Von Raben und Prinzen - Madeleine Hold - E-Book

Von Raben und Prinzen E-Book

Madeleine Hold

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Beschreibung

Eine falsche Prinzessin, die ihre Heimat retten will. Ihr Verlobter, der gegen die Dunkelheit in sich ankämpft. Und ein Kronprinz, dessen Lächeln alles durcheinanderbringt. Elayne, eine einfache Bedienstete, soll sich fortan als Prinzessin Ophenia ausgeben, nachdem die echte Prinzessin auf der Reise zu ihrem Verlobten ums Leben kommt. Um ihr Land zu schützen, das dringend auf das Bündnis durch eine Hochzeit mit Prinz Alesander angewiesen ist, lässt sie sich auf das gefährliche Spiel ein. Doch bald muss sie nicht mehr nur ihre Heimat beschützen, sondern auch sich selbst. Denn das Herz des Prinzen ist von Dunkelheit befallen. Gleichzeitig schenkt ihr dessen Bruder Darian mehr Aufmerksamkeit, als ihrer Maskerade guttut. Einzig ihr sensibles Gespür, hinter dem sich in Wahrheit noch so viel mehr verbirgt, verspricht Hoffnung. Aber kann sie ihre Identität verheimlichen und gegen das zunehmende Dunkel ankommen, ohne dabei ihr eigenes Herz zu verraten? »Nur wenige von uns sehen wirklich. Nur wenige hören der Geschichte zu. Nur wenige verstehen Hydeas Lied.«

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WREADERS E-BOOK

Band 240

Dieser Titel ist auch als Taschenbuch erschienen

Copyright © 2024 by Wreaders Verlag, Sassenberg

Verlagsleitung: Lena Weinert

Umschlaggestaltung: Miriam Schwardt

Lektorat: Hannah Dornseiff, Sina Kleber

Satz: Ryvie Fux

www.wreaders.de

Für all diejenigen, die mit dem Herzen sehen.

Schönheit zu fühlen, ist ein Geschenk.

1

Mit geübtem Griff nahm Elayne das letzte Kleid von der Leine. Wie die übrigen, die sie in einem Flechtkorb im Gras neben ihren Füßen aufgetürmt hatte, legte sie es sorgfältig zusammen. Es war aus einem hauchzarten Stoff gefertigt, so blau, wie sie sich das Meer vorstellte, und ein Geschenk aus Kree für die Prinzessin von Balezan. Seit einigen Monaten brachten Boten immer wieder teure Geschenke aus dem Land im Westen und sie alle sandte Prinz Alesander, der jüngste Sohn des Königs von Kree.

Die Farbe wird Nia schmeicheln, dachte Elayne und hievte den Korb vom Boden auf. Grashalme kitzelten sie an den Knöcheln und kalte Luft streichelte ihr Gesicht, während sie ihn zurückschleppte.

Bald schon würde sich der Frühling für sie nicht mehr so kühl anfühlen wie jetzt. Nie wieder würde er das. In Kree wurde es zum Ende des Winters bereits so warm wie hier in Balezan zu Beginn der Sommertage. Zumindest behauptete das Gondrick, und der war schon ein paar Mal dort gewesen.

Bevor Elayne das schmale Plateau des Vorhofs hinter sich ließ und die getrockneten Kleider zurück ins Schloss trug, hielt sie einen Moment inne. Den Korb gegen ihre Hüfte gestemmt blieb sie im Gras stehen und schloss die Augen. Wenn sie Nia in ein paar Tagen auf deren Reise in ein fremdes Land begleitete, würden der Duft des Windes und die Geräusche, die er zu ihr trug, niemals mehr dieselben sein. Darum reckte sie die Nase in den Himmel, um die ersten aufgegangenen Blumen und die frisch aufgewühlte Erde in den Beeten ringsum richtig wahrzunehmen. Ihr honigblondes Haar wehte um ihre Schultern, streichelten ihre Arme. Sie lauschte, in der Hoffnung, sich das Pfeifen der Winde, die den Tafelberg und das Schloss darauf umströmten, und auch die gewohnten Stimmen seiner Bewohner einzuprägen. Obwohl sie all das mit ganzer Seele vermissen würde, trübte der bevorstehende Abschied ihre Vorfreude kein bisschen.

Nicht nur ein fremdes Land lag vor ihr, sondern ein ganz neues Leben. Außerdem würde Nia bei ihr sein und eine Zeit lang sogar Gondrick. Ihm Lebewohl zu sagen, wenn auch nicht für immer, das würde schwerer werden, als ihre Heimat zu verlassen.

»Tut dir der Kopf weh, Mädchen?« Wie gerufen tauchte der General neben ihr auf. »Oder blendet dich die Sonne? Hat sich ja lange nicht blicken lassen, da wundert’s mich kaum.«

Elayne blinzelte gegen das Licht, dann wandte sie sich ihm zu. Ihn zu sehen hob ihre Laune noch weiter an. »Weder noch. Ich genieße bloß den Moment.«

Darauf antwortete Gondrick mit einem Lächeln. Die Falten neben seinen Augen und um seinen Mund gruben sich tiefer in seine von zahllosen Kämpfen gegerbte Haut. Strähnen seines silbergrauen Haars bewegten sich, vom Frühlingswind getrieben, auf seiner Stirn hin und her.

»Du warst schon immer lieber hier draußen«, sagte er irgendwann und es klang ein wenig danach, als schwelgte er in Erinnerungen.

Davon teilten sie beide eine Menge. Da sie ihren Vater früh verloren hatte und auch ihre Mutter nicht lang genug am Leben geblieben war, um sie aufwachsen zu sehen, war der General wohl das, was für sie einer Familie am nächsten kam. Vielleicht war es für ihn ganz natürlich gewesen, nach ihr zu sehen und dafür zu sorgen, dass sie möglichst behütet aufwuchs. Schließlich hatte er ihre Mutter gekannt und gerngehabt. Aber für Elayne würde das große Herz des Generals immer einem Wunder gleichkommen. Dank ihm mangelte es ihr an nichts. Die Arbeit im Schloss bereitete ihr Freude und als einziges Mädchen im Alter der Prinzessin hatte König Seremon sie bereits als kleines Kind zu Nias Spielgefährtin auserkoren. Sie genoss also nicht nur die Gunst der Königsfamilie, sondern hatte auch immer eine Freundin an ihrer Seite.

»Ich halte dich von deinen Pflichten ab«, stellte Gondrick fest und hob seine raue Hand an ihre Wange, um sie zu tätscheln. »Außerdem ist es kalt und du läufst herum, als wären wir schon in Kree.«

Elayne folgte seinem Blick hinunter zu ihren Füßen, die von den halbhohen Schuhen, in denen sie steckten, kaum bedeckt wurden. Normalerweise trug sie Strümpfe dazu, aber als die Sonne heute Morgen endlich durch die hartnäckige Wolkendecke gebrochen war, hatte sie sich hinreißen lassen. Jetzt fror sie an den Knöcheln, doch wenn sie ganz still stehenblieb, wärmten Sonnenstrahlen sie für einen kurzen Moment wieder auf. Einer der vielen Zauber des Frühlings.

»Rein mit dir, sonst erkältest du dich noch vor unserer Reise.«

Sie nickte und schenkte ihm ein breites Lächeln, bevor sie tat, wie ihr geheißen.

Auf dem Weg zu Nia machte sie einen Abstecher in die Küche, wo sie jemanden antraf, der offenbar dieselbe Idee gehabt hatte wie sie.

Millys Rotschopf blitzte hinter der geöffneten Tür eines Vorratsschranks hervor. Ihre kurzen wilden Locken baumelten, nicht annähernd von dem weißen Diensthäubchen auf ihrem Kopf verdeckt, hin und her, während sie in dem Schrank nach etwas kramte.

»Die Zimttaschen sind ganz unten, gleich hinter dem Mehl.« Elayne trat näher und lugte an der Schranktür vorbei ins Innere der mit Zutaten gefüllten Schatzkammer. Der Duft von Mehl und Zucker schlug ihr entgegen und, für ihre feine Nase nicht zu überriechen, auch der von Zimt. »Aletta versucht immer, sie zu verstecken, aber so wird das nichts.«

Sie grinste Milly an, die in der Bewegung innehielt und sich ertappt zu ihr umdrehte. Sofort bereute Elayne ihre Worte. Bisher hatte sie zwar noch nicht viel Gelegenheit gehabt, das neue Dienstmädchen kennenzulernen, doch offensichtlich ließ es sich nicht gern beim Essen beobachten.

