Walddorfer Brudertränen - Gerhard Schumann - E-Book

Walddorfer Brudertränen E-Book

Gerhard Schumann

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Beschreibung

"Herr Walddorfer, Ihr Bruder Michael! Er ist tot!", teilt ihm Polizeikommissarin Michaela Schüler sachlich mit. »Selbstmord«, ermittelt die Polizei und schließt den Fall ab. Da entdeckt Wolfgang Walddorfer verschlüsselte Botschaften von seinem Bruder Michael, die einen Selbstmord anzweifeln lassen. Nach und nach erfährt er immer mehr Details aus Michaels Vergangenheit und erkennt traurig, dass er seinen Bruder gar nicht richtig gekannt hatte. Viel zu spät bemerkt Wolfgang Walddorfer, dass er nicht der Einzige ist, der sich für Michaels Aufzeichnungen interessiert und dass sich die Schlinge um seinen Hals langsam, aber sicher immer mehr zuzieht. Längst schwebt er selbst in höchster Lebensgefahr.

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Walddorfer Brudertränen

TitelseiteInhaltKapitel 1 – Der letzte SchrittKapitel 2 – Vier Tage späterKapitel 3 – Der nächste TagKapitel 4 – Das ElternhausKapitel 5 – Zurück in FrankfurtKapitel 6 – AbschiedKapitel 7 – GeheimnisseKapitel 8 – TagebuchKapitel 9 – Erste EinblickeKapitel 10 – Erschreckende DetailsKapitel 11 – GnadenlosKapitel 12 – RacheKapitel 13 – Es hört niemals aufKapitel 14 – Große LiebeKapitel 15 – FehlerKapitel 16 – Böses ErwachenKapitel 17 – VerzweiflungKapitel 18 – ERKapitel 19 – EnthüllungKapitel 20 – Alles vorbeiTitelDas Parkinon Buch von A - ZTitel - 1Herr HansenTitel - 2Der Baum von AfrikaEmpfehlungImpressum

In Liebe für meine Eltern, Monika,Sebastian, Florian und Moritz

Gerhard Schumann

Walddorfer

Brudertränen

Hinweis

Die Personen und Handlungen im Buch sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

Coverbild: Gerhard Schumann

Inhalt

Danke für die hilfreiche Unterstützung aller,

die bei der Entstehung des Buches beteiligt waren.

Kapitel 1 – Der letzte Schritt

München, Freitag, der 21. September, 19:00 Uhr

Ich stehe hier. Hier, auf diesem Stuhl, im Speicher meines Elternhauses in München. Auf dem Stuhl hat mein Vater früher immer gesessen. Warum es gerade dieser Stuhl ist, den ich hier hochgetragen habe, weiß ich nicht. Vielleicht ist es auch nur ein Zufall. Vielleicht musste es so sein. Genau genommen macht es keinen Unterschied, von welchem Stuhl aus ich den Schritt in den sicheren Tod mache.

Es ist mir nicht klar, was mich noch am Leben hält. Ich bin aber auch unschlüssig bei der Frage, was mich erwarten wird, wenn ich tot bin. Fifty-fifty. Was ist die bessere Entscheidung? Leben oder Tod?

Die Entscheidung »Tod« kann ich nicht rückgängig machen. Sie ist definitiv final. Es ist keine Rückkehr in das Leben möglich!

Und die Entscheidung zu leben? Ja, die kann ich jederzeit ändern. Jederzeit? Nein, anscheinend nicht, sonst würde ich ja nicht hier oben stehen und überlegen. Ich zweifle. Ich zweifle, was jetzt die richtige Entscheidung für mich ist.

Für mich? Nur für mich? Oder …

Ich fühle meinen Herzschlag. Bei dem Gedanken, dass auch andere Menschen von meinem Tod betroffen sein werden, schlägt mein Herz schneller. Mein Tod, so hoffe ich, wird Tatsachen an den Tag bringen, die ich selbst nicht in die richtigen Bahnen leiten konnte.

Wird das wirklich so sein? Wird mein Tod wirklich Dinge ins Rollen bringen?

So viele Dinge sind geschehen. So viele Dinge musste ich ungewollt erleben. So viele Dinge wurden mir angetan. So viele Dinge habe auch ich anderen Menschen zugefügt. Auch wenn ich es vielleicht nicht immer gewollt habe.

Warum haben mir diese Menschen so viele Gemeinheiten, so viele Grausamkeiten angetan? Warum musste ich so viel Leid, so viel Schmach über mich ergehen lassen? Es war nicht fair, dass mir das alles passiert ist. Gerade mir! Warum gerade mir? So etwas hat kein Mensch verdient. Keiner! Nein, auch ich nicht.

Hatte ich das Recht, mich an ihnen zu rächen? War es richtig, Gleiches mit Gleichem zu vergelten? Auge um Auge, Zahn um Zahn? Warum habe ich nicht die andere Wange hingehalten? Wäre ich nicht als gläubiger Mensch dazu verpflichtet gewesen?

Gläubig? Bin ich wirklich gläubig? Wo war er denn, mein Beschützer, als ich ihn gebraucht hätte? Oder sollte ich das alles erleben müssen? Als Prüfung für irgendetwas? Nein, ich bin kein gläubiger Mensch, und ja, sie hatten es verdient. Ja, sie schon. Sie waren auch keine gläubigen Menschen. Sie waren überhaupt keine Menschen! Es waren Monster. Monster in Menschengestalt! Monster, die aus dem tiefsten Dunkel der Hölle heraufgestiegen sind. Sie haben mich gesucht und sie haben mich gefunden. Sie waren nur auf dieser Welt, um mich zu quälen. Und deshalb hatte ich das Recht auf meiner Seite. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Vielleicht hatte ich sogar die Pflicht, sie wieder in die nach Schwefel stinkende Hölle der Unterwelt zu schicken, wo sie unter ihresgleichen sind.

Aber warum war ich für ihre Gräueltaten der Auserwählte? Ich begreife es immer noch nicht.

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Das Seil liegt eng um meinen Hals.

Die Schlinge wird sich einfach zuziehen, wenn ich von dem Stuhl steigen werde. Gnadenlos. Der Knoten, den ich verwendet habe, um die Schlinge zu binden, wird seit Jahrhunderten in dieser Art verwendet. Das habe ich gelesen, im Internet. Von dort habe ich die Anleitung. Es gibt nichts, was man nicht im Internet finden kann. Sogar diesen Knoten des Todes. Er wird halten. Er hat schon Hunderten, ja Tausenden das Leben genommen. Irgendwie ist er ein kleines Kunstwerk. So einfach und doch so tödlich. Mehrmals habe ich den Knoten gebunden, bis ich damit zufrieden war. Immer und immer wieder. Und nun liegt das Seil, kunstvoll als Schlinge gebunden, um meinen Hals.

Das andere Ende des Seils habe ich fest an den alten, hölzernen Dachbalken geknotet. Auch diesen Knoten habe ich mir speziell ausgesucht. Auch er ist ganz simpel und zugleich genial, denn er wird halten und dazu beitragen, mein Ende zu besiegeln.

Ich glaube, man nennt den Knoten Palstek, fällt mir gerade ein. Man bezeichnet ihn in der Schifffahrt auch als den König der Knoten. Pervers!

Ich habe keine Vorstellung, was mich erwarten wird, wenn ich den Schritt vom Stuhl mache. Ich weiß nicht, wie es sich anfühlen wird. Werde ich überhaupt etwas mitbekommen? Werde ich etwas spüren? Werde ich mit dem Tod ringen? Werde ich wieder leiden müssen, wie schon so oft? Oder gibt es da doch jemanden, der Gnade walten lässt und mich schnell von allem erlöst?

Habe ich Angst vor dem Schritt von Vaters Stuhl?

Ich horche in mich hinein.

Nein, eigentlich habe ich doch keine Angst vor dem sicheren Tod. Ich weiß nur nicht, ob die Entscheidung, diesen Schritt zu tun, wirklich die richtige ist. Ich zweifle, wie schon so oft in meinem Leben. Vielleicht habe ich zu oft gezweifelt.

Stumm, ja fast wie eingefroren, stehe ich starr da oben und stiere mit leerem Blick an die gegenüberliegende Wand. In meinem Kopf dreht sich alles. Gerne würde ich jetzt meine Gedanken notieren. Das Aufschreiben meiner Gedanken, Gefühle, Erlebnisse hat mir bisher immer geholfen, Entscheidungen zu treffen, Dinge klarer zu sehen. Sachlich alles zu beleuchten. Wenn auch, rückblickend, die Schlussfolgerungen daraus nicht immer objektiv waren.

Das Beste wäre also, ich würde diese, meine vielleicht letzten, Gedanken in mein Tagebuch schreiben und noch mal alles überdenken.

Ich schau an mir herunter. Der Boden unter mir beginnt sich zu drehen. Kann ich es wirklich wagen, noch einmal die Schlinge vom Hals zu nehmen? In mein Tagebuch zu schreiben und alles noch einmal zu überdenken? Oder ist es doch schon zu spät?

Mein Tagebuch … In Wirklichkeit ist es kein richtiges Tagebuch. Es ist, oder besser es war, mein Gedankenbuch. Geschichtenbuch, Lebensbuch, Liebesbuch. Diese, meine, Aufzeichnungen habe ich versteckt. Gut versteckt, damit sie keiner finden und lesen kann, der es nicht soll. Denn darin stehen alle meine Geheimnisse. Mein ganzes Leben. Alle Erlebnisse. Schöne. Schreckliche. Zweifel. Sorgen. Ängste. Gewalt. Einfach alles. Schonungslos.

Ich muss ein wenig schmunzeln und zugleich über meine Naivität weinen.

In mir steigt die Erinnerung von meinem gestrigen Eintrag auf. Ich sehe mich am Tisch sitzen und schreiben. Dann war mein Eintrag fertig geschrieben und mir fiel auf, dass das Buch meines Lebens fast zu Ende war.

Ist es Zufall oder Fügung, dass ich die allerletzte Seite in meinem Gedankenbuch nicht beschrieben habe? Ist es die letzte Seite, die ein anderer für mich beschreiben wird? Vielleicht muss es so sein, dass jeder Mensch, als Ende und vielleicht als Neubeginn, eine weiße, eine leere Seite in seinem Buch des Lebens zurücklassen sollte?

