Sprache neu erzählt und so angeordnet, dass sich ein fortlaufender Lektürefaden ergibt. Ein Meisterwerk, das dazu einlädt, die Welt von Herakles, Ödipus und Medea neu kennenzulernen. Die Odyssee und die Fahrt der Argonauten, der Feuerbringer Prometheus und der Sänger Orpheus, die weise Athena und die Unterweltgöttin Persephone: Die griechischen Mythen bringen existentielle Fragen nach Liebe und Tod, Macht und Ohnmacht, Heldentum und Verschlagenheit in einprägsamen Geschichten zum Ausdruck. Doch wer sie kennenlernen will, muss bisher zwischen verstaubter Sprache und quellenferner Lockerheit wählen. Sarah Iles Johnston setzt mit ihrer Erzählung der griechischen Sagen neue Maßstäbe, weil sie ihren Stoff so profund beherrscht, dass sie sich von allen Pedanterien frei machen und höchst lesbar – und mit besonderem Interesse für die weiblichen Perspektiven – erzählen kann. Im Anhang nennt sie zu jeder Geschichte die Quellen. Ein Register erschließt das große Personal an Göttern, Heldinnen und Sterblichen. Jede Geschichte ist in sich geschlossen und zugleich nur ein kurzes Kapitel in dem großen Roman vom Ursprung des Kosmos bis zu den Folgen des Trojanischen Kriegs.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Titel