Elayne besaß ebenfalls keine so schlanke Taille wie die anderen Mädchen im Schloss. Bislang machte sie sich keine Gedanken darüber, ob sie für andere gierig aussah, wenn sie in einem Schrank nach Süßem wühlte. Dennoch verstand sie sehr wohl, was es wahrscheinlich in der wenig jüngeren Milly auslösen musste, deren Gesicht nun von einer Wolke aus Scham verdunkelt wurde.

»Tut mir leid«, entschuldigte Elayne sich aufrichtig. »Ich bin wegen der Zimttaschen hier. Darum dachte ich, du seist es auch. Gibst du mir zwei?«

Ohne etwas zu sagen, schob Milly den Sack mit Mehl beiseite und holte die Platte mit dem Gebäck hervor, das Aletta, die Königin der Küche, dort in Sicherheit glaubte. Sie reichte Elayne zwei der Taschen. Sich selbst nahm sie keine einzige, schob das Tablett aber auch nicht gleich wieder zurück ins Versteck. Es würde wohl noch etwas Zeit brauchen, bis sie Elayne gegenüber auftaute.

Diese nahm sich vor, mehr dafür zu tun. Schließlich teilten sie eine Zukunft in Kree, würden beide die Prinzessin als persönliche Dienstmädchen begleiten. Sie sollten auf jeden Fall Freundinnen werden.

»Danke.« Elayne wickelte die Ausbeute in ein sauberes Tuch aus dem Regal neben den Vorratsschränken und ließ sie in ihrer Rocktasche verschwinden. »Sehen wir uns später noch?«

Bei Millys verunsichertem Blick, die tiefblauen Augen aufgerissen wie ein erschrockenes Reh, erwartete sie keine Antwort. Darum verabschiedete sie sich mit einem letzten Lächeln. Dann machte sie sich mit dem Wäschekorb, den sie auf dem Küchenboden abgestellt hatte, auf zu Nia.

Die Räumlichkeiten von Balezans Prinzessin waren die schönsten und hellsten im ganzen Schloss. Da dieses insgesamt aber eher durch Bescheidenheit bestach und mehr darauf ausgelegt war, Menschen draußen zu halten als sie einzuladen, würden Nias wenige Habseligkeiten ihre neuen Räume in Kree wahrscheinlich leer aussehen lassen. Leer wirkte es jetzt auch hier, denn Nia und ihre strahlende Präsenz fehlten. Stattdessen gab es einen klitzekleinen Gast. Im Gegenlicht zuerst nur ein schwarzer Punkt vor den großen Bogenfenstern, erkannte Elayne beim Eintreten eine Biene. Das Insekt musste sich ins Schloss verirrt haben.

»Du bist ja früh dran«, bemerkte sie.

Schließlich hatte der Frühling gerade erst den Winter verabschiedet. Bestimmt war die Biene vor dem Wind nach drinnen geflohen und suchte zwischen bunt gemusterten Möbelpolstern, Bettwäsche und Vorhängen nach einer wahrhaftigen Blume. Sie würde keine finden.

Elayne betrat das angrenzende Ankleidezimmer. Da sie Nias Abwesenheit so deutlich spürte, sah sie sich in dem ebenso hell erleuchteten Raum gar nicht erst nach ihr um. Stattdessen sortierte sie die Wäsche in den massiven Schrank und die Truhen aus Kiefernholz, bevor sie ins Schlafzimmer zurückkehrte. Dort öffnete sie ein Fenster, damit es für das kleine Wesen, das noch immer summend herumirrte, einen Weg nach draußen gab. Statt hinauszufliegen, suchte es sich allerdings einen weniger frühlingshaften Platz auf Nias Nachttisch aus. Es landete auf einem Stück Papier und krabbelte mit winzigen Beinchen darauf herum.

»Da wirst du keinen Blütenstaub finden«, prophezeite Elayne mit einem nachsichtigen Lächeln. »Nur die höflichen Worte eines Prinzen.«

Um die Biene nicht aufzuscheuchen, fasste sie den Brief nicht an, aber das musste sie auch nicht. Die schön geschwungene Handschrift Alesanders stach sofort ins Auge. So konnte wahrlich nur jemand schreiben, der Stunden um Stunden mit Tinte und Feder zubrachte. Von plötzlicher Neugier gepackt überflog sie ein paar Zeilen.

Verehrte Prinzessin, da Eure Reise bevorsteht … gutes Vorankommen … erwarte Euch mit Freude … In Eurem letzten Brief … Verzeiht, dass ich Euch so lange auf eine Antwort warten ließ … fühle mich nun besser …

War er krank gewesen? Davon hatte Nia gar nichts erzählt.

Ein flaues Gefühl breitete sich in Elaynes Bauch aus und sie trat einen Schritt zurück. Obwohl sie schon am Bett der Prinzessin gesessen hatte, als diese gegen eine Grippe kämpfte, ihr Medizin angerührt und ihre Stirn mit einem nassen Tuch gekühlt hatte, vergaß sie allzu leicht, dass auch die Kinder von Königen nicht gegen Krankheit gefeit waren. Niemand war das.

Nicht umsonst sog sie begierig all das Wissen über Heilpflanzen auf, das sie in die Finger bekam. Jedes Mal, wenn Gondrick ihr von seinen Reisen ein Buch über Pflanzen- und Kräuterkunde mitbrachte, saß sie ganze Nächte lang damit vor seinem Kamin oder in ihrem Bett und prägte es sich Seite für Seite ein. Es gab ihr natürlich keine Garantie, aber wenigstens eine reale Chance, jemandem das Leben zu retten. Ihre eigene Familie konnte ihr niemand zurückgeben, doch wenn es darauf ankam, würde sie vielleicht dafür sorgen können, dass jemand anderes seine behalten durfte.

Beklommen blickte sie auf das Insekt, das über die Schrift des Prinzen krabbelte, zum Bett und wieder zurück. Bilder einer hustenden Nia, die sich damals unter dieser Decke gekrümmt hatte, bedrängten sie in Gedanken und machten sie unruhig.

Kein Grund, jetzt daran zu denken!, wehrte sie sich gegen das unangenehme Bauchgefühl. Nia ging es gut und der Prinz erfreute sich offenbar auch wieder bester Gesundheit.

Einen Augenblick später ging hinter ihr die Tür auf und sie schob alle unliebsamen Erinnerungen beiseite.

Prinzessin Ophenia von Balezan machte mit ihrem Auftreten nicht nur ihrem Titel alle Ehre. Sie vermochte es auch, ein jedes Herz unmittelbar für sich zu gewinnen. Trotz der Schlichtheit ihres hellgrünen Kleides und selbst ohne Krone – bloß eine Kette mit einem unscheinbaren Glasanhänger schmückte ihren schmalen Hals – strahlte sie schöner als ein Himmel voller Sterne. Das aschblonde Haar trug sie zu einem hohen geflochtenen Zopf gebunden und ihre blaugrünen Augen leuchteten auf, sobald sie ihre Freundin erspähte.

»Hast du lange gewartet?« Mit eleganten, aber schnellen Schritten kam sie herüber und drückte zur Begrüßung Elaynes Hand. »Marbe wollte nicht aufhören, über den Ursprung von Nadeln zu lamentieren. Ich hatte meine Stickerei bestimmt seit einer Stunde fertig, da sprach sie immer noch davon.« Sie kicherte. »Mögen die Götter mir vergeben, aber einen Moment länger und ich hätte mir wahrscheinlich absichtlich in den Finger gestochen. Nur damit sie mich gehen lässt.«

Elayne stieg in ihr Kichern mit ein, das in einem sentimentalen Seufzer abebbte. Die königliche Erzieherin hielt zu gern langweilige Monologe, doch selbst die würde sie in Zukunft vermissen. Ein wenig zumindest.

»Keine Sorge, ich warte noch nicht lang. Bitte jag der Armen keinen Schrecken ein.«

Nias Augen blitzten verschwörerisch – ein Ausdruck, den sie niemandem sonst auf der Welt zeigte. »Wäre ja nicht das erste Mal. Weißt du noch, wie wir als Kinder so getan haben, als hätte ich die Nadel geschluckt?«

Natürlich erinnerte sich Elayne. Die schon damals ergraute und strenge Marbe war kreischend hinausgerannt, um Hilfe zu holen, und hatte das gesamte Schloss in Aufruhr versetzt. »Ich habe bis heute ein schlechtes Gewissen deshalb.«

»Ich nicht.« Das Lächeln auf Nias Gesicht blieb unverändert. »An dem Tag sind du und ich Freundinnen geworden.«

Ihre Täuschung war zwar schnell aufgeflogen, aber da hatten sie sich schon fortgeschlichen und in der Vorratskammer versteckt. Marbe hatte das gesamte Schlosspersonal aufgescheucht und auf der Suche nach ihnen alles auf den Kopf gestellt.

