Von Jerusalem nach Marrakesch - Ludwig Witzani - E-Book

Von Jerusalem nach Marrakesch E-Book

Ludwig Witzani

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Ein Sandsturm auf dem Satansplateau, eine Taxifahrt durch die libysche Wüste nach Abu Simbel, ein Sonnenaufgang in der Klause von Pater Foucault im Hoggargebirge, ein Spaziergang durch das Gerberviertel von Fes und ein Zimmer in der arabischen Vorstadt von Jerusalem – das sind nur einige der abenteuerlichen Schauplätze des vorliegenden Buches. Auf insgesamt acht Reisen ist der Autor durch das Heiligen Land und Nordafrika gereist, getrieben von der Neugierde und belohnt durch Abenteuer und Gastfreundschaft in einer sich rasant wandelnden Region. Ein Buch für die Freunde des Fernwehs und Geschichte und für die Anhänger der selbstorganisierten Erkundung der Welt - zugleich eine Standortbestimmung des Nahen Ostens in den Zeiten des Arabischen Frühlings

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 370

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ludwig Witzani

Von Jerusalem nach Marrakesch

Reisen durch das heilige Land und Nordafrika

Impressum

Von Jerusalem nach Marrakesch

Ludwig Witzani

published by: epubli GmbH, Berlinwww.epubli.de

Copyright: © 2018 Von Jerusalem nach Marrakesch Lektorat: Tina Wolf Konvertierung: Sabine Abels | www.e-book-erstellung.de

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Zuviel Religion auf zu engem Raum - ISRAEL

Keine Chance, den Rucksack abzustellen

Akko – Zefad – Tiberias - Nazareth

„Buy one Jesus and get one Paulus for free“

Tage in Jerusalem

Hass am Grab des Patriarchen

In Bethlehem und Hebron

Die Reise zum Mosesberg

Durch den Süden Israels zum Sinai

Der absolute Orient - MAROKKO

Kapuzenmänner unterwegs

Kulturschock zwischen Tanger und Essaouira

Bienenhonig gegen Liebeskummer

Agadir und der Anti Atlas

In der vierten Generation ist Schluss

Kleiner Exkurs zur marokkanischen Geschichte

In der roten Stadt

Auf dem Weg nach Marrakesch

Die Straße der Kasbahs

Draa – Dades – Tafilalet

Stress in der heiligen Stadt

Fes und der Norden Marokkos

Reise zu den Rändern des Nichts - ALGERIEN

Die Wüste ruft

Über das Mittelmeer und die Kabylei in die Sahara

Ein Fleckchen Leben vor einer Mauer aus Sand

Auf der Straße der Palmen rund um den Grand Erg Occidental

Das steinerne Herz Afrikas

Im Hoggargebirge

Sandsturm auf dem Satansplateau

Mit drei Zylindern durch das Weichsandfeld

Die steigende Flut

Von El Golea nach Constantine

Nachtrag:

Der algerische Bürgerkrieg

Zwischen Wüste und Meer - TUNESIEN

Minze Tee über der Medina

In der Casa Chaabane am Golf von Tunis

Die Berber in der Tiefparterre

Von Tunis nach Djerba

Der Einfall der Banu Hillal

Kleiner Versuch über Völkerwanderungen

Nicht willkommen in der heiligen Stadt

Am Rande der Wüste und in Kaiouran

Die Schichten der Erinnerung

Rückblick auf die tunesische Reise

Tagebuch einer nicht unternommenen Reise - LIBYEN

Ein Konzentrat der Weltgeschichte - ÄGYPTEN

Stadt im Schatten der Jahrtausende

Ankunft in Kairo

Der verschwundene Kalif

Ein Spaziergang durch Kairos Moscheen

In Ägypten kommt die Höflichkeit vor der Wahrheit

Unterwegs im Nildelta rund um Kairo

Der große Pharao in der nubischen Wüste

Reisen durch Oberägypten

Arabischer Frühling – und was nun?

Ein Nachwort

Anhang

Literaturhinweise

Über den Autor

Einleitung

Nichts geschieht jenseits des Mittelmeeres, was Europa nichts angeht. Das war schon immer so gewesen, am Beginn geschichtlicher Zeiten ebenso wie heute. Einer der beiden Paukenschläge, mit denen die Menschheit vor fünftausend Jahren die Bühne der Geschichte betrat, ertönte in Ägypten. Christentum und Judentum, teilweise selbst der Islam, besitzen ihre Ursprünge in Palästina. Und doch hat sich – wenn man den Sonderfall Israel einmal außen vor lässt – am südlichen Ufer des Mittelmeeres ein Zivilisation entwickelt, die in allen ihren wesentlichen Zügen der europäischen diametral entgegengesetzt ist: in der unbedingten Ernsthaftigkeit der Religion, im Verhältnis der Geschlechter, in der Wertschätzung der Familie, im Ausmaß demokratischer Prozeduren und selbst in der Kunst. Nie war dieser Gegensatz so deutlich wie heute, wo sich der Islam nach einer erstaunlichen Revitalisierung einem religiös erschöpften Europa gegenübersieht. So verbinden und trennen Europa mit dem nordafrikanischen Orient starke Bande der Gemeinsamkeit und der Unterschiedlichkeit zugleich - in jedem Land mit einem anderen Akzent und bis aufs Äußerste zugespitzt in Israel, dem kleinen Land, in dem drei große Weltreligionen aufeinanderprallen.

Diese Vielfalt kann mit Büchern alleine nicht begriffen werden. Man muss sie sehen, man muss ihre Geräusche hören, ihre Gerüche riechen und ihre Menschen kennenlernen, und auch dann geht die Gleichung nie ganz auf. Vieles bleibt, was nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen ist.

Von einem gemeinsamen Nenner sind auch die Reisebilder dieses Buches weit entfernt, aber es soll trotzdem versucht werden, ein wenig von der Vielfältigkeit dieses Weltteiles lebendig werden zu lassen. Nicht objektiv, was unmöglich wäre, sondern gebrochen durch die Perspektive eines Reisenden, der sich auf eigene Faust aufmacht, diesen Teil der Welt zu begreifen. Dass dieses Begreifen und die daraus erwachsenden Urteile durch und durch subjektiv sind, braucht nicht eigens betont zu werden.

Grundlage dieses Buches sind insgesamt acht Reisen, die ich im Laufe der Jahre zwischen Jerusalem und Marrakesch unternommen habe. So oft es möglich war, habe ich versucht, die Unmittelbarkeit der Reiseerfahrung vor Ort, die sich in meinen Reisetagebüchern niederschlu,g in den Text zu überführen. Das bringt es mit sich, dass einige der Urteile, die in diesem Buch gefällt werden, direkter daherkommen als in früheren Büchern. Vielleicht aber hat das auch damit zu tun, dass einem manchmal das als besonders fremd erscheint, was einem in Wahrheit sehr ähnlich ist.

Zuviel Religionauf zu engem Raum

ISRAEL

Keine Chance,den Rucksack abzustellen

Akko – Zefad – Tiberias - Nazareth

Gegen keine Fluggesellschaft der Welt wurden bisher mehr Anschlagspläne entwickelt als gegen die israelische Staatslinie El Al. Unzählige Attentate wurden geplant und doch gilt die El Al als die sicherste Fluggesellschaft der Welt.

