Wann immer wir träumen (Immer-Trilogie, Band 2) - Michelle Schrenk - E-Book

Wann immer wir träumen (Immer-Trilogie, Band 2) E-Book

Michelle Schrenk

4,0

Beschreibung

Mit ihm kann sie träumen. Gemeinsam lernen sie fliegen. Die Nacht durchmachen, etwas Verbotenes tun, einen Fremden küssen – als Kaia mal wieder eine Party früh verlässt, hat sie plötzlich das Gefühl, etwas zu verpassen. Also erstellt sie eine Liste mit all den Dingen, die sie noch erleben will. Doch die muss vorerst warten, denn für ein Uniprojekt wird sie mit Jakob zusammengesteckt. Ausgerechnet Jakob, von dem jeder weiß, dass er der größte Chaot auf dem Planeten ist. Blöd nur, dass er Kaias Liste findet und ihr anbietet, sie mit ihr abzuarbeiten. Aber was passiert, wenn sie zu Punkt 6 kommen: der Sache mit dem Kuss? Im zweiten Teil ihrer Immer-Reihe schenkt Michelle Schrenk einem Mädchen mit Plänen ungeplantes Glück und zeigt so auf gleichermaßen humorvolle wie einfühlsame Weise, dass zu leben bedeutet, jeden Moment zu genießen.

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HaRoJo

Gut verbrachte Zeit

Ein wirklich wunderschönes Buch! Konnte kaum aufhören zu lesen! Liebe Michelle! Bitte achte auf den richtigen Fall nach "wegen"!!! Es tut so weh!!!
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Beliebtheit




INHALT

Playlist

Prolog – Kaias Bucket List

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Etwas Verbotenes tun.

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Einen Filmkuss haben.

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Die Nacht zum Tag machen.

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

PLAYLIST

Adel Tawil – Die Welt steht auf Pause

BENNE – Was zum träumen

Clueso – 37Grad im Paradies

Clueso feat. Andreas Bourani – Willkommen zurück

ela. – Lila Cadillac

Frida Gold – Wovon sollen wir träumen

Gentleman x Sido – Schöner Tag

HE/RO – Kuss an Dich

Herzchen – Mein Kind

JORIS – Komm Zurück

KAYEF – WOW

Klima – Schwesterherz

Knappe – Immer nur wir zwei

LEA X Casper – Schwarz

LEA – Wenn du mich lässt

Mark Forster, Mathea – Willst du mich

Mathea – Chaos

Mike Singer – Forever Young

Montez x Elif – Immer wenn ich gehen will

Moritz Garth – Kaltes Wasser

Namika – Kompliziert

Nico Suave & EMY – Camouflage

Revolverheld – Neu erzählen

SDP – Wenn du in meinem Arm bist

Vega, Montez – Irgendjemand wie du

Wincent Weiss, Johannes Oerding – Die guten Zeiten

YAENNIVER – HALB SO ICH

Prolog

Kaias Bucket List

Etwas Verbotenes tun

Mutig sein

Einen Filmkuss haben

Mich wie auf dem Dach der Welt fühlen

Die Nacht zum Tag machen

Dem Sonnenaufgang entgegenfahren

Unerwartet verreisen

Im Schnee spielen

Sternschnuppen zählen

Etwas Gutes tun

KAPITEL 1

»Ich hab noch nie … mit einem völlig Fremden rumgemacht.«

Entgeistert starrte ich Lina an, die wie selbstverständlich einen Schluck von ihrem Getränk nahm. Auch Nika hatte den Becher an ihre Lippen gesetzt und obwohl ich versuchte, nicht so überrascht darüber zu sein, dass ich die Einzige war, die gerade nicht zu ihrem Getränk griff, war ich es doch irgendwie.

»Haha, Kaia trinkt als Einzige nicht«, hörte ich prompt jemanden rufen. Keine Ahnung, wer das war, irgendein Kerl aus der Uni. Ja, sehr lustig. Der sollte sich lieber mal um seine Angelegenheiten kümmern. Wie zum Beispiel darum, seinen Hosenstall zu schließen.

Wir spielten Ich hab noch nie und gerade war meine große Schwester Lina an der Reihe gewesen. Bei dem Spiel ging es darum zu offenbaren, welche Dinge man im Leben noch nicht oder welche man schon erlebt hatte. Wer an der Reihe war, warf eine Aussage in die Runde. Wenn man die entsprechende Sache getan hatte, musste man trinken, falls nicht, dann … eben nicht. So wie in dem Fall ich. Und in vielen vorherigen Fällen …

»Was, ihr habt beide schon mit einem Fremden geknutscht?«, fragte ich meine Schwestern mit zusammengezogenen Augenbrauen, woraufhin sie mich angrinsten.

»Na klar, erst heute wieder. Aber psst …«, sagte Nika.

Was? War das ihr Ernst? Wann denn? Mit wem? Gab es neuerdings so was wie Knutschbuden, zu denen man ebenso selbstverständlich ging wie zum Bäcker?

Einmal Kuss zum Mitnehmen. Heute bitte mit Zunge.

»Du etwa noch nicht?«, riss mich Lina aus dem kleinen Film in meinen Gedanken.

Kurz musterte ich sie. Wie immer sah sie mit ihren eingedrehten hellen Haaren perfekt gestylt aus. Das enge rote Kleid schmeichelte ihrem sportlichen Körper. Wir alle drei waren sportlich – meistens zumindest. Wir waren auch alle drei blond und hatten blaue Augen. Aber ansonsten waren wir doch sehr unterschiedlich.

»Und, hast du?« Lina ließ nicht locker.

Als ich mich verlegen umsah, bemerkte ich, dass die Party inzwischen in vollem Gange war. Der Garten war geschmückt, bunte Lichter, Girlanden und elektrische Kerzen zierten die Bäume und Tische. Sommerluft stieg mir in die Nase und Sterne funkelten am klaren Himmel. Und auch ich bekam in diesem Moment immer mehr Klarheit. Und zwar in Sachen bescheuerte Dinge tun.

Nicht Lina, sondern das Spiel holte mich zurück in die Realität. Ein Kerl war an der Reihe. Er hob seinen Becher und sah schmunzelnd in die Runde. »Ich hab noch nie … etwas Verbotenes getan.«

Wieder blieb mein Becher ruhig in meinem Schoß liegen, während meine Schwestern tranken. Ein Blick zu den anderen verriet mich erneut als die Einzige, die nicht mithalten konnte. Tja, ich war offenbar die absolute Partykönigin. Wo war eigentlich das Konfetti? Und wo meine Krone?

»Was Verbotenes? Was denn?«

Lina lachte. »Wenn ich dir das sagen würde, müsste ich dich leider umbringen, Schwesterherz.«

Nika nickte zustimmend. »Jap, ich hülle mich ebenfalls in Schweigen.«

Ich verschränkte die Arme vor der Brust und grummelte etwas unverständlich vor mich hin: »Okay, dann halt nicht.« Was war bloß los mit ihnen? Oder eher mit mir? Ich fühlte mich dezent fehl am Platz. Doch ehe ich weiter darüber nachdenken konnte, ging es schon in die nächste Runde.

