Wächter der Verbotenen - Sebastian von Arndt - E-Book

Wächter der Verbotenen E-Book

Sebastian von Arndt

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Beschreibung

Wenn die eigene Existenz verboten und die Wahrheit zur Legende wird. Ein Junge, der lieber ein Kater wäre. Eine Maus, die fliegen kann. Eine Fee, die in der Falle sitzt. Eine Hexe, die sich selbst verflucht. Ein Lord, der mit Dämonen spielt. Entdecke die verborgenen Reiche! Ein neues Werk des Autors des Fantasyklassikers "Die letzte Saat".

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Seitenzahl: 198

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Sebastian von Arndt

Wächter der Verbotenen

Außer der Reihe 49

Sebastian von Arndt

WÄCHTER DER VERBOTENEN

Außer der Reihe 49

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: August 2021

p.machinery Michael Haitel

Titelbild & Illustrationen (in der Printausgabe): Tithi Luadthong (Shutterstock)

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Norderweg 31, 25887 Winnert

www.pmachinery.de

ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 252 2

ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 843 2

Prolog

Die Holztür des alten Reisewagens öffnete sich und der Wind trieb wirbelnde Schneeflocken hinein.

»Brr, ist das kalt da draußen!«, sagte Hel. Rasch schloss er die Tür wieder hinter sich. Er schüttelte den Schnee von den Schultern und streifte etwas ungelenk die Lederstiefel von den Füßen. Seine Ohrspitzen, die unter dem bunten Wollschal hervorlugten, leuchteten rot.

Tya saß im Bett auf der raschelnden Strohmatratze und beobachtete ihren Vater dabei, wie er Feuerholz nachlegte. Kurz darauf knisterte es wieder im Kanonenofen. Der Duft nach Tanne breitet sich im Reisewagen aus und vermischte sich mit den Gerüchen der zahlreichen Kräuter, die überall an Schnüren befestigt unter der Decke hingen.

Tya mochte den Anblick der Kräuter und ihr Schattenspiel im Feuerschein. Sie kannte jede Pflanze. Schon oft hatte sie ihrem Vater dabei geholfen, die Kräuter im Mörser zu zerreiben, um aus ihnen Arzneien herzustellen. Die Tinkturen und Salben lagerten in einem kleinen Schrank neben dem Sekretär. Die Etiketten auf den Fläschchen waren mit ihren Bildern verziert. Zurzeit gab es jedoch wenig für sie zu tun und die Tinte im Fass war gefroren.

Trotz der Kälte liebte Tya den Winter. Das Licht, den Schnee, die Gerüche, das Lodern der Flammen im Ofen, die Nähe zu ihrem Vater.

»Na, meine Kleine, kannst du nicht schlafen?« Hel zog den gewachsten Mantel aus und kam näher. Den Wollschal behielt er um. Wie immer. Tya hatte ihn zusammen mit ihrer Mutter gestrickt. Als er sich zu ihr auf die Bettkante setzte, schob er den Schal, der ihm noch immer vorm Mund stand, unters Kinn und lächelte sie an. Er hatte so ein unwiderstehliches Lächeln. Tya lächelte zurück.

»Die Kälte beißt mich immer wach«, sagte sie. Sie schlang die Flickendecke enger um sich. »Brr.« Ihr Atem bildete kleine Wolken. »Ich habe den Schrei des Uhus im Wald gehört und die Aufregung der Pferde gespürt, als du sie gefüttert hast. Außerdem habe ich deinen Schritten vor dem Wagen gelauscht. Ich mag es, wenn der Schnee unter den Füßen knackt.«

Hel musste lachen und wuselte ihr neckisch durch das Haar. »Du bist mir eine. Die Kälte färbt dir die Lippen blau und trotzdem findest du noch Gefallen an der weißen Pracht und klirrenden Eiszapfen. Aber gut so. Ich denke nämlich, dass wir noch einige Zeit hier festsitzen werden. Die Pferde bekommen die Räder immer noch nicht bewegt.«

»Mir gefällt es hier.«

»Das ist mir aufgefallen. Du spielst gerne mit den Mädchen aus dem Dorf, oder?«

Tya nickte. »Heute sind wir auf dem See geschlittert. Das hat Spaß gemacht. Und wir haben einen Hirsch gesehen. Der hatte ein riesiges Geweih. Als er uns bemerkt hat, hat er mir direkt in die Augen gesehen. Ich glaube, es war der Herr des Waldes. Der Hirsch des Erlkönigs.«