Wie war das möglich? Ich sollte es bald erfahren.

Es fing damit an, dass jeder Passagier sein Gepäck auf einen Tisch legen, auspacken und seinen Inhalt dem Sicherheitspersonal erläutern musste. Da sich in meinem Pass Einreisestempel aus Marokko, Algerien und Tunesien befanden, wurde ich aus der Warteschlange herausgewunken und in einen separaten Raum geführt, in dem sich zwei Angestellte ausführlich über meine maghrebinischen Reisen informieren ließen. Wieviel Tage waren Sie in Marrakesch? In welchem Reisebüro haben Sie ihr Fährticket nach Tunis gekauft? Wo genau haben Sie sich in der Zentralsahara aufgehalten? Die Antwort auf diese Fragen musste ich auf einen Zettel schreiben und abgeben, ehe ich an ein zweites Befragungsteam weitergereicht wurde, dem ich erklären musste, warum ich so oft nach Nordafrika gereist sei. Ob die Sicherheitskräfte mit meinen Antworten zufrieden waren, wusste ich nicht, denn nun wurde ich einem dritten Befragungsteam übergeben, vor denen ich alle meine Zeit- und Ortsangaben aus dem ersten Gespräch noch einmal wiederholen musste. Hätte ich gelogen oder mir die maghrebinischen Reiserouten nur ausgedacht, wäre ich todsicher aufgefallen. So aber hielt ich mich eisern an die Wahrheit und erhielt nach neunzig Minuten individueller Überprüfung endlich meinen Boardingpass. Ich wusste allerdings, dass damit die Sicherheitsvorkehrungen der El Al noch nicht ausgeschöpft waren. Sollte es einem Terroristen trotz aller Kontrollen gelingen, eine Waffe an Bord zu schmuggeln, würde er sich mit mindestens zwei Sky Marshalls auseinanderzusetzen haben, die äußerlich als normale Passagere getarnt bei allen Elf Al Flügen dabei waren. Sie würden im Ernstfall eingreifen. Und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.

So aufwändig das Einchecken auch gewesen sein mochte, der vierstündige Flug von Düsseldorf nach Tel Aviv war unspektakulär. Kein Terroranschlag, keine Turbulenzen, aber auch kein Unterhaltungsprogramm. Wer nach Israel fuhr, würde schon Abwechslung genug erleben. Immerhin wünschte uns der Kapitän auf Englisch, Deutsch und Hebräisch ein frohes Fest, denn wir schrieben den 24. Dezember, und es war Weihnachten.

Da niemand auf dem Flughafen von Tel Aviv landete, der nicht bereits vorher genau geprüft worden war, gingen die Einreiseformalitäten schnell über die Bühne. Um 17.00 Uhr verließ ich den Flughafen und war in Israel. Es regnete, war dunkel und schweinekalt. Mit dem Flughafenshuttle fuhr ich zuerst zum Busbahnhof von Tel Aviv, dann zur gut einhundert Kilometer entfernten nordisraelischen Hafenstadt Akko. Regen und Wind klatschten gegen die Scheiben des Busses, und das Wetter wurde immer schlechter. In Akko nahm ich ein Taxi, das mich zur Jugendherberge brachte, einem uralten Bau direkt in der Umfassungsmauer des alten Hafens. Ich war der einzige Gast und konnte mir mein Bett in einem Vierzig-Betten-Schlafsaal nach Belieben aussuchen. Eine Nachtlampe gab es nicht. Das Abendprogramm bestand aus dem Heulen des Windes und dem Klatschen der Wellen gegen die Ufermauern. Ich war so einsam, dass es fast schon wieder ein Erlebnis war.

Da ich nicht einschlafen konnte, kramte ich meine Stirnlampe aus dem Rucksack und las ein wenig in meinen Reiseführern. Dort wurde Akko als eine der ältesten Städte der Welt dargestellt, als ein Schmerztiegel der Völker, in der sich die antiken Reiche gleichsam die Klinke in die Hand gaben. Ägypter, Phönizier, Syrer und Hethiter, die Israeliten, Assyrer, Perser, Griechen, Römer und Byzantiner hatten nacheinander die Stadt kontrolliert. An die Araber fiel Akko schon im Jahre 636, gerade mal vier Jahre nach dem Tod des Propheten, und ganz gleich, welche Herren später noch kommen sollten - mohammedanisch ist Akko seit dieser Zeit geblieben. In Akko wurden die Schiffe gebaut, mit denen die Araber im achten Jahrhundert Konstantinopel belagerten, Kreta eroberten und die Seeherrschaft im östlichen Mittelmeer errangen. Akko wuchs und wurde reich, Stadtmauern entstanden und schützen die großen Karawansereien der Stadt. Auch die Epoche der Kreuzzüge vermochte an der moslemischen Prägung der Stadt nichts mehr zu ändern. Akko wurde erobert, ging wieder verloren und wurde neu erobert, doch am Ende fiel die Geschichte wie ein Fallbeil über die Kreuzfahrer nieder – und zwar nirgendwo anders als eben in Akko, das im Jahre 1291 als die letzte Kreuzfahrerfestung der Levante an die Moslems zurückfiel. Zigtausende Christen wurden von den siegreichen ägyptischen Mamluken erschlagen, und wer konnte, floh nach Zypern.

Als ich am nächsten Morgen durch Akko spazierte, war der Himmel aufgerissen. Die Regenwolken hatten sich verzogen und die Sonne brachte einen Hauch von Frühling in die Stadt. Auch nach der Gründung des Staates Israel war die Bevölkerungsmehrheit Akkos arabisch geblieben. Es handelt sich die Nachkommen jener Araber, die im ersten Nahostkrieg vor den anrückenden arabischen Armeen nicht aus Israel geflohen, sondern im Land geblieben waren und denen der jüdische Staat deswegen die israelische Staatsbürgerschaft verliehen hatte. Doch auch wenn diese „israelischen Araber“ durch eigene Abgeordnete in der Knesset vertreten waren, betrachteten die meisten von ihnen den Staat Israel als Besatzungsregime. Auf der anderen Seite erkannten viele Juden in ihnen nichts weiter als die fünfte Kolonne der arabischen Todfeinde im eigenen Land. Mehrere Terroranschläge die aus den Reihen der israelischen Araber in den letzten Jahren unternommen worden waren, bestärkten sie in dieser Auffassung. Erst vor kurzem hatte ein israelischer Araber in der Straßenbahn von Jerusalem eine junge britische Frau niedergestochen. Einfach so. Aus dem ewigen Hass heraus, der jedem nahöstlichen Unrecht einen schrecklichen Ewigkeitsstatus verleiht.

Von diesem Hass war bei meinem Rundgang durch Akko nichts zu bemerken. Die Händler und Besucher in den Souks scherzten mit den Touristen, freundlich wurde mir ein Tschai serviert, und als ich Orangen kaufte, erhielt ich als Dreingabe eine Handvoll Datteln geschenkt. Es roch nach Pfeffer, Muskat und Ingwer, und unablässig dampfte der Tee aus den kleinen türkischen Gläsern. Wohin ich auch blickte, das Leben, das mich umgab, war merkwürdig intensiv, die Gesten und Reden waren raumgreifend und laut, und ich hatte das Gefühl, dass der Orientale alles was er tat – Lachen, Schimpfen, Verhandeln oder Teetrinken – immer mit der ganzen Person tat. Dass viele Moslems auch im Kampf und im Hass ganz bei sich selbst waren, gab dem Nahostkonflikt seine bitterste Note.