Ein Mädchen mit dunklen Haaren und einem weißen Kleid hob ihr Getränk. »Also ich hab noch nie … Liebeskummer gehabt.«

Jetzt wusste ich, dass Lina und Nika auf alle Fälle trinken würden. Lina hatte ich schon mehr als einmal als heulendes Häufchen Elend erlebt und wegen Nikas aktuellem Liebeskummer waren wir schließlich hier. Denn ihr Freund – oder besser gesagt ihr Irgendwas-in-der-Art-Ex-Liebhaber, denn Freund hätte ich diesen miesen Kerl von Alex nicht unbedingt genannt – hatte erst vor Kurzem mit ihr Schluss gemacht. Oder die Affäre beendet, wie auch immer man das nennen wollte, was da zwischen den beiden gelaufen war. Ja, sie hatte sich offensichtlich in etwas verrannt und wir waren nun die Trostspender. Und das, obwohl vor allem Lina sie mehrmals gewarnt hatte. Lina hatte nämlich vor gar nicht allzu langer Zeit eine Theorie aufgestellt. Es ging dabei um Kerle – oder genauer gesagt um Bad Boys wie Alex – und darum, wie man sie durchschaute. Sie hatte ihre Merkmale und Verhaltensweisen bis ins kleinste Detail studiert und Nika infolgedessen eindringlich vor Alex gewarnt. Wobei sie mit all ihren Theorien nicht immer ganz richtiglag, aber gut, genau deshalb war sie jetzt glücklich. Mit ihrem Freund Ben. Das war aber eine andere Geschichte.

Das Mädchen, das an der Reihe war, trank nicht.

»Was, du hattest noch nie Liebeskummer?« Ein Kerl mit roten Haaren, der mich irgendwie an Ed Sheeran erinnerte, sah sie fragend an. Es war ein anderer als der Trottel, der vorhin einen blöden Kommentar über mich gemacht hatte.

»Neiiin«, sagte sie gedehnt. »Wenn, dann haben die Kerle wegen mir Liebeskummer. Hallooo, schau mich doch mal an«, erklärte sie und streckte grinsend ihre Brust raus. Selbstbewusstsein hatte sie …

»Die ist ja mal so was von arrogant«, flüsterte Nika und verzog dabei ihr Gesicht. »Liebeskummer kann jeden treffen, egal, wie man aussieht.«

Ich tätschelte ihre Hand und befürchtete schon, dass sich gleich – mal wieder – ein Redefluss über uns ergießen würde nach dem Motto: Alex ist so ein mieser Kerl. Doch sie blieb standhaft. Vorerst zumindest.

»Ähm, Kaia, oder? Du bist dran!« Ein braun gebrannter Kerl mit dunklen Haaren deutete auf mich.

Ich erstarrte. Mist. Was könnte ich sagen? Ich grübelte einen Moment, bis ich eine Idee hatte. Ich streckte die Hand inklusive Becher in die Höhe, blickte feierlich in die Runde und verkündete: »Ich hab noch nie eine App entwickelt.« Demonstrativ nahm ich einen tiefen Schluck. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ha! Wer war jetzt die Einzige, die trank?

»War das ein Scherz oder so?«, fragten meine Schwestern lachend.

Der dunkelhaarige Kerl sah in die Runde und zuckte mit den Schultern. »Okay, vielleicht machen wir lieber mal was anderes. Wollen wir ein paar Cocktails mixen? Ich hab da ’nen angesagten neuen Drink. Wer will einen Riiingooo?« Die anderen klatschten. »Dann yallah!«, rief er lauthals, woraufhin sich der Kreis auflöste.

Für mich der perfekte Moment aufzubrechen. Aber so was von yallah!

»Das war wieder mal typisch du!« Lina grinste und leerte ihren Becher in einem Zug.

»Wollen wir auch so einen Ringo?«, wollte Nika wissen und stupste mir mit dem Ellbogen leicht in die Seite.

»Ne, ich hab genug für heute. Genug Infos, merkwürdige Aussagen und Bier. Ich pack’s jetzt.«

Die beiden sahen mich fragend an. »Jetzt schon? Es ist doch noch gar nicht so spät, die Party hat gerade erst angefangen.«

Da hatten sie recht. Als ich auf meine Uhr blickte, erkannte ich, dass es gerade mal elf Uhr war, aber mir reichte es für heute. Der Tag war wieder unheimlich vollgepackt gewesen. Nicht nur, dass es in der Uni stressig gewesen war, nein, ich hatte auch Nika zwischendurch immer wieder aufbauen müssen wegen dieser Hohlbirne Alex. Außerdem hatte ich Lina bei der Recherche für ein Projekt geholfen und dann auch noch Mamas gefühlt minütlich eintreffende Nachrichten zur Planung der bevorstehenden Hochzeit beantwortet. Ich liebte sie wirklich, aber langsam wurde sie dezent verrückt. Und noch dazu war es mitten unter der Woche.

In mir machte sich die Vorfreude auf mein Bett breit. Ich brauchte dringend Schlaf. Wenn ich jetzt sofort nach Hause ginge, hätte ich sogar noch die Möglichkeit auf sieben Stunden davon – und die brauchte ich. Wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge benötigte der Mensch täglich mindestens sieben Stunden Schlaf, um leistungsfähig zu sein. Das wusste ich, weil ich mich mit allen möglichen Statistiken beschäftigte. Mein Name Kaia Schiffner stand im Duden genau zwischen den Worten Organisation und Statistik, zumindest behaupteten das meine Schwestern. Und ja, Organisation lag mir.

»Jetzt komm schon, Kaia, bis jetzt war’s doch richtig lustig.«

»Ja, superlustig, ich bin halt nur die absolute Niete in diesem Spiel.« Ich strich über meine beigen Shorts, die ich mit einem kurzen weißen Shirt und beigen Sandalen kombiniert hatte, auf denen kleine Steine glitzerten.

»Ach was, ich meine, dafür hat bei diesem App-Entwicklungsding außer dir niemand getrunken. Verbotenes tun, Fremde knutschen oder sonst was kann jeder. Du bist stattdessen ein echtes Superhirn oder so«, entgegnete Lina grinsend.

»Ja, oder so. Und du«, ich deutete auf Nika, »hast heute schon einen Fremden geknutscht? Wann? Wen? Warum?«

»Ach, so ’nen Kerl. So einen mit … mit … mit Haaren.« Sie fuchtelte mit den Händen neben ihrem Kopf herum. »Ich dachte, ich könnte Alex damit besser vergessen. Aber na ja, hat nicht wirklich geholfen.«

»Natürlich nicht«, sagte ich und schüttelte den Kopf. Wir fühlten wirklich mit ihr, Liebeskummer musste echt richtig blöd sein, aber … »Was heißt hier eigentlich mit Haaren? Was ist das denn für eine Beschreibung? Weißt du etwa nicht mal, wen du geküsst hast?«

Lina lachte. »Das Wort Fremder ist dir aber schon ein Begriff, oder, Kaialein? Und das Wort Ablenkung? Sicher war es deswegen, oder, Nika?«

Unsere kleine Schwester nickte. »Natürlich. War auch nur ein Kuss, mehr nicht. Wobei, eigentlich war es sogar nur ein Küsschen, also ohne Zunge. Das gilt dann ja gar nicht als richtiges Knutschen, oder?«

Lina prustete los. »Ich kann nicht mehr. Stimmt, ohne Zunge ist es nur ein halber Kuss. Das wär ein cooler Buchtitel, den muss ich mir unbedingt merken.«

»Ja, ist doch so, oder?« Nika zuckte mit den Schultern.

»Ach ja? Du musst also jemanden finden, dem du die Zunge komplett in den Hals stecken kannst, sonst gilt es nicht?«, hakte Lina noch immer lachend nach.