Hel sah sie überrascht an. »Der Herr des Waldes? Was für ein seltenes Glück. Und ein gutes Zeichen. Es heißt, wer den Hirsch erblickt, dem wird Gutes widerfahren.« Nach einer kurzen Pause sagte Hel weiter: »Ich gebe zu, auch mir gefällt es hier am Rande des Dorfes. Selbst die alten Leute sind freundlich. Du hättest Großmütterchen Gretel mal sehen müssen, nachdem ich ihr die Kräuterumschläge gemacht hatte. Selten solch eine Dankbarkeit in den Augen gesehen. Und von deinen Verzierungen auf dem Fläschchen mit der Tinktur konnte sie ihren Blick gar nicht mehr abwenden. So fasziniert war sie. Trotzdem«, Hels Gesichtszüge veränderten sich, »wir müssen vorsichtig sein.« Er sah Tya sorgenvoll an. »Bitte, versprich mir, weiterhin aufzupassen.« Er strich ihr das Haar zurück, um ihr Ohr sehen zu können. »Die hast du von deiner Mutter.« Er lächelte wieder. »Diese leicht nach hinten gebogene Spitze.«

Es kitzelte Tya, als er mit dem Finger den Schwung an ihrem Ohr nachzeichnete. Sie kicherte und drehte den Kopf weg. »Ich verspreche es.« Dann griff sie nach ihrem Lieblingsbuch, das neben dem Bett lag. Es war in dunkelrotes Leder gebunden. Auf dem Rücken war der Titel in Gold mit reicher Ornamentik geprägt: Die Legenden vom Erlkönig. »Liest du mir vor?«

Hel las ihr fast jede Nacht etwas vor. Zumindest taten sie so. Denn in Wahrheit konnte Hel gar nicht lesen und auch Tya hatte es nie gelernt. Einzig die Wörter des Titels ergaben für sie einen Sinn, riefen Bilder in ihr wach, sodass sie das Abbild des Erlkönigs vor sich sah. Bildhübsch, mit spitzen Ohren, dunklen Haaren und einem spitzbübischen Lächeln auf den Lippen, das ihr Herz jedes Mal schneller schlagen ließ. Gekleidet in erdigen Farben. Mit einem Bogen auf dem Rücken. Stets in Begleitung des größten Rothirsches, den die Welt je gesehen hatte, des Herrn des Waldes.

Aber auch wenn Hel nicht lesen konnte, so war er dennoch ein wunderbarer Erzähler. Woher er seine Ideen nahm, wusste Tya nicht. Er erzählte ihr von den Abenteuern auf der Insel Avalon. Von den Kämpfen gegen die garstige Fanferlüsch, der Dunklen, die versuchte, die Welt zu spalten und ihre Bruchstücke in ewige Finsternis zu hüllen. Der Erlkönig musste gegen Dämonen, Lügen und dunkle Magie bestehen.

Der Ausgang des letzten Abenteuers war noch ungewiss. In der letzten Nacht war Hel einfach mitten in einem Satz eingeschlafen. Sie hatte ihn schlafen lassen. Insgeheim gab sie der Dunklen die Schuld daran. Vermutlich hatte sie einen Schlafzauber über ihn gelegt.

Tya sah Hel erwartungsvoll an. Schließlich nickte er. Das Stroh unter ihnen raschelte, als er mit unter die Decke schlüpfte. Er nahm das Buch und schlug es auf. Draußen frischte der Wind auf. Er heulte um ihren kleinen Wagen und rüttelte an ihm wie ein neugieriger Riese. Der Schnee vor den Fenstern fiel dick und schwer.

Hel blätterte in dem Buch, ließ Seite um Seite über seinen Daumen laufen. »Hm, wo geht es mit unserer Geschichte weiter?«

Plötzlich schob Tya ihren Zeigefinger zwischen die Seiten. »Hier, Vater!« Die rechte Buchseite war farbig illustriert. Der Erlkönig ritt im Galopp auf seinem Hirsch. Hinter ihnen brannte das Schloss der Fanferlüsch lichterloh.