Wird Wolfgang, mein großer Bruder, irgendwann einmal das Buch lesen? Wird er so von meinen Geheimnissen erfahren? Genau genommen kann es mir ja egal sein. Aber dennoch wünsche ich es mir, damit er alles über mich und mein Leben erfährt. All das, was er nicht miterlebt hat. Nicht miterleben durfte. Nicht miterleben wollte.

Ja, es wäre so schön, wenn Wolfgang alles über mich und mein bewegtes Leben erfahren würde. Denn dann könnte er vielleicht Dinge zu Ende bringen, zu denen ich nicht in der Lage gewesen war. Ich werde dann allerdings schon tot sein.

Ich habe die Bücher gut versteckt. Sehr gut, hoffe ich. Zumindest so gut, dass es sie, abgesehen von meinem Bruder, keiner finden kann. Wolfgang ist hoffentlich der Einzige, der meine Hinweise entdecken und verstehen wird. Meine Rätsel lösen und der Fährte folgen kann. Ich habe mich jedenfalls sehr bemüht. Aber auch das werde ich nicht mehr erleben, ob sich dieser, mein allerletzter, mein innigster Wunsch erfüllen wird.

Ich habe inzwischen jegliches Zeitgefühl verloren. Wie lange stehe ich schon auf diesem Stuhl? Ich kann von hier, wenn ich den Kopf nach links drehe, zu der Dachluke sehen. Einen Spaltbreit habe ich sie offengelassen. Vor die Glasscheibe selbst habe ich ein Stück Karton geklebt. Ich will nicht, dass später zu viel Licht von außen in den Speicher fällt. Ich kann nicht einmal sagen, warum ich es nicht will. Vielleicht deswegen, weil es ein Teil des Rätsels für Wolfgang ist, das ich akribisch ausgetüftelt und vorbereitet habe, um meine Bücher zu schützen. Vielleicht aber auch, weil ich mich für das, was ich vorhabe, schäme.

Durch den kleinen Spalt des geöffneten Dachfensters dringen die Geräusche der Straße zu mir in den Speicher. Es ist inzwischen leiser von draußen geworden. Die Zahl der vorbeifahrenden Autos wurde merklich weniger. Auch das Klackern der Absätze von vorbei laufenden Passanten auf dem Gehweg höre ich nur noch selten. Es wird langsam dunkel. Zumindest kommt es mir so vor.

Wann bin ich hier hoch in den Speicher gegangen? Wann bin ich auf den Stuhl gestiegen? Wann habe ich mir das Seil mit dem Henkerknoten um den Hals gelegt? Ich kann es nicht mehr sagen. Ich weiß es einfach nicht mehr.

Die Vorbereitungen für meinen letzten Schritt haben lange gedauert. Vielleicht trügt mich mein Gefühl auch. Aber eigentlich ist es nebensächlich, wie lange es gedauert hat. Und es ist auch bedeutungslos, wie lange ich hier bereits auf Vaters Stuhl stehe. Oder?

Die anderen Menschen, die, die um mich herum in den Häusern wohnen, sind sicherlich schon zu Hause angekommen. Sie haben brav ihr Tagwerk vollbracht. Sitzen sie jetzt vor den Fernsehapparaten und schauen sich irgendwelche bescheuerten Vorabendsendungen an? Streiten sie? Lieben sie sich jetzt in diesem Moment? Möglicherweise sitzen sie gerade einfach nur wortlos beim Abendessen. Vielleicht steht aber auch einer von ihnen, so wie ich, auf einem Stuhl. Mit einem Seil um seinen Hals. Wer kann das schon wissen. Egal, was sie gerade machen, es wird in der Bedeutungslosigkeit versinken.

Langsam drehe ich meinen Kopf zurück und stiere an die Wand. Das Seil um meinen Hals liegt so eng an, dass es bereits angefangen hat, meine Haut aufzuscheuern. Bestimmt wird man die Scheuerstellen sehen, wenn ich gefunden werde. Ob sich dann jemand fragen wird, ob ich lange auf dem Stuhl gestanden habe? Oder ist diese Frage völlig unerheblich und keiner macht sich deswegen Gedanken?

Wie lange steht jemand mit dem Seil um den Hals auf dem Stuhl, bevor er den entscheidenden Schritt wagt? Gibt es darüber Statistiken?

Aber warum mache ich mir überhaupt Gedanken darüber? Komisch, was mir so alles durch den Kopf geht, seit ich die Schlinge um meinen Hals gelegt habe.

Ich schließe die Augen und drehe meinen Kopf bedächtig von links und nach rechts. Die aufgescheuerte Haut an meinem Hals brennt jetzt noch stechender. Bewusst konzentriere ich mich auf den aufsteigenden Schmerz. Ich genieße diesen Schmerz jetzt sogar ein wenig. Das Gefühl, noch zu leben und den Schmerz an meinem Hals noch empfinden zu können.

»Worauf wartest du denn jetzt noch, Michael?«, meldet sich eine Stimme aus dem hinteren Teil des Speichers.

ER ist es, der zu mir spricht. ER schleicht schon den ganzen Tag um mich herum. ER hat mir zugesehen, wie ich den Stuhl nach oben in den Speicher getragen habe. ER hat mich beobachtet, wie ich die Henkerschlinge geübt habe. ER war dabei, als ich das Ende des Seils an dem Dachbalken befestigt habe. Geduldig hielt ER sich die ganze Zeit im Hintergrund, obwohl ich genau weiß, dass ER es nicht ertragen kann, warten zu müssen. ER erwartet, dass sein Wille immer gleich umgesetzt wird.

»Ich bin mir unsicher, ob ich es jetzt wirklich will. Ob ich es überhaupt tun will!«, antworte ich.

»Wie bitte? Was soll das denn jetzt? Wir haben doch ausführlich darüber gesprochen!«, raunzt ER mich an. »Du spannst mich ziemlich auf die Folter. Du kennst doch die Alternative, wenn du dich jetzt nicht selbst umbringst. Muss ich dich erst daran erinnern, was sie mit dir machen werden, wenn sie erfahren, was du alles getan hast? Willst du das? Willst du wirklich auch noch den Rest deines Lebens gedemütigt werden?«

»Ja, nein, du hast recht! Wir haben darüber gesprochen. Ich will nur … aber …«

ER fällt mir ins Wort.

»Kein Aber! Du bist nun mal für die da draußen ein Verbrecher! Ein Verlierer! Ein Loser! Ein nichtsnutziger Versager! Die warten doch nur darauf, einen wie dich durch den Dreck zu ziehen. An den Pranger zu stellen. Sie werden keine Gnade kennen! Sie werden dich unentwegt quälen. Das wird schlimmer, als alles, was du bisher erlebt hast. Also! Wie lange soll ich dir noch zusehen, wie du da oben stehst! Mach jetzt endlich den Schritt! Zeig wenigstens jetzt, dass du kein Weichei bist! Ich habe so lange für dich den Kopf hingehalten! Jetzt bist du am Zug!«, brüllt ER mich an.

ER sagt mir seit Langem, was gut für mich ist und was ich zu tun habe. Aber dieses Mal bin ich mir einfach unsicher. Doch jetzt muss ich eine Entscheidung treffen. Verdammt! Es ist so schwer!

ER hat lange mit mir darüber gesprochen, was mich erwarten wird, wenn ich den Selbstmord nicht begehe. Es würde sehr schlimm für mich werden, hatte ER mir gesagt und ich würde das nicht durchstehen. ER wolle doch nur mein Bestes. Ich würde wieder gequält werden, hat ER mir gesagt. Unentwegt! Ohne, dass es enden würde. Darum sei es besser für mich, jetzt zu sterben. Nur darum will ER meinen Tod. Nur darum. ER brüllt mich weiter an.

»Wenn du es jetzt nicht sofort machst, trägst du alleine die Verantwortung für die Folgen deines Versagens! Ich werde dich nicht mehr beschützen können. Vor niemandem! Und du weißt, was für Monster da draußen auf dich warten. Vielleicht stehen sie schon vor der Tür und warten nur, bis ich gehe, um über dich herfallen zu können. Michael! Willst du das? Willst du, dass ich sie herein lasse? Willst du das wirklich?«

ER schnaubt mich an, wie ein wilder Stier. So habe ich ihn nur selten erlebt. Ich habe Angst. »Und außerdem weißt du auch, dass ich es nicht ertragen kann, wenn du meine Befehle missachtest. Tu es! Jetzt! Ich zähle jetzt von zehn bis null. Das ist deine letzte Chance! Sonst werde ich ein für alle Mal gehen und dich alleine mit ihnen lassen! Zehn!«

ER lässt keinen Zweifel daran, dass dies das allerletzte Ultimatum ist.

»Neun!«, schreit ER zu mir herüber.

ER erwartet von mir jetzt den finalen Schritt. Jetzt!

»Acht!«

Hoffentlich findet Wolfgang das Buch, bete ich still vor mich hin und spüre, wie mir eine Träne aus dem Augenwinkel läuft.

»Sieben!«

»Und du versprichst mir, dass du mich nicht länger als zwei Tage hier oben hängen lässt?«, frage ich ihn mit zitternder Stimme und schließe dabei meine Augen.

»Ja!«, schnauzt ER genervt und steigt langsam die steile, hölzerne Treppe nach unten. »Zwei Tage! Höchstens! Und jetzt mach! Ich habe nicht ewig Zeit!«

»Ich habe alles aufgeschrieben! Alles!«, flüstere ich.

»Was?«, seine Stimme überschlägt sich. »Du … du hast …«

Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie ER wieder nach oben kommt und mich mit weit aufgerissenen Augen anstarrt.

Ich mache im gleichen Moment den Schritt und lasse mich nach vorne fallen. Ich denke an meinen Bruder Wolfgang, an Vater. Und ich habe das Gefühl, dass Mutter schon auf mich wartet, um mich nach den vielen langen Jahren wieder in ihre Arme zu schließen.

Ich habe es getan.

Jetzt habe ich es getan.

Den Schritt runter vom Stuhl. Den finalen Schritt. Von jetzt an gibt es kein Zurück mehr. Ich spüre den Ruck an meinem Hals. Das Seil schnürt mir die Luft ab. Ich versuche meine Finger zwischen Seil und Hals zu schieben, um den Knoten zu lockern.