»Versteh ich nicht«, sagte ich, während Nika uns die Zunge herausstreckte.

»Was verstehst du nicht, Kaia? Ist doch logisch. Um jemanden zu vergessen, lenkt man sich am besten mit jemand anderem ab. So lange, bis es einen nicht mehr interessiert, was mit dem …«, Lina hob die Hände und zeichnete mit ihren Fingern Anführungsstriche in die Luft, »… Ex ist.«

Reflexartig schüttelte ich den Kopf. »Was ist das denn bitte für eine Einstellung? Wenn man jemanden vergessen will, setzt man sich erst mal mit sich selbst auseinander. Mit dem Grund, warum alles so gekommen ist. Man analysiert das Ganze und dann ändert man an sich selbst gewisse Züge. Außerdem gibt es zu Liebeskummer eine interessante Statistik: Im Durchschnitt braucht man die Hälfte der Zeit, die man mit dem zusammen war, der einem dann fehlt, um wieder auf die Beine zu kommen.« Ich sah Nika an. »Das heißt: Wenn du mit diesem Alex gerade mal vier Wochen was am Laufen hattest, dann reichen eigentlich zwei Wochen, um die Trennung zu verdauen. Das ist reine Kopfsache.« Ich nickte zufrieden.

Nika verschränkte die Arme vor der Brust. »Unsinn! Mein Herz sagt da schließlich auch noch was dazu!«, rief sie. »Es kann einem doch keiner vorschreiben, ob man jemanden schneller oder langsamer vergisst. Schon gar nicht deine blöde Statistik!« Sie hatte die Arme wieder gelöst und fuchtelte jetzt wild damit herum.

Lina nickte und straffte die Schultern. »Genau, Kaia, da hat Nika völlig recht. Manchmal ist im Leben halt nicht alles logisch. Alles zu seiner Zeit, würde Mama dazu sagen.«

Jetzt mussten wir alle drei kichern. Linas Aussage zu unserer Mama hatte die Stimmung deutlich aufgelockert. Denn seit sie ihren Freund Bernd hatte, war sie auf genau dieser Schiene: Alles zu seiner Zeit. Alles ist toll. Man braucht nur gute Energie. Du kannst sie überall spüren. Edelsteine im Wasser schmecken gut und geben Kraft. Und so weiter und so fort. Aber egal, was für einen Quatsch sie da von sich gab, sie war glücklich mit Bernd und würde ihn demnächst sogar heiraten. Es sollte eine Hochzeit unter einem Baum werden. Oder in der Stadt. Oder am See. Oder in einem Schloss. Alles war möglich und immer war es etwas anderes …

»Aktuell will sie übrigens nicht nur Glückssteine verteilen, sondern auch eine Wahrsagerin auf der Hochzeit haben«, sagte ich und meine Schwestern sahen mich mitleidig an.

Denn natürlich war auch diese ausufernde Organisation wieder einmal auf mich abgeschoben worden. Weil ich ja erstens: ihrer Meinung nach gut damit umgehen konnte und weil ich zweitens: sowieso immer erreichbar war. Was hieß, dass ich drittens: kein Leben hatte, außer meine Arbeit. Und, nun ja, irgendwie war es auch so.

Nika grinste. »Zum Glück machst du das, Kaia Superhirn. Mama ist gerade echt leicht anstrengend. Mal sehen, was sie morgen will. Das ändert sich alles hundertmal innerhalb von Stunden.«

Lina fügte an: »Ich komm immer noch nicht über ihren Vorschlag von vorgestern hinweg. Da hatte sie doch tatsächlich die Idee, nur grüne Getränke zu verteilen. Und was war noch mal mit der Chormusik? Irgendwie kann ich mir das alles gar nicht mehr merken.« Sie grinste mich an. »Nika hat recht, zum Glück kümmerst du dich darum, Kaia Superhirn.«

Das war mein Stichwort. »Und genau deswegen geht das Superhirn jetzt heim. Es muss sich nämlich all das merken. Ich habe morgen viel zu erledigen und will ausgeschlafen sein. Immerhin habe ich einen Termin bei Professor Winter und will nicht mit Augenringen in seinem Büro sitzen«, fasste ich bestimmt zusammen und schob mir eine Strähne meines blonden Haars aus der Stirn. Ich war wirklich aufgeregt deswegen. Professor Winter holte immer nur die Besten zu sich. Es war also eine Ehre. Eine Art Ritterschlag.

»Das ist wirklich toll. Wär aber trotzdem schön, wenn du noch ein bisschen bleiben könntest. Nur ein ganz klein bisschen.«

Ich seufzte. Es war schwer, Nikas Hundeblick zu widerstehen. Den hatte sie als Jüngste von uns nämlich richtig gut drauf. Aber ich musste gehen, ich war echt im Eimer. Mein Bett rief ganz laut und deutlich. Hilfe suchend schaute ich Lina an. Ich hoffte, sie würde mich retten, denn wenn sie blieb, wäre Nika nicht allein.

»Lina, du hast doch vor, noch zu bleiben, oder? Was sagst du denn?«

Während Nika nun Lina mit ihrem Hundeblick ansah, verzog diese das Gesicht.

»So als Älteste und Weiseste von euch«, sie kicherte, »würde ich sagen: Bleib noch ein bisschen. Wir sind jung und unsere kleine Schwester braucht uns gerade. Schau doch mal, wie sie dasitzt. Die Ärmste.« Sie stupste Nika in die Seite. »Ablenkung ist angesagt.«

Nika verzog nun gespielt leidend die Lippen, legte die Stirn in Kummerfalten und kreuzte die Arme vor der Brust in ihrem dunklen, mit Spitze besetzten Oberteil. Na toll, wieder dieser Blick. Was sollte ich jetzt nur machen?

Die Bemitleidenswerte hatte Nika nicht erst drauf, seit Alex sie verlassen hatte. »Bitte«, bettelte sie. »Ich brauche gerade wirklich meine wundervollen Schwestern um mich. Beide. Okay, Kaia? Nur noch ein Getränk?« Sie reichte mir das Bier, das noch übrig war.

»Ja, du arme Kleine.« Ich kniff ihr schmunzelnd in die Wange, dann nahm ich das Bier an.

»Juhuuu, du bleibst!«

KAPITEL 2

Lina griff nach ihrer Flasche, um mit uns anzustoßen, und schließlich klirrten die Böden aneinander. Was sollte ich unter diesen Voraussetzungen auch anderes tun, als nachzugeben? Zumindest für den Moment. Dann eben noch eine halbe Stunde. Ein bisschen Zeit hatte ich ja vielleicht noch. Doch um die genau im Blick zu haben, zog ich mein Handy aus der Hosentasche und stellte mir einen Timer.

Lina tippte mich an. »Du stellst dir jetzt aber nicht wirklich die Uhr? So kann man doch keinen Spaß haben!«

»Klar, ich habe megaviel Spaß. Eine ganze halbe Stunde noch.« Ich grinste sie an.

»Ach, Kaia.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Was denn? Das reicht ja wohl«, entgegnete ich noch immer grinsend.

»Na, kein Wunder, dass du bei dem Spiel nüchtern geblieben bist. Du bist einfach zu diszipliniert.« Nika sah mich an und ich hob eine Braue.