»Stimmt, ausgerechnet am Ende ist mir die Zunge eingeschlafen.«

Hel überlegte kurz, dann fing er an zu erzählen. Augenblicklich begab sich Tyas Geist auf eine Reise. Die detailreiche Illustration vor ihrer Nasenspitze erwachte zum Leben, öffnete sich wie ein Tor zu einer anderen Welt, während sie die Figuren, Landschaften und Schnörkel betrachtete. Die weiche Stimme ihres Vaters, die über allem stand und das Bild in ihrem Kopf malte, leitete sie.

Tya war fast eingeschlafen, als sie bemerkte, wie ihr Vater das Buch mit einem sanften »Plopp« schloss. Sie döste weiter in seinem Arm, während ihre Gedanken sich um den Erlkönig drehten.

Auf einmal hob Hel Tya vorsichtig von sich herunter und stieg aus dem Bett. Die Bodenbretter knarrten. Tya blinzelte. Ihr Vater legte Holzscheite nach und blickte nachdenklich in die Flammen. Ihr fiel eine Träne auf, die sich im linken Auge ihres Vaters verborgen hielt. Was machte ihn so traurig? Auf dem sonst so fröhlich bunten Schal tanzten schwere Schatten. Sie ahnte, woran er dachte: Mutter. Schnell schloss sie die Augen. Beinahe hätte sie auch weinen müssen. Ihr Vater kam zurück und kuschelte sich zu ihr ins Bett. Seine Wärme beruhigte sie.

Erneut war es die Kälte, die Tya wie ein Tier biss und aus dem Schlaf riss. Schwer öffnete sie die Augen. Sie juckten und kratzten, als wäre Sand zwischen die Lider geraten. Es roch nach kaltem Rauch. Das Feuer im Ofen war erloschen. Draußen hörte sie Schritte, die durch Schnee wateten. Im ersten Moment glaubte sie, ihr Vater wäre wieder auf der Suche nach Feuerholz, dann aber fiel ihr auf, dass er noch immer neben ihr lag. Er atmete ruhig und gleichmäßig, ein Lächeln umspielte seine Lippen. Offenbar besuchten ihn angenehme Träume.

Noch immer hörte sie die Schritte. Jetzt waren sie ganz nahe. Tyas Herz klopfte. Wer konnte das sein? Sie sah zum Fenster herüber. Das Wetter hatte sich beruhigt. Die Wolkendecke war aufgebrochen. Ein schwacher Schimmer kündigte den Morgen an. Sie hörte die Pferde schnauben. Plötzlich knirschte und knackte es aus verschieden Richtungen um den Wagen herum.

»Vater«, flüsterte sie. »Vater, wach auf!« Träge bewegte er sich an ihrer Seite. »Draußen ist jemand.«

Hel gähnte. »Hast du etwas gesagt?«, fragte er mit geschlossenen Augen. Dabei wickelte er sich fester in die Decke. Sein Gesicht war ihr jetzt zugewandt.

»Draußen ist jemand«, wiederholte sie.

Das Lächeln auf seinen Lippen erstarb. Er öffnete die Augen und sah sie direkt an. Tya merkte, wie er angestrengt lauschte. Schließlich nickte er.

»Wer …?«

Hel legte mahnend den Finger an den Mund.

In dem Moment hörte Tya ein Flüstern vor der Tür. »Ich glaube, sie schlafen noch.« Sie erkannte die Stimme sofort. Es war die Stimme des Dorfschmiedes. Vor wenigen Stunden war sie noch bei seiner Familie zum Abendbrot gesessen, während Hel die alte Gretel versorgt hatte. Ihre Freundin hatte sie eingeladen. Was tat er hier? Und wer war noch bei ihm?

Hände machten sich an der Tür zu schaffen. Etwas kratzte und schabte. Tya hielt den Atem an. Hel schloss niemals ab. Warum kamen sie nicht herein?

Hel griff ihre Hand und zog sie vorsichtig vom Bett. Er begann, ihr Leinenhemd aufzuknöpfen. Für einen kurzen Moment sah er so unendlich müde aus. »Das sind die Dorfbewohner, meine Kleine«, flüsterte er. »Sie haben eben die Tür versperrt. Sie wissen es. Wir legen die Kleider ab, machen uns unsichtbar und verschwinden durch die Luke in den Wald.«

Tyas Kinn zitterte. Sie wollte nicht schon wieder fliehen, alles zurücklassen, alles verlieren. Ihr Blick fiel auf ihr Lieblingsbuch Die Legenden vom Erlkönig und auf den Wollschal um Hels Hals. Es waren die letzten beiden Dinge, die sie bislang aus ihrem früheren Leben immer hatten retten können. Hel umfasste ihre Schulter. »Hey, wir schaffen das.« Er lächelte. Sie schniefte, nickte dann aber bestimmt.