Ich will es rückgängig machen, aber ich schaffe es nicht mehr.

Meine Beine erreichen den Boden nicht, finden nirgendwo Halt. Die Atemnot ist nicht mehr zu ertragen. Zappelnd hänge ich mit dem Hals in der Schlinge, die sich immer weiter unter meinem Gewicht zuzieht.

Ich möchte schreien, aber auch das gelingt mir nicht. ER steht nur zwei Schritte von mir entfernt. Es kommt mir vor, als würde ER mich anschreien, aber ich kann seine Stimme nicht hören.

Mir wird schwindelig. Alles um mich herum wird langsam kleiner. Sterne blitzen auf, ein grelles Licht blendet mich, Wärme umgibt mich, ein weiter Raum öffnet sich vor mir, dann … Stille.

Kapitel 2 – Vier Tage später

Frankfurt, Dienstag, der 25. September, 13:30 Uhr

Gestern war eine harte Nacht für mich. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich zuhause war. Aber ich glaube, dass es bereits dämmerte und die Vögel zu zwitschern begonnen hatten. Mir brummt der Schädel. Scheiß Alkohol. Der Wecker, der neben meinem Bett steht, zeigt mir, dass es halb zwei ist. Ein Geräusch hat mich geweckt. Es war das Zuschlagen der Schranktür hier im Schlafzimmer, das mich aus dem Reich der Träume gerissen hat.

»Guten Morgen«, brumme ich. »Danke für den zärtlichen Weckruf!«

»Guten Morgen«, antwortet sie mir mit ebenfalls brummiger Stimme.

Bestimmt war es Absicht, dass sie die Tür so lautstark zugeknallt hat, kommt es mir in den Sinn.

Sie, das ist Ulrike, Ulrike Brauer, meine aktuelle Lebensabschnittsgefährtin. Seit Anfang des Jahres wohnt sie offiziell bei mir. Ulrike ist 23 Jahre und Bademeisterin mit einer tollen Figur. Wir hatten uns kurz vor Weihnachten letzten Jahres im Schwimmbad kennengelernt. Allerdings nicht ganz freiwillig.

Ich gehe mindestens einmal in der Woche zum Schwimmen, um mich fit zu halten. Ulrike hatte gerade den Job gewechselt und machte ihre erste Schicht im Mauritius Bad als Hallenaufsicht und Rettungsschwimmerin. Sie stand in ihrer weißen Uniform mit ihrer Trillerpfeife um den Hals am Beckenrand und ich bekam, während ich athletisch meine Bahnen zog, einen Wadenkrampf und wäre beinahe abgesoffen. Sie hat mich dann sozusagen gerettet und mir aus dem Wasser geholfen. Am gleichen Abend noch führte ich sie zum Essen aus.

Es war so als kleines Dankeschön für die Rettung gedacht und nicht zuletzt fand ich sie ja auch sehr attraktiv. Und sie wiederum hat sich dann für das Abendessen auf ihre Art bei mir bedankt. Die ganze Nacht lang.

Und kurz darauf war sie schon bei mir eingezogen.

Nicht dass ich wirklich bis über beide Ohren unsterblich in sie verliebt gewesen wäre. Nein, es passte nur einfach gerade alles zusammen.

Ulrike war gerade dabei, sich von ihrem Freund zu trennen und suchte daher eine neue Unterkunft. Und ich sicherlich auch etwas Zerstreuung. Ich war schon länger nicht mehr in festen Händen. Was nicht bedeutet, dass ich in dieser Zeit keinen Sex gehabt hätte, im Gegenteil. Ich hatte reichlich Abwechslung. Aber mit einer Frau mal wieder unter einem Dach zusammenzuwohnen, ist dann doch etwas anderes. Ich hatte einfach mal wieder Lust auf eine mehr oder weniger feste Beziehung. Warum sollte ich es also mit ihr nicht versuchen?

»Hättest du noch schlafen wollen?«, fragt sie mich, ohne zu mir zu schauen und öffnet dann die Vorhänge, die bis jetzt das Schlafzimmer so schön verdunkelt hatten.

»Ja!«, antworte ich kurz und knapp und merke, wie meine Zunge am Gaumen klebt. Es fühlt sich an, als hätte ich eine alte Socke im Mund. Aus der Wasserflasche, die neben meinem Bett steht, nehme ich einen großen Schluck.

Ah! Schon besser! Die Zunge löst sich langsam und saugt das wohlige Nass dankbar auf. Meine wiederbelebten Geschmacksnerven erinnern mich an die hochprozentige Alkoholmischung, die ich gestern getrunken hatte. Der Geschmack von Kräuterlikör mit Zitrone macht sich breit und ich bin sicher, dass ich ziemlich aus dem Mund stinke. Widerlich!

»Ja, am liebsten hätte ich ja noch weitergeschlafen. Aber da du mich so liebevoll geweckt hast, war’s das jetzt wohl. Puh, war ein langer Abend und eine kurze Nacht«, grummle ich und reibe mir den Schlaf aus den Augen.

Ich drehe mich auf die Seite und schaue Ulrike an. Sie steht noch immer am Fenster und hantiert am Vorhang herum. Sie legt immer großen Wert darauf, dass die Falten richtig fallen. Da kann sie richtig penibel sein. Mir ist das eher egal. Genau genommen schietegal.

Die Herbstsonne, die durch das Fenster strahlt, umschmeichelt ihren Körper und ich sehe, dass sie unter dem dünnen seidenen Trägershirt nichts anhat.

Sie scheint meine Blicke zu spüren, denn langsam dreht sie ihren Kopf über die Schulter und schaut zu mir.

»Ich hoffe, du hast gut geschlafen! War ja ziemlich früh, als du nach Hause gekommen bist. Ich hoffe, ihr hattet Spaß!« Ihr ketzerischer Unterton lässt keinen Zweifel daran, dass sie mit meinem gestrigen Nachtausflug nicht so ganz einverstanden war.

»Ach, komm jetzt! Es war sein Dreißigster! Danny hat eine Runde nach der anderen geschmissen«, antworte ich besänftigend.

»So oft kommt das ja auch nicht vor, dass ich feiern gehe. Zumindest nicht ohne dich! Du wirst doch nicht eifersüchtig sein, wenn ich mit den Kumpels mal einen draufmache, oder?«, gebe ich etwas zynisch zurück und versuche es lustig klingen zu lassen.

»Depp!«

Ich setze mich auf und ziehe sie zu mir ins Bett. Lustlos lässt sie sich auf die Matratze fallen. Ich spüre, dass ihre frei liegenden Schultern kalt sind, als ich sie sanft an meine nackte Brust drücke. Gerade als ich sie küssen möchte, dreht sie den Kopf zu Seite.

»Du stinkst gotterbärmlich! Pfui Teufel!«, sagt sie trocken und befreit sich energisch aus meinem liebevollen Haltegriff. Sie rollt sich vom Bett und geht in Richtung Schlafzimmertür.

»Aber ich bin doch noch so schön bettwarm und …«, versuche ich sie mit verführerischer Stimme wieder zu mir ins Bett zu locken.

»Schon klar«, brummt sie. »Du bist bestimmt nur schon wieder geil und willst jetzt eine schnelle Nummer. Sorry, nicht so, nicht jetzt!«

An der Tür dreht sie sich zu mir um und schaut mich an, als ob ich etwas ausgefressen hätte. »Los jetzt. Aufstehen und waschen, sonst trinke ich den Kaffee alleine!« Dann wirft sie mir flüchtig eine Kusshand zu und ich höre, wie sie in die Küche geht.

Ich lasse mich wieder ins Bett zurückfallen und gähne genüsslich. Ich will noch nicht aufstehen. Dafür bin ich eigentlich noch zu müde. Oh Mann! Das war gestern echt zu viel. Aber es war ja abzusehen, dass Danny nicht lockerlässt, bevor wir nicht alle vollkommen breit sind.

Danny, mein Lieblingsossi wie ich ihn nenne, hat seinen Gebrauchtwagenplatz neben dem meinen. Mir wäre der ganze Platz sowieso zu groß gewesen. Von daher war ich froh, dass Danny die zweite Hälfte gemietet hat. Wir verstanden uns auf Anhieb und helfen uns gegenseitig aus. Er nennt unseren Platz »Little Berlin« mit West- und Ostzone. Er hat sich auf Ostmarken spezialisiert, mit gebrauchten Wartburgs und diesen stinkenden Plastikbombern und ich mache US-Cars. Von daher haben wir ganz unterschiedliche Kunden und kommen uns nicht in die Quere.

Damit verdienen wir unser Geld. Mit »Buntmetall« wie er sagt und »Plaste«, wie ich seine Ware nenne. Nicht dass wir uns damit eine goldene Nase verdienen würden, aber man kennt unseren Platz schon und wir haben einen guten Ruf, nicht am Kilometerstand zu schrauben. Es war damals die richtige Entscheidung gewesen, hier nach Frankfurt zu ziehen und den Platz zu eröffnen. Inzwischen habe ich mir ein schönes Polster erarbeitet und so wie es aussieht, läuft es auch weiterhin ganz ordentlich. Hoffe ich zumindest. Vielleicht rede ich in den nächsten Tagen mal mit dem Hauseigentümer, ob er mir die Wohnung hier verkaufen möchte. Spießer hin oder her. Die Preise für solche Dachterrassenwohnungen werden in den nächsten Jahren eher steigen als fallen und im Moment könnte ich mir locker das finanzielle Risiko leisten. Man weiß ja nie, wie sich die Wirtschaft in den nächsten Jahren entwickeln wird.

»Hey, so redet man nicht mit dem erfolgreichsten US-Car Händler in ganz Frankfurt und Umgebung!«, ruf ich Ulrike aufgesetzt zornig nach und betone US-Car Händler mit einem fiesen amerikanischen Slang. Dabei bin ich mir nicht einmal sicher, ob sie den Witz in den richtigen Hals bekommt. Ein bisschen ärgern am Morgen darf schon sein, denke ich und grinse in mich hinein. Schließlich hat sie mich aufgeweckt!

Ich bekomme keine Antwort. Das Klappern von Geschirr verrät mir aber, dass sie in der Küche ist und aufräumt.