»Ja, weil ich euch zwei im Auge behalten muss. Nicht, dass ihr wieder mit irgendwelchen fremden Kerlen rumknutscht oder was weiß ich was Verbotenes tut.«

Lina wollte darauf gerade etwas erwidern, doch ich hob die Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. »Ich will es gar nicht wissen, wirklich nicht«, sagte ich lachend, dann zuckte ich zusammen, weil ein kurzer, schriller Schrei zu hören war.

Sofort wandten wir unseren Blick in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Prompt bot sich uns eine Szene: Das Mädchen mit den dunklen Haaren und dem weißen Kleid – das noch nie Liebeskummer gehabt hatte – wurde von einem Kerl hochgehoben und zappelte mit den Beinen in der Luft, während sie sich in sein helles Shirt krallte. Er war gut gebaut. Nicht zu breit, aber der Rücken sah dennoch sportlich aus. Ich musterte ihn einen Moment. Er trug eine lässige, leicht verwaschene beige Hose, deren Beine hochgekrempelt waren, an den Füßen hatte er weiße Nikes. Er kam mir irgendwie bekannt vor. Die verwuschelten dunklen Haare, die tief sitzende Hose … Ich überlegte, woher ich ihn kennen könnte, aber ich kam nicht drauf.

Nika lachte. »Der schmeißt die jetzt in den Pool, wetten? Ich will auch, wie cool ist das denn bitte?!«

Gebannt blickten wir zu den beiden hinüber und keine Sekunde später sahen wir zu, wie der Junge das noch immer wild strampelnde Mädchen tatsächlich zum Wasser trug.

»Jakob, das machst du nicht! Hörst du? Wehe!« Das Mädchen lachte und wirkte nicht gerade so, als ob es wirklich etwas dagegen hätte, in den Pool geworfen zu werden.

Wie hatte es ihn genannt? Jakob? Da machte es klick. Mit einem Mal wusste ich, warum er mir bekannt vorkam. Natürlich, der Typ war Jakob Inzenhofer. Ich kannte ihn von der Uni. Er studierte das Gleiche wie ich. Also … wenn er denn mal da war. Das war er in den Kursen nicht allzu oft, dafür sah man ihn ständig irgendwo anders rumhängen. Er war einer derjenigen, die offensichtlich absolut keinen Bock auf Uni hatten, und ich hatte mich schon gefragt, warum er überhaupt studierte. Er war wohl, um es auf den Punkt zu bringen, der größte Chaot auf dem Planeten.

»Neiiin, Jakob, ich hab doch keine Badesachen an«, kreischte das Mädchen jetzt und ließ sich von ihm herumwirbeln.

Er lachte. »Völlig egal. Ab in den Pool mit dir!«

Das Mädchen zappelte, kicherte und zwei Sekunden später machte es platsch und es landete im Wasser. Um sie herum brach Gelächter aus. Jakob riss die Hände hoch und ich sah einen kleinen Streifen Haut über seinen Boxershorts. Dem Mädchen gefiel das Spektakel offensichtlich. Es tauchte auf, hielt sich die Hände vor die Brust und lachte.

»Achtung, jetzt komm ich«, rief Jakob und dann … sprang er einfach so hinterher.

Ich zog scharf die Luft ein. Während ich die beiden beobachtete, hatte ich genau zwei Gedanken. Der eine war: Warum machten sie das? Der andere: verdammt mutig, irgendwie.

»Wie lustig ist das denn? Der hat sie jetzt echt reingeworfen und springt dann einfach so hinterher«, hörte ich Lina neben mir.

Nika kicherte. »Total mega! Das hab ich übrigens auch noch nie gemacht. Also mit Klamotten in den Pool springen. Würd ich echt mal gern machen, und ihr?«, wollte sie wissen.

Verdattert sah ich sie an. »War die Frage ernst gemeint?«

Ich blickte zu Lina, die nun demonstrativ an ihrem Bier nippte. Das durfte doch nicht wahr sein! »Du hast das schon gemacht? War ja klar!«

»Ja, sorry, sogar beides: Mit Klamotten und nackt.«

»Echt jetzt?«, fragte ich erstaunt.

Sie nickte schmunzelnd. »Echt jetzt, Kaia. Ist doch nichts dabei.«

Für sie vielleicht nicht, genauso wie Fremde knutschen oder was Verbotenes tun. Aber mir wurde allein bei dem Gedanken daran ganz anders.

»Ach, Mensch, ich will auch«, murmelte Nika jetzt.

Lina lachte und kniff ihr in die Wange. »Dann spring doch! Oder geh zu diesem Jakob, der regelt das schon.«

»Nein, das machst du nicht, Schwesterherzchen. Lina will dich nur anstacheln.« Ich warf Lina einen tadelnden Blick zu. »Schau mal, sie ist klatschnass und außerdem sieht sie jetzt jeder fast nackt. Ihn übrigens auch …«

In diesem Moment stieg Jakob aus dem Pool. Die Wassertropfen perlten von seiner Haut. Meine Augen tasteten über seine leicht gebräunte Haut und die Brustmuskeln, die deutlich unter dem nassen Shirt hervortraten. Ich schluckte, denn ich hatte nicht damit gerechnet, dass er so … na ja, eben so aussah.

»Oh ja!« Nika stieß die Luft aus.

Ich rollte mit den Augen und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, dass mich sein Anblick nicht ganz kaltließ. »Oh ja? Hallo, Erkältung! Wisst ihr, auch wenn es warm ist, kann man sich echt erkälten. Wir Mädels bekommen ja sowieso total schnell Blasenentzündungen und er … keine Ahnung, Schnupfen ist auch wirklich Mist. Gerade im Sommer.«

Die beiden sahen mich grinsend an. »Ja, Mama! Genau daran habe ich auch gerade gedacht. Wie blöd wäre es, wenn er einen Schnupfen bekäme? Und die Haare sind auch ganz nass … Niemals mit nassen Haaren rausgehen.«

Ich streckte ihr die Zunge heraus. »Was heißt da überhaupt Mama? Die würde sofort springen.«

Die beiden lachten und auch ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ja, Mama würde sich so was von in den Pool stürzen. Das wusste ich und das wussten meine beiden Schwestern.

»Ach, Kaia, mach dir mal keinen Kopf über die Gesundheit der beiden. Das war eine spontane Aktion, da denkt man nicht darüber nach«, fuhr Lina jetzt fort. »Und na ja, der Anblick war ja auch nicht schlecht.« Sie zwinkerte mir zu.

Da hatte sie sicherlich recht, doch nicht darüber nachdenken … Das war etwas, was ich manchmal gern gekonnt hätte, mir aber nicht wirklich gelang. Im Gegensatz zu meinen beiden Schwestern, die anscheinend kein Problem damit hatten. Das war schon so gewesen, als sie klein gewesen waren.