Auf einmal brach die Hölle über sie herein. Die Fensterscheiben zersprangen in tausend Splitter. Einer der Steine verfehlte Hels Kopf nur um Haaresbreite. Dann rief jemand: »Verbrennt sie! Verbrennt dieses Feenvolk!« Eine Fackel landete hinter Tya auf dem Bett, drei weitere landeten an anderen Stellen. Das Feuer griff mit gierigen Fingern um sich. Es dauerte nicht lange, da fingen die getrockneten Kräuter unter der Decke Feuer und setzten den ganzen Raum in Brand.

»Wir haben keine Zeit mehr! Raus hier!«, rief Hel und ließ die Finger von Tyas Nachthemd. Er rannte in die Mitte des Wagens und öffnete die Bodenluke. Rasch erkundete er kopfüber die Lage. »Noch stehen sie vorne. Wir müssen es probieren!« Er griff Tya unter den Achseln und ließ sie durch die Luke auf den gefrorenen Matsch unter dem Reisewagen ab. Tya war barfuß. Ein kalter Schmerz jagte ihr durch die Beine. Ihr Vater kam neben sie. »Los! Renn so schnell du kannst!«

Sie rannte. Das Schneiden und Piksen unter ihren Füßen spürte sie schon gar nicht mehr. Ihr Blick war fest auf den Rücken ihres Vaters gerichtet. Der Wagen hinter ihnen ächzte, als stünde der ganze Wald in Flammen.

Plötzlich nahm sie zu ihrer Linken einen menschlichen Schatten wahr. Hinter einem Baum stand der Sohn des Dorfschmieds. An seiner Seite führte er den alten Familienhund. Der Hund bellte. Der Junge sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er hob das Gewehr, welches er bei sich trug und zielte mit zittrigem Lauf. Ihr Vater war schneller. Gerade in dem Moment, als der Junge abdrückte, schlug Hel den Lauf nach oben. Tya lief an den beiden vorbei. Nach einigen Schritten blieb sie kurz stehen und sah nach ihrem Vater. Er folgte ihr mit etwas Abstand.

»Weiter!«, rief er ihr zu.

Mit der Zeit wurde das Laufen durch den Tiefschnee immer mühseliger. Tya keuchte und hustete. Ihre Lunge glühte wie ein heißes Kohlestück. Doch die Angst vor der Wut der Dorfbewohner trieb sie vorwärts.

»Tya! Schnell, zieh deine Kleidung aus! Mach dich jetzt unsichtbar!«, hörte sie irgendwann ihren Vater von hinten rufen.

Schüsse zerrissen die Stille des Waldes. Der Hund bellte wieder. Tya blickte über die Schulter zurück. Auch ihr Vater zerrte an seiner Kleidung. Es kostete Zeit, die wärmenden Schichten abzulegen. Ihre Verfolger holten auf. Beinnahe wäre sie gestolpert, als sie das Hemd über den Kopf streifte und blind eine Böschung hinabeilte.

»Da sind sie!« Erneut fielen Schüsse.

Tya hatte es endlich geschafft. Kurz blickte sie an sich herunter, zur Sicherheit, dass sie auch wirklich nichts vergessen hatte. Sie machte sich unsichtbar, lief noch ein paar Schritte und blieb dann stehen.

Wo blieb ihr Vater? War er nicht eben noch hinter ihr gewesen? »Vater?«, flüsterte sie vorsichtig. Sie war für das menschliche Auge unsichtbar, aber nicht für ihn. Auch sie hätte ihn eigentlich sehen müssen.

Er war nicht da.

Noch einmal flüsterte sie: »Wo bist du?«

Eine Antwort blieb aus.

Mit gehetzten Blicken suchte sie die Umgebung ab. Die Kälte kroch ihr unter die Haut. Sie zitterte am ganzen Körper.