Sie ist schon süß, meine Ulrike. Aber könnte ich mit ihr alt werden? Über Kinder reden? Will ich das mit ihr? Will ich das überhaupt?, philosophiere ich ein wenig vor mich hin und drehe mich noch einmal im Bett um.

Gelangweilt knülle ich das Kissen unter meinem Kopf zusammen und verschränke die Arme vor meiner Brust.

Was ist es, was Ulrike von mir möchte? Warum ist sie bei mir?, überlege ich. Bin ich es als Mensch? Ist es die Kohle, die ich verdiene? Oder schmückt sie sich mit mir, um ihrem Exfreund Reiner Weisler, diesem Pseudo-Rocker, etwas zu beweisen?

Komisch, dass mir gerade jetzt solche Sachen in den Sinn kommen, denke ich, um im nächsten Moment aus meinen Überlegungen gerissen zu werden.

Dingdong!

Das ist die Türglocke.

Dingdong! Dingdong!

»Ulli! Es hat an der Tür geklingelt!« Sie hasst es, wenn ich Ulli zu ihr sage, aber ich gönne mir den Spaß.

Keine Reaktion von ihr. Dabei bin ich sicher, dass sie das Klingeln selbst gehört hat. Schließlich ist die Küche ja direkt neben der Haustür.

Dingdong! Dingdong!

»Ulrike!«, rufe ich ihren Namen lang gezogen und prompt bekomme ich eine Antwort.

»Ich telefoniere gerade mit meiner Mutter!«, ist ihre schroffe Rückmeldung aus der Küche. Und zur Untermauerung ihrer Unlust, jetzt an die Wohnungstür zu gehen, schließt sie sehr geräuschvoll die Küchentür.

»Ach Mann«, murmle ich vor mich hin. Wenn Ulrike mit ihrer Mutter telefoniert, habe ich echt schlechte Karten, sie dazu zu bringen, an die Tür zu gehen und nachzuschauen, wer um diese Zeit klingelt. Wenn es überhaupt ihre Mutter ist, mit der sie gerade telefoniert. Aber einen Joker habe ich noch, darum setze ich noch einen drauf.

»Aber ich liege noch im Bett! Nackt! Du willst doch nicht, dass ich so die Tür aufmache«, versuche ich sie noch mal zu überreden, um nicht aufstehen zu müssen. Vielleicht habe ich ja doch Glück und sie geht an die Wohnungstür. Dann kann ich wenigstens liegen bleiben. Und vielleicht bringt sie mir dann den Kaffee ans Bett. Hm, schöner Gedanke. Doch daraus scheint nichts zu werden, denn die Antwort ist eindeutig.

»Das stört den Briefträger bestimmt nicht«, kommt es maulig zurück. Und zack schlägt sie die Küchentür erneut gut hörbar zu. Das ist dann wohl das finale Zeichen für mich, dass ich selbst an die Wohnungstür muss.

Dingdong! Dingdong!

Erneut meldet sich die Klingel zu Wort.

»Da ist aber jemand echt hartnäckig«, murmle ich vor mich hin, schwinge mich aus dem Bett und schlüpfe in die Boxershort, die ich gestern einfach vor das Bett gefeuert hatte.

»Ja, ja! Ich komme ja schon!«, rufe ich genervt. Obwohl ich sicher bin, dass der Eindringling mich nicht hören kann, setze ich noch einen drauf. Nur für den Fall, dass Ulrike nicht mit ihrer Mutter, sondern mit ihrem Ex-Looser telefoniert: »Den erfolgreichsten US-Car Händler aller Zeiten hetzt man nicht mitten in der Nacht aus dem Bett!«

So, der hat gesessen, denke ich und bin froh, dass ich mein eigener Herr bin. Obwohl ich auch ein schlechtes Gewissen habe, dass ich heute nicht im Büro bin. Ich hoffe, dass Danny vor Ort ist und mögliche Kaufinteressenten bedient. Am besten rufe ich ihn nachher gleich mal an.

Nur mit der zerknitterten Short bekleidet, mache ich mich auf zur Wohnungstür und nehme den Hörer von der Sprechanlage in die Hand. Knurrig spreche ich laut in den Hörer der Haussprechanlage: »Ja? Wer stört?«

Der Klingelterrorist soll gleich mal wissen, dass mit mir nicht zu spaßen ist. Und Ulrike soll es auch gleich mitbekommen, dass ich angefressen bin.

Keine Antwort an der anderen Leitung. Nur vorbeifahrende Autos sind zu hören. Unvermittelt klopft es an der Wohnungstür.

»Ups«, entfährt es mir überrascht. Der ungebetene Besuch steht ja schon vor der Tür. Durch den Türspion blickend, erkenne ich verschwommen zwei Gestalten. Es scheinen ein etwas älterer Mann und eine jüngere Frau zu sein, die da so hartnäckig um Einlass bitten. Sie hat eine Mappe unter den Arm geklemmt und schaut geradewegs die Tür an. Er blickt auf seine Uhr und dann zu ihr. Er lächelt sie an und sie zuckt mit den Schultern.

»Auch das noch«, flüstere ich und verziehe dabei das Gesicht. »Bestimmt irgendwelche Kirchenleute! Das hat mir jetzt gerade noch gefehlt!«

Ich könnte sie durch die geschlossene Tür fragen, ob sie nicht das elfte Gebot kennen. Wenn sie dann den Kopf schütteln, schreie ich: Du sollst nicht andere Leute beim Schlafen stören! Das wär bestimmt lustig und ich merke, wie ich langsam gute Laune bekomme.

Ach egal! Spontan und ohne weiter darüber nachzudenken, öffne ich kurz entschlossen mit einem Ruck die Tür.

Mit der linken Hand ungeniert meinen Sack kratzend und die andere lässig in die Türzarge gestützt, setze ich meinen verführerischsten Blick auf. Das hatte ich mal in einem Krimi im Fernsehen gesehen. Die Szene fiel mir gerade wieder ein und ich wünschte mir schon immer mal, eine solche Situation live zu erleben. Bestimmt schmeißt sich Ulrike vor Lachen in die Ecke, wenn ich ihr das dann gleich erzähle. Zumindest hoffe ich das und wer weiß, vielleicht bekommt sie dann ja auch gute Laune.

Die beiden Gestalten stehen für den Bruchteil einer Sekunde regungslos da. Genau wie in der Filmszene. Damit hatten sie bestimmt nicht gerechnet. Der Text eines Weihnachtsliedes schießt mir durch dem Kopf: Still und starr ruht der See. Ich muss schmunzeln, aber nur innerlich. Abwechselnd schaue ich die beiden an und drehe dabei immer bewusst den Kopf ein Stück hin und her.

»Ja, und jetzt?«, unterbreche ich die Stille. Die beiden vermeintlichen Kirchenvertreter stehen wortlos vor mir und scheinen von meinem Auftritt ziemlich überfordert zu sein. Sie werfen sich einen fragenden Blick zu.

Das Gespräch wird sicherlich schnell beendet sein, weil die beiden schreiend davonlaufen werden. So zumindest meine Einschätzung der skurrilen Situation, die ich selbst hervorgerufen habe und in vollen Zügen genieße.

Sie, die Dame, sie dürfte etwas älter als Ulrike sein, schluckt gut hörbar, während sie den Blick weiter auf ihren Begleiter gerichtet hält. Er, der Mann, so Mitte, Ende fünfzig, erwidert ihren Blick und zieht wie Mr. Spock eine Augenbraue nach oben. Auch sein Gesichtsausdruck ähnelt dem Vulkanier. Bevor der Typ jetzt noch mit »Faszinierend!« anfängt, ergreife ich lieber selbst noch mal das Wort.

»Na, haben die Herrschaften die Bibel vergessen?«, frotzle ich los und finde mich überdimensional lässig, wie ich diese geile Show abziehe. Schade, dass ich das jetzt nicht auf Video habe, ärgere ich mich und finde den Gedanken, so etwas ins Internet zu stellen, dann doch sehr belustigend.

Er, der Typ, schaut mir unvermittelt fest in die Augen. Aber ich halte seinem Blick stand. Das Blickduell hat begonnen!

Wenn er zuckt, brenn ich ihm eine, macht sich ein Gedanke in meinem Kopf breit. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass mich die Begleiterin währenddessen langsam mustert. Ich beobachte, wie sie fast genüsslich beginnt, von unten nach oben meinen Körper zu scannen. Irgendwie erregt es mich. Mist, dass der Typ mit dabei ist und Ulrike in der Küche steht. Sonst wüsste ich jetzt, was ich machen würde. Und so bleibt mir nur die verbale Variante.

»Na, Gnädigste, kann ich der Gottesdienerin denn irgendwie helfen?« Ich versuche dabei erotisch, wenn nicht sogar ein bisschen ordinär zu klingen und beende das Blickduell mit dem Typen. Meinen Blick richte ich jetzt provokant auf den Busen der jungen Frau.

»Kommst du jetzt endlich? Dein toller Kaffeeautomat schreit schon nach dir! Wir sollten jetzt langsam mal Kaffee trinken. Irgendwann muss ich ja auch in die Arbeit!«, unterbricht Ulrike aus der Küche brüllend meine Überlegung, welche Unterwäsche die Kleine an der Wohnungstür wohl trägt.

»Bin gleich da!«, rufe ich leicht genervt zurück und drehe dabei den Kopf Richtung Küche, ohne die junge Lady aus den Augen zu lassen, die wohl jetzt mit ihrem Scan-Vorgang in meinem Schritt angekommen ist. Ich stemme beide Hände in die Hüften.

»Willst du?«, richtet der Typ sich an die junge Frau, ohne jedoch den Blick von mir abzuwenden.

»Was ist denn nun? Keinen passenden Bibelspruch auf Lager? Oder sammelt ihr für den Verein der taubstummen Nervensägen?«, fahre ich die beiden an. »Ich gebe nichts! Schönen Tag noch!«

Gerade will ich die Haustür zuzuknallen, als sich der Fuß des männlichen Besuchers in den Türrahmen schiebt.

»Was wird das …?«, beginne ich meinen Satz und baue mich vor ihm auf, als auch die junge Dame einen Schritt auf mich zu geht und nun keine 30 Zentimeter mehr von mir entfernt steht.

»Wolfgang Walddorfer? Sind Sie das?«, fragt sie mich und hält jetzt ihren Blick direkt auf meine Augen gerichtet.