Manche Feinheiten des Orients begreift man übrigens erst im Winter. So war es bei Regen im Souk nahezu unmöglich, in der Mitte zwischen den Auslagen zu gehen, weil die Pergolas dafür sorgten, dass einem das Wasser von beiden Seiten in den Kragen lief. Man konnte sich nur links oder rechts in der Nähe der Stände fortbewegen, eine Chance, die sich kein Händler entgehen ließ.

Die meisten Sehenswürdigkeiten, die es für mich an diesem Tag in Akko zu besichtigen gab, entstammten der Türkenzeit, genauer gesagt, der Epoche des bosnischen Paschas Ahmed, der um 1800 in Akko als Stellvertreter des türkischen Sultans residierte und dem die Einwohner den wenig schmeichelhaften Namen „El Jezzar“, der Schlächter, gegeben hatten. So blutig der Schlächter in Akko auch regiert haben mochte, in der nach ihm benannten Moschee Ahmed-el-Jezzar herrschte eine weltabgewandte Ruhe. Unter zwei kleinen Apfelsinenbäumchen im Vorgarten stand der Reinigungsbrunnen, an dem die Gläubigen sich säubern mussten, ehe sie das marmorweiße Gotteshaus mit seinen grünen Ziegeln betreten durften. Im Innern der Moschee bewunderte ich die Schönheit der Ornamente, die Ausgewogenheit der Linienführung und die Verhaltenheit der Farben. Ich dachte an die überbordende Plastik hinduistischer Tempel und erkannte, dass Schönheit immer auch durch Beschränkung entstand. Insofern war das Verbot der Figurendarstellung im Islam auch ein Geschenk an die Kunst.

Nur unter der Erde fand man noch Spuren der Kreuzfahrerzeit. Kalt und düster wirkte die Krypta des heiligen Johannes, einem der großen Versammlungsräume des Johanniter Ritterordens. An der Decke der Krypta befand sich übrigens eines frühesten Beispiele gotischer Spitzbogengewölbe, eine bauliche Innovation, die in diesem Weltteil nicht mehr zur Entfaltung kommen konnte. Stieg man die Kreufahrerkrypta empor, führten nur wenige Schritte den Besucher gleich einige Jahrhunderte weiter in Richtung Gegenwart. Ich erreichte die Zitadelle und die Stadtmauer und erblickte die gigantische Befestigungsanlage, die selbst Napoleon auf seiner Orientexpedition von 1799 nicht hatte erstürmen können. Vor den Mauern dieser Festung war die französische Armee elend zugrunde gegangen, während der junge Feldherr zurück nach Frankreich geflohen war. Das war lange her und doch nicht vergessen, wie es mir überhaupt vorkam, als würde wenig vergessen in Akko. Ein jahrtausendealtes urbanes Gefäß, in dem die Geschichte so lebendig geblieben war wie an kaum einem Ort sonst. Keinen Menschen sah ich in der restaurierten Karawanserei Khan-ei-Umdan, und doch war die Stimmung uralter Zeiten übermächtig. Vor meinem inneren Auge sah ich die Händler aus Isfahan, Kairo oder Bagdad, die im ersten Stock untergebracht waren, während man im Innenhof ihre Kamele versorgte.

Als ich von Akko aus durch die Berge Galiläas nach Zefad fuhr, begann es wie aus Eimern zu regnen. Auf 500 Höhenmetern verwandelte sich der Regen in Schnee und die Straße wurde rutschig. Gottlob herrschte kaum Verkehr, nur hier und da kam uns ein Fahrzeug mit aufgeblendeten Scheinwerfern entgegen.

Am Ortseingang von Zefad war kein Mensch auf der Straße zu sehen. Nur eine Tankstelle hatte offen, in die ich vor dem Schneeregen flüchtete. Als ich fragte, ob ich meinen Rucksack abstellen dürfte, um mir eine Stunde die Stadt anzuschauen, rief der Tankstellenwart einige Worte nach hinten. Sofort erschienen zwei Männer im Verkaufsraum und verlangten auf der Stelle zu sehen, was sich in meinem Rucksack befand. Erfahrung machte misstrauisch.

Zefad war neben Jerusalem, Hebron und Tiberias eine der vier heiligen Städte des Judentums und ein Ort, in dem die Erinnerung an Kampf und Vertreibung über die Jahrtausende hinweg in besonderer Weise gegenwärtig geblieben war. Nach der Vertreibung der Juden aus dem Heiligen Land hatte sich in Zefad eine kleine jüdische Gemeinde behauptet, die sich im Laufe der Zeit zu einem Scharnier und Anlaufpunkt der jüdischen Diaspora entwickelte. Eine wirkliche Neubesiedlung Zefads durch die Juden erfolgte jedoch erst, als die katholischen Könige in Spanien 1492 die Ausweisung aller sephardischen Juden aus Spanien verfügt und die osmanischen Sultane eine Ansiedlung der Juden in Zefad gestattet hatten. Im 17. Jahrhundert versorgten jüdische Druckervereine in Zefad, die Glaubensbrüder in aller Welt mit jenen heiligen Texten, die nicht zuletzt die Rückkehr der Juden ins Heilige Land verhießen.

Diese wechselvolle Geschichte hatte in den Synagogen von Zefad wenig Spuren hinterlassen. Die Synagogen waren kaum größer als Turnhallen, ihre Scheiben waren beschlagen, und nur funzelige Lichtquellen erhellten die holzgetäfelten Räume. Den Mittelpunkt der Synagoge bildete der Thora-Behälter, der sich entweder mitten im Raum befand oder in die Wand eingelassen war. Wenn die Lichtverhältnisse besser gewesen wären, hatte man die Synagoge als ein Gotteshaus zum Schmökern bezeichnen können, denn immerhin existierten bequeme Sitzgelegenheiten und reichlich heilige Texte, die für Studium und Erbauung bereitstanden. So aber befanden sich nur wenige ältere Männer im Raum, die vor den Textrollen saßen, ohne hineinzublicken. Entweder war ihnen das Licht zu schlecht, oder sie kannten die Texte auswendig.

Gerade mal gut zwei Stunden blieb ich in Zefad, denn ich fand keinen Ort, um meinen Rucksack abzulegen, und als ich mit dem Rucksack die Synagogen besuchen wollte, ging das niemals ohne Kontrollen ab. Das Misstrauen, das mir entgegenschlug war nichts Persönliches, sondern die Folge der Erfahrungen mit moslemischen Terroranschlägen. Doch auf die Dauer vergällte es mir das Interesse an der Stadt, so dass ich lange vor der Zeit zur Bushaltestelle zurückging und meine Reise fortsetzte.