»Weißt du, was du tun solltest? Auch reinspringen. Das befreit!«

Genau. Was sollte an einer potenziellen Blasenentzündung oder einem Sommerschnupfen denn bitte schön befreiend sein? »Das würde ich nie machen.« Vehement schüttelte ich den Kopf. »Also echt nicht.«

»Schade. Ab und zu musst du auch mal was Spontanes im Leben tun. Irgendwas, was du schon immer machen wolltest, dich aber nie getraut hast. Schließlich kannst du nicht alles im Leben planen und dir danach die Uhr stellen.« Lina sah mich an. »Ich meine, ich bewundere dich echt für das, was du alles erreicht hast. Diese App, die du mit deinem Team entwickelt hast, einfach klasse. Die Energie, die du dabei hast. Ich meine, wer Wirtschaftsinformatik studiert, hat schon wirklich was drauf. Überhaupt, was du alles in dein Studium steckst. Aber es ist eben auch wichtig, sich mal gehen zu lassen.«

Mit einem Mal hatten die beiden einen ganz speziellen Blick drauf. »Ja, so ist es. Und deswegen habe ich einen Vorschlag«, bemerkte Nika so beiläufig wie möglich. »Springen wir alle zusammen. Jetzt!«

Ich sah sie schockiert an. »Was meinst du? In den Pool?«

»Wohin denn sonst?«

Lina grinste, aber ich schüttelte den Kopf. »Sagt mal, habt ihr AirPods in den Ohren? Nein, nein, auf keinen Fall …«, wehrte ich ab und beobachtete, wie Lina Nikas Schulter tätschelte.

»Ich bin auch raus. Wann anders gerne, aber heute nicht. Emma hat echt lange gebraucht, um mir die Haare so einzudrehen.« Sie fuhr mit den Fingern durch ihr welliges Haar. Emma war Linas Mitbewohnerin und Beautybloggerin. Sie hatte immer die besten Tipps auf Lager, was Frisuren, Make-up und Style betraf. »Aber wir können sofort was anderes machen. Also, wenn du eine Idee hast?«

Nika zog die Unterlippe vor. »Kaia? Was ist mit dir? Ach, komm schon!«

Erneut schüttelte ich den Kopf. »Nein, ich habe doch gerade gesagt, das würde ich nie machen. Mit Klamotten nicht und schon gar nicht nackt!«

»Schade«, seufzte Nika und nahm einen Schluck von ihrem Bier. »Aber okay, was anderes … Was könnten wir tun?« Kurz darauf grinste sie breit. Ich wollte gar nicht wissen, was sie schon wieder ausheckte. »Wir könnten spontan auf einem der Tische tanzen oder die Nacht durchmachen. Karaoke singen? In ein Schwimmbad einbrechen? Wobei, das hab ich ja …« Sie stoppte und sah ertappt von Lina zu mir.

Meine Augen weiteten sich. »Was, das hast du schon gemacht? Das war also die verbotene Sache? Du bist in ein Schwimmbad eingebrochen?«, wollte ich erstaunt wissen.

Nika hob ihr Bier und trank.

»Alles klar, ich weiß Bescheid.«

Lina lachte und trank ebenfalls. Irgendwas stimmte mit den beiden wirklich nicht.

»Du auch? Seid ihr verrückt? Wenn man wo einbricht, ist das eine Straftat, das ist kriminell. Man hätte euch erwischen können!«, sagte ich wohl eine Spur zu laut.

Die beiden legten ihren Zeigefinger auf die Lippen und flüsterten beinahe synchron: »Haben sie aber nicht.«

»Sind wir echt verwandt? Ich befürchte langsam, ich bin irgendwie vertauscht worden.«

»Quatsch, eine von uns muss doch vernünftig sein, um auf die Unvernünftigen aufzupassen«, sagte Lina.

»Ist das nicht eigentlich die Aufgabe der Ältesten und Weisesten?«

Lina streckte mir die Zunge heraus. »Glaub mir, es ist lustig. Aufregend. Es kribbelt im Bauch. Ich bin froh, dass ich es gemacht habe.«

Ich war noch immer nicht überzeugt. »Mal echt jetzt, warum soll man so was machen? Weil es kribbelt?«

Die beiden sahen mich mit einem Mal an, als würde ich vom Mond kommen. »Weißt du echt nicht, wovon wir sprechen?«

»Nein, ich weiß nicht, wovon ihr sprecht«, entgegnete ich zögerlich. Verschwörerisch lächelten sie sich an und ich … »So, jetzt habt ihr es wieder geschafft. Ich fühle mich ausgeschlossen.«

Sofort kamen sie auf mich zu und umarmten mich. »Das wollen wir nicht«, beruhigte mich Lina.

Ich wusste, dass sie das nicht wollten. Sie machten es nicht mit Absicht, aber weil ich schon immer die Vernünftige von uns dreien war, hatte ich mich auch in der Zeit, als wir noch zu Hause bei Mama gewohnt hatten, manchmal ausgeschlossen gefühlt. Wenn die beiden eine Idee hatten, zogen sie sie durch. Mit der Matratze die Treppen runterrutschen, sich vom Dach abseilen, mit Nutella überfressen, alles, was ich für zu gefährlich oder unsinnig erachtete, machten sie. Ich hingegen war immer vorsichtig gewesen.

»Ja, schon gut. Also, was meint ihr jetzt damit?«

Sie lösten sich von mir und Nika war diejenige, die mich aufklärte. »Dieser Nervenkitzel. Wenn man so was erlebt, ist es unvergleichbar. Ein heftiges Herzklopfen.«

»Und warum sollte man das haben wollen?«, fragte ich.

»Ist doch ganz klar: All diese Sachen tut man, damit man später mal nicht bereut, sie nicht getan zu haben.« Das war also ihr Argument?

»Ähm, warum sollte ich es irgendwann mal bereuen, nicht in ein Schwimmbad eingebrochen zu sein oder einen fremden Kerl geknutscht zu haben?« Das verstand ich beim besten Willen nicht und schüttelte den Kopf.

»Weil es eben so ist. Wir sind jung, wir dürfen so was machen. Das schreibst du dann als Jugendsünden oder jugendlichen Leichtsinn ab. Als Weißt-du-noch-Momente. Du blickst zurück und denkst dir: Weißt du noch damals, als du in den Pool gesprungen bist, diesen Kerl geknutscht hast, so betrunken warst, dass du den Weg nach Hause nicht mehr gefunden hast? Damals, als du den Mond doppelt gesehen hast, in diesen Idioten verliebt warst, der dir jetzt total hässlich vorkommt?« Während mir Nika die Sache erklärte, fuchtelte sie mit ihren Händen herum und schloss ihre Ausführungen schließlich mit einem Lächeln. »Ja, oder damals, als du dir eine Frisur gemacht hast, die ganz schrecklich war. Oder ein Tattoo hast stechen lassen, das total unnötig war. Weißt du jetzt, was wir meinen?«, fragte sie mich.

Meine Gedanken waren abgedriftet. Welche Weißt-du-noch-Momente hatte ich vorzuweisen? Weißt du noch, als du die Hochzeit deiner Mutter geplant hast? Weißt du noch, als du immer pünktlich im Bett warst? Ich schob sie beiseite.

Gerade als ich antworten wollte, wurde die Musik lauter. Der Bass dröhnte so heftig, dass ich eine Gänsehaut auf meinem Arm spürte. Ein Lied wurde angespielt, das alle aufkreischen ließ. Der absolute Chartstürmer im Moment. Ich wusste wieder mal nicht, von wem es war.

»Das ist von Apache«, sagte die tanzende Nika, bevor ich fragen konnte.

Irgendwie war es schön anzusehen, wie sich mit einem Mal alle im Garten ausgelassen zu der Musik bewegten. Apache schaffte es, Stimmung zu machen. Auch Lina hatte die Arme hochgeworfen. Und ich, wollte ich nicht eigentlich längst weg sein? Jetzt hätte sich wieder eine gute Gelegenheit geboten, meine Schwestern hätten sicher gar nicht bemerkt, wenn ich mich einfach davongestohlen hätte. Sie fuchtelten nämlich wild mit ihren Armen und hampelten dazu herum. Das war sicherlich wieder ein neuer Trend auf TikTok.