»Da hast du wohl recht.« Elayne erwiderte das Lächeln der Prinzessin im Wissen darum, welche Erinnerungen ihr gerade durch den Kopf gingen.

Im Dunkeln, zwischen Mehl- und Kartoffelsäcken, waren die Mädchen damals unentdeckt geblieben und hatten stundenlang geredet. Mehr noch: Sie hatten sich an diesem Tag in der Kammer geschworen, so sehr füreinander da zu sein, dass keine von ihnen je wieder die eigene Mutter vermissen musste. Bis heute hielten sie sich an dieses Versprechen.

Darum hoffte Elayne, dass Nia nicht heimlich in Sorge um Prinz Alesanders Gesundheit gewesen war. »Das Kleid, das aus Kree gekommen ist, passt gut zu dir«, lenkte sie deshalb das Thema auf den Prinzen. »Ihr scheint euch inzwischen gut zu kennen.«

»Gar nicht«, widersprach Nia leise. »Wir schreiben uns viel, aber im Grunde weiß ich nichts über ihn. Nur dass er mich endlich treffen möchte und sich sehr um mich bemüht. Was er wirklich über die Hochzeit denkt oder wie er sich fühlt, werde ich wohl erst herausfinden, wenn wir dort sind. Bis dahin …« Ihre Stimme wurde fester, als sie unerwartet ein neues Versprechen vorschlug: »Wir sollten uns etwas schwören!«

»Und was wäre das?«

»Dass wir glücklich sein werden. Egal was kommt.«

Egal was kommen würde? Wahrscheinlich ein naiver Gedanke, denn vor ihnen lag so viel Ungewisses. Gerade als Elayne antworten wollte, schüttelte sich Nia plötzlich.

Bibbernd rieb sich die Prinzessin über die Arme. »Es ist kalt. Frierst du nicht?«

»Oh, das Fenster.« Elayne schaute hinunter auf den Brief des Prinzen, auf dem die Biene gesessen hatte. »Wo ist sie hin?«

»Wer?«

»Eine Biene. Bestimmt ist sie rausgeflogen, als ich nicht hingesehen habe.«

»Eine Biene?« Kaum zu überhören, für wie unwahrscheinlich sie das hielt. »Du hast wohl wieder Tagträume. Gondrick erzählt dir zu viele Geschichten, Elayne.« Sie verstellte die Stimme, sodass sie wie Marbe klang, wenn sie die beiden belehrte. »Hier gibt es keine Berglöwen, keine Eidechsen und keine Ameisenbären, gutes Kind. Ein Amseisenbär – wie soll ich mir eine derartige Kreatur überhaupt vorstellen?« Um nicht lachend aus der Rolle zu fallen, presste sie kurz die Lippen aufeinander. »Und nun willst du eine Biene gesehen haben. Mitten im Winter. Wenn du dich etwas mehr deinen Pflichten widmen und nicht ständig die Nase in irgendein Buch stecken würdest, würden deine Augen es dir danken.«

Elayne tat aufgebracht. »Frechheit! Wir haben Frühling, du Frostbeule, und ja, sie war genau hier.« Sie deutete auf den Brief. »Auf der Liebesbotschaft deines sehnsüchtig wartenden Prinzen.«

»Wa-? Wie redest du mit mir?«, empörte sich Nia, doch ihre Mundwinkel zuckten verdächtig. »Und die Sehnsüchte meines Prinzen sind ja wohl eine Sache allein zwischen uns!«

Lachend schloss Elayne das Fenster. Dass Nias Wangen ein sanftes Rot annahmen, beflügelte ihre Vorfreude auf die Reise. Ihre Freundin steckte inmitten einer Liebesgeschichte und sie durfte das Glück der beiden aus nächster Nähe miterleben. Was, wenn sie selbst in Kree auch jemanden kennenlernte, der in ihr einmal solche Gefühle auslösen würde? Bei der Vorstellung spürte sie, wie auch ihr eigenes Gesicht heiß wurde.

Sie betrachtete Nia und die erwiderte ihren Blick mit leuchtenden Augen. Ja, so viel Ungewisses lag vor ihnen. Aber sie würden alles gemeinsam erleben, darum hatte Elayne keine Angst.

»Ich schwöre«, sagte sie deshalb, »dass ich glücklich sein werde.«

»Ich schwöre, dass ich glücklich sein werde«, wiederholte Nia mit Bestimmtheit.

Und Elayne war glücklich. Genau in diesem Moment.

Auch, als endlich der Tag kam, an dem sie hinter Nia in die Kutsche stieg.

Sogar, als ihr Zuhause in der Ferne langsam kleiner und schließlich zu einer Erinnerung wurde.

Als sie die Grenze von Balezan hinter sich ließen und bereits nach wenigen Wochen nichts in ihrer Umgebung mehr nach Heimat aussah.

Doch ihr Glück sollte bald der Angst weichen. Sie kam plötzlich und unerwartet. Obwohl Elayne der Gedanke nicht losließ, dass sie das Unheil hätte vorhersehen können.

»Geht es dir besser?«, fragte sie in dem Moment, in dem sie das Zelt betrat.

Neben dem Meer aus Kissen, in dem Nia lag, stand eine Laterne auf dem Boden. Sie spendete schwaches Licht und warf große Schatten an die Zeltwände. Wie hungrige Monster beugten sie sich über Elaynes Freundin auf dem provisorischen Bett und schienen bei jedem Zucken und Winden der Flamme nach ihr greifen zu wollen.

»Du bist zu klug, um mir diese Frage zu stellen«, erwiderte Nia kraftlos. Ihre Lippen bewegten sich kaum.

Mit bedachten Schritten trat Elayne näher. Sie ließ sich vor den Kissen auf dem Seidenteppich, eines von Alesanders vielen Geschenken, nieder. Wie in Kree üblich waren viele strahlende Farben in den Stoff eingearbeitet, aber die Nacht verschluckte sie genauso wie das blasse Gesicht der Prinzessin.

Natürlich war sie nicht so dumm zu glauben, das Fieber könne innerhalb der letzten Stunde einfach verschwunden sein. Der Arzt, der sie begleitete, hatte sich die Niederlage längst eingestanden und versuchte nur noch, die Übelkeit und die Gliederschmerzen im Zaum zu halten. Elayne wusste, dass er sein Bestes gab. Dennoch hoffte ein kleiner, kindlich naiver Teil von ihr jedes Mal auf ein Wunder, wenn sie den Vorhang vor Nias Zelt beiseiteschob.

»Schlimmer?«, fragte sie weiter und auch diesmal war im Grunde keine Antwort nötig.

Nasse Haare klebten an Nias Stirn, die im schwindenden Laternenschein vor Schweiß glänzte. Ihr Atem kam stoßweise. König Seremons einziges Kind, Prinzessin Ophenia von Balezan, lag im Sterben.

Noch nie in den neunzehn Jahren ihres Lebens hatte Elayne sich so machtlos gefühlt. All die Stunden mit der Nase in Büchern über Heilpflanzen waren umsonst gewesen. Die gesamte Umgebung hatte sie abgesucht und doch nichts gefunden, was ihrer Freundin hätte helfen können. Sie konnte das Fieber nicht bekämpfen; konnte ihr Versprechen, für sie da zu sein, nicht halten. Sie konnte sie nicht retten – die Freundin, die ihr wie eine Schwester war.

»Es ist nicht deine Schuld«, waren die geflüsterten letzten Worte, die sie Nia jemals sagen hörte.

2

Elayne schwieg. Sie alle schwiegen. Gondrick, Milly, die anderen Männer und Frauen des Geleitzuges - niemand hatte den Mut oder die Kraft, den Schleier der Stille zu durchbrechen, der sich mit dem Tod ihrer Prinzessin über sie gelegt hatte.

Nias Körper hatten sie auf einem Floß den Flusslauf entlang geschickt, auf die Reise zu ihren Ahnen. Ihre Hand war noch warm gewesen und feucht vom Fieber, als Elayne sie an ihre Brust gedrückt hatte, um sich zu verabschieden. Sie hatte ihre Wärme noch lange gespürt. Während man das von grünen und roten Fäden durchzogene Tuch über das Mädchen im weißen Kleid gelegt hatte und auch, während Flammen und Rauch mit dem Horizont verschwommen waren. Innerlich hielt sie noch immer diese Hand. Sie war nicht bereit, ihre Freundin loszulassen.