Als ich mit dem Bus durch die Berge Galiläas weiter zum See Genezareth fuhr, hörte der Regen unvermittelt auf. Der Himmel riss auf und beschien unvermittelt eine gewaltige Erdkerbe, ein ungeheures Loch mitten im Land, das von der Umgebung Zefads aus über tausend Meter in die Tiefe reichte, bis der gut zweihundert Meter unter dem Meeresspiegel gelegene See Genezareth erreicht war. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich die Klimazone gewechselt und mich umgaben plötzlich eine linde Luft, saftige Wiesen und Palmen an der Uferpromenade von Tiberias. Auch diese Idylle war Israel.

Aber nicht nur. Auf dem Busbahnhof von Tiberias stieg eine rundliche junge Frau aus dem Bus, den Militärrucksack auf dem Rücken, das Maschinengewehr umgehangen, um sich für eine Falafel an einer Garküche anzustellen. Ein orthodoxer Jude mit langem Kaftan, Bart und Schläfenlocken wechselte die Straßenseite, als ihm einer Gruppe junger Mädchen in kurzen Röcken entgegen kam. In einem kleinen Restaurant in Ufernähe lernte ich Bill kennen, einen amerikanischen Juden aus Brooklyn, der in Israel die Religion seiner Väter suchte. Er habe noch nichts gefunden, sagte er, was aber daran liege, dass er gar nicht wisse, wonach er suchen sollte. Das einzige, was er bisher erkannt habe, sei sein über alle Maßen eingefleischtes Amerikanersein.

Ich schlief in einer Backpackerherberge in der Nähe des Sees. Es war laut und teuer, und es gab nur ein lausiges Frühstück. Am Morgen beklagte sich ein Franzose, dass ihm der MP3 Player gestohlen worden sei, der Wirt zuckte die Schultern und drehte sich um.

Es dauerte etwas, bis ich in Tiberias das Grab des Maimonides fand, jenes spanischstämmigen Juden, den die Verfolgungen auf der iberischen Halbinsel zuerst nach Marokko, dann nach Ägypten und schließlich nach Palästina getrieben hatten. Ein orthodoxer Jude kniete vor dem Kenotaph und bewegte seinen Körper im rhythmischen Auf und Ab seiner Lobpreisungen. Neben ihm stand ein Moslem, die Hände in Andacht und Ehrerbietung am Grab des gefaltet. Keiner von beiden blickte den anderen an.

Am See Genezareth erreichte ich eines der Ursprungsgebiete des christlichen Glaubens. Hier hatte Jesus in Kapernaum seine ersten Jünger gewonnen: Petrus, Andreas und Jakobus. Hier vollbrachte er seine ersten Wunder: er heilte den Besessenen, die Schwiegermutter des Petrus, das todkranke Kind und den Mann mit der verdorrten Hand. In der Synagoge von Kapernaum hielt Jesus seine erste programmatische Rede („Ich bin das Brot der Welt“), von Kapernaum aus ruderte Jesus zum Ostufer des Sees, wo schon fünftausend Menschen warteten, die er mit Brot und Fisch versorgte. Das christliche Wunder im Dienste des Catering.

Am Nordufer des Sees besuchte ich die Auferstehungskirche, an deren Altar Jesus nach seiner Auferstehung mit seinen Jüngern gespeist haben soll. Hinter der Auferstehungskirche, gleich in der Nähe des Ufers befand sich eine Skulpturengruppe, die den segnenden Jesus zeigte, wie er dem Fischer Petrus seine Kirche übertrug. Weide meine Schafe. Über Taghba, den Berg der Seligpreisungen, ging die Sonne auf, als ich zum Franziskanerhospiz spazierte. Hier las ich auf den acht Kolonnaden die acht Seligpreisungen nach Matthäus.

„Selig, die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich. Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden. Selig, die keine Gewalt anwenden denn sie werden das Land erben. Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit, denn sie werden satt werden. Selig die Barmherzigen, denn sie werden Erbarmen finden. Selig, die ein reines Herz haben, denn sie werden Gott schauen. Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Söhne Gottes genannt werden. Selig, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden, denn ihnen gehört das Himmelreich.“

Nazareth, die Geburtsstadt Jesu, erreichte ich im strömenden Regen. Über der Grotte, in der der Erzengel Gabriel Maria die Geburt Jesu verkündet haben soll, erhob sich eine fast siebzig Meter hohe Kirche mit einer raketenartigen Spitze und einer über dreißig Meter langen Seitenfront. Um in die vermeintliche Grotte zu gelangen, musste man im Innern der Kirche auf eine etwas niedrigere Plattform herabsteigen, wo Geistliche der verschiedenen christlichen Konfessionen die Besucher mit Argusaugen beobachteten. Vor dem Eingang der Grotte stand ein blumengeschmückter Altar, flankiert von großen Kerzen und unablässig flackernd im Blitzlichtgewitter der Touristengruppen. Es waren Pilger, aus aller Welt, die in der Weihnachtszeit auf ihrer Reise in das Heilige Land die Verkündigungsgrotte besuchten - in manchen Gesichtern erblickte ich Skepsis, in manchen unbedingten Glauben, in vielen aber erkannte ich jene „Begierde der Augen“, von der Augustinus behauptet hatte, dass es die Gier sei, alles zu sehen, ohne wirklich zu verstehen. Hätte ich einen Spiegel zur Hand gehabt, hätte ich mich möglicherweise selbst erkannt.

„Buy one Jesusand get one Paulus for free“

Tage in Jerusalem

Dann flogen die Steine. Zu spät merkte ich, dass es ein Fehler gewesen war, mit der staatlichen israelischen Busgesellschaft Egged auf dem kürzesten Weg nach Jerusalem zu fahren. Denn dieser Weg führte durch das arabische Westjordanland. In der Nähe der Stadt Nablus wurden aus einer Menge von Halbwüchsigen heraus Steine gegen den Bus geschleudert. Rückscheinwerfer und Fenster klirrten. Hasserfüllte Blicke, Fäusteschütteln gegen den israelischen Bus. Zwischen Nablus und Ramallah nahm die israelische Militärpräsenz an allen größeren Kreuzungen zu. Der Busfahrer beklagte sich bei den Soldaten über die Steinwerfer aus Nablus. Die Soldaten hörten ihm mit resignierten Gesichtern zu. Was sollten sie auch tun? Hinter Ramallah wurden wir umgeleitet. Wieder mussten wir warten, weil brennende Reifen den Weg versperrten.

Kurz vor Jerusalem begann es heftig zu schneien, und ein eiskalter Wind fegte über die Berge. Nässe, Kälte, Dunkelheit auf dem Busbahnhof in einem Vorort von Jerusalem. Nichts zu sehen außer Schneematsch, grauen Häuserfassaden und Passanten, die mit hochgeschlagenen Mantelkragen davoneilten. Ich war noch unschlüssig, wohin ich mich wenden sollte, als plötzlich ein junger Mann vor mir stand, der mit Nachdruck eine Unterkunft in der Neustadt von Jerusalem samt Frühstück anpries. Er selbst hatte an diesem Tag wohl noch kein Frühstück erhalten, denn er sah abgezehrt und heruntergekommen aus. Doch er wies mir den Weg zu einem warmen Bett, nach dem mich jetzt mehr als alles andere verlangte, und so folgte ich ihm.