VON GÖTTERN UND MENSCHEN

Die griechischen Mythen neu erzählt von

SARAH ILES JOHNSTON

Aus dem Englischen von Heike Schlatterer

Mit Illustrationen von Tristan Johnston

C.H.Beck

Übersicht

Cover

INHALT

Textbeginn

INHALT

Titel

INHALT

Widmung

KARTE

GÖTTER, STERBLICHE UND IHRE MYTHEN

GÖTTER

1: DIE ERDE UND IHRE KINDER

2: DIE TITANEN

3: AUFSTAND DER JUNGEN GÖTTER

4: ZEUS WIRD KÖNIG

5: PERSEPHONE

6: DEMETERS WANDERUNGEN

7: DEMETER UND PERSEPHONE

8: ATHENE, ARTEMIS UND APOLLON WERDEN GEBOREN

9: APOLLON GRÜNDET SEIN ORAKEL

10: DIE GESCHICHTE DES HEPHAISTOS

11: HERMES ALS VIEHDIEB

12: DIONYSOS WIRD GEBOREN, STIRBT UND WIRD WIEDER GEBOREN

13: DIONYSOS UND DIE PIRATEN

14: APHRODITE LERNT DAS VERLANGEN KENNEN

GÖTTER UND STERBLICHE

15: PROMETHEUS, EPIMETHEUS UND DIE ERSTEN MENSCHEN

16: PROMETHEUS STIEHLT DAS FEUER

17: DIE GABEN DER PANDORA

18: LYKAON STELLT ZEUS AUF DIE PROBE

19: DIE FLUT

20: DIE GESCHICHTE DER IO

21: PHAETHON LENKT DEN SONNENWAGEN

22: EUROPA UND DER STIER

23: DIE GESCHICHTE DER KALLISTO

24: DAPHNE UND APOLLON

25: ARTEMIS UND AKTAION

26: NIOBE UND LETO

27: ARACHNE UND ATHENE

28: PHILEMON UND BAUKIS

29: HYRIEUS UND SEIN OCHSE

30: ORION

31: ERIGONE UND IKARIOS

32: APOLLON UND HYAKINTHOS

33: LEDA UND IHRE KINDER

34: MELAMPUS UND DIE TÖCHTER DES PROITOS

35: PAN UND SYRINX

36: ECHO UND NARKISSOS

37: DIE GIER DES MIDAS

38: TANTALOS STELLT DIE GÖTTER AUF DIE PROBE UND PELOPS TRIFFT EINE VERHÄNGNISVOLLE ENTSCHEIDUNG

39: TITYOS UND LETO

40: IXION, DIE WOLKE UND DIE KENTAUREN

41: DIE TODE DES SISYPHOS

42: DIE TÖCHTER DES DANAOS UND DIE SÖHNE DES AIGYPTOS

43: ASKLEPIOS FORDERT DEN TOD HERAUS

44: MINOS UND POLYIDOS

45: MINOS UND SKYLLA

46: PASIPHAË UND DER STIER

47: DAIDALOS UND IKAROS

48: PROKNE UND PHILOMELA

49: SALMAKIS UND HERMAPHRODITOS

50: PYGMALION UND DIE STATUE

51: MYRRHA UND ADONIS

HELDEN

PERSEUS

52: DANAE UND DER GOLDREGEN

53: POLYDEKTES UND DAS GORGONENHAUPT

54: SELTSAME NYMPHEN

55: DIE ENTHAUPTUNG DER MEDUSA

56: ANDROMEDA

BELLEROPHON

57: BELLEROPHON UND PEGASOS

58: STHENEBOIA

59: DIE CHIMÄRA

60: BELLEROPHONS ENDE

KADMOS

61: KADMOS UND DIE SCHLANGENZÄHNE

62: INO UND ATHAMAS

63: DIE RÜCKKEHR DES DIONYSOS

HERAKLES

64: DIE GEBURT DES HERAKLES

65: HERAKLES TÖTET SEINE FAMILIE

66: DER NEMEISCHE LÖWE UND DIE LERNÄISCHE HYDRA

67: DIE KERYNITISCHE HIRSCHKUH UND DER ERYMANTHISCHE EBER

68: DIE RINDERSTÄLLE DES AUGIAS UND DIE STYMPHALISCHEN VÖGEL

69: DER KRETISCHE STIER UND DIE STUTEN DES DIOMEDES

70: ALKESTIS

71: DER GÜRTEL DER HIPPOLYTE UND DIE RINDER DES GERYONEUS

72: CACUS UND DIE ÄPFEL DER HESPERIDEN

73: EINE REISE IN DIE UNTERWELT

74: SKLAVE DER OMPHALE

75: EINE NEUE FRAU UND NEUE PROBLEME

ATALANTE

76: ATALANTE

ORPHEUS

77: EIN WUNDERBARER MUSIKER

78: ORPHEUS ALS ARGONAUT

79: EURYDIKE

80: ORPHEUS’ TOD

IASON

81: CHEIRON UND IASON

82: DER VERLUST EINER SANDALE UND DIE RÜCKFORDERUNG DES KÖNIGREICHS

83: DIE FRAUEN VON LEMNOS

84: HERAKLES UND HYLAS

85: DIE HARPYIEN UND DIE ZUSAMMENPRALLENDEN FELSEN

86: KOLCHIS

87: DIE AUFGABEN

88: DAS GOLDENE VLIES

89: KIRKE UND DIE PHAIAKEN

90: WIEDER ZU HAUSE

91: MEDEA IN KORINTH

MELEAGROS

92: DER KALYDONISCHE EBER

THESEUS

93: ATHENES STADT

94: THESEUS GEHT NACH ATHEN

95: EINE BÖSE STIEFMUTTER

96: EINE FAHRT NACH KRETA

97: DIE PRINZESSIN UND DER MINOTAUROS

98: THESEUS WIRD KÖNIG

99: DER FLUCH EINES VATERS

100: NEUE BRÄUTE

101: DER TOD DES THESEUS

ÖDIPUS

102: DIE GEBURT DES ÖDIPUS

103: EIN BEUNRUHIGENDER ORAKELSPRUCH

104: EIN RÄTSELWETTSTREIT

105: ENTHÜLLUNGEN

106: DER THEBANISCHE KRIEG

107: ANTIGONE

DER TROJANISCHE KRIEG

108: PELEUS UND THETIS

109: DAS URTEIL DES PARIS

110: EIN VERSPRECHEN WIRD WAHR

111: IPHIGENIE

112: PROTESILAOS UND LAODAMEIA

113: AGAMEMNON UND ACHILLEUS

114: HERA TÄUSCHT ZEUS

115: ACHILLEUS UND PATROKLOS

116: ACHILLEUS UND HEKTOR

117: ACHILLEUS UND PRIAMOS

118: DER TOD DES ACHILLEUS UND DES AIAS

119: NEOPTOLEMOS UND PHILOKTETES

120: DAS PFERD

121: DIE TROJANISCHEN FRAUEN

DIE RÜCKKEHRER

122: ATREUS UND THYESTES

123: AGAMEMNONS RÜCKKEHR

124: ORESTES’ RÜCKKEHR

125: EIN PROZESS IN ATHEN

126: HELENA UND MENELAOS

127: NEOPTOLEMOS’ HEIMKEHR

ODYSSEUS

128: ODYSSEUS UND TELEMACHOS

129: NESTOR UND MENELAOS

130: KALYPSO

131: DIE PRINZESSIN UND DER SCHIFFBRÜCHIGE

132: EINE UNHEIMLICHE GASTGEBERIN

133: KIRKE

134: BESUCH BEI DEN TOTEN

135: UNGEHEUERLICHE FRAUEN

136: DIE RINDER DES SONNENGOTTS

137: ENDLICH ZU HAUSE

138: PENELOPE UND ODYSSEUS

139: EIN WETTSTREIT UND EINE SCHLACHT

140: NEUE LEBEN

ANHANG

ANTIKE QUELLEN DER MYTHEN

DICHTER

PROSAAUTOREN

ÜBERSICHT DER QUELLEN

DIE QUELLEN NACH KAPITELN

DIE FIGUREN IN DEN GRIECHISCHEN MYTHEN

DANK

REGISTER DER MYTHISCHEN GESTALTEN

Zum Buch

Vita

Impressum

Widmung

In Erinnerung an meine Eltern Phyllis und Robert Iles

KARTE

GÖTTER, STERBLICHE UND IHRE MYTHEN

Stellen Sie sich vor, Sie hätten eine Möglichkeit gefunden, in der Zeit zurückzureisen und eine Stadt im antiken Griechenland zu besuchen. Schauen Sie sich um: Sie sind umgeben von Mythen. Auf dem Marktplatz stehen prächtige Statuen, Athene mit einem Speer in der Hand oder Poseidon mit seinem Dreizack. An einem Tempel in der Nähe sehen Sie einen Fries, auf dem Theseus gegen die Amazonen kämpft. Wenn Sie ins Haus einer aristokratischen Familie eingeladen werden, wird Ihnen Wein aus einem Krug eingeschenkt, der mit einer mythischen Szene geschmückt ist, und auch der Becher, aus dem Sie trinken, zeigt eine solche Darstellung: Zeus in Gestalt eines Stieres, der mit der geraubten Europa auf dem Rücken durchs Meer prescht, oder der Held Peleus im Ringkampf mit der Meeresnymphe Thetis, die ihre Gestalt wandeln konnte. Wenn Sie lange genug in der Stadt bleiben, können Sie Theatervorstellungen besuchen, die Mythen zum Thema haben – vorausgesetzt natürlich, dass Sie ein Mann sind. Griechische Frauen gingen nicht ins Theater. Allerdings nahmen sie an anderen Festlichkeiten zu Ehren der Götter teil, bei denen Dichter Mythen rezitierten. Sie könnten dann hören, wie Deianeira ihren Ehemann Herakles ermordete oder wie Penelope ihre Verehrer mit dem frauentypischsten aller Geräte hinhielt, dem Webstuhl. Wenn Sie lange genug in der Stadt verweilen würden, um sich eine Frau zu suchen, würde das Lied, das bei Ihrer Hochzeit vorgetragen werden würde, sich vielleicht auf eine der großen mythischen Liebesgeschichten beziehen, etwa auf die zwischen dem trojanischen Helden Hektor und seiner Frau Andromache. Auch bei weniger formellen Anlässen würden Ihnen Mythen begegnen – etwa wenn Sie als Frau zusammen mit anderen Frauen Wolle verarbeiten und sich zur Unterhaltung Mythen erzählen würden oder als Mann bei einem Gastmahl, bei dem Ausschnitte aus den Werken berühmter Dichter rezitiert würden.

Nichts in unserer Kultur lässt sich damit vergleichen – nichts erweckt bei uns allen eine ähnliche Begeisterung und hat ähnlich treue Anhänger wie die Mythen im antiken Griechenland. Sicher gibt es Geschichten, von denen wir alle (oder fast alle) schon einmal gehört haben, doch selbst die populärsten haben unsere Kultur nicht so tief durchdrungen wie die Mythen die antike griechische Kultur. Wir sind nicht überrascht, wenn uns Harry Potter in einem Buch oder einem Film begegnet oder sogar im Miniaturformat als Legofigur, wir wären jedoch ziemlich verwundert, wenn er als Statue ein öffentliches Gebäude schmücken würde oder wenn wir bei einer Hochzeit ein Lied über seine Liebe zu Ginny Weasley hören würden. Und abgesehen von den berühmten Ausnahmen, die die Regel bestätigen, wie die Bibel, Shakespeares Werke oder Jane Austens Romane, sind selbst die beliebtesten Geschichten nicht länger als zwei oder drei Generationen lang populär.

Das liegt unter anderem daran, dass Ausdrucksweise und Benehmen im Laufe der Zeit Staub ansetzen. Samuel Richardsons Briefroman Pamela, or Virtue Rewarded war nach der Veröffentlichung 1740 mehrere Jahrzehnte lang ungemein populär, doch heute müssen die wenigen Leserinnen und Leser, die sich noch darauf einlassen, bestimmte Begriffe mühsam entschlüsseln (was, bitte, ist eine «sauce-box»?) und eine Erzählsituation akzeptieren, die uns heute skurril erscheint (machten sich Eltern und Kinder früher wirklich die Mühe und schrieben einander so ausführliche Briefe wie Pamela und ihre Eltern im Roman?). Damit sie weiterhin Anklang finden, müssen selbst die schönsten Geschichten aktualisiert werden. Doch es gibt noch einen anderen Grund, warum Geschichten nicht allzu lange populär bleiben: Wenn Autoren heute den Plot oder die Figuren aus den Werken anderer Autoren übernehmen, werden schnell Plagiatsvorwürfe laut, es sei denn, sie haben ihren eigenen Beitrag irgendwie deutlich gemacht – indem sie etwa wie Leonard Bernstein in seiner Westside Story die Zeit, das Setting und die Namen der Figuren ändern. Die griechischen Autoren der Antike hingegen zögerten nicht, Handlung, Zeit, Ort, Figuren und sogar Details sowohl von früheren Autoren als auch von ihren Zeitgenossen zu übernehmen. Solange sie das gut machten und eigene Ergänzungen hinzufügten, war das keine Schande – sie wurden sogar dafür gefeiert. So frischten sie die Mythen immer wieder auf und sorgten dafür, dass sie aufregend und für ihr Publikum relevant blieben.

Tatsächlich musste man, wenn man im antiken Griechenland einen Mythos erzählen wollte, frühere Versionen berücksichtigen, weil man sicher sein konnte, dass ein Großteil des Publikums zumindest die Grundzüge der Geschichte kannte. Was wir heute als griechische Mythen bezeichnen, betrachteten die meisten Griechen als Teil ihrer Geschichte, die seit der Zeit Homers von Dichtern überliefert wurde. Wenn ein Autor einen Mythos verwendete, tat er etwas Ähnliches wie Cecil B. DeMille, als er 1956 die Geschichte von Moses in seinem Film Die Zehn Gebote erzählte. DeMille ergänzte faszinierende neue Figuren (zum Beispiel Königin Nefretiri) und aufregende neue Handlungsstränge (etwa Moses’ Romanze mit Nefretiri), doch es bestand kein Zweifel, dass er die biblische Geschichte erzählte. Tatsächlich wurde der Film von jüdischen wie christlichen Organisationen dafür ausgezeichnet, dass er eine biblische Geschichte im 20. Jahrhundert so gut vermittelte. DeMilles Film wurde auch nicht als Plagiat betrachtet: Der Film war ein Kassenschlager und wird auch heute noch als gelungene Umsetzung eines biblischen Stoffes gefeiert. Zweiundvierzig Jahre später inspirierte DeMilles Die Zehn Gebote das DreamWorks Animation Studio zu Der Prinz von Ägypten, einer Trickfilmversion der biblischen Geschichte mit eigenen Adaptionen, die ebenfalls kommerziell erfolgreich war und von der Kritik gelobt wurde.

Auf ähnliche Weise versah der Tragödiendichter Aischylos 458 v. u. Z. den bekannten Mythos von Orestes in seiner Tragödientrilogie Orestie mit neuen Wendungen und frischte damit eine uralte Geschichte auf. Der letzte Teil von Aischylos’ Version, der sich auf Orestes’ Schicksal konzentriert, nachdem er den Mord an seinem Vater gerächt und seine eigene Mutter getötet hat, spielt auf den Areopag an, den Platz in Athen, wo der gleichnamige oberste Gerichtshof zu Morddelikten tagte. In Aischylos’ Darstellung begründete Athene das Gericht, damit Orestes’ Fall von Geschworenen verhandelt werden konnte, was im Stück als geniale Neuerung präsentiert wurde. In früheren Versionen von Orestes’ Geschichte war das Problem auf andere Weise gelöst worden, was Wissenschaftler zu der Schlussfolgerung veranlasste, dass Aischylos die uralte Geschichte änderte, um aktuelle Reformen in Athen zu würdigen – vor allem die Reformen, die die Macht des korrupten und zu mächtigen Areopags beschnitten. Doch bei Aischylos’ Version der Orestes-Geschichte geht es natürlich noch um mehr. Gut erzählt wird die Geschichte über einen jungen Mann, der gezwungen ist, seine Mutter zu töten, um die Ermordung seines Vaters zu rächen, das Publikum stets in ihren Bann schlagen, und Aischylos versah sie mit allen Zutaten, die eine gute Geschichte braucht. Es gibt Rachegöttinnen mit übelriechendem Atem, die Orestes bis nach Delphi und von dort weiter nach Athen verfolgen, den Gott Apollon, der eine kluge, protowissenschaftliche Rede zu Orestes’ Verteidigung hält, und Athene, die die Erinnyen, die über den Verlust ihrer Beute außer sich sind, geschickt in umgänglichere Göttinnen verwandelt, die versprechen, künftig zum Wohle Athens zu handeln. All diese Ergänzungen, noch dazu verfasst in grandioser Sprache, belebten einen altbekannten Mythos neu. Aischylos erhielt für seine Orestie den ersten Preis bei den Dionysien in Athen, den Festspielen zu Ehren von Dionysos, dem Gott des Schauspiels. Bis heute wird die Orestie aufgeführt.

In diesem Geist der Tradition und ständigen Erneuerung erzählten die Griechen einander ihre Mythen über ein Jahrtausend lang, bis das aufkommende Christentum ihre Stimme nach und nach zum Verstummen brachte. Doch auch die Christen konnten die Mythen nicht vollständig unterdrücken. Im 14. Jahrhundert verfasste ein unbekannter Franziskanermönch den Ovidius moralizatus, eine Nacherzählung von Ovids Metamorphosen in einer für Christen geeigneten Fassung. Chaucer entwickelte den Mythos von Theseus und den Amazonen in seinen Canterbury Tales weiter, und auch Shakespeare griff häufig auf griechische Mythen zurück. In der Renaissance waren es dann ganze Heerscharen von Malern und Bildhauern, die den Figuren der griechischen Mythen für ihre reichen Auftraggeber neues Leben einhauchten. Im 17. Jahrhundert nutzte Monteverdi die Mythen über Orpheus und Ariadne für die damals gerade aufkommende Oper, während Racine mit seinen Nacherzählungen griechischer Mythen die Tragödie neu belebte. Und auch wir erzählen sie heute noch – ein Grund, warum Sie dieses Buch in Händen halten.