Dass sie nicht mehr da sein sollte, war so unwirklich. Schließlich mussten sie doch weiter nach Kree. Das Volk erwartete eine Prinzessin und der zweite Sohn von König Phelius seine Verlobte. Das Paar hatte noch kein einziges Mal die Gelegenheit gehabt, sich zu sehen, und nun sollte Nia für den Prinzen nur eine vage Vorstellung bleiben?

Vor vier Nächten hatte sie das Fieber geweckt. Es war so schnell gegangen. Zu schnell, um Hilfe zu holen. Zu schnell, um die Götter zu besänftigen, die hin und wieder ein königliches Leben forderten. Gerade noch hatten sie über Nias bevorstehende Hochzeit gesprochen, sich gefragt, wie atemberaubend wohl das Kleid aussehen würde, in dem sie mit Prinz Alesander zum Altar schreiten sollte, sobald der nächste Frühling wieder Blätter an die Bäume zauberte.

Nun hatte sie früher das Weiß angelegt, als eine von ihnen es je für möglich gehalten hätte.

»Weiß für die Liebe und Weiß für den Tod«, murmelte Elayne in sich hinein. Es waren die ersten Worte, die irgendjemand seit der Feuerbestattung von sich gab, und da war es nur natürlich, dass sich alle Augen auf sie richteten.

Gondrick, der wie alle anderen im großen Zelt keinen Bissen des Abendessens runterbekam, bedachte sie mitfühlend. Sein Gesicht, das trotz der vielen Narben schon immer zu weich für das eines Generals aussah, wirkte ausgezerrt und alt. Unter seinen dunklen Augen lagen Schatten. Für gewöhnlich fühlte sich Elayne geborgen in seiner Nähe. Obwohl die Kriegsführung sein Handwerk war, kannte sie niemanden, der besser darin wäre, einen väterlichen Rat zu geben. Doch jetzt konnte selbst er nicht den Schock vertreiben, der ihr tief in den Knochen saß und ihr Herz umklammerte.

»Mädchen.« Er streckte den Arm aus, strich über ihre Schulter. Ganz vorsichtig, als könnte sie sonst zerbrechen. »Es ist nicht deine Schuld.«

Es ist nicht deine Schuld.

Nias Lippen waren in der Bewegung stehengeblieben.

Es ist nicht deine Schuld.

Ihr Blick war ins Leere gegangen.

Mehr brauchte es nicht, um den Klammergriff des Schocks zu lösen. Elayne konnte ihr Herz wieder spüren, und jeder Schlag schmerzte. Der Kummer überrollte sie wie eine Flutwelle, und um nicht zu ertrinken, begann sie, hemmungslos zu weinen. Heiße Tränen strömten über ihre Wangen, Gondricks Gesicht verschwamm vor ihr, bis sie nichts mehr sehen konnte außer Nia auf ihrem Krankenbett aus Kissen. Auf dem Floß. Unter dem Tuch. Im Rauch in der Ferne.

Sie war tot. Tot. Tot. Tot.

Wieder legte sich eine Hand auf ihre Schulter, die vom Schluchzen auf und ab zuckte. Diesmal war es nicht der General, sondern jemand anderes, der sie trösten wollte. Aber sie drehte sich nicht um, wollte gar nicht wissen, wer es war. Alles rückte weit weg von ihr in den Hintergrund. Stimmen, Lichter, alles verschwand, während die vier schlaflosen Nächte an Nias Seite Elayne einholten und das Bewusstsein ihr entglitt.

Nia trug ein weißes Kleid - ein Unterkleid, an den Ärmeln und am Saum nachträglich mit Rüschen aus dem Stoff anderer Kleidungsstücke verziert, um es einer Prinzessin würdig erscheinen zu lassen. Es war das Kleid, in dem man sie bestattet hatte. Doch in diesem Augenblick sah Elayne sie ganz deutlich vor sich, aufrecht sitzend und die nackten Beine vom Rand einer Klippe baumelnd. Nebel kroch aus dem Abgrund des Steinbruchs, umspielte Nias zierliche Gestalt. Das ungekämmte Haar verdeckte Teile ihres Gesichts, aber sie war es ganz sicher.

»Was tust du da? Weg von der Klippe, das ist viel zu gefährlich!«, rief Elayne, lief auf ihre Freundin zu, die wie gebannt in den Abgrund starrte.

Jedoch schien die Prinzessin ihre Rufe nicht zu hören. Nias nackte Füße schaukelten vor und zurück, immer wilder, als wäre es ihr egal, sollte sie fallen. Als wollte sie es sogar.

Panik strömte durch Elaynes Glieder, ließ sie schneller laufen. Als sie schon fast bei ihr war und ihre Finger nach ihr ausstreckte, hob die Prinzessin den Kopf und drehte ihn in ihre Richtung. Der Schweiß der letzten Tage war von ihrer makellosen Haut verschwunden und ihre blaugrünen Augen strahlten wieder. Sie öffnete den Mund und sagte etwas, das aus der Ferne nicht zu hören war. Ein Lächeln lag auf ihren schmalen Lippen, machte sie so schön wie eh und je.

Das Lächeln verschwand nicht, als sie sich vom Fels abstieß und vom Nebel verschluckt wurde, der die Schlucht füllte.

Elayne erwachte schreiend. Ihre Hände vor sich, wild in die Luft greifend, riss sie die Augen auf, nur um sofort geblendet zu werden. Grelles Tageslicht flutete das Schlafzelt durch den geöffneten Eingang.

»Shhh.« Millys rundes und von roten Locken eingerahmtes Gesicht tauchte in ihrem Sichtfeld auf. »Du hast nur schlecht geträumt.«

»Nia! Da war Nia! Sie ist -«

»Tot, ja.« Sie machte eine lange Pause. »Die Männer beraten sich gerade drüben im Zelt des Generals. Niemand weiß, wie es weitergehen soll. Keine Hochzeit ohne … Braut.«

Der Albtraum zerrte noch an Elayne, genau wie die bittere Wahrheit. Dennoch schlug sie die Decke beiseite, mit der sie jemand - wahrscheinlich Gondrick - zugedeckt hatte.

»He, warte! Du bist noch zu schwach!«, protestierte Milly sofort. Bei der hektischen Bewegung ihres Kopfes verrutschte das Häubchen, das alle Mägde im Dienst der königlichen Familie trugen.

Im Moment kümmerte Elayne sich allerdings nicht darum, ihr eigenes aufzusetzen. Viel wichtiger war es, Gondrick zu finden. Wenn die Männer über Nia sprachen, wollte sie dabei sein. Ohne ein weiteres Wort hievte sie sich hoch und stürmte aus dem Zelt. Draußen stellte sich ihr jedoch jemand in den Weg.

»Langsam, langsam.« Der General schob sie zurück ins Zelt. »Hab ich Milly nicht gesagt, sie soll aufpassen, dass du das Bett hütest, während ich weg bin?« Er warf erst Milly einen matten Blick zu, dann Elayne. »Setz dich. Da du wach bist, können wir auch jetzt gleich alles besprechen.«

Elayne folgte der Anweisung stumm. So aufgewühlt war ihr nicht nach Sitzen zumute, doch sein müder Tonfall machte ihr Widerworte schwer.

Alles besprechen. Was gab es da überhaupt zu besprechen? Eine Hochzeit würde es nicht mehr geben. Ebenso wenig das erhoffte Bündnis mit Kree, ihre einzige Chance auf Widerstand gegen Vedenne. Ihnen blieb nur der Weg zurück. Sie würden König Seremon gegenübertreten und ihm gestehen müssen, dass sein einziges Kind nicht mehr lebte. Auch Nias sehnsüchtig wartender Prinz würde einen letzten Brief erhalten.

Gondrick bat Milly hinaus, bevor er ebenfalls auf der Pritsche Platz nahm. Darauf folgte gedehntes Schweigen. Er starrte ins Leere, rang offensichtlich mit sich. Derart hilflos kannte Elayne ihn nicht, und diesmal war sie es, die ihm eine Hand auf die Schulter legte.

So saßen sie einen Moment lang da und teilten ihre Unsicherheit miteinander, bis sich Gondrick schließlich zu einem tiefen Seufzer durchrang. »Mädchen, es tut mir so leid. Ich wünschte … Glaub mir, ich habe mir den Kopf zerbrochen. Gäbe es eine andere Möglichkeit, würde ich dich nicht … Mir wäre es lieber, dich nicht noch mehr zu belasten.«

»Gondrick?« Was versuchte er zu sagen?

Endlich sah er sie an. Doch die Verzweiflung in seinen Augen riss an der frischen Wunde in Elaynes Herz.