Für den Bruchteil einer Sekunde fehlen mir die Worte und ich merke, dass ich ein ziemlich dummes Gesicht mache. Aber sofort fange ich meine Gedanken wieder ein.

»Jetzt schlägt es aber dreizehn!«, platzt es aus mir heraus. »Die Kirchenfuzzis kennen ja sogar meinen Namen! Passt mal auf, ihr Leuchtturmheinis! Ich bin schon erwacht, gesalbt und zigmal auferstanden. Und wenn ich will, dann kann ich auch über das Wasser gehen! So, und jetzt verschwindet endlich! Raus mit euch, bevor ich richtig sauer werde, ihr …!«

»Kriminalpolizei!«, unterbricht mich der Mann, während ich mich gerade in Rage rede. Seine Stimme hat eine extrem tiefe Tonlage und erinnert mich an irgendeinen Synchronsprecher. Spontan komme ich aber nicht auf den Namen.

»Ich denke, wir sollten erst mal zu Ihnen in die Wohnung gehen. Ich meine, bevor Sie sich noch erkälten!« Dabei huscht der Anflug eines kleinen Lächelns über sein Gesicht. Im gleichen Moment zücken die beiden Beamten, noch immer im Treppenhaus stehend, ihre Dienstausweise und halten sie mir unter die Nase.

»Bin ich etwa verhaftet?«, stottere ich überrascht.

Von wegen cool! Du Prolet, beschimpfe ich mich in Gedanken selbst. Erst jetzt wird mir klar, wie peinlich mein Auftritt eben war und beginne dämlich zu grinsen. So, das war’s, Wolfgang, denn mir fällt gerade der Zwischenfall von vor drei Tagen wieder ein.

Da war dieser Typ mit seinem assligen Kumpel bei mir auf dem Platz. Er fragte mich, ob ich Interesse an Drogen hätte. Er hätte sehr gute Ware und ich könnte doch bei ihm kaufen. Er würde mir auch einen guten Preis machen, egal was ich an Pillen oder Pülverchen bräuchte.

Als Antwort hatte ich ihm mit der flachen Hand auf die Stirn geklatscht und ihm gesagt, er soll sich sofort mit seinem Scheiß verpissen. Er ließ sich umfallen und schrie, dass ich ihn grundlos geschlagen hätte und dass er mich jetzt wegen Körperverletzung anzeigen würde.

Schlechte Presse konnte ich überhaupt nicht gebrauchen. Bestimmt war der kleine Dealer schon bei der Klatschpresse und die basteln daraus dann eine Schlagzeile wie:Ausraster! Gebrauchtwagenhändler verprügelt grundlos Kunden!

Aus der letzten unüberlegten Aktion vor acht Wochen bin ich ja glimpflich rausgekommen. Mein Anwalt hatte sich der Sache angenommen. Ein guter Mann, dieser Rechtsanwalt Dr. Schneider. Mit besten Beziehungen. Wenn auch nicht ganz billig und vor allem nicht immer ganz konventionell. Für den Anwalt war das eine einfache Sache. Ein Anruf von ihm bei einem, wie er sagte, guten Freund, und der Türsteher von diesem Tabledance-Schuppen erinnerte sich plötzlich, dass er ausgerutscht ist und sich dabei die Nase gebrochen hatte. Ende Gelände, Anzeige zurückgezogen. Der Schneider kassierte dafür 1.200 Euro Honorar. Ein guter Lohn für einen einzigen Anruf, finde ich.

Vor einem Jahr sah es da schon schlechter für mich aus. Damals stand ich wegen Körperverletzung vor Gericht. Hätte ich da den Schneider schon gehabt, hätte es bestimmt keine Verhandlung gegeben. Aber immerhin hatte mein vorheriger Anwalt es geschafft, das Verfahren gegen mich durch Zahlung einer großzügigen Spende zu stoppen.

Ich lass mich eben nicht gerne verarschen. Und die zwei Typen hatten wirklich darum gebettelt, mal richtig vermöbelt zu werden. Die dachten, weil sie zu zweit sind, wird das was. Aber mit dicken Sprüchen alleine kann man bei mir nicht punkten. Und wenn ich dann einmal dabei bin, gibt es so schnell kein Halten mehr. Das war wirklich knapp und hätte mich das Gewerbe kosten können.

»Wenn Sie dieser Drogentyp schickt, also wenn er mich angezeigt hat oder so, rufe ich jetzt sofort meinen Anwalt an, denn …«, verteidige ich mich lautstark und unterbreche gleich wieder, als ich höre, dass sich die Küchentür öffnet.

»Was ist denn hier los? Haltet ihr hier ein Kaffeekränzchen ab, oder was?«, fragt Ulrike und kommt näher. Schon steht sie hinter mir, kopfschüttelnd und mit zorniger Miene. In der Hand hat sie ein Geschirrtuch.

Plump reicht mir Ulrike den nassen Stoff, wohl um mich damit zu bedecken. Tolle Idee, Ulrike, liegt es mir auf den Lippen. Wortlos nehme ich das feuchte Tuch und halte es vor meine Boxershort.

Der Polizist steht noch immer mit dem Fuß in der Tür da und beobachtet das ganze Szenario ziemlich entspannt.

»Mein Name ist Michaela Schüler! Polizeikommissarin Schüler!« Scharf ist der Ton der Polizistin. Sie versucht autoritär zu klingen und Eindruck zu schinden. »Und das ist mein Kollege Polizeihauptkommissar Siegfried Bauer. Wir sind von der Kripo Frankfurt!«

Ulrike schaut mich an. Aus ihren Augen sprühen Funken des Misstrauens. Sie kocht förmlich. Bestimmt denkt sie, dass ich etwas ausgefressen habe. Dass ich manchmal ziemlich jähzornig werden kann, hatte sie ja selbst schon miterlebt. Neulich, als ihr Ex-Lover vor meiner Tür stand. Ich hatte ihn gebeten zu gehen und das durchaus freundlich. Aber wer nicht hören will, muss eben fühlen. Und über das blaue Auge konnte er sich nicht beschweren. Da war er wirklich noch glimpflich davongekommen.

Sie ist sauer, dass ich wie ein Idiot halb nackt vor den beiden Polizeibeamten stehe. Insbesondere vor der jungen Kollegin, die bei längerer Betrachtung immer attraktiver für mich wird. Aber sei’s drum.

»Oh«, entfährt es ihr und ihr Kopf färbt sich purpurrot. Ulrike dreht sich um und geht zurück in die Küche. Die Polizistin drückt sich ein Stückchen an mir vorbei, um Ulrike mit ihren Blicken bis in die Küche folgen zu können. Ohne den Blick von der Küchentür zu lassen, richtet sie die nächste Frage an mich. »Ist das Ihre Frau?«

Ich stottere zurück: »Ja, also ja … nein. Freundin trifft es besser!«

»Könnten Sie sich jetzt bitte etwas anziehen? Und wenn es Ihnen recht ist, würden wir gerne reinkommen und mit Ihnen in Ruhe reden!«, fordert mich Polizeihauptkommissar Bauer mit nachdrücklicher Stimme auf. »Es muss ja nicht das ganze Haus alles mitbekommen, oder?« Seinen Fuß rückt er dabei keinen Millimeter aus der Türschwelle.

Das Signal ist eindeutig! Jetzt scheint es ernst zu werden!

Zögernd mache ich einen Schritt nach hinten und gebe die Tür frei. Noch immer halte ich das nasse Geschirrtuch vor meine Boxershort. Mit einer Kopfbewegung verweise ich die Besucher Richtung Küche. »Ja, kommen Sie herein, ich zieh mir nur schnell was an. Ich komme dann gleich nach!«

»Gern«, antwortet die Kommissarin und an ihrer Stimmlage erkenne ich, dass sie sich ein Grinsen jetzt kaum noch verkneifen kann.

Kleines Luder! Glotzt mir jetzt bestimmt auf den Arsch, denke ich auf dem Weg zurück ins Schlafzimmer. Der Polizist, Herr Bauer, geht zu meiner Überraschung an der Küchentür vorbei und folgt mir im Abstand von einem Meter bis zum Schlafzimmer. Dort bleibt er mit verschränkten Armen an meiner Schlafzimmertür stehen.

Meint der Bulle etwa, dass ich aus dem Fenster im sechsten Stock springe? Oder denkt er, ich hab hier im Schlafzimmer eine Bazooka versteckt. Verdammt noch mal! Hätte ich den blöden Drogenwichser doch einfach ignoriert!

Die Polizistin ist offensichtlich schon zu Ulrike in die Küche gegangen, denn ich höre wie die Tür geschlossen wird. Die Stimmen klingen gedämpft. Worüber reden die?, möchte ich jetzt gerne wissen. Ich schlüpfe schnell in T-Shirt und Jeans, als ich den Kaffeeautomat in der Küche losrattern höre.

»So, fertig! Wollen wir auch rübergehen?«, richte ich freundlich lächelnd die Frage an meinen Bewacher und marschiere, ohne auf eine Antwort zu warten, an ihm vorbei in Richtung Küche. Besser ich beeile mich, bei dem Gespräch dabei zu sein, bevor Ulrike irgendeinen Mist erzählt, überlege ich und habe mein Ziel bereits Sekunden später erreicht. Der Polizist folgt dicht hinter mir.

Ulrike trägt gerade vier Tassen Espresso auf einem Tablett zum Tisch. Frau Schüler sitzt bereits. Wortlos setze ich mich neben sie. Polizeihauptkommissar Bauer nimmt mir gegenüber Platz. Ulrike bleibt am Tisch stehen und plappert einfach drauflos, während sie den duftenden Kaffee verteilt.

»Sie müssen entschuldigen, Wolfgang, mein Mann, also, mein Freund – er ist gerade erst aufgestanden!« Ihr entschuldigender Blick wechselt während des Satzes zwischen den beiden Beamten hin und her. Sie setzt sich neben Herrn Bauer.

»Normalerweise sind wir nicht so! Also ich meine, dass wir um diese Zeit halb nackt durch die Wohnung laufen. Ich wollte mich gerade für die Arbeit fertig machen. Ich bin nämlich fest angestellt«, presst Ulrike noch hervor und ich frage mich im gleichen Moment, ob ihr möglicherweise jemand mit dem Hammer auf den Kopf gehauen hat. Denkt sie etwa wirklich, dass ich was angestellt habe und versucht jetzt für gute Stimmung bei den beiden Beamten zu sorgen?