Dann sah sie ihn endlich weiter oben die Böschung hinauf. Seine Aura schimmerte golden, ein Zeichen dafür, dass er unsichtbar war. Erleichtert machte sie sich mit winkenden Armen bemerkbar. Er schwankte. War er verletzt? Tya riss entsetzt die Augen auf, als sie bemerkte, dass ihr Vater ganz und gar nicht für die Verfolger unsichtbar war. Um seinen Hals lag noch immer der bunte Wollschal, den sie gestrickt hatte. Er hatte sich verknotet und ließ sich offensichtlich nicht so einfach vom Hals lösen.

»Vater!«

Endlich sah er sie. Er rannte auf sie zu, während er weiterhin versuchte, sich vom Schal zu befreien. »Lauf!«, schrie er. »Lauf weiter!«

Schritte und Stimmen näherten sich. Sie hörte den Hund bellen. »Hey, Leute! Da vorne! Ich glaube, da steckt der Teufel!«

Wieder fielen Schüsse. Sie hallten wie Kanonenschläge zwischen den Bäumen. Hel wurde von den Füßen gerissen und landete kopfüber im Schnee.

»Vater!«

Die Stimmen aus dem Wald wurden lauter. »Ich glaube, ich habe ihn erwischt!«

Die Aura ihres Vaters verblasste. Wie gelähmt beobachtete Tya, wie ihr Vater zu einem letzten Kraftakt ansetzte und die Hand aus dem Schnee hob. In ihr lag der bunte Wollschal. Doch bei seinem Anblick fand sie diesmal keinen Trost. Sie blieb einfach wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen. Ihre Gedanken waren leer.

Die Männer mit den Gewehren versammelten sich um den Leichnam ihres Vaters.

»Du hast ihn tatsächlich erwischt, diesen Hexer!«

»Aber wo steckt das Mädchen?«

Ein Mann, der weiter abseits von den anderen stand, hob etwas auf. »Hier, Leute, liegt ein Nachthemd. Das ist mit Sicherheit ihres.«

»Warte auf meinen Sohn«, sagte der Schmied, »der bringt den alten Kläffer! Er wird ihre Spur schon wiederfinden. Die Beine mögen ihn nicht mehr so sicher tragen, aber auf seinen Riecher halte ich große Stücke.«

Tya sog die kalte Luft durch die Nase ein und spürte, wie sie sich in ihr ausbreitete und alles betäubte.

Sie rannte los. Schnee spritzte auf. Die Männer hinter ihr fluchten und schickten ihr Kugeln hinterher, obwohl sie sie nicht sehen konnten. Die Geschosse gruben sich rechts und links von ihr in den Schnee. Aber Tya rannte weiter. Weiter. Und weiter.

Schließlich fühlte sie sich wie vom Wind getragen. Durch ihr Sichtfeld bewegten sich spitze Äste. Tya blinzelte mehrmals. Sie wusste nicht, wie und wann es passiert war, aber sie saß auf dem Rücken eines Hirsches. Er trug sie durch den Wald. Die Äste vor ihrem Gesicht waren die Verästelungen seines Geweihs. Sein Fell wärmte ihr die Glieder und ein klein wenig das gefrorene Herz in der Brust. Sie ließ es geschehen.

Vor ihrem geistigen Auge sah sie noch einmal die Hand ihres Vaters mit dem Schal. Sie stellte sich sein Lächeln vor. Dieses unwiderstehliche Lächeln. Sie lächelte zurück. Tränen rannen ihr über die Wangen und kitzelten ihre Ohrläppchen, als sie dick daran hinabtropften. Darauf brachen Schmerz und Kummer ungebremst aus ihr heraus. Sie schrie, während der Hirsch sie immer tiefer in den dunklen Wald trug.

Acht Jahre später …

1 | Leander

Leander wunderte sich über das schlafende Mädchen in der Ecke des Kellers. Abgesehen von den spitzen Ohren, die zwischen den schulterlangen, fransigen Haaren sichtbar waren, wirkte es unscheinbar. Eingefallene Wangen, schmutziges Kleid. Es sah aus wie ein Menschenmädchen. Es roch sogar wie eines, trotz der getrockneten Kräuter, die es sich ganz offensichtlich in die Taschen gestopft hatte, um sich nicht selbst riechen zu müssen. Und doch war es dem Mädchen nicht gelungen, sich verborgen zu halten.