»Ohne die Unterstützung von Kree können wir Vedenne nicht viel länger standhalten.« Der General der balezanischen Königsgarde, der schon sein halbes Leben lang Männer in den Kampf führte, um ihr Land zu beschützen, klang hoffnungslos. »Ich bin es leid, Söhne, Brüder und Väter in den sicheren Tod zu schicken. Die Gier der Vedenier auf unsere Erde kennt keine Grenzen, aber wir werden immer weniger. Ohne Kree … Ohne dieses Bündnis …«

Atemlos beobachtete Elayne, wie Tränen Gondricks vernarbte Wangen hinabliefen. Niemals zuvor hatte der General vor ihr geweint oder auch nur zugelassen, dass sie seine Angst erkannte. Trotz all der Schlachten, die er geschlagen, und Toten, die er beklagt hatte, war er ihr immer mit einem Lächeln begegnet. Sie bemühte sich gar nicht erst, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten.

»Der Tod der Prinzessin hat uns alle tief erschüttert«, fuhr er mit belegter Stimme fort. »Du hast eine Freundin verloren. Doch die Zeit ist mitleidlos. Sie wird nicht auf uns warten, damit wir in Ruhe trauern können. Darum müssen wir hier und heute eine Entscheidung treffen.«

Elayne schniefte. »Welche Entscheidung?«

»Ich will dich nicht darum bitten. Wenn ich nur irgendwie könnte, würde ich es vermeiden. Die ganze Idee ist riskant, wahnwitzig sogar. Allein darüber zu sprechen, grenzt an Hochverrat.«

»Welche Entscheidung?«, wiederholte sie.

Er betrachtete sie so innig, als sähe er sie zum allerletzten Mal. »Nicht nur dein eigenes Leben steht auf dem Spiel, sollte der Schwindel auffliegen. Aber falls wir damit durchkommen, bist du diejenige, die für immer eine Lüge leben muss. Darum entscheidest nur du, was du tun wirst.« Seine Worte hingen bedeutungsvoll zwischen ihnen in der Luft. »Deshalb wollte ich mit dir sprechen, bevor es jemand anderes tut. Meine Männer werden sich nicht einig. Manche sagen, das Risiko wäre zu groß, und wahrscheinlich stimmt das. Ich möchte nur, dass du weißt, du hast eine Wahl, wenn ich dich jetzt darum bitte.«

Noch immer konnte Elayne nicht ganz folgen. Aber als sich der General plötzlich von der Pritsche erhob, um vor ihr auf die Knie zu gehen, geriet ihre Welt endgültig aus den Fugen.

»Im Namen unserer Heimat Balezan bitte ich dich. Gib dich als Prinzessin Ophenia aus und heirate Prinz Alesander von Kree.«

3

Mir ist so heiß, dachte Elayne bereits zum zweiten Mal, seit sie aus der Kutsche gestiegen war.

Strahlen der Mittagssonne fielen in den Hof innerhalb der Mauern um den sandsteinernen Palast und ließen kaum ein schattiges Plätzchen übrig.

Sie blickte sich um. Kleine Palmen in Krügen säumten den Weg vom Tor bis zum Eingang in den Palast, vor dem sie eine Traube adrett gekleideter Leute und mehrere bewaffnete Wachmänner bereits erwarteten. Ob Prinz Alesander wohl unter ihnen war? Elayne wusste nicht viel über ihn. Nur dass er sehr höfliche Briefe verfasste. Außerdem sagte man ihm nach, dass er klug war … und sehr gutaussehend. Aus der Ferne konnte sie leider nicht erkennen, ob Letzteres auf einen der Wartenden zutraf, darum ließ sie den Blick weiter schweifen.

An dem Sandstein, der hinter der Menschentraube emporragte, rankten sich hier und da grüne Pflanzen hinauf bis zu der Kuppel, die das Dach bildete. Eine von vielen, denn jedem der sieben Türme - Elayne hatte sie von Weitem schon gezählt - war eine solche Kuppel aufgesetzt. Deren hellblaue Kacheln gingen in die Farbe des Himmels über, schienen dort oben eins mit ihm zu werden. Ein Anblick, der Elayne in Staunen versetzte. Das sollte also ihr neues Zuhause werden: Dieser Ort, der auf Anhieb so gar nichts mit Balezan gemein hatte.

Der Gedanke verpasste ihr einen Stich. Kurz kniff sie die Augen zusammen, schob es aber auf einen blendenden Sonnenstrahl. Ihre Handflächen waren schweißnass, sodass die seidenen Handschuhe an ihr klebten. Die feinen honigblonden Härchen, zu kurz für ihre elegante Flechtfrisur, kräuselten sich aufgrund der Feuchtigkeit rings um ihre Stirn und in ihrem Nacken.

Leider konnte die Luft, die Milly ihr müde mit dem Fächer zuwehte, dem nur wenig entgegenwirken. Elayne wollte das Ding nehmen und es selbst machen, aber Gondrick hatte es ihr verboten.

Du spielst ab heute die Rolle einer Hochgeborenen. Bedienstete übernehmen diese Dinge für dich. Alles andere würde unsere Gastgeber argwöhnisch machen, erinnerte sie sich an seine Ermahnung.

Dasselbe hatte er gesagt, nachdem sie an dem Versuch gescheitert war, sich ohne Hilfe in die drei Lagen edler Stoffe zu zwängen, die von nun an zu ihrer Alltagskleidung zählten. Ihren Körper zeichneten deutlichere Kurven als den von Nia und keines ihrer hinterlassenen Kleider passte richtig. Aber in eben diesen Stoffen schwitzte sie nun unter der prallen Sonne, die ins Reich Kree gehörte wie das Salz ins Meer.

Vielleicht lag es nicht nur an der Hitze des Westlandes. Vielleicht legte ihr ebenso sehr die Nervosität die Schweißperlen an. Schließlich war sie drauf und dran, ein ganzes Volk zu belügen, dessen Königsfamilie, einschließlich ihres zukünftigen Ehemanns. Bisher hatte sie immer die Hoffnung gehegt, einmal aus Liebe zu heiraten. Noch etwas, das der Tod ihr genommen hatte.

Die Entscheidung war allein Elayne überlassen worden. Niemand zwang sie dazu, ein so hohes Risiko einzugehen. Dennoch fühlte es sich nicht an, als hätte sie tatsächlich eine Wahl gehabt. Nias Verantwortung, mit ihrer Verlobung ein dringend benötigtes Bündnis einzugehen, lastete plötzlich auf ihren eigenen Schultern. Ohne Krees militärische Stärke war Balezan seinen Feinden im Süden und im Norden schutzlos ausgeliefert. Ganz zu schweigen davon, dass auch die Armee von Kree genug Männer zählte, um den balezanischen Thron zu erobern. Ihr Heimatland lag eingekesselt mitten auf dem Kontinent Hydea. Durch großzügige Handelsabkommen hielt Seremon ihre Nachbarn bisweilen davon ab, für ihre wertvolle Erde in einen offenen Krieg zu ziehen. Es blieb bei Überfällen auf die Grenzgebiete, von denen sich die Herrscher arglistig freisprachen. Niemand machte dem König von Balezan öffentlich den Thron streitig. Doch wie lange würde dieser Zustand andauern – bis es keine Männer mehr gab, die Seremon an die Grenzen seines Reiches entsenden konnte?

Eine Hochzeit mit dem jüngeren Prinzen von Kree war nicht bloß strategisch klug - sie war eine Rettungsleine. Eine, die nur Prinzessin Ophenia ergreifen und damit Menschenleben retten konnte. Oder eben ein Mädchen, das den nötigen Wahnsinn besaß, sich unrechtmäßig ihre Krone aufzusetzen.

Elayne hatte an diesem Morgen ihr Häubchen gegen diese Krone ausgetauscht. Und seitdem fragte sie sich ununterbrochen, ob sie es bald schon bereuen würde.

Zu beiden Seiten des Weges zum Palasteingang hatten sich Schaulustige aufgereiht. Sensationsgier lag in ihren Augen oder … Misstrauen. Sämtliche Augenpaare waren auf die vermeintliche Prinzessin gerichtet. Einem dieser Menschen musste doch auffallen, dass sie rein gar nichts Königliches an sich hatte. Kein teures Kleid und keine Krone dieser Welt konnten diesen Umstand verbergen.

Würde sie überhaupt einen einzigen Tag hier überleben? Einen König zu täuschen war Hochverrat - würde man ihr wenigstens die Gnade einer Anhörung erweisen oder wäre ihr Leben sofort verspielt? War es in Kree üblich, Gefangene zu foltern?

Als sei das Schwitzen nicht genug, wurde ihr zu allem Übel auch noch schwindelig.