Was fasziniert uns – und früher die Griechen – so an diesen Geschichten? Ein Grund ist sicher ihre bedeutende kulturelle und soziale Leistung. Mythen erklären und bestätigen die Ursprünge wichtiger Institutionen wie etwa des Rechtssystems in Athen. Sie helfen, Verhaltensregeln zu vermitteln, etwa die, dass sich Gastgeber und Gäste mit gegenseitiger Ehrerbietung behandeln. König Lykaon hielt sich nicht an diese Regel und wurde prompt von Zeus in einen Wolf verwandelt. Mythen spiegeln unsere innigsten Gefühle wider, etwa die Trauer und Verzweiflung beim Verlust eines geliebten Menschen, und schildern die Gefahren, wenn man sich weigert, sich mit diesem Verlust abzufinden. Orpheus versuchte zweimal, seine Frau aus dem Totenreich zurückzuholen, doch er scheiterte und musste am Ende selbst sterben. Mythen warnen uns vor Charakterfehlern wie der Arroganz: Odysseus prahlte damit, den Kyklopen Polyphem überlistet zu haben, woraufhin Polyphems Vater, der Meeresgott Poseidon, Odysseus’ Heimkehr über viele Jahre verhinderte.

Mythen bergen noch viele weitere Botschaften, die im Gegensatz zu den bereits erwähnten für uns heute nicht immer so leicht ersichtlich sind. Besonders auffallend ist jedoch, wie launisch und grausam die griechischen Götter gegenüber den Sterblichen auftreten; die beiden Seiten scheinen im ewigen Streit miteinander zu liegen. Während die Sterblichen ständig versuchen, die ihnen gesetzten Grenzen zu überschreiten, werden sie von den Göttern immer wieder in die Schranken gewiesen. Warum stellten sich die Griechen vor, dass die von ihnen verehrten Götter sie so behandelten? Ein Teil der Antwort liegt darin, dass Mythos und Kult für zwei Extreme standen. Die Mythen beschrieben furchtbare Worst-Case-Szenarien, während das, wofür man bei der Verehrung der Götter betete, das Beste darstellte, worauf man hoffen konnte. Zusammen bildeten die beiden Extreme die Grundlagen des Menschseins – den Kampf um die eigene Existenz und das ständige Streben nach etwas Besserem, das oft untergraben wurde, aber nie erstarb. Natürlich lag der größte Unterschied zwischen Göttern und Sterblichen darin, dass die Götter ewig lebten und die Menschen sterben mussten. Die vielen Mythen, in denen ein Mensch versucht, diesem Schicksal zu entrinnen, und scheitert – nicht nur Orpheus, sondern auch Sisyphos oder Asklepios –, führen uns diesen Aspekt unmissverständlich vor Augen. Die Götter hatten unbegrenzt Zeit und verfügten über unbegrenzte Macht, fast alles zu erreichen, während die Menschen, wenn sie ihre von den Schicksalsgöttinnen zugestandene kurze Lebensspanne auskosten wollten, die Regeln, die die Götter ihnen auferlegt hatten, befolgen und deren Launen ertragen mussten. Deshalb heißt mein Buch auch Gods and Mortals (wörtlich: Götter und Sterbliche), denn die Mythen, die ich darin erzähle, bringen diesen grundlegenden Unterschied zum Ausdruck. Allerdings sind die Aufgaben, die ein Mythos erfüllt, hier eher zweitrangig, an vorderster Stelle steht immer das Erzählen an sich. Wenn ein Autor oder ein Künstler einen Mythos nicht lebendig und mitreißend wiedergibt, findet er auch keine Beachtung – zumindest nicht in der Version dieses Autors oder Künstlers. «Ein Mann tötet seine Mutter, weil sie seinen Vater getötet hat» ist schlicht eine Feststellung. Erst die Ausgestaltung durch Aischylos machte aus dieser Feststellung einen Mythos. Und auch die Dichter, die vor oder nach Aischylos kamen, versahen die Erzählung über Orestes mit ihren eigenen Nuancen: Stesichoros, Pindar, Sophokles, Euripides und so weiter.

Ich habe versucht, die Erzählungen in diesem Buch ebenfalls fesselnd zu gestalten, damit die Mythen bei meinen Leserinnen und Lesern zumindest einen Teil der Wirkung entfalten, die sie in der Antike hatten. Dazu habe ich nicht nur meine Worte sorgfältig gewählt, sondern in meine Geschichten auch Details über die antike Welt eingeflochten, in der sie spielen. Wenn ich eine Vorstellung von den damaligen harten Lebensumständen mit Krankheiten und Hunger vermittle, von der wilden Natur, in der die griechischen Frauen und Männer lebten, und den gesellschaftlichen Zwängen, denen die Menschen damals unterworfen waren, dann, so hoffe ich, können die Mythen eine größere Wirkung erzielen. Daher schildere ich beispielsweise in meiner Version von Pandoras Geschichte auch die häuslichen Pflichten einer griechischen Frau in der Antike und die unzähligen Krankheiten, die die Menschen damals bedrohten. In der Geschichte von Erigone wird deutlich, wie trübselig das Schicksal einer griechischen Frau war, wenn sie unverheiratet blieb. Ich versuche auch zu vermitteln, wie es war, die griechischen Götter anzubeten: Wenn ich beschreibe, wie Ödipus oder Neoptolemos das Orakel von Delphi besuchen, möchte ich einen Eindruck davon vermitteln, was die Ratsuchenden im Heiligtum des Gottes hoch oben in den Bergen wahrnahmen und empfanden. Aus demselben Grund schildere ich die Rituale, die die Argonauten vollzogen, um die Göttermutter Hera zu beschwichtigen. In die Geschichte über Arachne habe ich unsere heutigen Kenntnisse über die Mechanik antiker Webstühle und antike Pflanzenfarbstoffe eingeflochten und in die Geschichte über Apollon und Hyakinthos sind Informationen über das Diskuswerfen eingeflossen. Meine Erzählungen spielen in den realen Landschaften im antiken Griechenland mit ihrer Flora und Fauna.

Doch so sehr ich bestrebt war, die Mythen in ihrem antiken Kontext zu präsentieren, habe ich mich auch bemüht, den Stimmen der antiken Autoren nicht zu viel Raum zu geben. Obwohl Handlung und Personen auf den antiken Quellen basieren und ich manchmal auch einige geniale Formulierungen und Bilder übernommen habe, habe ich ihre Erzählungen nicht einfach übersetzt, sondern neue Erzählungen geschaffen, die ein eigenes Leben haben. So weiß etwa mein Odysseus den Intellekt seiner Frau mehr zu schätzen als der Odysseus bei Homer. Und obwohl ich mich bei der Geschichte über Apollons Versuch, Daphne zu vergewaltigen, eng an Ovids Version halte, hinterfrage ich Apollons Verhalten und gebe Artemis eine Schlusszeile, die hervorheben soll, wie wenig die Götter, zumindest in den Mythen, das Leid der Sterblichen kümmerte.

Tatsächlich weicht der Ton meiner Erzählungen häufig von dem der antiken Autoren ab, wenn ich von Vergewaltigungen oder im Fall von Daphne und Syrinx von versuchten Vergewaltigungen berichte. In den griechischen Mythen wird Frauen mit beunruhigender Häufigkeit Gewalt angetan, immer wieder nutzen Götter und Sterbliche ihre körperliche Überlegenheit oder eine List (oder beides), um ihr Verlangen zu befriedigen. Der Schaden, der den Opfern zugefügt wurde, wird von den antiken Erzählern meist ignoriert oder bagatellisiert. So wird etwa im Homerischen Hymnos an Demeter erzählt, dass Hades Persephone raubte und sie in die Unterwelt verschleppte; wie die junge Göttin das erlebte, wird jedoch größtenteils der Phantasie der Leserinnen und Leser überlassen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen: Aischylos berichtet mitfühlend von Ios Leid, nachdem Zeus sie vergewaltigt hatte, und auch Ovid weckt mehrfach unser Mitgefühl, vor allem in der Erzählung über Philomela. Bei jeder Vergewaltigung, über die ich berichte, habe ich mich bemüht, den Schock und die Qual der betroffenen Frau oder Göttin zu vermitteln – und in dem einen Fall, in dem sich eine Göttin an einem Mann vergeht (die Nymphe Salmakis an Hermaphroditos), habe ich mir vorzustellen versucht, was er empfand. Im Zusammenhang mit diesem Thema sollte man feststellen, dass in der Antike kaum zwischen Vergewaltigung und Verführung unterschieden wurde, auch wenn wir darin heute zwei völlig verschiedene Situationen sehen. Dass beides miteinander verschmolz, liegt daran, dass Frauen von den Männern kontrolliert wurden. Ein Mädchen stand unter der Vormundschaft seines Vaters, bis es heiratete, danach kam es unter die Vormundschaft des Ehemanns. Wenn der Ehemann starb, übernahm diese Rolle entweder wieder der Vater oder ein anderer männlicher Verwandter. Der Vormund musste darauf achten, dass eine Frau keinen Sex ohne seine Erlaubnis hatte. Im wahren Leben bedeutete das, dass sie nur Sex mit dem Ehemann hatte, den ihr Vormund für sie ausgesucht hatte. In den Mythen nutzen Väter auch andere, ungewöhnlichere Möglichkeiten, ihre Töchter mit einem Mann zusammenzubringen. Zum Beispiel lässt Thespios seine fünfzig Töchter von Herakles schwängern, weil er starke Enkelsöhne haben will (Kapitel 65). Und Pittheus brachte König Aigeus von Athen dazu, mit seiner Tochter Aithra zu schlafen, um die Verbindung zu dieser Stadt zu stärken (Kapitel 93). Schwängerte ein Gott die Frau oder Tochter eines Sterblichen, wurde natürlich erwartet, dass man die Verbindung als Ehre betrachtete und das Kind großzog, wie das Beispiel mehrerer Männer in den Erzählungen zeigt. Und natürlich gab es sowohl im wirklichen Leben als auch in den Mythen Frauen und Männer, die aus eigener Entscheidung oder Notwendigkeit Prostituierte wurden, außerdem gab es Sklavinnen und Sklaven, die als Eigentum betrachtet wurden und ihrem Herrn sexuelle Gefälligkeiten erweisen mussten.