Er musste an Schnipper denken, den Jungen mit der grünen Schuppenhaut. Hätte Leander ihn nicht aus der Kanalisation geholt, würde er wahrscheinlich immer noch zwischen Ratten in der Dunkelheit hausen. Ratten! Leanders graues Mausefell sträubte sich. Ein widerliches Pack! Vor dem Jungen hatte er Respekt. Der hatte sich nicht so einfach schnappen lassen, obwohl die Kuriositätenhändler Jagd auf ihn gemacht hatten.

Nicht so dieses Mädchen.

Leander trat mit der Hinterpfote gegen ihren ausgelatschten Lederstiefel.

»Aufwachen«, zischte er.

Das Mädchen rührte sich nicht. Er zog das Nadelrapier, welches er stets auf dem Rücken mit sich führte. Zusammen mit dem Metallknopfschild, das er ebenfalls umgeschnallt hatte, gehörte es zu seiner Grundausrüstung, ohne die er niemals sein Nest verließ. Das Rapier war vorzüglich ausbalanciert und die Nähnadel, das Kernstück der Waffe, lag gut in der Pfote. Der Korb, der gegnerische Schläge abwehren sollte, bestand aus einem Eichelhut, den er noch vor seiner Abreise frisch gefettet hatte. Die Waffe war seine Erfindung und hatte ihm schon oft in gefährlichen Situationen das Fell gerettet.

Prüfend ließ er seine Knopfaugen über den Lederstiefel huschen, um nach offenen Nähten zu suchen. Ein kleiner Stich sollte das Mädchen rasch aus der Welt der Träume zurückholen. Dann konnten sie endlich aus diesem fensterlosen Kellerloch verschwinden.

Schließlich fand er eine Stelle, wo das Leder dünn und rissig war. Er holte aus. Innerlich freute er sich schon darauf, dem unvorsichtigen Mädchen einen kleinen Schrecken einzujagen. Wahrscheinlich erwartete es keineswegs, von einer Maus im Kapuzenumhang geweckt zu werden.

Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Auf der anderen Seite der Tür hörte er schwere Schritte. Auch das noch! Ein Schlüssel klimperte im Schloss. Die Tür schwang quietschend auf. Gerade noch rechtzeitig konnte Leander durch ein Loch im Mauerwerk verschwinden, bevor Licht in den Raum fiel.

Aufmerksam beobachtete Leander aus seinem Versteck das Geschehen. Der dickste Mann, den er je gesehen hatte, schob sich durch die Tür. Die Nähte seines Hemdes waren zum Zerreißen gespannt. In der einen Hand hielt er eine Laterne, in der anderen einen Schlüsselbund. Unter den Armen hatten sich Schweißflecken gebildet. Leander rümpfte angeekelt die Nase. Der Mann schnaufte vor Anstrengung wie ein kranker Bär, vermutlich, weil er trotz seiner Leibesfülle die vielen Treppen hinunter in den Keller gestiegen war. Dennoch funkelten seine Augen gewinnend, als er sich vor dem schlafenden Mädchen aufbaute.

»He, du verflixtes Langohr!«, tönte der Dicke. »Hast uns lange genug auf der Tasche gelegen. Steh auf!«

Das Mädchen öffnete die Augen. Leander erschrak bis ins Mark und drückte sich noch etwas tiefer in die Schatten des Lochs. Seine Tasthaare waren wie elektrisiert. In dem Blick des Mädchens loderte unbändiger Hass. Die Lippen hatte es fest aufeinander gepresst. Offensichtlich hatte er es falsch eingeschätzt. Für den Moment war er nicht mehr sicher, ob es ernsthaft seine Hilfe benötigte. Das Mädchen war wild, ungezähmt und hatte sich längst nicht aufgegeben.

»Wie ich sehe, konnten wir dir den Teufel nicht gänzlich austreiben«, sagte der Dicke. »Widerspenstig bis zum Schluss, dieses Feenvolk.« Er spuckte dem Mädchen angewidert vor die Füße.