»Also dann«, sagte ich und stand ebenfalls auf, aber Lina zog an mir.

»Nichts da! Komm, mach mit!«

Doch ich hatte wirklich keine Lust mehr. Ich ging eigentlich ganz gern weg, feierte und tanzte, aber nicht, wenn am nächsten Tag so viel anstand. Außerdem konnte ich diesen Tanz gar nicht.

»Ist das jetzt auch so ein Moment: Weißt du noch damals, als wir total doof im Garten herumgehampelt haben?« Lina und ich lachten, bis wir beide gleichzeitig zu Nika sahen. Oh nein. Sie hatte doch so lange durchgehalten. Aber von der einen auf die andere Sekunde stand sie nun mit zitternden Lippen da.

»Was ist denn los?«, wollte Lina wissen und ließ ihre Hände sinken, die eben noch wild das Lied gefeiert hatten.

»Das Lied … Alex und ich … Es hat mich gerade daran erinnert, als wir … wir … wir …« Nika begann zu schluchzen.

Lina und ich tauschten Blicke aus.

»Wir hatten uns bei dem Lied … keine Ahnung, wir hatten …«

»Ach, Nika, ehrlich jetzt? Du weißt ja nicht mal mehr, was ihr hattet«, sagte ich vorsichtig und lächelte sie mitleidig an. Ich wollte ihr damit zeigen, dass sie auch den Rest ganz schnell vergessen würde.

Kam aber nicht so bei ihr an. Sie verschränkte die Arme vor der Brust und entgegnete trotzig: »Doch, weiß ich sehr wohl!«

Ich hob abwehrend die Hände. »Was ist das Problem? Was habt ihr bei dem Lied?« Dahinter ein dickes Fragezeichen.

»Wollt ihr doch eh nicht wissen.« Sie schmollte. Wie immer. Mit fünf hatte sie einmal ihr Eis auf den Boden geworfen und behauptet, Lina hätte es zu sehr angestarrt und vorgehabt, es ihr wegzuessen.

»Wenigstens kann ich irgendwann mal sagen: Weißt du noch damals, als ich diesen Liebeskummer hatte? Nicht wie du: Weißt du noch damals, als ich diesem Professor Winter imponieren wollte, von der Party gegangen bin und früh geschlafen habe? Mann, das waren noch Zeiten.«

»Jetzt sei nicht gemein«, verteidigte mich Lina.

Okay, das hier geriet aus dem Ruder. Ich wandte mich um und wollte gehen – doch da war er wieder. Jakob. Er lief gerade zur Bar. Ruderte mit den Armen und lachte. Das Shirt klebte ihm am Oberkörper und … und … ohne dass ich es wollte, tasteten meine Augen erneut über seinen Körper. Er war sportlich, das war nicht zu übersehen. Hätte ich jetzt gar nicht so vermutet – also schon irgendwie, aber nicht so. Also so …

»Ob es wohl stimmt, was man sich so über ihn erzählt?« Nika war direkt hinter mich getreten und blickte mir über die Schulter. Alex war bei Jakobs Anblick wohl vergessen.

»Was erzählt man sich denn?«

»Na ja, er ist …«

»… chaotisch, nie in den Kursen, absolut der Kerl, der keinen Bock auf gar nichts hat. Das hab ich jedenfalls gehört«, beendete ich ihren Satz.

»Was? Nein, das meine ich nicht.«

Ich drehte mich um und sah Nika fragend an. »Ähm, was dann?«

»Also ich habe ja gehört, der kann so einiges mit seinen Händen …« Nika hob eine Braue.

Super, klang ja nach einem richtig tollen Talent. »Ja, und? Können wir nicht alle etwas mit unseren Händen?«, fragte ich und schüttelte den Kopf.

Die beiden rollten lachend mit den Augen. »Du weißt schon. Hände soll heißen, er weiß, wie er Frauen berührt. Er ist doch heiß, oder? Auf alle Fälle ’ne Sünde wert. Wobei er sich angeblich auf niemanden festlegt, also eher mal wieder der Typ Bad Boy, würde ich sagen.« Lina grinste.

»Die Spezialistin spricht!« Ich wandte meinen Kopf in seine Richtung. Seine Oberarme sahen ziemlich trainiert aus. Die rechte Hand spannte sich sehnig um eine Bierflasche.

»Du checkst ihn schon wieder«, rief Nika.

Ertappt schnellte mein Kopf zurück und ich räusperte mich. »Also keine Ahnung, wovon ihr sprecht. Ich hab nur seine Hände betrachtet. Mehr nicht. Und ja, er hat welche. Toller Typ!«

»Ach, komm schon. Du hast nicht zufällig gerade ganz offensichtlich seinen Oberkörper angestarrt? Oder seine Armmuskeln, die Adern?«

Warum sollte ich die Adern anstarren? Ich hob eine Braue. »Was? Nein. Hab ich gar nicht.« Ich ließ sie sinken. »Na gut, hab ich, aber nur ganz kurz. Ich gebe es zu, er ist wirklich nicht schlecht gebaut. Vom Aussehen her also schon nicht schlecht. Aber so einen Kerl würde ich trotzdem nie wollen.«

Lina stupste mich an. »Komm schon, er ist heiß. Der wäre doch mal eine Jugendsünde wert, oder?«, sagte sie mit einem schelmischen Grinsen.

Was sollte ich dazu sagen? Meine Uhr piepte. »Schade! Ich würde wirklich gerne alle Fragen zu Jakob beantworten, aber ich muss los, sonst verpasse ich den Bus.«

Nika seufzte. »Komm, Lina, lassen wir sie. Hoffnungsloser Fall. Kaia muss ins Bett. Ihre Uhr sagt, sie muss schlafen. Mimimi …«

Ich nickte. »Wie schon vor einer halben Stunde. Und, Nika …« Ich sah sie an. »Du bist ja nicht allein. Lina ist auch noch da, ihr könnt also immer noch in den Pool springen oder keine Ahnung, was man für verrückten Unsinn machen muss, von dem ich keinen Schimmer habe. Jakobs Hände küssen oder was weiß ich.« Dieses Thema war doch echt sinnlos. Was hatten sie nur mit diesem Kerl? Er hatte Muskeln und war offensichtlich entspannt, aber mehr nicht. War das alles, was zählte?

»Findest du ihn denn echt gar nicht anziehend?«

»Ihr wollt von mir hören, dass ich ihn heiß finde? Schön, er ist heiß – aber er macht nur Mist, er ist unberechenbar, er schwänzt, er ist ein Kerl, der keinen Plan hat.«

Warum sahen mich die beiden mit einem Mal so an?

»Ach, so schlimm bin ich auch wieder nicht«, hörte ich plötzlich eine tiefe Stimme hinter mir.

Ich drehte mich um und da stand er: Jakob Inzenhofer. Den Blick auf mich gerichtet, sein Körper nicht weit von meinem entfernt.

»Aber gut zu wissen, dass du mich heiß findest, ist ja schon mal was«, ergänzte er zwinkernd.

Ich sah mich um. Er hatte alles gehört. Na wunderbar.