Die Anmerkungen am Ende des Buchs geben Informationen darüber, welche antiken Erzählungen und künstlerischen Darstellungen als Vorlage für meine Interpretation dienten. Wer sich für die Originale interessiert, dem empfehle ich das Kapitel «Antike Quellen der Mythen». In einigen Fällen musste ich auch auf meine eigene Vorstellungskraft zurückgreifen, um Handlungslücken zu schließen – die entstehen, weil unser Wissen über den Fortgang einer Geschichte aufgrund der lückenhaften Überlieferung nun einmal lückenhaft ist. So wissen wir nicht genau, wie Zeus es schaffte, seine erste Geliebte Metis zu verschlingen, als sie mit dem gemeinsamen Kind schwanger war. Nachdem ich mir klargemacht hatte, wie wenig uns die antiken Quellen verraten, kam ich zu dem Schluss, dass der Mythos vermutlich auf ein volkstümliches Motiv zurückzuführen ist, das weltweit in vielen Erzählungen auftaucht, und entwickelte meine eigene Version, die in diese Richtung geht – mehr dazu in Kapitel 4. Wenn ich eine Lücke auf diese Weise gefüllt habe, weise ich in den Anmerkungen darauf hin.

Dieses Buch erzählt insgesamt einhundertvierzig Mythen. Die Zahl hat nichts mit der Magie der Zahlen zu tun, sondern allenfalls etwas mit der Magie des Kompromisses. Einerseits erkannte ich schnell, dass mein Buch, wenn ich jeden griechischen Mythos erzählen würde, dem ich je in meinem Leben begegnet bin, so dick werden würde, dass man es kaum noch hochheben könnte. Andererseits wollte ich aber nicht nur die Mythen erzählen, die man in einer solchen Anthologie erwarten würde (die Arbeiten des Herakles, die Geschichte, wie Demeter ihre Tochter zurückbekommt, und so weiter), sondern auch einige persönliche Favoriten, die heutzutage nicht mehr so bekannt sind (die Geschichte von Ikarios, Erigone und einigen fatalen Fässern Wein, die Geschichte, wie Melampus die dem Wahn verfallenen Töchter des Proitos heilt, oder eine ausführlichere Beschreibung der Erlebnisse von Menelaos und Helena auf ihrer Rückreise von Troja). Ich habe meinen Geschichten eine mehr oder weniger chronologische Reihenfolge gegeben, das heißt, mein Buch beginnt mit der Entstehung des Kosmos und der Geburt der Götter und endet mit den Erlebnissen der griechischen Heerführer nach ihrer Heimkehr aus dem Trojanischen Krieg. Aus Sicht der Griechen war dieser Krieg das letzte große Ereignis des heroischen Zeitalters, bevor das weit weniger ruhmreiche Zeitalter begann, in dem sie selbst lebten. Zwischen dem Anfang und dem Ende erzähle ich Geschichten, die das Verhältnis zwischen Göttern und Sterblichen beschreiben, jenen beiden Gruppen, zwischen denen die Macht so ungleich verteilt war; Geschichten über Helden, die die Trennlinie zwischen Göttern und Sterblichen infrage stellten, wenn sie die Erde von Ungeheuern befreiten, und von wagemutigen, klugen Frauen, die den Helden erst ihre Heldentaten ermöglichten; und Geschichten über den Trojanischen Krieg, den Zeus heraufbeschwor, um die sich ständig vermehrende Menschheit in ihrem Wachstum zu hemmen.

Aufmerksame Leserinnen und Leser werden jedoch bemerken, dass ich mich hier und da über die Chronologie hinwegsetzen musste: Etwa wenn Dionysos Hephaistos in Kapitel 10 Ratschläge gibt, wie er eine Braut finden kann, Dionysos’ eigene Geburt jedoch erst in Kapitel 12 erzählt wird. Ohne derartige Abweichungen lassen sich die griechischen Mythen nicht erzählen, die Figuren und Ereignisse sind einfach zu eng miteinander verbunden. Mehr über diese Verknüpfungen und die Stärke, die sie den griechischen Mythen verleihen, sage ich im Kapitel «Die Figuren in den griechischen Mythen» am Ende des Buches. Die Griechen verstanden es jedenfalls, ein Auge zuzudrücken, wenn die Chronologie drohte, eine gute Geschichte zu ruinieren. Beispielsweise legte ein Vorfall bei der Hochzeit von Peleus und Thetis den Grundstein für den Trojanischen Krieg, dennoch gelang es Peleus und Thetis, einen Sohn zu bekommen, Achilleus, der alt genug war, um zu Beginn des Krieges zu kämpfen – und der ebenfalls einen Sohn zeugte, Neoptolemos, der wiederum nur neun Jahre später auf der Seite der Griechen kämpfte.

Wer das Buch vom ersten Kapitel «Die Erde und ihre Kinder» bis zum Schluss liest, wird feststellen, dass die am Anfang erzählten Mythen mitunter die Grundlage für spätere Erzählungen bilden. Doch selbst wenn Sie die Mythen nicht in der von mir gewählten Reihenfolge lesen – wenn Sie sich also mal hier und mal da ein Kapitel aussuchen und sich von Ihren eigenen Interessen leiten lassen –, wirken die Themen und Details aufeinander ein. Den Griechen begegneten ihre Mythen sicher nicht in einer bestimmten Reihenfolge. Eine der wichtigsten Methoden zur Verbreitung griechischer Mythen waren professionelle Sänger, die die Werke der großen Dichter auswendig lernten und dann engagiert wurden, um sie bei öffentlichen Festen und privaten Feiern wohlhabender Bürger vorzutragen. Darüber hinaus gab es Dichter, die man beauftragen konnte, neue Werke zu verfassen, um den glorreichen Sieg eines Athleten oder eine herausragende Vermählung zu feiern. Auch diese Dichter wählten oft Mythen als Thema. Das Publikum erfuhr normalerweise erst beim Vortrag, welchen Mythos es hören würde. So konnte es vorkommen, dass man bei einem Anlass die Geschichte von Herakles und den Stymphalischen Vögeln hörte und einige Tage oder Monate später die Geschichte von Herakles’ Geburt oder wie Perseus (Herakles’ Urgroßvater) die Graien überlistete oder wie der Kosmos an sich entstand. Auch die Kunstwerke, die Städte und Landschaft zierten, erinnerten an eine Vielzahl von Geschichten, ohne die Chronologie zu berücksichtigen. Griechische Kinder lernten im Laufe ihrer Kindheit und Jugend viele Mythen kennen und begriffen so nach und nach, wie die Figuren und Ereignisse zu einem riesigen, wunderbaren Netz verknüpft waren.

Als ich dieses Buch etwa zur Hälfte geschrieben hatte, begann ich, selbst mit diesen Ideen zu experimentieren. Alle paar Semester halte ich eine Vorlesung über die griechischen Mythen in einem Hörsaal, in dem 740 Personen Platz haben. Es ist zwar selten der Fall, dass der Saal bis auf den letzten Platz belegt ist, doch 600 Studierende kommen fast immer. Die Vorlesung ist eine Wahlveranstaltung; niemand muss sie belegen, ich nehme daher an, dass sich die anwesenden Studierenden wirklich für das Thema interessieren. Trotzdem wurde Jahr für Jahr an den schlecht beleuchteten Rändern des Hörsaals immer wieder getuschelt, während ich meine Vorlesung hielt. Meine Kolleginnen und Kollegen sagten mir, dass ich mit dieser Erfahrung nicht allein sei; es ist schwierig, die Aufmerksamkeit so vieler Zuhörer zu binden, vor allem, wenn man vorn auf einer Bühne steht, weit entfernt von seinem Publikum.

In einem Semester versuchte ich etwas anderes. Der Vorlesungsüberblick, den ich zu Beginn postete, enthielt weder eine Liste der Mythen, die wir an einem bestimmten Tag durchnehmen würden, noch eine Lektüreliste zur Vorbereitung. Stattdessen dimmte meine Assistentin beim Läuten sämtliche Lichter im Hörsaal mit Ausnahme eines einzelnen Scheinwerfers. Ich trat von der Seite auf die Bühne, in einem Umhang, den auch ein antiker Sänger hätte tragen können, stellte mich vor die Studierenden und las einen Mythos vor, den ich gerade für dieses Buch vorbereitete, und zwar mit so viel Dramatik und Gefühl, wie ich aufbringen konnte. Ich hatte mich entschieden, meine eigene Version anstelle einer antiken vorzutragen. Sie war nicht nur kürzer, auch die Ausdrucksweise war den Studierenden vertrauter, außerdem konnte ich bestimmte Aspekte betonen, die ich diskutieren wollte.