Nach einem kilometerlangen Fußmarsch, bei dem mir fast die Füße abfroren, erreichten wir ein Wohnhaus in einer abgelegenen Straße und klingelten an einer Wohnungstüre im zweiten Stock. Alle Zimmer dieser Wohnung, selbst die Flure, waren mit Doppelbetten zugestellt, in denen Gäste aus aller Herren Länder frierend unter dünnen Decken lagen. Eine verhärmte mittelalte Frau verlangte meinen Pass und sofortige Vorkasse, für die sie mir eine dünne Decke und das Ticket für das Frühstück am nächsten Morgen überreichte. Ihr Gehabe war unfreundlich und herrisch, gierig schaute sie auf meine Geldbörse, als ich die Scheine herausholte. Nach längerem Suchen fand ich in einem stockdunklen Zimmer im hinteren Wohnungsteil ein leeres Bett. Die Laken waren zerwühlt und unsauber, doch es war so bitterkalt, dass ich voll angezogen sofort unter die Decke kroch. Ich verknotete die Schlaufe meiner Kamera mit meinem Gürtel und die Trägerriemen meines Rucksacks mit den Bettpfosten. Leider war an Schlafen nicht zu denken, denn ich lag Kopf an Kopf mit einem älteren Mann, der die gesamte Tonleiter herauf- und herunterschnarchte, zuerst röchelnd, dann fiepend und gurgelnd, immer höher in der Tonlage, als schlösse sich seine Luftröhre, bis er schließlich in einem wilden Schnaufen aufwachte und nach Luft schnappte – um kurz darauf wieder von vorne anzufangen. Als ich dann doch einschlief, versank ich in wirren Träumen, aus denen ich herausgerissen wurde, als mir jemand meine Decke wegziehen wollte. Ich fuhr hoch und riss die Decke an mich, während der Deckendieb fluchend von dannen zog.

Als ich am nächsten Morgen erwachte, erblickte ich im fahlen Licht der Morgendämmerung einen Raum mit sechs Doppelbetten, die alle belegt waren. Krausköpfe, Blondschöpfe, Glatzköpfe und Käppiträger ragten über den Rand der Decken, ein Afrikaner war bereits wach und blickte mich glasig an, denn er hatte sich gerade einen Joint reingezogen. Auch der Röchler im Nachbarbett war aufgewacht und hustete sich derart aus, dass der Schleim durch die Gegend flog. Seine Bronchitis habe er sich geholt, als er „mangels Kohle“ 14 Tage lang am Strand von Haifa habe schlafen müssen, erzählte er. Dann hätten ihn die Israelis aufgegriffen und ihn in eine eiskalte Gefängniszelle gesteckt, was ihm den Rest gegeben hätte.

Als ich aufstand und durch die Wohnung lief, zählte ich etwa vierzig bis fünfzig Menschen, für die gerade mal ein Bad und eine Toilette zur Verfügung standen. In der Küche warteten die ersten Traveller, um unter der Aufsicht eines jungen Israeli einen dünnen Tee entgegenzunehmen. Ihre Gesichter waren von Kälte und Erschöpfung gezeichnet, sie waren ins Heilige Land gekommen und in einer Vorhölle gelandet, in der es natürlich auch das versprochene Frühstück nicht gab. Was von dem jungen Israeli zu erhalten war, war eine Scheibe Weißbrot mit einem sparsamen Schlag Marmelade. Wer mehr wollte, musste zahlen. Ich trank den Tee, ergriff meinen Rucksack und verließ die Wohnung. Erst im Bus bemerkte ich, dass mir meine Israelkarte, die locker in der Außentasche des Rucksacks gesteckt hatte, gestohlen worden war.

Schon das erste Zimmer, das ich mir in der Altstadt von Jerusalem ansah, gefiel mir so gut, dass ich es gleich für mehrere Nächte im Voraus bezahlte. Es hatte zwar auch keine Heizung, aber ein geräumiges Bett mit drei warmen Decken, eine Nachttischlampe, Tisch und Stuhl und ein kleines Bad, in dem ich mich erst einmal gründlich wusch. Von meinem Fenster aus konnte ich am Ende einer Gasse das Jaffator sehen, gegenüber befanden sich eine öffentliche Garküche, daneben eine Schneiderei und eine Teestube. Die Vermieter meines Zimmers waren zwei arabische Brüder, die mir sofort nach der Anmietung einen Tschai mit Keksen ins Zimmer brachten. In dieser Nacht war es genauso kalt wie in den Nächten vorher, doch ich schlief unter den warmen Decken tief und fest.

Am nächsten Morgen fiel noch mehr Schnee in Jerusalem, und ich sah, wie die Araber dick vermummt durch die Straßen liefen. Zu meiner Überraschung brachten mir meine Vermieter einen kleinen Heizstrahler ins Zimmer, der aber nur eine halbe Stunde arbeitete, ehe der Strom ausfiel. Ich zog mich so warm an wie möglich, schlang mir meinen dicksten Schal gleich mehrfach um den Hals und begann meinen ersten Rundgang durch die Heilige Stadt. Viel zu sehen gab es nicht, denn die Araber hatten wieder einmal einen Generalstreik ausgerufen. Hochgezogene Eisengitter, verunsicherte Touristen auf der Suche nach der Via Dolorosa. Finstere Blicke aus den Hauseingängen. Wohin ich auch kam: nichts als gähnende Leere auf den Straßen. Kein Teeausschank an den Straßenecken, kein Gewürz- oder Mandelduft an der Nähe der Moscheen. Sogar die Souvenir-Shops waren geschlossen.

Ich ging in mein Zimmer am Jaffator zurück, lege mich unter die dicken Decken ins Bett, bis es mir warm wurde und begann ein wenig in meinen Reiseführern zu lesen. Wo immer ich das Buch auch aufschlug, die Nachricht war immer dieselbe: Die Geschichte des Heiligen Landes war eine lückenlose Aufeinanderfolge von Blut und Tod. Folgte man der Bibel, begann alles mit der langen Wanderung Urvaters Abrahams vom Zweistromland nach Palästina. Hier ließen sich die Israeliten in der Stadt Hebron nieder, weswegen sie in den ersten Jahrhunderten ihrer Geschichte auch als „Hebräer“ bezeichnet wurden. Die archäologische Forschung zeigte ein etwas anderes Bild: Demnach erreichten die Israeliten als versprengte Reste der Seevölker Palästina im 13. oder 12. vorchristlichen Jahrhundert. Ein mörderischer Vernichtungskampf gegen die einheimischen Philister und Amalekiter führte zur Einigung der jüdischen Stämme und zur Einführung des Königtums. Dieser Vorgang aus altvorderen Zeiten war den Palästinensern heute noch gegenwärtig, denn sie erkannten darin nicht mehr und nicht weniger die Blaupause der zweiten jüdischen Landnahme im 20. Jahrhundert.

