Von Jenseits des Meeres - Theodor Storm - E-Book

Von Jenseits des Meeres E-Book

Theodor Storm

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Beschreibung

Von Jenseits des Meeres ist eine Erzählung von Theodor Storm. Auszug: Das Zimmer im Hotel war durch die gepackten Koffer nicht behaglicher geworden. Mein Vetter, ein junger Architekt, der es seit zwei Tagen bewohnt hatte, ging schweigend und seine Zigarre rauchend auf und ab, wie jemand, der ungeduldig ist, eine leere Zeit hinzubringen. Es war eine milde Septembernacht, die Sterne schienen durch das offene Fenster; drunten auf der Gasse war der Lärm und das Wagengerassel der großen Stadt schon verstummt, so daß man drüben vom Hafen her das Plustern der Nachtluft in den Wimpeln und Tauen der Schiffe vernehmen konnte.

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Von Jenseits des Meeres

Von Jenseits des MeeresAnmerkungenImpressum

Von Jenseits des Meeres

Das Zimmer im Hotel war durch die gepackten Koffer nicht behaglicher geworden. Mein Vetter, ein junger Architekt, der es seit zwei Tagen bewohnt hatte, ging schweigend und seine Zigarre rauchend auf und ab, wie jemand, der ungeduldig ist, eine leere Zeit hinzubringen. – Es war eine milde Septembernacht, die Sterne schienen durch das offene Fenster; drunten auf der Gasse war der Lärm und das Wagengerassel der großen Stadt schon verstummt, so daß man drüben vom Hafen her das Plustern der Nachtluft in den Wimpeln und Tauen der Schiffe vernehmen konnte.

»Wann mußt du fort, Alfred?« fragte ich.

»Um drei Uhr geht das Boot ab, das mich an Bord bringen soll.«

»Willst du nicht noch ein paar Stunden ruhen?«

Er schüttelte den Kopf.

»So laß mich bei dir bleiben. Meinen Schlaf hole ich morgen im Wagen auf der Heimfahrt nach. Und wenn du willst, erzähle mir – von ihr! Ich kenne sie ja nicht; und laß mich wissen, wie alles so gekommen ist.«

Alfred schloß das Fenster und schraubte die Lampe höher, so daß es völlig hell im Zimmer wurde. »Setz dich und habe Geduld,« sagte er, »so sollst du alles wissen.«

»Schon als zwölfjähriger Knabe«, begann er dann, als wir uns jetzt gegenüber saßen, »habe ich mit ihr in meinem elterlichen Hause zusammen gelebt, sie mochte einige Jahre weniger zählen als ich. Ihr Vater lebte derzeit noch auf einer der kleinen Inseln Westindiens, wo er durch Glück und Geschick in verhältnismäßig kurzer Zeit aus einem mittellosen Kaufmann zu einem reichen Plantagenbesitzer geworden war. Seine Tochter hatte er schon vor einigen Jahren nach Deutschland geschickt, um sie in der Sitte seiner Heimat erziehen zu lassen; aber die Anstalt, in der sie sich bisher befunden, war durch den Tod der Vorsteherin aufgelöst, und bis eine neue gefunden wurde, sollte sie unter Obhut meiner Eltern bleiben. Lange schon, ehe ich sie selber sah, war meine Phantasie von ihr beschäftigt worden, besonders aber als meine Mutter nun wirklich ein Kämmerchen neben dem Schlafzimmer der Eltern für sie in Bereitschaft setzte. Denn es war ein Geheimnis um das Mädchen. Nicht nur, daß sie aus einem andern Weltteil kam und daß sie die Tochter eines Pflanzers war, die ich aus meinen Bilderbüchern nur als fabelhaft reiche und höchst grausame Herren hatte kennen lernen – ich wußte auch, daß ihre Mutter nicht die Frau ihres Vaters sei. Näheres von dieser hatte ich nicht erfahren können; und ich dachte sie mir daher am liebsten als eine schöne ebenholzschwarze Negerin mit Perlenschnüren in den Haaren und blanken Metallringen um die Arme.

Endlich, an einem Februarabend, hielt der Wagen vor unserer Haustreppe. Ein kleiner alter Herr mit weißen Haaren stieg zuerst herab; es war der Kommis eines ihrem Vater befreundeten Handlungshauses, der sie ihren neuen Beschützern überliefern sollte. Bald darauf hob er ein kleines, in viele Tücher und Mäntel gehülltes Mädchen vom Wagen, das er dann mit einer gewissen Feierlichkeit in unsere Wohnung führte und mit einer kleinen wohlgesetzten Rede der Fürsorge des Herrn Senators und Frau Gemahlin empfahl. – Aber wie verwunderte ich mich, als sie den Schleier zurückschlug; sie war nicht schwarz, nicht einmal braun; sie schien mir weißer als irgend ein anderes Mädchen aus meiner Bekanntschaft. Ich sehe sie noch, wie sie mit den großen Augen um sich blickte, während sie sich von meiner Mutter das pelzverbrämte Reisemäntelchen von den Schultern ziehen ließ. Als auch Hut und Handschuhe abgenommen waren, und das ganze zierliche Figürchen nun endlich aus allem Reiseplunder herausgeschält dastand, streckte sie meiner Mutter die Hand entgegen und sagte etwas zaghaft: »Bist du denn meine Tante?« Als diese ihr aber die kohlschwarzen Löckchen von der Stirn strich, sie in die Arme schloß und küßte, da sah ich mit Erstaunen, wie leidenschaftlich das Kind diese Liebkosungen erwiderte. Bald zog meine Mutter auch mich zu sich heran. »Und das ist mein Junge!« sagte sie. »Sieh ihn dir an, Jenni; er hat ein gut Gesicht; nur zu wild ist er; und da paßt es sich, daß er jetzt ein Mädchen zur Gespielin bekommt.«