Am Ende der Geschichte, nach acht oder neun Minuten, schaltete meine Assistentin das Licht wieder an, ich legte meinen Umhang ab und hielt meine Vorlesung, in der es um die Bedeutung des Mythos ging, den ich gerade vorgetragen hatte – welche antiken gesellschaftlichen und kulturellen Werte darin zum Ausdruck kamen, wie die Griechen damals das Verhältnis zwischen Göttern und Sterblichen sahen, wie der Mythos die Existenz einer bestimmten Tierart, Felsformation oder eines Rituals erklärte, wie er zu anderen Mythen passte, die wir bisher betrachtet hatten, und so weiter. Ich zeigte den Studierenden antike und moderne Kunstwerke, die diesen Mythos zum Thema hatten. Und ich zitierte aus den Werken antiker Autoren, die denselben Mythos beschrieben. Ich sprach über die Unterschiede zwischen den verschiedenen antiken Versionen und zwischen den antiken Versionen und meiner eigenen und erklärte, wie sich die Unterschiede auf die Botschaft des Mythos auswirkten. Nach jeder Vorlesung bekamen die Studierenden die Aufgabe, den Mythos, den sie an jenem Tag gehört hatten, und die antiken Versionen, über die ich gesprochen hatte, zu lesen.

Ich hatte diese Vortragsform in der Hoffnung gewählt, dass sich die Studierenden, wenn sie den Mythos zuerst als Erzählung erlebten, die vorgetragen wurde, um sie zu unterhalten und zu bilden, intensiver damit auseinandersetzen würden. Das scheint tatsächlich zu funktionieren; sobald das Licht ausgeht, wird es still im Saal. Und auch in meinen Sprechstunden kommen mehr Studierende mit Fragen zum Thema zu mir.

Unabhängig von der Version, ob bearbeitet oder nicht, bilden griechische Mythen den Mittelpunkt meiner Welt, seit ich alt genug war, um zu entscheiden, welche Geschichten meine Mutter mir vorlesen sollte. Später las ich sie meinen eigenen Kindern und Enkelkindern vor; einer meiner Söhne, der Illustrator wurde, hat dieses Buch um seine eigenen Interpretationen ergänzt. Im Laufe der Jahre haben mich die Mythen aufgeheitert, unterhalten und angeregt. Sie sind mit mir gereist, wenn ich unterwegs war, und haben mich in Zeiten des Verlusts getröstet. Sie haben mich getadelt, wenn ich etwas tat – oder vorhatte zu tun –, von dem ich wusste, dass ich es nicht tun sollte. Daher ist es das Mindeste, dass ich sie weitererzähle. Ich hoffe, dass die Mythen, wie ich sie hier darbiete, auch Sie bei der Lektüre fesseln, unterhalten und provozieren werden.

GÖTTER

DIE ERDE UND IHRE KINDER

Der Kosmos wird geboren und von den Göttern besiedelt

1

DIE ERDE UND IHRE KINDER

Am Anfang gab es nichts, was man hätte erkennen können – nur eine klaffende Leere, die sich in alle Richtungen erstreckte – konturlos, grenzenlos, ohne Orientierung.

Doch nach und nach regte sich etwas. Zuerst kam die Erde, mit breiter Brust und unerschütterlich. Dann kam Tartaros, der unter der Erde lauerte und auf eine Zeit wartete, zu der ihm die größten Unholde zur Strafe übergeben werden würden. Als Dritter kam Eros, der Gott der Lust, der die Aufgabe hatte, die Glieder zu lockern und die Sinne der Götter wie der Sterblichen zu betören. Und schließlich tauchten die Dunkelheit und die Nacht auf, die bei ihrem Liebesakt die Luft und den Tag hervorbrachten.

Ganz eigenständig, ohne die Hilfe eines Mannes, gebar die Erde den Himmel, das Meer und die Berge. Und als sie sich ins Bett des Himmels legte, empfing sie weitere Kinder. Einige waren herrlich anzusehen und die geborenen Anführer. Sie wollten Ordnung in die neue Welt bringen, daher gaben sie der Sonne ihren ewigen Lauf, bändigten die wirbelnden Wasser und gründeten eine Gemeinschaft. Eines der Kinder, Mnemosyne, stand dabei und hielt die Großtaten ihrer Geschwister fest, damit sie nie wieder vergessen würden.

Drei andere Kinder, die Kyklopen, nutzten ihre starken Arme und geschickten Hände, um Blitz und Donner zu schmieden. Obwohl sie ihren Geschwistern ähnlich waren, unterschieden sie sich doch darin, dass sie nur ein Auge hatten, das sich in der Mitte ihrer Stirn befand. Noch seltsamer in ihrer Gestalt und viel zu arrogant, um zu arbeiten, waren die Hundertarmigen, von denen jeder fünfzig Köpfe und hundert Arme hatte.

Der Himmelsgott fürchtete und hasste all seine Kinder, noch bevor sie geboren waren, daher schmiedete er einen Plan, um sie unter Kontrolle zu halten. Jedes Mal, wenn die Erde gebären wollte, schob er das Neugeborene zurück in den Mutterleib und hielt es dort gefangen, noch bevor es das Licht der Welt erblickte. Die Kinder mussten auf engstem Raum schmachten, während ihre Mutter unter der Last ihres angeschwollenen Bauches stöhnte. Die Kyklopen und Hundertarmigen behandelte der Himmelsgott noch grausamer, weil er sie noch mehr fürchtete und hasste als die anderen. Er schob sie nicht zurück in den Leib der Erde, sondern tief hinunter in den Tartaros, wo sie in Ketten gelegt wurden.

Nur bei Kronos, dem letzten Kind, das der Himmelsgott mit der Erde zeugte, war es anders. Kronos neigte von Anfang an zum Aufbegehren und erklärte sich sofort bereit, sich am Komplott seiner Mutter gegen seinen eigenen Vater zu beteiligen. Die Erde griff tief in ihren Leib und förderte grauen Adamant zutage, aus dem sie eine Sichel mit gezackter Klinge fertigte. Diese Sichel gab sie Kronos mit der Anweisung, sich an ihrem Muttermund zusammenzukauern, als ob er gleich geboren würde, und auf seine Chance zu warten.

Schon bald kam der Himmelsgott, weil er bei der Erde liegen wollte, und zog die Decke der Nacht über ihre nackten Körper. Als der Himmelsgott in die Erde eindrang und voller Lust zu stöhnen begann, schlüpfte Kronos in den Geburtskanal seiner Mutter, schwang die Sichel und entmannte seinen Vater. Schreiend vor Schmerz humpelte der Himmelsgott davon und zog sich in sein luftiges Reich zurück. Er sollte der Erde nie wieder Gewalt antun.

Kronos hingegen erschien triumphierend zwischen den Schenkeln seiner Mutter, die blutigen Genitalien des Vaters fest umklammert. Er schleuderte sie ins Meer, wo sie auf den Wellen dümpelten und sich ein Kranz aus Schaum um sie bildete.

In diesem Schaum begann etwas zu wachsen. Nach und nach nahm es die Gestalt einer Göttin an. Nachdem sie hierhin und dorthin getrieben war, ging sie leichtfüßig auf der Insel Zypern an Land, wo weiches grünes Gras zu ihrer Begrüßung emporwuchs. Die Grazien und die Göttinnen der Jahreszeiten eilten herbei, um sie mit Duftölen zu salben. Sie gaben ihr ein besticktes Band, um ihre herrlichen Brüste hochzubinden, durchsichtige Seide, die ihren wunderbaren Körper umhüllte, und Sandalen, um ihre bezaubernden Zehen zu schützen.

Die neue Göttin erhielt den Namen Aphrodite nach dem altgriechischen Wort aphrós für den Schaum, aus dem sie geboren war. Der Gott der Lust und der Gott des Verlangens flogen an ihre Seite, sobald sie sie sahen, und wurden ihre ständigen Begleiter. Sie fand Gefallen daran, Leidenschaft in den Herzen der Götter und Sterblichen zu wecken – doch diejenigen, die ihre Gaben empfingen, waren gut beraten, sich daran zu erinnern, dass sie durch einen Akt der Kastration ins Leben getreten war.

Als Kronos die Genitalien seines Vaters ins Meer warf, fielen Blutstropfen auf die Erde und schwängerten sie erneut. Zu gegebener Zeit gebar sie die Erinnyen, furchtbare Rachegöttinnen, die all jene bestraften, die Mitglieder der eigenen Familie verraten hatten, außerdem die gewaltigen Giganten, die bereits bei ihrer Geburt eine Rüstung trugen und ihren Speer umklammerten, sowie die schlanken Eschennymphen.

2

DIE TITANEN

Kronos betrachtete eingehend die neue Welt, in die er geboren worden war. Nachdem er die Erde von der beharrlichen Umklammerung des Himmelsgotts befreit hatte, erstreckte sich zwischen seinen Eltern ein weiter Raum. Darin konnten die Kinder, die die Erde ohne männliches Zutun empfangen hatte, bevor sie mit dem Himmel das Bett geteilt hatte, endlich frei heranwachsen. Das Meer und die Berge dehnten sich in die Breite und Höhe und nahmen die ihnen bestimmte Form und Gestalt an. Kronos war verblüfft über die Geschwindigkeit, mit der buschige Kiefern die Berge überzogen.

Nach der drangvollen Enge im Bauch seiner Mutter genoss Kronos den weiten Raum. Doch schon bald fühlte er sich einsam, daher half er seinen Geschwistern, aus dem Bauch der Mutter zu kriechen, um ihnen anschließend eine Ordnung zu geben.

Er begann damit, dass er sich selbst zu ihrem König ernannte – schließlich war er derjenige gewesen, der ihren Vater entmannt hatte. Dann teilte er ihnen ihre Aufgaben zu. Einige wurden beauftragt, den Kosmos lebenswerter zu gestalten. Helios wurde angewiesen, am Tag einen feurigen Streitwagen über den Himmel zu lenken, während Selene bei Nacht einen anderen, weniger feurigen Wagen steuern sollte. Andere Geschwister sollten Verhaltensregeln einführen und durchsetzen: Themis etwa sollte der bindenden Kraft von Eiden Geltung verschaffen und die Kommunikation zwischen den verschiedenen Teilen des Kosmos ermöglichen. Da nun so viel vor sich ging, hatte Mnemosyne gut zu tun, all die neuen Entwicklungen für die Nachwelt festzuhalten. Kein Gott blieb untätig.