Im Zuge dieser frühgeschichtlichen Kämpfe hatte König David um 1000 vor der Zeitrechnung Jerusalem erobert und die Stadt zur Hauptstadt Israels erhoben. Sein Sohn König Salomo baute den ersten Tempel, der 587 vor Christus von den Babyloniern zerstört wurde, ein traumatisches Ereignis der jüdischen Geschichte, weil im Zusammenhang mit der Zerstörung des großen Tempels die Bundeslade verloren ging. Da nicht ganz auszuschließen ist, dass auch jugendliche Leser dieses Reisebuch studieren werden, hier nur zur Erklärung: Die Bundeslade ist das geheimnisvolle Objekt, dem Harrison Ford in „Jäger des verlorenen Schatzes“ nachspürt. Für alle anderen: Die Bundeslade war der mythische Behälter der zehn Gebote, die Gott auf dem Sinai Mose übergeben hatte.

Wie immer es auch gewesen sein mochte, auch ohne Bundeslade wollten die Juden auf ihren Tempel nicht verzichten. So errichtete Serubabel, der letzte Spross der davidischen Dynastie, unter der Herrschaft der Perser den zweiten Tempel, den der Seleukide Antiochos IV 169 vor Christus in Schutt und Asche legte. Herodes der Große ließ kurz vor der Zeitenwende den dritten Tempel errichten. Ganz fertig wurde er erst im Jahre 64, nur wenige Jahre, bevor er von den Römern 70 nach Christus zerstört wurde. Als Kaiser Hadrian im Jahre 130 auf dem verwaisten Tempelberg einen Jupitertempel errichten ließ, erhoben sich die in der Stadt verbliebenen Juden unter der Führung des charismatischen Pseudomessias Bar-Kochba zu ihrem letzten Aufstand. Diesmal machten die Römer reinen Tisch. Eine halbe Million Juden wurde erschlagen, der Rest wurde versklavt oder aus dem Land gejagt. Weil es den in Palästina verbliebenen Juden verboten war, Jerusalem zu betreten, wurde Tiberias am See Genezareth durch Verlegung des Sanherib (des großen Rates) zum neuen Zentrum des Judentums.

Mit dem Siegeszug des Christentums in der Spätantike verbesserte sich die Lage der Juden kaum, auch wenn ihnen Kaiser Konstantin wieder erlaubte, an besonderen Festtagen Jerusalem zu betreten. Gedankt haben die Juden den Christen das nicht. Als die persischen Sassaniden im Jahre 618 Jerusalem eroberten, unterstützten die Juden die Perser bei der Zerstörung sämtlicher christlicher Kirchen der Stadt. 629 nahm der siegreiche byzantinische Kaiser Herakleios dafür grausame Rache: Alle Synagogen Jerusalems wurden zerstört, und die Christen kippten ihren Müll auf den Tempelberg. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass all diese Ereignisse nur Intermezzi waren oder besser: nur das Vorspiel eines viel fundamentaleren Wandels, der das Gesicht der gesamten bekannten Welt in weniger als einem Jahrhundert fundamental verändern sollte: der Expansion des Islam.

Schon 638, sechs Jahre nach dem Tod des Propheten, eroberte der Kalif Omar Jerusalem, und es dauerte nicht lange, da wurde die Stadt auch für die Moslems heilig, weil man den Ort der Himmelfahrt des Propheten kurzerhand von Mekka nach Jerusalem verlegte. Mit dem Bau des Felsendoms und die Errichtung der Al-Aqsa-Moschee auf dem jüdischen Tempelberg veränderten die Moslems die religiöse Geometrie der Stadt für immer. Eine dritte Weltreligion hatte ihre Hand auf die Stadt gelegt, fest entschlossen, sie nie mehr aus ihrer Kontrolle zu entlassen.

Trotzdem lebten die Juden während der gesamten Zeit der Diaspora unter der Herrschaft der Muslime freier und unbedrängter als unter den Christen, die die Juden als „Jesusmörder“ verfolgten. Ein wirklicher Bevölkerungszuwachs des Judentums im Sinne einer ersten zaghaften Rückwanderung aus der Diaspora setzte erst unter der türkischen Herrschaft ein, als der Sultan den aus ihrer Heimat vertriebenen spanischen Juden im Jahre 1492 die Ansiedlung im Heiligen Land (und hier vor allem in Zefad) gestattete. Damit wurde Zefad zur vierten heiligen Stadt der Juden, zum Ort der Neuinterpretation des Talmuds und zum Sitz des Großen Rates. Unter Sultan Suleiman dem Prächtigen entstanden im 16. Jahrhundert sogar Pläne für die Etablierung eines halbautonomen jüdischen Staatswesens unter osmanischer Oberhoheit.

Die Gründung Israels vollzog sich aber dann doch ganz anders, und zwar als Folge des Zusammenspiels von europäischem Nationalismus und moderner Antisemitismus. Als Pogrome und Judenhass Europa am Ende des 19. Jahrhunderts erschütterten, entstand der Zionismus als politische Reformbewegung und propagierte die Etablierung eines eigenen jüdischen Nationalstaates - und zwar nirgendwo anders als im Land der Väter! In mehreren Einwanderungswellen kehrten die die Juden seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts nach Palästina zurück, kauften das Land von reichen Scheichs aus Damaskus und Beirut, machten es urbar und wussten es gegen die gleichzeitig einsetzende Zuwanderung von Arabern aus den Nachbarregionen zu verteidigen.

Die eigentliche Staatsgründung Israels nach dem Zeiten Weltkrieg wurde für den arabischen Kulturkreis dann zu einem traumatischen Ereignis. Die kleine Streitmacht des neuen Staates besiegte scheinbar mühelos fünf arabische Armeen und etablierte aus der Perspektive der Moslem einen Stützpunkt des Kolonialismus erneut im Herzen der arabischen Welt. Damit waren die traditionell eher guten Beziehungen zwischen Judentum und Islam auf einen Schlag beendet. Die israelisch-arabische Feindschaft wurde zu einem unverrückbaren Eckpfeiler der Weltpolitik.

Am nächsten Tag schien eine zaghafte Sonne über Jerusalem. Mein Frühstück nahm ich im Teehaus auf der anderen Straßenseite, ehe ich die Klagemauer besuchte. Ich erreichte einen großen freien Platz im arabischen Viertel, an dessen Stirnseite sich eine streng bewachte Mauer aus großen Quadern befand. Sie war neunzehn Meter hoch und galt als der letzte Überrest des alten Tempelberges. Vor der Mauer standen zahlreiche Besucher und steckten kleine Zettelchen in die Ritzen der Klagemauer. So hatte es auch der israelische General Mosche Dayan gemacht, der 1967 nach der Eroberung Ost-Jerusalems zur Klagemauer gegangen war und einen Zettel mit dem Wort „Schalom“ zwischen die Steinritzen gesteckt hatte. Dieser Wunsch hatte sich nicht erfüllt, im Gegenteil: gerade an der Klagemauer hatten sich in den letzten Jahren immer wieder neue Konflikte entzündet. Mal verlangten radikale Israelis Zutritt zu den moslemischen Moscheen auf dem Tempelberg, mal warfen Moslems Unrat und Dreck von oben auf die jüdischen Besucher der Klagemauer. Aber auch an der Klagemauer selbst flogen die Fetzen. Ich saß gerade erst entspannt auf einer Brüstung und betrachtete die betenden Männer und Frauen, die nach Geschlechtern getrennt vor der Klagemauer standen, als plötzlich ein Trupp jüdischer Frauen unter großem Geschrei in den Männerbezirk eindrang. Keine Geschlechterdiskriminierung an der Klagemauer, das war ihre Forderung. Ehe sich die Frauen versahen, hatten die würdigen alten Herren, die gerade noch inbrünstig vor der Klagmauer mit Jahwe kommuniziert hatten, ihre Krückstöcke ergriffen, um damit umstandslos auf die Frauen einzuprügeln. Geschrei, Getümmel und Gekreische an einem der heiligsten Plätze des Judentums. Erst der Armee, die immer im Umkreis der Klagemauer in Alarmbereitschaft stand, gelang es nach einiger Zeit, die Parteien zu trennen. Unter lautstarkem Protest, mit Stinkefingern und Flüchen mussten die Frauen den Männerbezirk wieder verlassen.