Ich räusperte mich. »Ach, das war doch nur so dahingesagt und …«

Er grinste mich an. »Was jetzt? Das mit dem heiß finden oder dass ich in deinen Augen ein absoluter Loser bin?«

Ich schluckte. »Also, ehm … das mit dem … heiß finden. Von Loser hab ich ja gar nichts gesagt.«

Er stockte einen Moment und musterte mich. »Ach, warte mal, ich weiß, wer du bist. Kaia Schiffner, das Superhirn.«

Was sollte das denn jetzt? »Kaia reicht völlig.«

Bei meinen Worten begann er zu schmunzeln. »Nun dann, Kaia …« Er wandte sich ab und hob die Hand zum Gruß. Als er ging, warf er noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter und grinste dabei.

Ich stand noch immer perplex da, als er schon längst weg war. Meine Schwestern kicherten.

»Toll, das ist nicht lustig«, sagte ich etwas atemlos und starrte ihm hinterher.

»Doch, total«, japste Nika.

»Ich gehe jetzt, ihr Knallköpfe. Das ist mir alles zu viel.« Nichts wie weg hier.

Nachdem ich zuerst Nika ein Küsschen auf die Wange gedrückt hatte und dann Lina, sahen mich die beiden einen Moment lang ernst an.

»Weißt du, Kaia«, sagte Lina ruhig, »wenn man jung ist, dann muss man wirklich ein paar wilde Sachen machen. Das Herz muss klopfen, wahrscheinlich auch mal brechen, man muss in den Pool springen und auch mit fremden Kerlen rummachen, sonst bereut man das später. Wir wollen dich echt nicht ärgern, okay? Wir wollten dir das nur sagen. Sonst sitzt du irgendwann einmal da mit diesem Scheiße-Blick. So richtig verzweifelt. Und denkst, die Möglichkeiten durchzudrehen sind vorbei, weil du zu erwachsen bist. Denk einfach mal drüber nach.«

KAPITEL 3

Ich hätte schon längst schlafen sollen. Um genau zu sein, seit exakt zwei Stunden. Hallo, Augenringe. Das war schon jetzt klar. Was tat ich stattdessen? Nachdenken. Und zwar wie verrückt. Ich atmete tief durch und klickte auf dem Laptop herum, der vor mir auf dem Schoß lag.

Dinge, die man tun sollte, wenn man jung ist … las ich und ärgerte mich über mich selbst. Warum ich mich jetzt damit beschäftigen musste und nicht einfach schlief, war mir noch immer nicht ganz klar. Aber seit ich die Party verlassen hatte, ließ mich das Gespräch mit meinen Schwestern nicht mehr los. Der Tee, den ich mir gemacht hatte, dampfte noch auf dem kleinen Holztischchen. Ich saß auf der beigen Couch im Wohnzimmer und starrte das an, was vor mir auf dem Bildschirm angezeigt wurde.

Alles Mögliche hatte ich bereits in die Google-Suchleiste eingegeben und war schließlich auf etliche Seiten mit Dingen gestoßen, die man unbedingt machen sollte, wenn man jung war. Ich las in verschiedenen Foren, ging die Kommentare und Berichte durch und sichtete alles ganz genau. Viele waren der gleichen Meinung wie Lina und Nika: Dinge, die man nicht getan hatte, würde man irgendwann bereuen. Ich fragte mich, ob es mir wohl auch so gehen würde. Würde mir das in Zukunft tatsächlich irgendwann auf die Füße fallen und wie ein Stein im Weg liegen? In einem Weg, der doch eigentlich total geradlinig war? Musste man wirklich verrückte Dinge tun? Musste man solche Erlebnisse haben? Mit Kleidung oder nackt in einen Pool springen, sich die Haare färben, etwas Verbotenes tun? Warum reizten einen diese Dinge überhaupt? Gut, Verbotenes war immer reizvoll. Aber … keine Ahnung.

Ich seufzte erneut, schob den Laptop kurz weg, beugte mich vor und nahm einen Schluck von meinem Tee, einem Früchtegemisch mit Kirsch- und Vanillegeschmack. Ich liebte diesen Tee. Während ich davon trank, schweiften meine Gedanken zu Jakob und dem Mädchen ab, das sich einfach so von ihm in den Pool hatte werfen lassen. Ich meine, jetzt mal ehrlich, machte genau dieses Erlebnis ihr Leben jetzt wirklich besser? Wie konnte man so etwas faktisch nachweisen? Und würde ich in der Tat irgendwann dasitzen und bereuen, all das nicht getan zu haben? Was sollte das für Auswirkungen auf mein Leben haben? Das alles war für mich nicht so richtig nachvollziehbar.

Diese Punkte, von denen ich las, was die Leute gern gemacht hätten, im Freien schlafen zum Beispiel, das erschien mir nicht wirklich notwendig. Alles, was mir dazu einfiel, war, dass mich Hunderte von Mücken quälen würden. Oder einen Fremden knutschen, was meine Schwestern ja getan hatten – einfach so. Warum? Gab einem das einen Kick? Genauso wie die Vorstellung, ohne Ziel irgendwo hinzufahren? Oder total berauscht zu sein? Mit jedem Rausch vergiftete man bewusst seinen Körper und entzog ihm Wasser. Davon konnte man doch Herzschmerzen bekommen. Nächstes Thema: Liebeskummer. Warum musste man erst gefühlt Hunderte Frösche küssen, um endlich den Prinzen zu bekommen, den man sich erträumte? Redete man sich das später vielleicht nur ein, weil einen angeblich nur diese Umwege zum Prinzen geführt hatten? Zu dem richtigen Mann? Warum sollte man nicht lieber rechtzeitig den richtigen Weg erkennen und diesen Weg ohne Umwege gehen? So machte ich meine Sachen und genau das war doch gut so.

Nachdem ich den Tee weggestellt hatte, zog ich den Laptop wieder auf meinen Schoß und betrachtete meine Notizen. Mit einem Mal hatte ich eine Idee. Angeblich war es ja gut, wenn man einige der Dinge wirklich tat – für die Entwicklung oder so. Zumindest wurde das behauptet. Dann konnte ich das ja auch machen. Aber: Ich würde es anders aufziehen. Nämlich planen. Wenn man diese Dinge plante, dann wäre es zwar immer noch ein Chaos, aber ein geplantes Chaos. Dann müsste ich nicht irgendwann dasitzen und mir vorwerfen, etwas nicht gemacht zu haben.

In meinem Bauch begann es zu kribbeln. Die Idee war doch nicht schlecht. Oder? Okay, ein klein bisschen verrückt vielleicht. Aber vielleicht ja auch nicht. Im Gegenteil, ich fand, das war eine gute Strategie. Zumindest theoretisch. Schließlich musste ich es nur ein bisschen anders machen und konnte trotzdem alles erreichen, was ich mir erträumte. Ich konnte weiterhin meine Leistung bringen und alles perfekt machen, aber eben ein bisschen perfekt-unperfekt. Auf meine Art. Das Kribbeln breitete sich immer weiter in meinem Körper aus. Ich spürte mein Herz ganz angenehm leicht schlagen. Die Idee gefiel mir wirklich.

Mein Blick wanderte erneut über die Dinge, die ich im Internet gefunden hatte. Die verschiedenen Punkte, die bei den anderen sehr beliebt zu sein schienen. Einen Rausch haben. Ging klar, feiern konnte ich, es musste ja vielleicht nicht gleich ein völliger Rausch sein. Sich die Haare mal ganz anders färben oder schneiden, eine krasse neue Frisur. War auch einfach, wegen der Haare könnte ich Emma fragen. Und sie unauffällig bitten, es nicht zu krass zu machen. Aber vielleicht war das nicht ganz so spannend. Dem Sonnenuntergang entgegenfahren, schrieb da jemand. Klar, wer wollte das nicht? Ziemlich beliebt war tatsächlich auch die Sache mit dem Kuss. Einen Filmkuss haben. Oder: etwas Verbotenes tun. Oder: unerwartet verreisen. Das war alles irgendwie verrückt, aber wenn ich es auf meine Art machte, war es irgendwie auch gut, oder?