»Lassen Sie mal sehen!« Ein zweiter Mann kam hinter dem Dicken zum Vorschein. Er trug einen Mantel mit prall gefüllten Taschen. Die langen, rabenschwarzen Haare fielen ihm ins Gesicht, als er den Kopf wie ein Raubvogel vor dem Mädchen senkte, um es näher zu betrachten. »Ich brauche mehr Licht!«

Der Dicke gehorchte und richtete den Schein der Laterne neu aus. Mit schmutzstarrenden Händen, die in fingerlosen Wollhandschuhen steckten, tastete der Mann nach einem Ohr des Mädchens. Es ließ die Berührungen zu, ohne sich zur Wehr zu setzen. »Tatsächlich. Eine echte Fee.«

Leander schauderte, als er das breite, stille Grinsen des Dunkelhaarigen bemerkte. Der Mann richtet sich wieder zu seiner vollen Größe auf und wandte sich dem Dicken zu.

»Zufrieden, Lord Avram?«, fragte dieser.

»Voll und ganz.«

Der Dicke streckte die flache Hand aus. »Wenn ich dann bitten dürfte!«

»Geschäft ist Geschäft.« Avram förderte ein Säckchen aus der Innentasche seines Mantels. »Wo das herkommt, gibt es noch mehr für Sie. Also, halten Sie weiterhin die Augen für mich offen.«

Der Dicke nahm das klimpernde Säckchen in Empfang. »Gewiss. Ich weiß ja jetzt, wie ich Sie erreichen kann.«

Dann griff Avram nach dem Arm des Mädchens und zog es mit sich, ohne ein weiteres Wort zu verlieren.

Wunderbar, dachte Leander. Und ich ging davon aus, es wäre ein leichter Job. Kurz schätzte er ab, wie seine Chancen standen, als blinder Passagier in eine Manteltasche des Mannes zu schlüpfen. Aber die Distanz war beträchtlich. Außerdem stand der Dicke wie ein Baum zwischen ihm und seinem Ziel und zählte Münzen. Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu hoch. Kurzum, er musste denselben Weg zurücknehmen, den er gekommen war. Hoffentlich hatte er Glück und war schneller als dieser Lord Avram. Er durfte die Spur des Mädchens nicht verlieren.

Unbemerkt gelangte er zu dem Kanalgitter, das in geringer Entfernung zum Mauerloch lag. Der Angelhaken mit der Schnur hing noch da, wo er ihn zurückgelassen hatte. Rasch seilte er sich in die darunter liegende Kanalisation ab. Die Schnur war feucht geworden und er musste gut zupacken, um nicht abzurutschen. Auf keinen Fall wollte er in das unter ihm fließende Abwasser plumpsen, das die Luft mit unangenehmen Gerüchen nach Exkrementen und Verwesung schwängerte. Am Ende der Schnur schwang er ein paar Mal hin und her, dann kam er auf einem alten Rohr zum Stehen.

Leander löste den Angelhaken mit einer geschickten Bewegung und fädelte ihn dann an der Seite seines Umhangs ein. Die Schnur band er am Gürtel fest. Auf allen vieren folgte er dem Rohrverlauf. In größter Eile überwand er steile Anstiege, wich rostigen Kanten aus und schlitterte über glitschige Moosschichten hinweg. An einer Abzweigung musste er in einen anderen Teil des Tunnelsystems abbiegen. Die Rohre, auf denen er lief, waren hier dicht unter der Decke verlegt worden. Durch mehrere Abwasserschächte an der Seite fiel jetzt helles Tageslicht. Ein kalter Luftzug trieb verirrte Schneeflocken vor sich her. Leander konnte bereits die Fuhrwerke und Kutschen hören, deren Räder über das oberirdisch liegende Kopfsteinpflaster ratterten.

Das Quieken einer Ratte ließ Leander aufhorchen. Plötzlich bewegte sich ein Schemen am Rande seines Gesichtsfeldes. Geistesgegenwärtig sprang er zur Seite. Die Kiefer der Ratte schlugen ins Leere. Leander zog das Nadelrapier. Mit der anderen Pfote löste er den Metallknopfschild vom Rücken. Er zwang sich, ruhig und gleichmäßig zu atmen. Das Exemplar vor ihm war außerordentlich groß. Es überragte ihn um mindestens vier Mauslängen. Das Fell war zerzaust und mit Narben übersät. Leander erkannte sofort, dass sein Gegner weder vernunftbegabt war noch den aufrechten Gang beherrschte. Er tippte auf eine wilde Wanderratte auf der Durchreise. Dennoch konnte sie ihn mit nur einem Biss töten.