Rhea erhielt eine Aufgabe, die Kronos für die wichtigste überhaupt hielt: Sie wurde seine Frau.

Von seinem Zufluchtsort über dem neuen Kosmos verfolgte der Himmelsgott aufmerksam das Treiben, während er seine immer noch schmerzende Wunde pflegte. Er gewöhnte sich an, seine Kinder verächtlich als «Titanen» zu bezeichnen, was in seiner Sprache auf maßlosen Ehrgeiz hinwies. Und er malte sich genüsslich aus, wie er schon bald gerächt werden würde.

Tatsächlich fürchtete Kronos von Anfang an, dass seine eigenen Kinder ihm dasselbe antun könnten, was er seinem Vater angetan hatte. Dessen Maßnahme zu seinem eigenen Schutz hatte eindeutig nicht funktioniert, daher dachte er lange und gründlich über eine bessere Lösung nach. Schließlich glaubte er, eine narrensichere Methode gefunden zu haben. Sobald Rhea ein Kind gebar, verschlang Kronos es auf der Stelle. Aus seinem Bauch würde niemand entkommen, lachte er selbstzufrieden.

Rhea war über diese Situation genauso unglücklich wie damals die Erde und bat ihre Eltern um Hilfe. Gemeinsam heckten sie einen Plan aus, den Rhea, die Erde und Hekate, die als Hebamme fungierte, ausführen sollten. Die drei zogen sich auf die Insel Kreta zurück, weit entfernt von Kronos’ Thronsaal, und warteten auf die Ankunft des Kindes.

Trotzdem bekam Kronos mit, dass bei Rhea schließlich die Wehen einsetzten. Erwartungsvoll lauschte er auf das Klopfen der Hekate, und als er es hörte, riss er die Tür auf und streckte die Hände aus, damit sie ihm sein jüngstes Kind überreichte.

Doch die Göttinnen hatten sofort nach der Geburt das Kind vertauscht. Hekate übergab Kronos nicht seinen neugeborenen Sohn, sondern einen Stein, der in eine Windel gewickelt war. Kronos verschlang das Bündel, ohne einen Unterschied zu bemerken, rülpste und machte sich wieder daran, seinen anderen Geschwistern Anweisungen zu erteilen.

Das echte Kind blieb auf Kreta, sicher in einer Höhle versteckt. Dort kümmerten sich Nymphen um das Baby, und Amaltheia, eine sanfte Ziege, säugte den Kleinen. Draußen vor der Höhle wachte ein Trupp junger Götter, die Kureten, die jedes Mal, wenn der Kleine weinte, mit ihren Speeren gegen ihre Schilde schlugen, damit Kronos das Kindergeschrei nicht hörte.

In der Zwischenzeit hatte sich die Erde einen neuen Liebhaber genommen: ihren Sohn, den Meeresgott Pontos. Die beiden hatten viele Kinder, darunter auch eine Tochter namens Keto und einen Sohn namens Phorkys. Von der Hüfte aufwärts ähnelten die beiden ihren Halbgeschwistern, den Titanen, doch von der Hüfte abwärts sahen sie aus wie die Fische im Reich ihres Vaters.

In Liebe verbunden, brachten Keto und Phorkys eine seltsame und problematische Kinderschar hervor. Zu ihr gehörten die Graien, die bereits mit grauen Haaren zur Welt kamen und sich untereinander einen Zahn und ein Auge teilten. Die Gorgonen, die Adlerschwingen auf dem Rücken und anstelle von Haaren auf dem Kopf sich windende Schlangen hatten, waren ebenfalls Kinder der beiden Geschwister. Eine weitere Tochter, Echidna, war wie ihre Eltern ein Mischwesen: Von der Hüfte aufwärts eine schöne Göttin, doch abwärts eine furchtbare Schlange, kalt und abstoßend. Sie lauerte in einer Höhle am Rand der Welt und leckte sich beim Gedanken an rohes Fleisch gierig die Lippen.

Echidna teilte das Bett mit einer Reihe von Ehemännern, die genauso furchteinflößend waren wie sie, und gebar zahlreiche Ungeheuer. Eines davon war die Chimära, eine wilde Löwin, aus deren Rücken der Kopf einer feuerspeienden Ziege ragte und deren Schwanz eine giftige Viper war. Ein weiteres Kind war der dreiköpfige Hund Kerberos, der die Tore zur Unterwelt bewachte, wo sein wildes Bellen wie ein bronzener Gong widerhallte.

Auch die Sphinx war ein Kind Echidnas. Sie hatte den Körper eines Löwen und den Kopf einer Frau, hinter deren rosigen Lippen ein Schlund mit nadelspitzen Zähnen lauerte, die später vielen Sterblichen den Tod bringen sollten. Die boshafte Hydra, eine Schlange mit neun Köpfen, und der Nemeische Löwe, der viele Sterbliche und ihre Herden ins Verderben führte, zählten ebenfalls zu Echidnas Nachkommen.

Wenn Kronos’ letztgeborener Sohn überlebte und es schaffte, seinen Vater zu stürzen, würde er einen Kosmos voller Herausforderungen erben. Er, seine Geschwister und ihre Kinder müssten nicht nur die Titanen besiegen, sondern auch die Nachkommen von Keto und Phorkys bezwingen.

3

AUFSTAND DER JUNGEN GÖTTER

In der Höhle auf Kreta wuchs das Baby heran, geschmiegt an Amaltheias seidigen Bauch und genährt von ihrer Milch. Rhea nannte ihren Sohn Zeus.

Zeus war fasziniert von dem strahlenden Licht, das durch die Lücken zwischen den Schilden der Kureten in die Höhle fiel, und lernte schon bald, den Nymphen zu entwischen, wenn er die jungen Götter besuchen wollte. Seine Entwicklung verlief in jeder Hinsicht erstaunlich: Eines Tages bemerkte Kronos ein ungewöhnliches Treiben auf der Insel und eilte dorthin, doch Zeus verwandelte die Nymphen schnell in Bären und sich selbst in eine Schlange. Tatsächlich konnte er seinen Vater erfolgreich hinters Licht führen. Doch obwohl Zeus geistesgegenwärtig reagiert hatte, zeigte der Zwischenfall, dass die Gefahr nicht zu unterschätzen war – je früher er Kronos besiegte, desto besser. Und so begann er nach einer Möglichkeit zu suchen, wie er seinen Vater bezwingen konnte.

Einige jüngere Titanen hatten mehr mit Zeus als mit Kronos gemeinsam. Zu ihnen gehörte auch Zeus’ Cousine Metis, die Tochter des Okeanos und der Meeresgöttin Tethys. Metis war die klügste unter den Göttinnen und Göttern und fand Lösungen für Probleme, die anderen unüberwindbar schienen. Sie schlug Zeus vor, Kronos ein Brechmittel zu verabreichen, damit er Zeus’ Geschwister, die in seinem Bauch gefangen waren, wieder auswürgen müsste. Diese Götter wären dann Zeus’ Verbündete.

Zeus und Metis schlichen sich in Kronos’ Festung auf dem Berg Othrys. Aus einem Versteck beobachtete Zeus, wie Metis Kronos einen Trank servierte, in den sie das Brechmittel gemischt hatte.

Eine Weile passierte gar nichts. Dann hörte Zeus ein gewaltiges Rumoren, das an ein Erdbeben erinnerte. Kronos wurde blass, begann zu schwitzen und zu würgen. Er erbrach den in Windeln gewickelten Stein und anschließend kurz hintereinander Hera, Poseidon, Demeter, Hades und Hestia, genau in der umgekehrten Reihenfolge, in der Rhea sie geboren und Kronos sie verschluckt hatte. Den in Windeln gewickelten Stein nahm Zeus an sich und stellte ihn später im Orakelheiligtum von Delphi auf.

Zwischen den älteren und den jüngeren Göttern brach ein Krieg aus. Während sich die Titanen auf dem Berg Othrys verschanzten, machten die jüngeren Götter den weiter nördlich gelegenen Olymp zu ihrem Stützpunkt. Zehn Jahre lang rangen sie miteinander, bis sie die anstrengenden Kämpfe leid waren. Die Kräfte waren so gleichmäßig verteilt, dass der Sieg für jede Seite unerreichbar schien.

Dann wandte sich die Erde mit einem weiteren Ratschlag an Zeus. Die Kyklopen und die Hundertarmigen, erklärte sie, würden immer noch im Tartaros schmachten, wo der Himmelsgott sie vor langer Zeit eingesperrt hatte. Wenn Zeus sie rettete, würden sie sich als treue Verbündete erweisen, die mit aller Kraft für ihn kämpfen würden.

Und so machte sich Zeus in einen Bereich des Kosmos auf, in den sich noch kein Gott vorgewagt hatte. Dort entdeckte er, dass Tartaros die Gefangenen von seiner schrecklichen Tochter Kampe bewachen ließ. Von der Taille aufwärts sah Kampe wie eine Frau aus, doch ihr Unterleib war der sich windende Körper einer Blindschleiche mit einem spitzen Giftstachel, den sie wie ein Skorpion über ihren Kopf reckte, um jederzeit zuzustechen. Die vielen Arme, die aus ihren Schultern wuchsen, endeten in Klauen, die so scharf waren wie die Sichel, mit der der Himmelsgott entmannt worden war. Durch einen kühnen Stoß mit dem Speer gelang es Zeus, Kampe zu töten – der erste große Sieg seiner Laufbahn. Dann befreite er seine Onkel, die auf die Knie fielen und ihm die Treue schworen.