Nach dem Besuch der Klagemauer bestieg ich den Tempelberg. Er war über vier Treppen zu erreichen, und ebendort, wo sich die alten Tempel der Juden befunden hatten, erhob sich nun der große mohammedanische Felsendom. Er wirkte weder mohammedanisch, jüdisch oder christlich, sondern er war ein Gebäude ganz eigner architektonischer Ordnung, eine berauschende Synthese aus byzantinischer und arabischer Formensprache. Ein Oktagon mit zwei Reihen von Trägerblöcken und Säulen umschlossen im Innern des Doms den heiligen Felsen, der einige Meter aus dem Boden ragte. Dieser heilige Felsen war ein Gestein von eminenter religiöser Bedeutung, weil auf ihm nicht nur Abraham und David geopfert haben sollen, sondern auch, weil nach der moslemischen Überlieferung der Prophet Mohammed in der Nacht seines Todes von diesem Felsen aus auf seinem Pferd Buraq gen Himmel geritten sein soll. Ich war fast ein wenig enttäuscht darüber, dass der Islam, diese vornehme Religion der Anschauungsenthaltung, nicht darauf verzichtet hatte, einen vermeintlichen Fußabdruck von Mohammeds Pferd auf dem Felsen zu hinterlassen. Dafür waren die Schönheit der Ornamente und die Farbenpracht der Innenausstattung unbeschreiblich. Die Kuppel hoch über dem Felsen erschien mir für einen Moment tatsächlich wie der Eingang zum Himmel, als ein magisches Licht durch die bunten Glasfenster in die Halle fiel.

Und doch war diese Pracht kein Spiegel der geschichtlichen Wirklichkeit sondern das Element einer großen historischen Manipulation. Als der arabische Kalif Abd el-Malik im Jahre 683 einen Aufstand in Mekka hatte niederschlagen müssen, war die Kaaba zerstört worden. Da die muslimische Weltgemeinde bis zur Wiederrichtung der Kaaba ein neues kultisches Zentrum benötigte, war der Kalif auf die Idee verfallen, Mohammed mit dem Tempelberg in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise war, von offizieller Propaganda unterstützt, die Mär von Mohammeds Himmelfahrt vom Tempelberg aus direkt ins Paradies entstanden. Schmälerte diese rückwirkende Neugestaltung der mohammedanischen Überlieferung den Wert des Felsendoms? Natürlich nicht. Er stand als eine der großen Offenbarungen der Kunst ganz für sich, denn die meisten großen Bauwerke der Weltkulturen beruhen auf Vorstellungen aus der geschichtlichen Fantasie.

Das Kidrontal zwischen den Stadtmauer und dem Ölberg ist die wichtigste Adresse der Welt - jedenfalls nach dem Verständnis eines orthodoxen Juden. Es handelte sich um jenen Ort, an dem nach jüdischem Glauben das Jüngste Gericht stattfinden soll – kurz nachdem in Meggido die letzte Schlacht der Weltgeschichte geschlagen worden wäre. Kein Wunder, dass sich die Juden gerne in der Umgebung des Kidrontals begraben ließen. Wenn es soweit war, würden sie sich nur noch aus ihren Gräbern erheben müssen und befänden sich sofort mitten im Geschehen.

Als ich den Berg Zion erkundete, stieß ich auf das Grab König Davids, das als jüdisches Nationalheiligtum wahrscheinlich alles Mögliche beherbergte, nur nicht die sterblichen Überreste des ersten Judenkönigs. Gleich nebenan konnte man ein Gewölbe besichtigen, von dem allen Ernstes behauptet wurde, in ihm hätte das letzte Abendmahl stattgefunden. Am Ende brach ich meinen Rundgang ab, denn es war fast zu viel für einen Tag: das Jüngste Gericht, Davids Grab und das letzte Abendmahl – in Palästina purzelten die Epochen und Bezüge derart durcheinander, dass alles scheinbar Geschichtliche seinen Kontext abstreifte um als Kitsch, Fake oder Streitobjekt gleich in die Gegenwart zu springen. Zu viel Geschichte und Religion an einem einzigen Ort.

Große Hinweistafeln verlangten am Eingang des Stadtteils Mea Shearim von den Besuchern ordentliche Kleidung und zurückhaltendes Betragen. Jeder, der sich nicht daran hielt, musste mit rüden Reaktionen der Anwohner rechnen. Es gab kein Fernsehen, keine Jugendkriminalität, keine Waschmaschinen und Kühlschränke, dafür jede Menge Kaftane, Kohlsuppen und gefillte Fisch. Willkommen in der Parallelgesellschaft der ultraorthodoxen Juden im Jerusalemer Neustadtviertel von Mea Shearim, der Hauptstadt von Bigotterie und Schmarotzertum unter der Tarnkappe weltentrückter Gläubigkeit. Selbstverständlich verweigerten die Ultraorthodoxen von Mea Shearim den Wehrdienst in der israelischen Armee, nahmen aber gerne die Unterstüzungszahlungen des Staates an. Mit ihren knöchellangen schwarzen Mänteln, den gestreiften Kaftanen und den schwarzen Strümpfen wirken die Gestalten, die mir in den Gassen Mea Shearims begegneten, wie Karikaturen aus den osteuropäischen Ghettos der frühen Neuzeit. Die meisten Bewohner von Mea Shearim sprachen jiddisch, weil ihnen das Hebräische heilig war und ihrer Ansicht nach für die kultischen Verrichtungen reserviert bleiben sollte. Das ganze Viertel wirkte ärmlich und bizarr, aber das Befremdlichste, was ich in Mea Shearim zu sehen bekam, waren die Kinder, die mit ihren Schläfenlöckchen zu beiden Seiten ihrer Köpfe wie kleine Teufel aussahen und die den Besuchern frech und selbstbewusst entgegentraten. Trotzdem machte der Sittenverfall auch vor Mea Shearim nicht halt. Ein orthodoxer Jude mit Kaftan und Zottelbart schwankte mit angesäuselt entgegen und lallte: „Gib mihr a Scheeekel“ Ich ging weiter und verstand plötzlich, warum die orthodoxen Juden bei den normalen Israelis so unbeliebt waren, denn es musste sie nerven, in ihrer Gestalt noch immer mit einem Zerrbild der eigenen Identität konfrontiert zu werden.