Sowie sie an ihnen vorbeischritt, neigten die Umstehenden respektvoll die Köpfe. Doch gleich danach konnte sie wieder ihre Blicke auf sich spüren. Als Bedienstete kannte sie diese Art der Aufmerksamkeit nicht, hatte nie erfahren müssen, wie es war, unter ständiger Beobachtung zu stehen. Das würde sich ab heute ändern.

»Wenn ich diese Bürde jemandem zutraue, dann dir«, raunte Gondrick ihr im Gehen zu. Hinter ihnen wurden die Pferde zu den Palaststallungen gebracht und das Reisegepäck abgeladen. »Außerdem werde ich dir nicht von der Seite weichen, solange du mich brauchst.«

Auch ein General würde sie nicht vor dem Strick bewahren können, wenn der Vorhang erst einmal gefallen war. Dennoch half es ihr ungemein, ihn in ihrer Nähe zu wissen. Die Ruhe, die der grauhaarige Krieger ausstrahlte, schenkte ihr Kraft, und darüber hinaus gab es niemanden, dem sie mehr vertraute. Zumindest jetzt nicht mehr.

Ein unsichtbares Gewicht legte sich auf ihre Brust.

»Solltest nicht lieber du dich als Nia ausgeben? Das wäre bestimmt weniger auffällig«, versuchte sie, ihre Beklemmung mit einem Scherz abzuschütteln.

Leider ohne Erfolg. Wenigstens Milly rang sie damit ein unterdrücktes Kichern ab. Es erstarb allerdings, sobald sie sich dem Empfang näherten.

»Willkommen in Kree, verehrte Prinzessin!« Ein runder, älterer Herr in einer moosgrünen, blumig verzierten Robe trat auf sie zu, die Arme einladend ausgebreitet. Direkt vor ihr verbeugte er sich. »Wie ich sehe, reist ihr in großer Gesellschaft. Ich werde umgehend einige Zimmer mehr herrichten lassen. Aber nun will ich Euch erst einmal bitten, mich zu begleiten. Meine Wenigkeit hört übrigens auf den Namen Borgwen.«

Die Geschwindigkeit seiner Worte überrumpelte Elayne, die nur mühsam ein Lächeln hervorbrachte.

Verstohlen musterte sie die übrigen Menschen, die zu ihrer Begrüßung gekommen waren. Adelige in schönen Gewändern, auch einige Männer unter ihnen, aber auf niemanden unter ihnen passte die Beschreibung des Prinzen. Zunächst erleichterte sie das, denn es verschaffte ihr noch ein wenig mehr Zeit, bevor das wahre Spiel begann. Doch wenn sie ganz ehrlich war, enttäuschte es sie auch ein wenig. Immerhin ging es um den Mann, den sie heiraten sollte. Sie kam fast um vor Aufregung, und er schickte jemanden vor, um sie in Empfang zu nehmen.

»Sehr erfreut«, gab sie leise zurück und spähte zu Gondrick, der aufmunternd nickte.

Zum Glück schien diesem Borgwen ihre Unsicherheit nicht aufzufallen. Er bedeutete ihnen ohne weitere Umschweife, ihm zu folgen.

Ein mit Wandteppichen gesäumter Gang führte sie vor eine Flügeltür. Als die Tür geöffnet wurde und Elayne den ersten Schritt in den dahinterliegenden Saal tat, erstarrte sie.

Durch zwei Reihen meterhoher Fenster zu beiden Seiten erhellte das Tageslicht den Raum, dessen bemalte Decke rund zusammenlief. Vor ihr, am Ende eines langen Teppichs, standen vier Throne, angefertigt aus demselben Sandstein des Mauerwerks. Auf den beiden mittigen hatten eindeutig König Phelius und Königin Jamalie Platz genommen. Das bedeutete, der junge Mann, der links von ihnen saß … Nein, möglicherweise war er es gar nicht. Kree hatte zwei Prinzen. Zwei. Der Mann auf dem dritten Thron musste einer von ihnen sein und somit vielleicht ihr zukünftiger Ehemann. Der vierte Thron war leer.

Ein sanfter Stoß aus Gondricks Richtung traf Elayne in den Rücken und erst da bemerkte sie, dass sie stehengeblieben war. Zittrig atmete sie ein, bevor sie sich wieder in Bewegung setzte, darum bemüht, gerade und selbstbewusst zu gehen. Rücken durchstrecken, Kinn nach oben, gleichmäßige Schritte, wiederholte sie innerlich, was Marbe früher Nia eingebläut hatte. Sie fragte sich, ob sie auch nur annähernd so elegant wirkte wie die echte Prinzessin, während ihre Füße sie auf die drei Gestalten zutrugen.

Aus der Nähe fiel ihr die schöne, schwarzhaarige Königin als erstes auf. Im Licht schienen ihre Augen wie geschmolzenes Gold – eine Farbe, die eigentlich Wärme ausstrahlen sollte. Doch der Ausdruck darin, so kalt und hart, sorgte dafür, dass sich Elayne noch mehr versteifte.

Phelius dagegen wirkte gleichmütig. Zornes-, aber auch Lachfalten zeigten deutlich das Alter des Königs, wobei beim ersten Hinschauen nur wenige graue Strähnen in seinem sonst braunen und noch immer vollen Haar auffielen. Mit den breiten Schultern und der braunen Haut saß er neben seiner Frau wie ihr genaues Gegenstück.

Endlich überwand sich Elayne und linste zur Linken des Königs. Der Prinz war, wenn überhaupt, nicht viel älter als sie selbst und auffallend attraktiv. Sobald sich ihre Blicke trafen, leuchteten seine Augen auf, und Elayne konnte spüren, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Gleich darauf fühlte sie sich schuldig. In diesem Moment kam es ihr vor, als würde sie Nia etwas wegnehmen. Die erste Begegnung mit ihrem Prinzen. Das Leben, das für sie bestimmt gewesen war. Ihr mögliches Glück, das sie zu finden geschworen hatte.

Vielleicht ist er es nicht, erinnerte sie sich in dem Versuch, die Schuldgefühle loszuwerden.

Aber ihr Bauch sagte ihr, dass sie sich etwas vormachte. Es hieß, Alesander sei schön, und dieser Prinz war es ganz sicher. Seine Schultern wirkten nicht so stark wie die seines Vaters und sein Gesicht weniger kantig. Vielmehr haftete ihm eine nahezu verwundbare Schönheit an. Mit den vollen Lippen, der geraden Nase und den von dichten Wimpern umrahmten Augen aus Gold hatte er Jamalies schönste Merkmale geerbt. Sein Hautton und die dichten, bronzefarbenen Haare erinnerten eher an die Herkunft des Königs.

»Prinzessin Ophenia, seid willkommen«, riss eine selbstbewusste Männerstimme Elayne aus ihrem Starren. »Ich hoffe, Eure Reise verlief ohne Beschwerlichkeiten?«

Phelius rein höfliche Frage traf sie wie ein Splitter in die Brust. Nichts an ihrer Reise hierher war auch nur ansatzweise so verlaufen wie erwartet. Doch nun stand sie hier und musste um des Lebens willen diese Rolle spielen.

»Es ist mir eine Ehre, hier sein zu dürfen«, sprach sie die auswendig gelernte Begrüßung und neigte den Kopf. »Euer Heim ist wahrlich beeindruckend und die Strapazen einer Kutschfahrt sind nicht der Rede wert.«

Wie von Gondrick vorhergesagt, breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht des Königs aus. »Ihr seid charmant, genau wie es mir zugetragen wurde. Wohlan. Darf ich Euch meine Königin vorstellen?«

Er wies auf Jamalie, deren Züge wie versteinert blieben. Für eine Frau über vierzig sah sie erstaunlich jung aus. Nur die Falten zwischen ihren Augenbrauen, die sie wahrscheinlich oft zusammenschob, gruben sich tiefer in ihre helle Haut. Sie trug viel Schmuck und ein freizügiges Kleid, beides dominiert von dem roten Funkeln dicker Rubine.

»Ich sehe, Ihr seid ebenso ansehnlich, wie man es Euch nachsagt, Prinzessin.« Was ein Kompliment hätte sein können, klang nicht wie eines. Jamalie tränkte jedes Wort mit ihrer Eiseskälte.

Am liebsten wäre Elayne umgedreht und hinausgerannt. Egal wohin, nur weg. »Ich danke Euch. Aber niemals würde ich es wagen, mich mit Euch zu vergleichen.«

Die richtigen Worte zu finden, fiel ihr leicht, dank der vielen Jahre so dicht an Nias Seite. Sie hatte in ihrem Leben schon mehr Adeligen Honig ums Maul geschmiert, als sie zählen konnte. Trotzdem kam die Antwort nur schwer über ihre Lippen. Ihr Mund fühlte sich trocken an, ihre Zunge wie Papier. Außerdem fürchtete sie, jemand könnte hören, mit welcher Wucht ihr Herz gegen ihre Brust hämmerte.