Jenni sah sich um und gab mir die Hand; aber dabei schoß ein Blick von solcher Schelmerei zu mir herüber, als wollte sie sagen: »Wir verstehen uns; guten Tag, Kamerad!«

Und so zeigte es sich schon in den nächsten Tagen; diesem leichten, feingliederigen Kinde war kein Baum zu hoch, kein Sprung zu verwegen. Sie war fast immer mit bei unsern Knabenspielen, und ohne daß wir es wußten, regierte sie uns alle; durch ihre Kühnheit wohl weniger als durch ihre Schönheit. Mitunter konnte sie uns zu einem wahrhaft wilden Taumel hinreißen, so daß mein Vater von dem Lärm aus seiner Schreibstube aufgeschreckt wurde und dann durch ein unerbittliches Machtwort aller Lust ein Ende machte. Mit diesem, während der Verkehr mit meiner Mutter immer inniger wurde, kam sie nie in ein zutrauliches Verhältnis; er verstand es nicht, mit Kindern umzugehen; dieses eigenartige Wesen schien er mit bedenklichen Blicken zu betrachten. Ebenso wenig gelang es ihr mit Tante Josephine, dieser ehrenwerten, aber etwas strengen alten Jungfrau, die sich auf eine recht fatale Weise um das Fertigwerden unserer Schulaufgaben bekümmerte. Und hier, wo Jenni nicht von allzu großem Respekt in Bann gehalten wurde, gab es bald einen kleinen fortgesetzten Guerillakrieg; und die würdige Tante konnte mitunter keine zehn Schritte gehen, ohne zu ihrem Schreck auf irgend einen lustigen Schabernack zu treten.

Aber es waren nicht bloß Tollheiten, die sie trieb; wir beide konnten auch zusammen plaudern. Sie wußte allerlei Märchen und Geschichten, die sie mit glänzenden Augen und lebhaftem Fingerspiel erzählte; meist wohl aus der Pension, die eine oder andere, wie ich jetzt glaube, auch noch aus ihrer alten Heimat. Und so konnte man uns denn oft abends in der Dämmerung auf der Bodentreppe oder in dem großen Reiseschrank zusammensitzen finden; je heimlicher wir unsern Märchensaal aufgeschlagen hatten, desto lebendiger traten alle die wunderlichen und süßen Gestalten, die verzauberten Ungeheuer, Schneewittchen und die Frau Holle vor unsere Phantasie. Unsere Vorliebe für verborgene Erzählungsplätzchen trieb uns zur Entdeckung immer neuer Schlupfwinkel; ja, ich entsinne mich, daß wir zuletzt eine große leere Tonne dazu ausersehen hatten, die in dem Packhause unweit von meines Vaters Stube stand. In diesem Allerheiligsten kauerten wir abends, wenn ich aus den Privatstunden gekommen war, so gut es ging, zusammen; meine kleine Laterne, die zuvor mit einigen Lichtendchen versehen war, nahmen wir auf den Schoß und schoben dann ein großes auf der Tonne liegendes Brett von innen wieder über die Öffnung, so daß wir wie in einem verschlossenen Stübchen beisammen saßen. Wenn nun die Leute, die abends zu meinem Vater gingen, das Gemurmel aus der Tonne aufsteigen hörten, auch wohl einige Lichtstrahlen daraus hervorschimmern sahen, so konnte unser alter Schreiber, der sein Zimmer gegenüber hatte, kaum den immer neuen Fragen nach dieser verwunderlichen Erscheinung gerecht werden. Waren dann unsere Lichtendchen ausgebrannt oder hörten wir von der Hoftür aus die Magd nach uns rufen, so kletterten wir heimlich wie die Marder aus unserer Tonne, um noch, bevor mein Vater sein Zimmer verließ, in unsere Schlafkammern zu schlüpfen.

Nur von ihren Eltern, besonders über ihre Mutter, sprachen wir niemals mit einander, außer einmal an einem Sonntagmorgen. – Ich spielte mit meinen Kameraden »Räuber und Soldat«. Seitwärts von unserm Hofe und hinter dem Garten lag, noch vom Großvater her, eine ganze Reihe jetzt leer stehender Fabrikgebäude, voll dunkler Keller und Kämmerchen und über einander getürmter Dachböden. Die übrigen Räuber waren schon alle in diesen Labyrinthen verschlüpft; nur ich, der ich selbstverständlich auch zu ihnen gehörte, stand noch unschlüssig im Garten. Ich dachte an Jenni, die sonst stets dabei war und im Klettern über Dächer und im Herabspringen durch Falltüren hinter dem wildesten Räuber nicht zurückstand. Heute aber hatte Tante Josephine sie an einen Schulaufsatz gepreßt; ich wußte, sie saß dort in der Hinterstube, deren Fenster auf den Garten ging. Und während ich vom Hofe her unter der Fahrpforte den Anführer der Soldaten seine Truppen harangieren hörte, schlich ich mich vorsichtig längs der Gartenmauer an das Haus heran und blickte, von einem Jasminbusch verborgen, in das Zimmer.