»Ist schon in Ordnung«, beschwichtigt Polizeihauptkommissar Bauer freundlich. Und als ob es einstudiert wäre, legen beide Beamte synchron ihre Visitenkarten nebeneinander vor uns auf den Küchentisch.

»Also gut«, ergreife ich das Wort, um das sinnlose Geplapper von Ulrike nicht wieder aufwallen zu lassen. »Geht es jetzt um den Typen, oder was ist los?« Natürlich hoffe ich, ein Nein zu hören. Herr Bauer beantwortet meine Frage mit einem Kopfschütteln, was Erleichterung in mir hervorruft.

»Dann bin ich zu schnell gefahren?«, witzle ich und setze noch einen drauf: »Oder geht es um die Bank, die ich überfallen habe?« Doch mein Gag kommt nicht gut an, denn die Mienen aller, einschließlich der von Ulrike, verfinstern sich. »Nein, das sollte natürlich nur ein Witz sein!«, stelle ich sofort klar. »Ich …«, doch weiter komme ich nicht. Michaela Schüler setzt in diesem Moment geräuschvoll die Espressotasse auf den Küchentisch ab.

»Herr Walddorfer! Nichts dergleichen! Es geht um Ihren Bruder. Ihren Bruder Michael!« Sie wirft einen Blick zu ihrem Kollegen Bauer. Der nickt ihr kaum sichtbar zu. Dann schaut sie mich wieder an. Ihr Blick ist jetzt vollkommen emotionslos. Ernst und sachlich. Mit fester Stimme fährt sie fort. »Herr Walddorfer! Ihr Bruder Michael! Er ist tot!«

Ein unsichtbarer Blitz zuckt durch meinen Körper. Mit allem habe ich gerechnet. Aber nicht mit so einer Nachricht.

»Wie tot?«, platzt es aus mir heraus und mir wird gleichzeitig bewusst, wie bescheuert eine solche Frage ist.

»Wie viele Arten von tot sein kennst du denn?«, blafft mich Ulrike von der Seite an und ich werfe ihr einen sehr bösen Blick zu. Am liebsten würde ich ihr dafür eine scheuern, doch ich kann mich gerade noch beherrschen. Ulrike steht auf und geht zur Küchentür. »Ich glaube, mich brauchen Sie ja nicht für das Familienthema. Ich muss mich fertig machen. Ich muss ja schließlich auch mal in die Arbeit!«

Mit diesen Worten verlässt sie die Küche und schließt zu meiner Überraschung die Küchentür leise.

»Sie müssen bitte entschuldigen!« Keine Ahnung warum, aber ich habe jetzt das Gefühl, mich bei den beiden für Ulrikes Benehmen entschuldigen zu müssen. Vielleicht ist es in dem Moment auch nur ein Versuch, um Zeit zu gewinnen, um den Kopf etwas klarer zu bekommen. »Unsere Beziehung, na ja, sie ist, ach egal. Wie jetzt, bitte? Was ist mit Michael? Also, was ist mit meinem Bruder passiert? Hatte er einen Unfall oder so etwas?«

»So kann man das nicht sagen«, mischt sich Herr Bauer jetzt mit ein. »Aber bevor Sie Fragen stellen, hätten wir erst einige an Sie. Wann …«

»Stopp!«, unterbreche ich ihn. »Entschuldigung bitte. Sie kommen hier rein, werfen mir an den Kopf, dass mein Bruder tot ist und ich soll Ihnen Fragen beantworten? Sie werden sicher verstehen, dass ich Fragen habe, die Sie mir beantworten sollten, oder?« Innerlich habe ich bereits zu kochen begonnen. Und ich muss mich zügeln, nicht laut zu werden.

»Ich verstehe Ihre Erregung, Herr Walddorfer«, fährt der Beamte in beruhigendem Tonfall fort. »Aber die Umstände bezüglich des Todes von Michael Walddorfer erfordern einige Auskünfte von Ihnen. Es ist leider so, dass der Anfangsverdacht besteht, dass es sich um ein Gewaltverbrechen an Ihrem Bruder handeln könnte. Die Betonung liegt dabei auf Anfangsverdacht, Herr Walddorfer!«

»Gewaltverbrechen? Anfangsverdacht? Sie meinen, Michael ist umgebracht worden? Wie …?«

Da unterbricht mich Frau Schüler. »Herr Walddorfer«, sagt sie mit ruhiger Stimme. »Bitte! Herr Bauer hat doch gesagt, dass die Betonung auf Anfangsverdacht liegt. Wir versuchen, die Kollegen in München zu unterstützen, um den Fall möglichst schnell zu klären. Darum bitten wir Sie um Ihre Mithilfe. Sie werden weder verdächtigt, etwas damit zu tun zu haben, noch werden wir Ihnen im Rahmen unserer Kompetenz Informationen vorenthalten. Aber bitte, wenn wir jetzt der Reihe nach vorgehen könnten? Umso schneller werden wir Ihre Fragen beantworten können. Ist das für Sie in Ordnung?«

Ich überlege. Eine Million Dinge rasen mir durch den Kopf. Wie? Wer? Was? Warum? Michael soll tot sein? Irgendwie habe ich diese Worte noch nicht begriffen. Dann fange ich die Blicke der Polizisten auf. Sie warten auf eine Antwort von mir. Abwechselnd schaue ich die beiden an und finde keine andere Alternative, als dem Vorschlag von Frau Schüler zuzustimmen.

»In Ordnung, fragen Sie«, gebe ich kleinlaut bei und senke traurig den Kopf.

Kapitel 3 – Der nächste Tag

Frankfurt, Mittwoch, der 26. September, 7:30 Uhr

Ulrike kam, nachdem sie gestern aus der Küche gegangen war, erst in den frühen Morgenstunden wieder nach Hause. Aber das war mir egal. Ich habe nicht einmal nachgefragt, wo sie gewesen war oder wo sie geschlafen hat. Und sie hat auch nichts gesagt. Sie hat das Thema nicht einmal angeschnitten.

Den restlichen Tag gestern hatte ich mit trauern verbracht. Trauern um meinen Bruder Michael. Und mit nachdenken. Nachdenken über die vergangene Zeit. In der Nacht schlief ich sehr unruhig und träumte viel. In dem Traum sah ich Michael und mich, als wir noch Kinder waren.

Obwohl ich seit so vielen Jahren nichts mehr von meinem Bruder Michael gehört hatte, war ich doch sehr über die Nachricht von seinem Tod geschockt. Wobei geschockt nicht der richtige Ausdruck ist, eher sehr überrascht.

Michael war vier Jahre jünger als ich, also gerade mal 25 Jahre jung und deshalb hatte ich wohl auch nicht mit einer solchen Nachricht gerechnet.

Ulrike kannte Michael nicht, wie auch. Überhaupt wusste Ulrike nur sehr wenig über meine Familie und mein Leben vor unserer Zeit. Das Thema Familie und meine Vergangenheit grenzte ich immer weitestgehend aus. Ich wollte nicht daran erinnert werden, dass meine Kindheit und Jugend streckenweise, gelinde gesagt, nicht allzu toll war. Im Verdrängen von unangenehmen Dingen war ich schon immer ziemlich gut gewesen.

Aber die Nachricht von Michaels Tod warf mich dann doch mehr aus der Bahn, als ich zulassen wollte.

Die Umstände, wie Michael zu Tode gekommen war, durften oder konnten mir die beiden Kriminaler im Detail nicht sagen. Nur eben, dass der grobe Anfangsverdacht, wie es im Beamtendeutsch heißt, bestünde, dass es sich bei Michaels Tod möglicherweise um ein Gewaltverbrechen handeln könnte. Die schwammigen Aussagen gingen mir absolut auf die Nerven. Nichts Greifbares. Nichts, woran ich mich festhalten konnte. Die kriminalistischen Untersuchungen seien noch nicht vollständig abgeschlossen und das Ergebnis der Obduktion liege ihnen auch noch nicht vor. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handele es sich aber um Suizid, hatten sie mir gnädigerweise dann doch noch verraten. Genaueres, also wie exakt der Suizid vollzogen wurde, teilten sie mir aber nicht mit. Wobei ich rückblickend davon ausgehe, dass sie diese Information hatten, mir es aber aus ermittlungstaktischen Gründen nicht sagen wollten oder durften. Man ginge aber davon aus, dass der Fall in wenigen Tagen abgeschlossen sei. Dann könne ich ohnehin Akteneinsicht nehmen, wenn ich wolle, und Michael würde dann auch zur Bestattung freigegeben.

Die beiden hatten mich über meine Beziehung zu meinem Bruder ausgequetscht. Wann und wie oft wir Kontakt miteinander hatten. Ob ich Freunde von ihm kennen würde. Oder ich mir vorstellen könnte, dass er bedroht worden sei. Ob Michael Feinde hatte oder sonst irgendwelche privaten und oder finanziellen Probleme. Und so weiter und so weiter. Doch wie sollte ich die Fragen beantworten können? Wir hatten ja seit einer Ewigkeit nichts mehr voneinander gehört, geschweige denn miteinander zu tun gehabt.

Das war sehr unbefriedigend für die beiden und sie ließen nicht locker, irgendwo eine Unstimmigkeit in meinen Aussagen zu finden. Doch die gab es wirklich nicht und darum beendeten sie das Gespräch nach knapp einer Stunde. Zwischendurch hatte ich den Eindruck, dass sie über Michaels Leben überhaupt nichts wussten und die berühmte Stecknadel im Heuhaufen suchten. Ganz zum Schluss hatten sie mir noch eine Kopie von Michaels Abschiedsbrief übergeben. Man hatte ihn auf dem Küchentisch gefunden. Er war, wie ich auf der Fotokopie des Umschlags lesen konnte, an niemanden speziell adressiert.Abschiedsbrief, mehr stand nicht auf dem Umschlag. Herr Bauer erklärte mir, dass so ein Abschiedsbrief den Verdacht des Selbstmords untermauern würde. Es sei sehr oft der Fall, dass Menschen Briefe schreiben, bevor sie sich das Leben nehmen. Allerdings würden sie darin meist mit verhassten Mitmenschen abrechnen. In Michaels Brief stand aber nur fein säuberlich ausformuliert, was nach seinem Tod mit ihm geschehen soll.