Womit hatte sie die Königin gegen sich aufgebracht – ahnte sie, dass man ihr eine falsche Braut für ihren Sohn vorführte?

Jamalie lächelte und überraschenderweise wirkte es echt. »In der Tat sehr charmant. Alesander, was hältst du von unserem Gast?«

Ruckartig schaute Elayne zu dem bisher schweigsamen Prinzen.

Er ist es!, überschlug sich ihre innere Stimme. Er ist Nias … Mein Verlobter.

Der Blick, mit dem Alesander sie ansah, verwirrte sie. Darin lag Freundlichkeit, aber auch noch etwas anderes. Vielleicht täuschte sie sich, doch es wirkte wie … Begeisterung. Freute er sich tatsächlich über eine Ehe mit jemandem, den er gerade zum ersten Mal sah?

Kurz erwischte sie sich bei dem Gedanken, dass die Männer in Kree womöglich mehrere Frauen heirateten. In dem Fall müsste ihn eine Ehe mehr oder weniger natürlich nicht kümmern. Aber sie verwarf diese Überlegung schnell, schließlich hätte ihr davon jemand erzählt.

Oder?

»Ophenia.« Nias Namen aus seinem Mund zu hören, während er sie derart intensiv ansah, bereitete ihr Unbehagen. Dennoch konnte sie nicht leugnen, dass die Sanftheit in seiner Stimme ihrer Nervosität entgegenwirkte. »Die Erzählungen werden Euch nicht gerecht.« Zu allem Überfluss deutete er mit dem Kopf auch noch eine Verneigung an.

Verlegen spielte Elayne mit einer Locke in ihrem Nacken, bevor ihr einfiel, dass sie sich zusammenreißen musste. Hastig nahm sie ihre Hand wieder runter. »Ich … Ihr seid zu freundlich, Hoheit.«

»Nennt mich bitte Alesander.«

»Alesander. Ich bin … Ophenia.«

Mit einem Lächeln entblößte er eine Reihe gerader, weißer Zähne. »Ich weiß.«

König Phelius räusperte sich und Elayne streckte den Rücken durch, als sei sie bei etwas Verbotenem ertappt worden. Hatte sie den Prinzen schon wieder angestarrt?

»Wie mir scheint, finden die beiden bereits Gefallen aneinander«, stellte Phelius zufrieden fest. »Sehr schön, sehr schön.« Er machte eine weite Geste mit seiner Hand. »Prinzessin, Ihr seid weit gereist. Macht Euch mit Euren neuen Räumlichkeiten vertraut und ruht Euch aus. Heute Abend sehen wir uns zum Willkommensbankett wieder.«

Bankett. Bei dem Wort wurden Elaynes Beine weich wie Pudding. Alle Augen des kreeschen Adels würden heute Abend auf sie gerichtet sein - die balezanische Prinzessin, die zukünftige Braut des Prinzen.

»Es wird mir eine Freude sein«, verabschiedete sie sich und die erste Prüfung ihrer Lüge war überstanden.

Hydeas Lied

Die wahre Schönheit der Welt liegt nicht in dem, was wir mit den Augen sehen.

Die wahre Geschichte des Lebens erzählen nicht wir Menschen allein.

Dies ist ein geeintes Land, doch seine Grenzen lagen mal hier, mal dort und waren niemals mehr als Linien auf einem Papier. Sogar der Boden selbst, den wir als den unseren beanspruchen, ist nicht das, wofür wir ihn halten. Seine Beschaffenheit und seine Form bleiben nie dieselbe und zeigen uns nicht, woraus das Land besteht.

Nur wenige von uns sehen wirklich. Nur wenige hören der Geschichte zu. Nur wenige verstehen Hydeas Lied.

- Aus Wissen aus dem alten Land

4

Warmer Wind umspielte Elaynes bloßen Hals, nicht stark genug, um diese elende Hitze zu vertreiben. Sie brauchte dringend passendere Kleider, wenn sie noch länger als einen Tag aufrecht gehen wollte. In dem Kleid, das sie jetzt trug, schnürte sich ihr die Brust zu. Es gehörte Nia, roch sogar noch nach ihr. So blumig und leicht wie die besseren Tage des Lebens, das sie mit Balezan hinter sich gelassen hatte. Sofort füllten sich Elaynes Augen mit Tränen. Das hier war Nias Kleid, Nias Bestimmung, Nias Glück!

»Du hast dich gut geschlagen, Mädchen.«

Als Gondrick hinter ihr auftauchte, zuckte sie überrascht zusammen. Wie konnte er sich nur so leise bewegen? Aber vielleicht war sie auch nur zu sehr in Gedanken gewesen.

Er trat neben sie ans Balkongeländer und ließ den Blick über den Garten schweifen. Zwar war dessen Boden überwiegend steinig und trocken, doch in unzähligen Vasen und Krügen, die so aufgereiht standen, dass sie Durchgänge bildeten, wuchs allerlei heran. Die Menschen, die dort entlang flanierten, hielten sich vorwiegend unter den schattenspendenden Palmen auf. Nicht weit entfernt, hinter einer Mauer, die wie fast alles hier aus Sandstein bestand, begann ein Wald aus Olivenbäumen. Viel weiter reichte die Aussicht von hier allerdings nicht. Von heute an würde dies ein täglicher Anblick für Elayne sein, begleitet vom Geruch warmer Erde. Jeden Morgen, wenn sie sich aus den seidenen Laken ihres Himmelbettes schälen und auf den Balkon vor ihrem Schlafzimmer hinaustreten würde. Bestimmt sah der Sonnenaufgang über all dem wunderschön aus. Dennoch konnte der Ausblick ihre Laune nicht heben. Gondrick stand direkt neben ihr und doch fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor. Sie gehörte nicht an diesen Ort. Nicht ohne ihre Freundin. Bisher hatte sie immer geglaubt, ein gebrochenes Herz sei eine poetische Umschreibung für den Kummer der Menschen. Doch nun wusste sie es besser. Ihr Herz tat wahrhaftig weh. Mit jedem Schlag erinnerte sie der Schmerz einmal mehr daran, dass sie Nia für immer verloren hatte. Es war schwer genug gewesen, ihr Zuhause zurückzulassen. Aber zurückgelassen zu werden, bedeutete eine ganz andere Art der Sehnsucht.

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen. Aus den Bäumen des Waldrandes löste sich etwas Schwarzes. Ein Rabe. Er zog einen Bogen am Himmel, flog dann geradewegs auf sie zu. Elayne beobachtete, wie er sich auf dem Geländer ihres Balkons niederließ. So nah, sie hätte nur die Hand ausstrecken brauchen, um ihn zu berühren. Doch sie bewegte sich kein Stück, um das Tier nicht zu verschrecken. Erstaunt über seine Zutraulichkeit, sah sie dabei zu, wie es den Kopf schieflegte, sein ihr zugewandtes Auge direkt auf sie gerichtet.

»Na, bist du auch hier, um die falsche Prinzessin zu begrüßen?«

Der Vogel reagierte, indem er den Kopf auf die andere Seite legte. Das interpretierte sie als Zustimmung.

»Dich begrüßen?«, wunderte sich Gondrick. »Ich habe dich hergebracht, Mädchen. Und bezeichne dich nicht so. Du weißt nie, wessen Ohren in der Nähe sind.«

»Verstanden. Aber ich habe nicht mit dir gesprochen, sondern mi-«

Von dem Raben fehlte jede Spur. Dabei hatte sie nur einen Moment nicht hingesehen.

Gondrick tätschelte ihr den Rücken. »Dein Leben ist zurzeit nicht einfach. Ruh dich aus. Heute Abend werden wir beim Bankett erwartet. Prinzessin Ophenias …« Er seufzte, wischte sich übers Gesicht. »Deine Kleider wurden bereits hergebracht.«

Noch immer verwirrt, starrte Elayne auf die Stelle, an der eben noch der Vogel gesessen hatte. »Die passen mir nicht.«

Ich ertrage sie nicht.

»Dann sollte ich mich schleunigst um eine Lösung für dieses Problem bemühen. Und du solltest …«

»Mich ausruhen. Ich weiß.«

Er nickte, und kurze Zeit später blieb sie allein zurück.