Die Ankunft der Kyklopen und Hundertarmigen brachte die Wende im Krieg der jungen Götter gegen die Titanen. Die Kyklopen schmiedeten Donnerkeile für Zeus, mit denen er Blitze schleudern konnte, und die Hundertarmigen rissen große Felsblöcke aus dem Boden und ließen sie unablässig auf die Titanen niederhageln. Schon bald waren viele Titanen verwundet oder lagen in Ketten. Der Sieg der Götter schien gewiss.

Doch dann nahm sich die Erde Tartaros zu ihrem neuen Geliebten und empfing bei der Vereinigung mit ihm Typhon, ihr bis dahin grässlichstes Kind. Das Ungeheuer war so groß, dass sein Kopf gegen die Sterne schlug, wenn es über die Ebenen schritt. Aus seinen Augen kamen feurige Spiralen und aus seinem Mund ertönte das Röhren, Bellen, Kreischen, Grunzen, Kläffen und Rufen jedes vorstellbaren Geschöpfs in einer Lautstärke, die die Angeln an den Toren zur Festung der jüngeren Götter zum Beben brachte. Aus seinem Kopf wuchsen strähnige, schmutzige Haare und aus seinen Schultern sprossen alle Arten von sich windenden Giftschlangen sowie unzählige Arme, die alle eine Waffe in der Hand hielten. Auch um seine Hüfte züngelten Schlangen, jede dicker und kräftiger als der Stamm einer Eiche.

Wenn Zeus nicht so mutig gewesen wäre, hätte Typhon die Macht an sich gerissen. Bei seinem Anblick verwandelten sich die anderen Götter hastig in Tiere und flohen nach Ägypten, um sich dort zu verstecken. Zeus aber hielt die Stellung und schleuderte so viele Blitze gegen Typhon, dass die Kyklopen mit dem Schmieden kaum nachkamen. Schließlich fing der Körper des Ungeheuers Feuer. Auch die Erde begann unter Zeus’ Angriff zu brennen. Teile von ihr schmolzen wie Zinn im Schmelztiegel eines Schmieds und rannen in Strömen über ihre Haut. Das Meer bemerkte entsetzt, wie Flammen auf seinen Wellen tanzten. Es gab ein schreckliches Geschrei, so dass sich die Titanen tief im Reich des Tartaros ängstlich an Kronos klammerten.

Schließlich war Typhon besiegt. Zeus schlang Ketten aus Adamant um ihn und schleuderte das Bündel tief in den Tartaros. Im Kampf gegen seine Fesseln durchbrach Typhon die Oberfläche der Erde, wodurch der Berg Ätna entstand. Hin und wieder hört man immer noch sein wütendes Brüllen, wenn er Feuerstöße in die Luft speit und Lavaströme über die Berghänge schickt. Sein Atem bildete tödliche Winde, die Boote auf den Grund des Meeres schleuderten und die Bauwerke der Menschen an Land zerstörten.

4

ZEUS WIRD KÖNIG

Zeus war entschlossen, anders zu herrschen als sein Vater oder sein Großvater. Er hatte gesehen, dass sich eine Tyrannei, die nur auf Zwang gründet, nicht lange halten kann. Mit das Erste, was er nach dem Ende des Krieges tat, war daher, dass er mit seinen Brüdern ausloste, wer über welches der drei Reiche im Kosmos herrschen sollte: den Himmel, das Wasser und die Unterwelt. Die Oberfläche der Erde sollte allen drei Göttern gemeinsam gehören. Die Schicksalsgöttinnen gaben den Himmel und die damit verbundene Herrschaft an Zeus. Poseidon zog das Los für die Meere und Hades das für die Unterwelt.

Auch die Schwestern des Zeus erhielten Zuständigkeitsbereiche und Aufgaben. Demeter war fortan zuständig für das Wachstum des Getreides und Hera wurde zur Hüterin der Ehe, zusammen beschützten sie außerdem die Mütter. Hestia, die geschworen hatte, Jungfrau zu bleiben, hütete den Herd, der den Mittelpunkt jedes Haushalts bildete und am hellsten brannte, wenn sich jemand um das Herdfeuer kümmerte, der das Verlangen noch nicht kennengelernt hatte.

Zeus musste auch entscheiden, wie er mit den Titanen verfahren wollte, die immer noch im Tartaros eingesperrt waren. Diejenigen, die Zeus für unverbesserlich hielt, mussten entweder weiter dort schmachten oder wurden nach oben geschafft, um Arbeiten zu verrichten, die die Götter verachteten. So musste Atlas den Himmel emporstemmen, damit sich der Himmelsgott nicht wieder auf die Erde legen konnte – denn obwohl der Himmelsgott durch Kronos’ Sichel entmannt worden war, verzehrte er sich immer noch nach dem warmen, weichen Körper der Erde und hätte sie sofort wieder mit seinem Gewicht niedergedrückt, wenn man ihn nicht davon abgehalten hätte.

Andere Titanen sollten, wie Zeus bald klar wurde, die Positionen zurückbekommen, die sie vor dem Krieg innegehabt hatten, um die Ordnung im Kosmos wiederherzustellen: Helios und Selene überquerten also wieder jeden Tag beziehungsweise jede Nacht den Himmel, damit die Welt Licht hatte. Wieder andere Titanen erhielten zum Dank für ihre Unterstützung neue Aufgaben und höhere Ehren als zuvor. Rhea unterstützte Demeter und Hera beim Schutz der Mütter. Themis und ihr Sohn Prometheus, die Zeus während des Krieges beraten hatten, standen ihm auch weiterhin mit ihren Ratschlägen zur Seite.

Die Göttin Styx, deren Fluss sich durch die Unterwelt schlängelte, hatte sich aus dem Krieg herausgehalten, doch auf Anraten ihres Vaters Okeanos wandte sie sich nun an Zeus und bot ihm ihre Dienste an. Zeus beschloss, dass die Götter künftig beim Wasser der Styx ihre heiligsten Eide schwören sollten. Wer einen solchen Eid brach, sollte für ein Jahr in einen traumlosen Schlaf fallen und für weitere neun Jahre von den Festen der Götter ausgeschlossen werden.

Hekate wurde die größte Ehre zuteil. Zeus überließ ihr einen Teil der Macht über die Erde, das Wasser und den Himmel. Außerdem bestimmte er, dass Hekate darüber entscheiden sollte, ob die Gebete der Sterblichen erhört wurden. Ohne ihre Hilfe sollte kein Sterblicher göttlichen Beistand erhalten. Ein Fischer konnte zu Poseidon beten oder eine Mutter zu Hera, doch wenn sie nicht auch Hekate anriefen, verhallten ihre Bitten ungehört.

Auch Metis wurde geehrt, schließlich hatte sie den Plan ersonnen und ausgeführt, mit dem Kronos dazu gebracht worden war, Zeus’ Geschwister auszuwürgen. Zeus, der Metis nicht nur wegen ihres Scharfsinns bewunderte, machte sie zu seiner Frau. Schon bald war sie schwanger und Zeus freute sich schon auf die Geburt eines zweifellos bemerkenswerten Kindes.

Doch während der Schwangerschaft beunruhigten die Erdgöttin und der Himmelsgott Zeus mit der Prophezeiung, dass Metis’ erstes Kind so stark wie Zeus und so klug wie Metis sein werde – es werde jedoch eine Tochter und stelle deshalb keine Gefahr für Zeus’ Herrschaft dar. Metis’ zweites Kind hingegen werde ein Sohn – gewalttätig im Herzen und dazu bestimmt, seinen Vater zu stürzen.

Zeus war zutiefst beunruhigt. Er kannte sich gut genug, um zu wissen, dass er wieder mit Metis schlafen würde, sobald sie sich von der Geburt des ersten Kindes erholt hatte, und er wusste auch, dass der Liebesakt zwischen Göttern selten folgenlos blieb. Der prophezeite gefährliche Sohn würde schon bald gezeugt werden. Widerstrebend kam er zu dem Schluss, dass er Metis sofort und unwiderruflich loswerden musste. Er überlegte, wie er ihre Stärken zu seinem Vorteil nutzen könnte, und heckte einen Plan aus.

Alle Götter besaßen die Fähigkeit, sich in Tiere, Pflanzen und alle möglichen anderen Dinge zu verwandeln, doch Metis hatte ein besonderes Talent zur Metamorphose, auf das sie sehr stolz war. Daher begann Zeus eines Tages, sie zu reizen, und behauptete, er könne sich etwas ausdenken, in das nicht einmal sie sich verwandeln könnte. Trotz ihrer Klugheit ließ sich Metis von Zeus herausfordern.

Zuerst verlangte Zeus, dass sie sich in eine Löwin verwandelte, was für sie ein Leichtes war. Dann wollte er einen riesigen Tintenfisch, der auf dem staubigen Boden mit den Fangarmen ruderte und nach Luft schnappte. Anschließend sollte sie sich in eine Wiese mit weiß blühenden Narzissen verwandeln. Danach in ein brennendes Feuer, aus dem die Funken stoben.

Nun seufzte Zeus. «Ach, meine liebe Metis! Mir wird klar, dass ich bisher nur von dir verlangt habe, dich in große Dinge zu verwandeln. Aber natürlich ist es viel schwieriger, sich in etwas Kleines, Zartes, Winziges zu verwandeln.» Der Stolz veranlasste Metis, ihn aufzufordern, ihr ein solches Ding zu nennen. «Ein Schmetterling», antwortete er.

Metis schloss die Augen, legte die Stirn in Falten und – war verschwunden. Stattdessen saß auf Zeus’ Hand ein wunderschöner Schmetterling mit violetten Tupfen auf den Flügeln. Zeus hob die Hand zum Mund. Metis erwartete einen zärtlichen Kuss. Doch bevor sie wusste, wie ihr geschah, schoss Zeus’ Zunge wie bei einem Frosch vor und zog sie in seinen Mund. Sie taumelte die Speiseröhre hinunter und landete in seinem Magen in dem Nektar, den er am Morgen getrunken hatte.