Überrascht war ich allerdings, dass Michael in seinem Abschiedsbrief kein einziges Wort darüber verloren hatte, warum er sich umgebracht hat. Kein »Ich bin traurig« oder »Ich habe Probleme« oder sonst irgendein Hinweis auf den Grund seines Selbstmords. Das konnte ich nicht begreifen. Wenn ich einen Abschiedsbrief schreiben würde, wäre es klar für mich, den Grund für mein Handeln zu benennen.

Die beiden Beamten irritierte es nicht.

Auf der Rückseite des Schreibens war die Adresse eines Bestatters vermerkt mit dem Hinweis, dass alles bereits organisiert sei und man nur noch den Auftrag zur Beerdigung erteilen müsse. Außerdem lag die Police von seiner Sterbeversicherung mit im Umschlag.

Ich sitze nun seit etwa zwanzig Minuten in der Küche. Genauso lange ist Ulrike bereits im Badezimmer verschwunden. Ich höre, dass sie duscht. Zumindest höre ich das Wasser rauschen. Sie hatte sich wortlos vom Stuhl erhoben und war ins Bad gegangen, als ich die Küche betreten hatte. Bestimmt geht sie gleich wieder, wenn sie sich fertig gemacht hat, denke ich. Vielleicht in die Arbeit. Vielleicht aber auch zu ihrem Ex-Stecher. Seit sie gestern aus der Wohnung gegangen war, haben wir kein Wort mehr miteinander geredet. Keine einzige Silbe. Keine SMS. Nichts. Ich habe das Gefühl, dass sie sich vor mir versteckt. Mir ausweicht. Einem Gespräch aus dem Weg geht. Gut, dann ist das eben so. Vielleicht sind wir doch einfach zu verschieden und haben uns nur etwas eingebildet, was gar nicht existiert. Ich habe noch nie einer Frau länger als ein paar Tage nachgetrauert. Vielleicht bin ich ja auch beziehungsunfähig. Gut möglich! Denn länger als ein Jahr hat bisher keine Beziehung gehalten. Ich beschließe, mir im Moment keine weiteren Gedanken mehr über die aktuelle noch über die verflossenen Beziehungen zu machen.

Danny, mein Lieblings-Ossi und Gebrauchtwagen-Kollege, war über meinen Anruf und die Nachricht, dass mein Bruder verstorben ist, hörbar geschockt. Selten, dass er keine Worte findet oder irgendeinen Wessi-Witz reißt.

Spontan beschließe ich, noch ein wenig frei zu nehmen und rufe Danny noch einmal an.

Es klingelt lange. Dann nimmt Denny den Telefonhörer ab.

»Ja, verdammte Scheiße! Was ist los?«, brummt er verschlafen ins Telefon. Offensichtlich hatte ich ihn geweckt. Wenn er sich aufregt, so wie jetzt gerade, schlägt sein sächsischer Dialekt immer voll durch. Danny versucht das zwar zu unterdrücken, aber jetzt gelingt es ihm nicht.

»Guten Morgen Danny! Sorry, dass ich dich so früh anrufe«, eröffne ich das Gespräch, als ich seine verschlafene Stimme höre. »Du, ich wollte dir nur Bescheid geben, dass ich heute und morgen nicht ins Geschäft komme. Du weißt schon, wegen meines Bruders!«

»Du hast einen Bruder?«, fragt er überrascht. »Seit wann das denn?«

Ich ignoriere diese Frage einfach. Es war mir vollkommen klar, dass er das bis heute wieder vergessen hatte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist er noch von gestern zu betrunken, um sich daran erinnern zu können. Er hatte ja bereits angekündigt, dass er seinen Dreißigsten drei Tage lang feiern würde.

»Ich hoffe, das geht dann klar und du verstehst meine Situation. Sollte jemand was brauchen, dann ruf mich an«, beantworte ich seine einfältige Frage. Ich kann nur hoffen, dass Dannys Erinnerungsvermögen nicht vollständig dem Alkohol zum Opfer gefallen ist. Und dass er in keine Polizeikontrolle kommt, wenn er später mit dem Auto zum Platz fährt.

»Hm, mache ich! Na dann! Ach ja, stimmt. Dein kleiner Bruder. Klar, sorry. Ich erinnere mich. Bin noch nicht ganz klar in der Birne. Haben noch mal ordentlich nachgefeiert. War echt wieder gut gestern. Bin mit den Jungs um die Häuser gezogen!« Ein satter Rülpser ist zu hören. »Sorry! Habe ich dir schon mein Beileid ausgesprochen?«

Danny ist so ein neugieriger und auch vergesslicher Mensch, der gerne alles weitererzählt und dabei oft genug Dinge durcheinanderbringt. Darum halte ich mich mit Informationen, die ihn nicht direkt etwas angehen, immer zurück. Insbesondere aus meinem Privatleben. Trotzdem ist er ein guter, zuverlässiger Freund und ein super Kollege, auf den ich mich bisher immer verlassen konnte.

»Ja, danke, hast du mir gestern schon gesagt. Nett von dir. Ich melde mich wieder! Und vergiss nicht, dir einen Wecker zu stellen, damit du nicht den ganzen Tag verschläfst!« Ohne einen weiteren Kommentar beendet er grußlos das Gespräch, nicht ohne zuvor nochmals geräuschvoll Luft aus seinem Bauch entweichen zu lassen.

Klick.

Ich hoffe inständig, dass Danny sich gemerkt hat, was wir eben besprochen haben. Nicht dass er noch so im Halbschlaf war, dass er später denkt, dass er nur geträumt hat und auf dem Platz dann vergebens auf mich wartet. Na ja, dann wird er sich ja bestimmt melden, wenn er mich vermisst, denke ich gerade noch, als Ulrike in die Küche platzt.

»Mit wem telefonierst du denn schon wieder?«, raunzt sie mich an.

»Mit Danny! Ich habe ihn angerufen und ihm Bescheid gegeben, dass ich heute und morgen nicht auf den Platz komme. Er hat vollstes Verständnis dafür. Er hat mir gleich angeboten, die Geschäfte für mich abzuwickeln, wenn jemand was braucht!«, lüge ich Ulrike an, obwohl ich das ja eigentlich gar nicht nötig habe.

»Das ist ja nett von deinem Danny!«, ist ihr spitzer Kommentar dazu. Sie lässt einen Espresso aus meiner verchromten Kaffeemaschine, setzt sich mir gegenüber an den Küchentisch und beginnt ihre Nägel zu feilen.

Eine Parfümwolke umgibt sie und strömt in meine Nase. So wie sie sich aufgedonnert hat, wird sie heute sicherlich keine kleinen Kinder auffordern, nicht vom Beckenrand zu springen. Sie hat wohl etwas Besseres vor. Denn sonst donnert sie sich nicht so auf, wenn sie in die Arbeit geht. Kurz überlege ich, ob ich sie darauf ansprechen soll. Doch dann beschließe ich, es zu ignorieren und tue so, als hätte ich es nicht bemerkt.

Schweigend sitzen wir am Küchentisch. Das mit dem miteinander Reden wurde bereits in letzter Zeit immer weniger.

Das kratzende Geräusch ihrer Nagelfeile macht mich jetzt wahnsinnig. Und als ob sie es wüsste, macht sie immer weiter und weiter. Der Tisch vor ihr ist bereits mit ihrem Nagelstaub übersät. Sie wartet offensichtlich, dass ich etwas zu ihr sage. Aber darauf kann sie lange warten. Von mir aus feilt sie sich die Finger bis zum Ellenbogen. Es ist wie ein kleines Machtspiel, das sie da mit mir treibt.

Kurz darauf reicht es mir dann doch und ich zünde mir eine Zigarette an. Ulrike steht abrupt auf, stellt ihre Tasse in die Spüle und geht Richtung Küchentür. Im Staub ihrer abgefeilten Nägel ist deutlich der Rand ihrer Tasse auf dem Küchentisch zu sehen. Sie macht aber keinerlei Anstalten, ihren Dreck wegzuwischen.

»Also dann bis heute Abend«, sagt sie und macht sich auf den Weg. Wohin auch immer. Vielleicht wäre sie noch sitzen geblieben, wenn ich mir keine Zigarette angezündet hätte, denn ihre Tasse ist noch halb voll, sehe ich, als ich meine ebenfalls in die Spüle stelle und ein feuchtes Tuch nehme, um den Tisch abzuwischen. Es ist das Neueste, dass sie es hasst, wenn ich rauche. Sie selbst hat vor drei Wochen damit aufgehört. Vielleicht kommen ihre Gefühlsschwankungen auch vom Nikotinentzug, überlege ich und werfe den Lappen zu den Tassen ins Spülbecken.

Seit gestern, als wir über Michaels Tod informiert wurden, habe ich kein gutes Gefühl mehr, dass das mit Ulrike und mir noch lange halten wird. Mit keiner Silbe hat sie mich bisher gefragt, wie es mir geht oder wie ich mich fühle. Geht ihr das selbst so unter die Haut, oder gibt es einen anderen Grund. Ich nehme mir vor, heute Abend mit ihr darüber zu sprechen. So kann es auf jeden Fall nicht mit uns weitergehen. Eine solche Beziehung brauche ich nicht. Nicht jetzt und auch nicht in der Zukunft.

Damit hake ich das Thema für den Moment ab, denn jetzt gibt es Wichtigeres für mich als die Beziehung oder Nichtbeziehung mit Ulrike. Jetzt muss ich mehr über Michaels Tod wissen. Falsch! Nicht müssen, sondern wollen!

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mir die beiden Beamten einiges an Informationen vorenthalten haben.

Auf der Anrichte liegen noch die Visitenkarten der Polizeibeamten. Ich greife zum Handy und wähle die dienstliche Mobilfunknummer von Polizeikommissarin Michaela Schüler. Es ist gerade halb neun.

Nach dem ersten Klingelton hebt sie bereits ab. Ihre Stimme klingt freundlich, wie sie ihren Namen in den Telefonhörer haucht. »Polizeikommissarin Michaela Schüler? Ja, bitte?«

»Guten Morgen Frau Schüler, Wolfgang Walddorfer hier! Ich hoffe, ich störe Sie nicht. Ich würde gerne nochmals mit Ihnen sprechen. Ich habe da noch einige Fragen. Haben Sie Zeit für mich?«, konfrontiere ich sie direkt mit meinem Anliegen.