Einen ganzen Tag lang wandelte ich auf den Spuren der Christuspassion. Mein Cicerone war meine Fantasie, denn allzu viel vom Leidensweg Christi war nicht mehr erhalten geblieben. Um die Wahrheit zu sagen: es war überhaupt nichts Originales zu sehen, sondern nur ein Sammelsurium zweitrangiger Kunstwerke und Orte, deren Authentizität alles andere als gesichert war. Trotzdem fiel jedem Besucher in den engen Gassen der Altstadt die Orientierung leicht, denn die Araber säumten nicht nur mit ihren Shops die gesamte Länge des Weges, sondern versahen ihre Läden dankenswerterweise mit Anspielungen auf den Namen der jeweiligen Passionsstation. An der Station IV „Jesus begegnet seiner Mutter“ konnte sich der Tourist im Andenkenshop „Spasm of Holy Maria“ nach passenden Souvenirs umsehen. Gleich neben der Station VI „Die heilige Veronika trocknet Jesu den Schweiß“ lud der Kaffeeshop „Holy Veronica“ zum Verweilen ein. Überall verlockende Angebote wie „We print one T-Shirts in 10 Seconds“ oder „Buy one Jesus Skulptur and get one Paulus for free.“ Sogar auf der Rückseite des Jesusgrabes kroch ein armenischer Priester herum und bot den Gläubigen „Holy Candles“an.

Insgesamt passierte ich in dieser Weise folgende vierzehn Stationen des Leidesweges:

I

Jesus wird zum Tode verurteilt

II

Jesus nimmt das Kreuz auf sich

III

Jesus stürzt unter dem Gewicht des Kreuzes zusammen

IV

Jesus begegnet seiner Mutter

V

Simon von Kyrene hilft Jesus

VI

Die heilige Veronika trocknet Jesus den Schweiß

VII

Jesus stürzt zum zweiten Mal

VIII

Jesus spricht zu den weinenden Frauen

IX

Jesus stürzt zum dritten Mal

X

Jesus wird entblößt und mit Galle getränkt

XI

Jesus wird ans Kreuz genagelt

XII

Jesus stirbt am Kreuz

XIII

Kreuzabnahme

XIV

Grablegung

Die Stationen X bis XIV befanden sich bereits in der Grabeskirche, vor deren Eingang sich die Touristengruppen zu allen Tageszeiten stauten. Die Grabeskirche von Jerusalem war die heiligste Kirche der Christenheit, aber es war ein Heiligkeit, die derart profaniert war, dass sich Jesus, wäre er nicht längst wieder auferstanden, vor Widerwillen im Grab umdrehen müsste. Eingezwängt im Muslimviertel an der Grenze zum Christenviertel, umlagert von Geldwechslern und Tschaiverkäufern, immer von Bauarbeiten verunstaltet und so verwinkelt gebaut, dass sich von keinem Punkt aus eine Gesamtansicht ergab, im Innern zentimeterweise zwischen den einzelnen christlichen Konfessionen parzelliert, glich sie eher einem religiösen Rummelplatz als einem Ort der Andacht und der Besinnung. Rechts neben dem Eingang befand sich der Platz des muslimischen Auf- und Zuschließers, es folgte der Salbungsstein, rechts davon der Ort der Kreuzigung und des Todes. Wandte man sich nach links, gelangte man unter eine große Rotunde, in der man einen Blick auf die leere Grabkapelle werfen konnte. Gebückt bewegten sich die Pilger im Entengang durch den Grabraum, argwöhnisch beobachtet von bärtigen Hierokraten, ehe sie einen vollkommen verkitschten kleinen Raum mit dem leeren Grab erreichten, dessen Inneres aber nicht zu sehen war, weil zwei Marmorplatten auf ihm lagen.

Gegenüber der Grabeskapelle öffnete sich der Eingang zur Kapelle der heiligen Helena, der Mutter Kaiser Konstantins des Großen. Der Kaiser hatte schon im Jahre 325 den Aphrodite Tempel auf dem Golgatha Hügel abreißen und eine erste Grabeskirche erbauen lassen. Wer jenseits der Kapelle der heiligen Helena noch nicht genug hatte, konnte eine Station weiter eine Kapelle besuchen, die an dem Ort errichtet worden war, an dem man das Original-Kreuzigungsholzkreuz gefunden haben wollte. Kein geringer als der später erschossene unglückliche Kaiser Maximilian von Mexiko hatte den Altar dieser Kapelle gestiftet.

So lief ich von Station zu Station, von Wand zu Wand und Bild zu Bild und wurde immer ernüchterter. Am Ende sehnte ich mich regelrecht nach einer völlig bilderfreien und geräumigen Moschee, in der ich mich von diesem Religionskitsch erholen könnte. Obwohl ich mit dem Islam meine Schwierigkeiten habe und das Christentum in ethischer Hinsicht ungleich höher schätze, gebührte dem Islam, dieser stolzen Religion der Selbstgewissheit, im Hinblick auf die ästhetische Gestaltung seiner Gotteshäuser Anerkennung und Bewunderung. In den Augen der Pilger habe ich an diesem Tagen nicht erkennen können, ob sie ähnlich empfanden. Ich beobachtete nur, wie sie, von ihren Reiseführern einer kompletten Verdinglichung ausgesetzt wurden: Ihnen wurden zusammengeklaubte Artefakte als Objekte mit Heilsgehalt verkauft, als regelrechte Fetische, von denen behauptet wurde, ihre Gegenwart sei dazu angetan, die Gnade des Herrn in besonderer Weise anzuziehen. Konnte man sich überhaupt etwas Heidnischeres vorstellen? Was ich in der Grabeskirche zu sehen bekam, war im Kern nichts anderes als eine Religion des Befingerns. Was der Pilger küsste, streichelte oder begrabschte, war eigentlich egal: Hauptsache der Fetisch stand am richtigen Ort, was aber auch nicht stimmte.

Als die Protestanten in die Religionsgeschichte eintraten, waren alle wichtigen Plätze in der Grabeskirche von Jerusalem bereits durch Nestorianer, Armenier, Äthiopier, Kopten, Orthodoxe und Katholiken vergeben. Wen wunderte es, dass sie die historische Wirklichkeit einfach uminterpretierten und sich eine andere Grabeskirche, die sogenannte Erlöserkirche, erbauten.

Als ich mich nach dem Besuch der Grabeskirche in einem arabischen Teehaus sammelte, brummte mir der Kopf. Konnte es ein, dass zu viel Mythologie Kopfschmerzen verursachte? Inzwischen hatte ich fünf Mythen kennengelernt: den jüdischen, den christlichen und den islamischen Mythos zu denen sich noch der Mythos der Kreuzfahrerzeit und der Mythos von der Entstehung des Staates Israel hinzugesellte. Allen diesen Mythen war gemeinsam, dass sie nicht nur ineinander übergingen, sondern schmerzhaft lebendig waren. Sie bestimmten das Fühlen, Werten und Verhalten der Menschen, das deswegen für einen Außenstehenden kaum verständlich war. Vielleicht war der kollektive Wahnsinn, an dem die Bewohner des Heiligen Landes litten, die Folge davon, dass die Geschichte „zu schwer“ geworden ist, dass zu viele mythische Erzählungen in den Köpfen der Menschen durcheinandergingen. Wieder hatte ich den Eindruck: Zu viel Religion auf zu engem Raum.