5

Es waren mehrere Stunden vergangen, doch Elayne hatte kein Auge zubekommen. Unruhig hatte sie sich in dem großen, grausam weichen Himmelbett hin und her gewälzt, in das sie einfach nicht gehörte. Der Grund für ihre Schlaflosigkeit war, dass sie gar nicht hatte einschlafen wollen. Vielmehr wollte sie aufwachen, aus diesem wirren Traum, der ihr ganzes Leben auf den Kopf stellte.

Nia müsste in diesem Augenblick auf einem Hocker vor dem Spiegeltisch sitzen und die Haare frisiert bekommen, nicht sie. Doch so sehr Elayne sich auch bemühte, endlich aufzuwachen, sie blieb die falsche Prinzessin. Nia blieb tot.

»Was würde ich dafür geben, deine Haare zu haben.« Milly, die sie fertig gekämmt hatte und nun an Elaynes Frisur tüftelte, beugte sich vor, sodass ihr Gesicht neben ihrem im Spiegel auftauchte. »So viele Möglichkeiten. Bei mir sind die eher begrenzt.« Die kurzen roten Locken lugten unter ihrem Häubchen hervor und standen in sämtliche Richtungen ab. »Deine sind wie seidiges Gold.« Sie seufzte, und widmete sich wieder ihrer Aufgabe.

»Mir gefällt deine wilde Mähne. Du siehst furchtlos aus. Wie ein Feuer, das niemand löschen kann.«

»Das kann nur jemand sagen, der keine Ahnung hat.«

Ein paar Mal ziepte es, aber bald schon konnte sich das Werk sehen lassen.

Elayne erhob sich dankend und trat hinüber zum größeren Spiegel, in dessen Holzrahmen schöne Ornamente eingeschnitzt waren. Widerstrebend betrachtete sie sich darin.

Die Schatten unter ihren braunen Augen sprachen Bände über die furchtbaren Tage und schlaflosen Nächte, die hinter ihr lagen. Mit dem Puder, das Milly ihr reichte, versuchte sie ihr Möglichstes, sie zu verstecken. Dazu verteilte sie dunkle Farbe auf ihren Lidern, die zu dem dunkelgrünen Kleid passte, das man für sie vorbereitet hatte. Der leichte Stoff umhüllte sie in luftigen Wogen. Nur an der Taille wurde er durch eine Kordel, deren kupferner Farbton sich in Verzierungen am Dekolleté und an den kurzen Ärmeln wiederfand, eng an ihrem Körper gehalten. Es sah zu edel, zu fein gearbeitet für die Person aus, die sie in Wirklichkeit war. Aber wenigstens haftete ihm nicht der vertraute Duft ihrer Freundin an.

Um das Puder unter ihren Augen nicht mit aufsteigenden Tränen zu verwischen, richtete sie ihren Blick schnell auf Millys Werk. Ein Teil von Elaynes Haaren lag zu einem Kranz geflochten um ihren Kopf, während sich der Rest in langen Wellen über ihre Schultern ergoss. Sie umrahmten ihr Gesicht, auf das sich seit ihrer Anreise bereits erste Sommersprossen gesetzt hatten. Die fröhlichen Tupfer lenkten davon ab, dass ihren Wangen das übliche gesunde Rosa fehlte.

»Du bist bildschön«, versicherte ihr Milly, die unbemerkt neben sie getreten war. »Der Prinz ist dir wahrscheinlich längst verfallen.«

Wenig überzeugt wandte sich Elayne von ihrem Spiegelbild ab. Der starke Geruch ihres eigenen Parfüms stieg ihr in die Nase und sie musste schnauben. »Danke, dass du mir Mut machen möchtest. Aber es fühlt sich nun mal falsch an. Nia ist diejenige, die hier stehen und sich auf ein Bankett vorbereiten sollte. Wenn Prinz Alesander der Unterschied zwischen einer echten Prinzessin und mir nicht auffällt, ist er blind.« Und bisher schien es ihm wirklich nicht aufzufallen. Mit welcher Zufriedenheit, welcher Intensität er sie angesehen hatte, wühlte noch immer ihre Gedanken auf.

Ich werde ihn heiraten und mich für immer so fühlen wie jetzt.

Milly erwiderte irgendetwas, doch sie hörte ihr nicht länger zu. Viel zu stark war der Druck, der sich auf ihre Brust legte und ihr das Atmen schwer machte.

Heiraten.

In ein paar Monaten, noch vor dem Winter, würde sie Alesander heiraten. Einen völlig Fremden. Sie würde für den Rest ihres Lebens dieses gewaltige Geheimnis vor ihm hüten und gleichzeitig alles andere mit ihm teilen.

Das Bett, schoss es ihr siedend heiß durch den Kopf.

Nicht, dass sie noch keine Erfahrung gemacht hätte. Tatsächlich hatte es in der Vergangenheit mehrere verstohlene Begegnungen mit dem Küchengehilfen Lewin gegeben. Aber zwischen der Neugierde zwei junger Menschen und den Verpflichtungen einer Ehe lagen Welten. Bald musste sie sich einem Mann für immer versprechen, ihre Lüge für alle Zeit aufrechterhalten.

»Ich kann das nicht«, stieß Elayne gebrochen hervor. Ihre Hand wanderte an ihre Kehle, dorthin, wo ein unsichtbares Band ihr die Luft abschnürte. »Ich kann nicht.«

»Wovon redest du?« Milly wurde sofort aufgescheucht.

Er wird mich durchschauen. Sie alle werden das. Besser, wir verschwinden gleich! Das wollte Elayne antworten.

Jedoch blieb ihr jedes einzelne Wort im Hals stecken. Hektisch rang sie nach Atem.

Da klopfte jemand von außen gegen die Tür und einen Augenblick später trat Gondrick ein. Als sein Blick auf Elayne fiel, weiteten sich seine Augen.

»Was ist mit dir?«

Er eilte zu ihr, um sie zu stützen. Keinen Moment zu früh, denn schon wich ich ihr alle Kraft aus den Gliedern. Millys überfordertes »Ist sie in Ordnung?« ignorierend, sank Gondrick mit ihr auf den steinernen Boden und zwang sie, ihn anzusehen. Die Wärme und die Sorge in seinem Ausdruck fingen sie ebenso auf wie seine Arme.

Noch immer wollte einfach nicht genügend Luft ihre Lungen füllen. Es war zu viel, die Bürde zu groß. Wie sollte jemand so Machtloses wie sie eine solche Aufgabe bewältigen? Wie lange würde sie mit einem Betrug dieser Größenordnung durchkommen, und welche Strafe erwartete sie, sobald man sie überführte?

Alles drehte sich. Die Wände rückten näher und näher.

»Natürlich fürchtest du dich.« Gondrick sprach ruhig, seine Stimme füllte ihren Kopf, glättete langsam die Wogen. »Vergib mir. Ich verlange dir so viel ab. Wenn du nicht zu dem Bankett gehen willst, brauchst du jetzt nur mit dem Kopf zu schütteln. Bestimmt hat der hübsche Prinz noch nie ein Nein gehört und fände die Abwechslung sogar erfrischend.« Wie durch ein Wunder spürte Elayne, wie sich ihre Lippen für einen Moment zu einem Lächeln verzogen. Die Vorstellung, für Alesanders erste Zurückweisung verantwortlich zu sein, amüsierte sie selbst in dieser Verfassung. »Wenn dir das alles zu viel ist, brauchst du auch morgen nicht mehr hier zu sein. Ich sage dem König, wir hätten es uns anders überlegt, und dann reisen wir so schnell wie möglich ab. Ich meine es ernst. Nur ein Kopfschütteln von dir und wir satteln die Pferde. Wir werden über alle Berge sein, ehe jemand unser Verschwinden bemerkt.«

Selbstverständlich lag nichts von alldem im Bereich ihrer Möglichkeiten. Kree derart vor den Kopf zu stoßen, würde sie nicht nur das Bündnis kosten, sondern ihnen einen weiteren Feind bescheren. Dennoch löste sich nach und nach die Schlinge um Elaynes Kehle, der Druck auf ihrer Brust nahm ab.

Nein, niemand forderte von ihr, dieses gefährliche Spiel zu spielen. Sie tat es, weil sie es wollte. Die Menschen in Balezan verdienten es, dass sie ihr Bestes gab, um für das Land ein Bündnis zu schaffen. Im Vergleich zu dem, was ein Krieg anrichten würde, war eine Hochzeit mit einem Fremden wohl ein kleines Opfer. Balezan brauchte militärische Stärke, Alesander eine Braut und Elayne nur einen letzten tiefen Atemzug, bevor sie sich endlich wieder zusammenraufte.

Dankbar drückte sie Gondricks raue Hand. »Hilfst du mir auf? Prinzessin Ophenia wird bei einem Bankett erwartet.«

6

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