Freundlich, aber bestimmt, kommt ihre Antwort: »Nein, leider nicht, Herr Walddorfer. Ich habe jetzt ein paar Tage Urlaub. Und Kollege Bauer steht leider auch nicht zur Verfügung. Er hat sich überraschend krank gemeldet! Aber wenn Sie Fragen haben, kann ich Ihnen gerne einen Kontakt zu einem anderen Kollegen vermitteln! Möchten Sie?«

Nein, ich möchte nicht! Ich möchte mit Ihnen über den Tod meines Bruders reden, würde ich ihr am liebsten antworten. Beiß mir aber auf die Zunge.

»O.k.!«, gebe ich enttäuscht zurück.

»Ich gehe davon aus, dass Sie zeitnah einen Termin möchten. Ich muss sowieso gleich noch mal in der Dienststelle anrufen und etwas besprechen, dann würde ich gleich nachfragen, wann der Kollege Zeit hat! Wären Sie heute flexibel in Ihrer Zeit?«

»Ja, ist mir egal wann, denn heute habe ich keine Verpflichtungen mehr.«

»Gut, dann melde ich mich gleich noch mal unter der Nummer, von der Sie mich eben angerufen haben. Also, bis später«, und schon legt sie auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Irgendwie bin ich jetzt traurig und wütend zugleich. Ich hätte so gerne mit Michaela Schüler meine offenen Fragen geklärt. Sie war mir, trotz der traurigen Nachricht die sie mir zusammen mit ihrem Kollegen überbracht hat, auf den ersten Blick sympathisch. Ich schenke ihr mein Vertrauen, warum auch immer. Das geht mir nicht oft so, dass ich gleich jemandem vertraue. Besonders nicht so schnell.

Keine vier Minuten später bekomme ich eine SMS.

HEUTE 11:30 UHR – LAURENBURGERHOF 33 – POLIZEIKOMMISAR HORST MILLER – GRUSS MICHAELA SCHUELER

»Danke und schönen Urlaub, Michaela Schüler! Erholen Sie sich gut!«, sage ich zu meinem Telefon, als ich die SMS gelesen habe.

Ich beschließe erst einmal, ein heißes Bad zu nehmen. Ich fühle mich irgendwie nicht so richtig gut. Vermutlich liegt es an den ganzen Umständen, die seit gestern auf mich einprasseln. Vielleicht bekomme ich auch nur eine Erkältung.

Mit geschlossenen Augen liege ich im warmen Wasser. Doch es will mir einfach nicht gelingen, mich zu entspannen. Immer wieder kreisen meine Gedanken um Michael und die unerwartete Nachricht über seinen Tod. Um Ulrike und das, was wir an Beziehung noch haben. Und nicht zuletzt um diese Michaela Schüler. Seltsam, dass ich immer wieder an sie denken muss.

BIN NOCH MAL BEI DER POLIZEI – MELDE MICH DANN, tippe ich eine SMS an Ulrike in mein Handy, als ich die Wohnung verlasse. Warum ich ihr überhaupt eine Nachricht zukommen lasse, weiß ich selbst nicht genau. Vielleicht als indirekte Aufforderung, mir auch zu sagen, was sie den ganzen Tag so treibt und wo sie gerade steckt. Aber es scheint ihr ziemlich egal zu sein, was ich mache, denn kurz darauf bekomme ich nur ein O.K. zurück. Länger ist ihre Antwort nicht.

Ich nehme die Straßenbahn zur Polizeiwache. Irgendwie habe ich Lust darauf, mal wieder mit den Öffentlichen zu fahren. Außerdem ist es nur ein Katzensprung von der Haltestelle bis zur Wache und laut Internet gibt es dort ringsherum nur eingeschränkt Parkmöglichkeiten. Und auf einen Strafzettel, weil ich im Halteverbot stehe, während ich auf der Wache bin, habe ich überhaupt keinen Bock.

Ich bin pünktlich um 11:30 Uhr vor dem Haus mit der blau-weißen Polizei-Reklame. Das alte Gebäude erinnert mich mit seinen vergitterten Fenstern eher an ein Gefängnis als an eine Polizeiwache. Per Bewegungsmelder öffnet sich wie von Geisterhand die schwere Holztür vor mir und gibt den Weg über den Innenhof in das Gebäude frei. Dann drücke ich den Klingelknopf an der stählernen Eingangstür zur Wache. Eine große verspiegelte Glasscheibe in der Wand gibt nur den Blick vom innen nach außen frei.

Wie viele Leute hier wohl schon gepopelt haben und von drinnen dabei beobachtet wurden, überlege ich gerade, als sich surrend der Türöffner bemerkbar macht und mir den Weg ins Innere der Wache freigibt.

Der Geruch des etwa 200 Jahre alten Gemäuers ist unverkennbar. Bestimmt saßen hier früher die Polizisten mit Pickelhaube, Säbel und silbernen Knöpfen an der Uniform. Ich denke an ein Kinderbuch, in dem die Großmutter vom Räuber entführt wird und der Hauptwachtmeister mit dem Fahrrad die Verfolgung aufnimmt. Glückliche Kindheit, denke ich plötzlich traurig. Jetzt kommt mir noch eine Fernsehsendung aus meiner frühesten Kindheit in den Sinn. Irgendwas mit Königlich Bayerisches Amtsgericht oder so.

»Guten Tag! Wie kann ich Ihnen helfen?«, begrüßt mich eine sehr junge Polizistin in grüner, frisch gesteifter Uniform. Mir fallen sofort ihr fränkischer Dialekt und ihre sternfreien Schulterstreifen auf.

»Wolfgang Walddorfer ist mein Name. Ich soll mich bei Herrn Miller melden. Ich habe einen Termin«, gebe ich betont hochdeutsch zurück, damit sie mich auch sicher versteht.

»Moment bitte, wenn Sie hier so lange Platz nehmen würden«, antwortet sie und bedeutet mir, mich auf die Bank an der Wand zu setzen.

Wortlos setze ich mich auf die ungepolsterte Holzbank mit Blick zum Tresen. Von hier aus kann ich die junge Polizeibeamtin sehen, wie sie in irgendwelchen Papieren unter der Schreibtischunterlage wühlt. Ich habe das Gefühl, dass es eine Ewigkeit dauert, wie sie da sucht, um dann doch endlich zu einem Kollegen am anderen Schreibtisch zu gehen – um zu fragen, welche Rufnummer dieser Miller hat.

Das fängt ja schon gut an, ich werde bereits ungeduldig. Als ich ihren Blick auffange, schaue ich provokant auf meine Uhr und verdrehe die Augen. Schlagartig bekommt die Polizistin rote Ohren und greift zum Telefonhörer.

Gereizt tippe ich gut hörbar mit den Fingern auf die hölzerne Sitzfläche der unbequemen Wartebank. Sie flüstert in den Hörer des grauen Telefonapparats, der sicherlich noch aus den 70er-Jahren stammt. Leider kann ich nicht verstehen, was sie sagt. Aber so verlegen, wie sie in der Gegend herumschaut, befürchte ich, dass sie entweder meinen Namen schon wieder vergessen hat, oder dieser Miller beim Essen ist. Doch dann schöpfe ich neue Hoffnung, denn sie beendet das Telefonat und nickt freundlich zu mir herüber. Das soll wohl bedeuten, dass sie ihn erreicht hat und er unterwegs ist. Also warte ich brav und verziehe dabei die Mundwinkel zu einem übertriebenen Lächeln.

Gefühlte zwei Minuten später kommt aus einer Hintertür ein in Zivil gekleideter, schlanker, jüngerer Mann auf mich zu. Glatt rasiert und die Haare mit viel zu viel Pomade nach hinten geklebt. Ein Schleimer, wie er im Buche steht, urteile ich beim ersten Anblick über den Typ, der offensichtlich der Polizist Miller ist. Ja, das habe ich befürchtet.

Die junge Polizistin bedeutet ihm mit einem diskreten Fingerzeig, dass ich es bin, der sich hier den Hintern breitsitzt. Arrogant nimmt er den Hinweis ohne erkennbare Rückmeldung auf und steuert geradewegs auf mich zu.

»Wolfgang Walddorfer?«, fragt er mich mit piepsiger Stimme, die klingt, als befände er sich am Ende des Stimmbruchs.

Ich nicke wortlos. Vom ersten Moment an merke ich, dass die Chemie zwischen uns nicht stimmt. Dieses arrogante Auftreten von diesem Pseudo-Cop geht mir jetzt schon volle Granate auf den Nerv.

So wie er mich ansieht, glaube ich, dass er das Gleiche für mich empfindet. Fehlt nur noch, dass er sich ein Papiertaschentuch vor den Mund hält und Gummihandschuhe anzieht, bevor er mir die Hand reicht.

Aber auf das Händeschütteln scheint er lieber gleich ganz zu verzichten, denn er legt sofort los. »Mein Name ist Miller, Horst Miller, Polizeikommissar. Mein Beileid, Herr Walddorfer. Wollen wir?«

Seine Stimme klingt bei dem Beileidssatz absolut neutral und fast pietätlos. Als mache er das zehnmal am Tag. Feinfühligkeit scheint nicht seine Stärke zu sein. Oder liegt es an meinem Aussehen, dass er so reagiert? Na ja, ich bin eben kein Typ von der Stange, so wie ich rumlaufe. Eben eher der saloppe Typ und kein Schlipsträger. Vielleicht ist er auch bloß neidisch, weil seine Mama es ihm nicht erlaubt hat, ein wenig extravagant zu sein. Bestimmt hat er als Kind Ballett gemacht. Aber dennoch würde ich erwarten, dass er mich etwas respektvoller behandelt und lache beinahe darauf los. Das ist genau die Art von Typ, dem ich im Sandkasten die Schaufel weggenommen hätte und der dann weinend zu seinem großen Bruder gelaufen wäre.

»Was wollen wir, Herr Wachtmeister?«, frage ich zurück, stehe auf und trete einen Schritt an ihn heran, um ihm zu demonstrieren, dass er sich einfach ein bisschen zurücknehmen soll.