Metis spürte, wie der Bauch ihres Ehemanns vor Lachen bebte. Sie drehte und wand sich, doch alles war so beengt, dass sie sich nicht in etwas Großes verwandeln konnte, um wieder freizukommen. Sie saß in der Falle, genau wie einst Zeus’ Geschwister in Kronos’ Bauch. Damals hatte sie ihnen geholfen zu entkommen, nun gab es niemanden, der ihr helfen konnte.

Zeus nahm Themis zur Frau. Irgendwann ließ er Themis fallen und machte seine Schwester Hera zu seiner dritten und endgültigen Gemahlin. Das bedeutete jedoch nicht, dass Zeus keine Affären mehr hatte.

5

PERSEPHONE

Zwischen seiner zweiten und dritten Frau machte Zeus seiner Schwester Demeter den Hof, deren blonde Haare sich wellten, wie wenn der Wind durch ein Weizenfeld streicht. Die Geschwister verwandelten sich in Schlangen, wanden sich unter der Erde umeinander und liebten sich zwischen den Samen, die auf ihre Wiedergeburt warteten. Neun Monate später brachte Demeter ihre Tochter Persephone zur Welt.

Persephone wurde von Demeter geliebt, wie man nur sein einziges Kind lieben kann. Mutter und Tochter waren fast unzertrennlich, und wenn sie einmal nicht zusammen waren, genügte ein Ruf, damit die eine an die Seite der anderen eilte, so weit der Weg auch sein mochte.

Manche Dinge machte Persephone aber lieber mit ihren Freundinnen. Dazu gehörte auch das Blumenpflücken, das als geeignete Betätigung für junge Mädchen galt. Blumen wurden als Zutat beim Kochen und als Heilkräuter verwendet. Jeder Haushalt legte in der Saison einen Vorrat an, trocknete sie und bewahrte sie auf. Ehefrauen hatten viele Pflichten, die sie davon abhielten, über die blühenden Wiesen zu streifen, die Aufgaben der Töchter waren hingegen weniger wichtig und ließen sich verschieben. Darüber hinaus wurden Töchter zum Blumenpflücken und Kräutersammeln geschickt, damit sie die Sonne und die Freiheit genießen konnten, bevor sie das Joch der Mutterschaft schultern mussten. Von jedem Mädchen wurde erwartet, dass es heiratete und Kinder bekam. Die Verantwortung, die mit Ehe und Mutterschaft einherging, bedeutete auch, dass eine Frau den Großteil ihres Erwachsenenlebens im Haus verbrachte, an ihr Heim gefesselt durch ihren schwangeren Bauch, hungrige Kleinkinder und den Webstuhl. Ein Mädchen, dem vor der Heirat gewisse Freiheiten zugestanden wurden, würde eine pflichtbewusstere Hausfrau, Gemahlin und Mutter abgeben – zumindest sagte einem das der gesunde Menschenverstand.

Obwohl Götter natürlich nie geheilt werden mussten und Arbeiten auch nur dann verrichteten, wenn sie Lust dazu hatten, sahen auch sie einen Vorteil darin, ihre jungen Töchter hinaus auf die Wiesen zu schicken. Die Wiese, die den jungen Göttinnen am besten gefiel, lag im Schatten des Olymp. Dort wuchsen Blumen aller Jahreszeiten in Hülle und Fülle – Krokusse, Iris, Veilchen, Hyazinthen, Rosen und Lilien.

Eines Tages ließ die Erde eine neue Blume wachsen, die größer und schöner war als alle anderen: eine hinreißende Narzisse mit Hunderten Blüten, die aus einer einzigen Zwiebel sprossen. Ihr Duft war so betörend, dass die ganze Wiese entzückt lächelte.

Auf der Suche nach dem Ursprung des wundervollen Dufts entfernte sich Persephone von ihren Freundinnen. Doch als sie die Hand ausstreckte, um die herrliche Narzisse zu berühren, tat sich vor ihren Augen die Erde auf und vier Pferde, schwarz wie Obsidian, sprangen aus der Spalte. Sie zogen einen goldenen Streitwagen, gelenkt von Hades, dem Gott der Unterwelt.

Mit einem bleichen, aber starken Arm packte Hades Persephone und zerrte sie in seinen Wagen. Seine gewaltigen Finger gruben sich in das weiche Fleisch ihrer Oberschenkel und ihres Unterleibs und hinterließen schwarzblaue Male, die sie noch Wochen später jedes Mal beim Ausziehen sah. Und auch Hades sollte sie sehen.

Bevor der Wagen wieder in die Unterwelt hinabfuhr, rief Persephone ihren Vater um Hilfe, wie es wohl jede Tochter getan hätte. Zeus jedoch hatte sich innerlich gewappnet und sich vorgenommen, die Hilferufe zu ignorieren, mit denen sich, wie er voraussah, seine Tochter an jenem Tag an ihn wenden würde. Bereits am frühen Morgen hatte er sich in einen seiner Tempel zurückgezogen und sich voll und ganz auf die Gebete seiner Anhänger konzentriert.

Demeter hörte die Hilfeschreie ihrer Tochter, doch sie hallten von den Bergen wider und schienen aus allen Richtungen gleichzeitig zu kommen. Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihr Herz – wo war Persephone? Warum schrie sie um Hilfe?

Eingehüllt in einen dunklen Umhang und mit einer Fackel in jeder Hand wanderte Demeter neun Tage lang auf der Suche nach ihrer Tochter über die Erde, ohne sich eine Pause zu gönnen, ohne etwas zu essen oder zu baden. Sie fragte Götter, sie fragte Sterbliche, sie fragte Vögel nach Persephone, doch niemand konnte ihr Auskunft geben.

Am zehnten Tag traf Demeter auf Hekate, die in einer Höhle in der Nähe gewesen war, als Persephone die Narzisse gefunden hatte. Nach dem, was sie gehört hatte, fürchtete Hekate, dass Persephone entführt worden sei, wusste aber nicht, von wem. Hekate schlug vor, Helios zu fragen, der das Ganze sicher von seinem Feuerwagen aus auf seinem Weg über den Himmel beobachtet hatte. Und so flogen Demeter und Hekate hinauf in den Himmel und tauchten urplötzlich vor Helios’ Wagen auf. Seine Pferde blieben abrupt stehen und schnaubten überrascht angesichts des Hindernisses, das sich ihnen in den Weg gestellt hatte.

Helios hörte aufmerksam zu und kam Persephones Bitte um Hilfe gern nach, doch seine Antwort stürzte sie in noch tiefere Verzweiflung. Ja, Persephone sei entführt worden und der Entführer sei niemand anderes als Demeters Bruder Hades. Doch man spreche in dem Fall nicht von einer Entführung, wie Helios weiter erklärte. Zeus und Hades stellten die Verbindung als gültige Ehe dar: Sie hatten sich schon vor einiger Zeit über den Brautpreis und alle anderen Einzelheiten geeinigt. Mehr noch, sie hatten die Erde überredet, ihnen zu helfen, woraufhin sie listig die Narzisse wachsen ließ, die Persephone von ihren Freundinnen weggelockt hatte.

Selbst wenn man die Bräuche streng auslegte, spielte es keine Rolle, dass weder die Braut noch ihre Mutter der Verbindung zugestimmt hatte. Demeter konnte weinen und wüten, so viel sie wollte, Persephone war ihr genommen worden. Ihr Vater hatte sie seinem Bruder zur Frau gegeben.

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DEMETERS WANDERUNGEN

Ohne Persephone sah Demeter in ihrem Tun keinen Sinn mehr. Mechanisch ging sie ihren Pflichten nach und segnete die Felder im Laufe der Monate, damit Menschen und Tiere Nahrung fanden. Dem Tisch der Götter blieb sie fern – sie verübelte einigen Göttern ihr Verhalten und fühlte sich gedemütigt. Stattdessen reiste sie durch die Welt der Sterblichen, mit ihrem staubigen schwarzen Umhang als alte, nicht mehr gebärfähige Frau verkleidet.

Nicht immer wurde sie freundlich behandelt. Als Demeter durch ein Dorf in der Umgebung von Athen kam, gab eine Frau der durstigen Wandernden zu trinken. Als Demeter den Becher in einem Zug leerte, lachte der Sohn der Frau höhnisch und fragte, ob er gleich noch einen Eimer holen solle. Erbost schüttelte Demeter die Tropfen, die im Becher verblieben waren, über den Kopf des jungen Mannes, woraufhin er sich in einen Gecko verwandelte.

Ihr Bruder Poseidon tat noch etwas viel Schlimmeres. Die Göttin stach ihm bei ihrer Wanderung durch Arkadien ins Auge. Verlangen überkam ihn, als sich eine Locke ihres schönen Haares löste und unter ihrer dunklen Haube hervorlugte. Poseidon verfolgte Demeter, woraufhin sich Demeter in eine Stute verwandelte und in einer Herde Pferde versteckte, die in der Nähe grasten. Doch Poseidon ließ sich nicht täuschen, verwandelte sich in einen Hengst und vergewaltigte seine eigene Schwester. Später gebar sie das Wunderpferd Areion, das mehreren Helden als Reittier diente. Auf ein solches Fohlen wäre jede Mutter stolz gewesen, doch wegen der Brutalität bei seiner Zeugung war Demeter noch verzweifelter als zuvor.

Auf ihrem Rückweg Richtung Athen ruhte sich Demeter am Dorfbrunnen der Stadt Eleusis aus. Vier Mädchen kamen an den Brunnen, um ihre Krüge zu füllen. Als sie dort eine alte Frau allein sitzen sahen, fragten sie, wer sie sei und ob sie ihr helfen könnten.