Redete ich mir das jetzt nur ein – oder wollte ich es tatsächlich? Wollte ich mir ein paar perfekt-unperfekte Dinge notieren, die ich auf meine Art abhaken konnte? Ich warf einen Blick auf die Uhr. Schließlich öffnete ich eine neue Datei. Egal, selbst wenn ich morgen richtig müde sein würde … Ich dachte nicht mehr an den Schlafmangel, ich war mit einem Mal zu allem bereit. Denn tief in mir drin wusste ich: Wenn ich jetzt nicht die Dinge aufschrieb, die mir Spaß machen könnten, dann würde es mir sowieso keine Ruhe lassen. Also begann ich zu tippen.

KAPITEL 4

»Okay, Achtung. Das hier ist sie. Die Liste, um später mal nichts bereuen zu müssen. Um nicht das Gefühl zu haben, irgendwas verpasst zu haben.« Ich sah meine Schwestern an und wedelte mit dem Stück Papier in der Hand, das ich in der Nacht zusammengestellt hatte.

»Okay, was ist los? Ich versteh nur Bahnhof«, sagte Lina mit gekräuselter Stirn.

Gleich in der Früh hatte ich in unsere WhatsApp-Gruppe geschrieben. Auch wenn ich noch müde gewesen war, war ich mindestens genauso aufgeregt und wollte mich so schnell wie möglich mit meinen Schwestern treffen. Also verabredeten wir uns bei Nika, die als Jüngste von uns noch zu Hause lebte. Es war Mittag, als ich endlich mit den beiden zusammensaß. Denn bis sie geantwortet hatten, hatte es etwas gedauert. Und auch jetzt wirkten sie noch müde. Gegen ihre Augenringe hatte sich Nika mit aufgeklebten Augenpads bewaffnet.

Ich atmete tief durch und deutete erneut auf die Liste, die ich in Schönschrift vom Laptop abgeschrieben hatte und noch immer in der Hand hielt. Nervös tippelte ich mit den Füßen und war gespannt, was sie sagen würden.

»Es ist total wichtig. Also mir zumindest, aber das werdet ihr gleich sehen«, sagte ich und die beiden nickten.

Sie saßen nebeneinander auf Nikas Bett und hatten die Beine ausgestreckt. Ich musste bei dem Anblick lächeln und erinnerte mich sofort daran, wie sie vor ein paar Jahren auch so auf dem Bett gesessen hatten. Sie hatten einen riesigen Anschiss von Mama kassiert, nachdem sie versucht hatten, sich vom Haus abzuseilen, obwohl ich sie noch gewarnt hatte. Mama hatte sie im letzten Augenblick davon abhalten können. Aber als Konsequenz hatten sie einen Tag Hausarrest bekommen. Ich hatte mich mit aufs Bett gesetzt und ihnen etwas vorgelesen.

Mir wurde warm ums Herz, als mein Blick erneut von der müden Lina zu der mit Augenpads beklebten Nika schwenkte. Da Nika Duftkerzen liebte, roch es im Zimmer meistens nach Vanille. Ich sog den Duft ein. Kurz war ich wieder in meinem Wohnzimmer, Früchte- und Vanilletee in der Nase, und erinnerte mich, wie mein Vorhaben, meine Liste, entstanden war. Aber bevor ich loslegte, wollte ich die beiden noch ein bisschen ärgern.

»War wohl ganz schön spät gestern, wenn ich euch so ansehe. Was ging denn noch?«

Lina rollte mit den Augen. »Nichts. Schön wär’s gewesen.«

Ich sah zuerst sie fragend an. Dann Nika.

Die schüttelte den Kopf und strich sich eines der Pads glatt, indem sie leicht dagegenklopfte. »Wir waren gar nicht mehr so lange dort. Eigentlich sind wir eine Stunde nach dir auch gegangen, weil …« Sie schluckte. Oh nein, nicht schon wieder dieser Blick und dann auch noch die zitternde Lippe …

Lina griff nach einem Kissen und presste es sich ins Gesicht. »Ich werde noch wahnsinnig«, keuchte sie dumpf hinter dem Kissen hervor und mit einer gehobenen Braue musterte ich Nika.

»… weil dich was an Alex erinnert hat?«, fragte ich.

»Ja.« Sie verzog das Gesicht. »Es ist passiert, als dieser Kerl an uns vorbei ist … Er hatte das gleiche Parfüm wie Alex und da musste ich wieder an ihn denken. Das hing mir dann voll nach und da konnte ich einfach nicht mehr bleiben. Keine Ahnung … Ist ja auch egal, ihr versteht das eh nicht. Lina war auch total genervt. Obwohl es eigentlich überhaupt nicht fair ist. Habt ihr doch erst mal so ein tiefes Loch im Herzen wie ich, dann können wir weiterreden. Aber es wird …« Erneut bebten ihre Lippen. »… Es wird mich stärker machen. Ich bereue nichts, ich werde zurücksehen und stark sein, ich werde wie … wie Phönix aus der Asche steigen und …« Wieder schluchzte sie. »Ach Mist, ich habe diesen Film mit ihm angesehen, mit Alex, so einen Fantasyfilm, da ist auch ein Phönix aus der Asche und …«

Lina setzte sich auf und warf das Kissen auf Nika.

Unerwarteterweise fing sie es auf. »Hey, was soll das?«, rief sie.

Lina sah sie ernst an. »Na, zumindest bist du schon stark genug, um ein Kissen zu fangen, du kleiner Phönix.«

Nika rollte mit den Augen. »Haha, sehr witzig!«

»Ne, sorry, eben nicht. Das muss echt besser werden, Nika. Mal im Ernst, ich versteh ja, dass es dich traurig macht oder belastet, aber … es bringt dir doch nichts, dich dauernd selbst so runterzuziehen. Er war ein Idiot. Ein I-DI-OT! Wie oft haben wir das jetzt schon durchgekaut?«

Nika verzog das Gesicht erneut. »Du hast ja leicht reden, du hast deinen Ben und der ist toll. Er hat uns gestern sogar abgeholt und heimgefahren, Kaia.« Sie richtete ihren Blick auf mich. »Ich meine, wie lieb ist das denn?«

Lina wurde leicht rot um die Wangen. »Ja, er ist toll und das war auch echt lieb von ihm …«

Ich grinste. »Ach, deswegen bist du so müde. Habt ihr gestern noch die Nacht durchgemacht, du und Ben?«, fragte ich und Linas Wangen bekamen einen noch tieferen Rotton.

»Wenn du es genau wissen willst: ja. Und es war …« Lina sah uns an, »… superschön«, sprudelte es aus ihr heraus. »Einfach nur superschön.« Sie dämpfte ihre Stimme und sah aus, als würde sie mit einem Mal in einer Erinnerung versinken.

»Mit Alex war es auch schön, also …«

»Nika!«, riefen wir gleichzeitig und sie hob abwehrend die Hände, denn Lina war kurz davor, ein weiteres Kissen auf sie zu werfen, stoppte aber im letzten Moment.

»Egal, also, was ist jetzt mit der Liste?«

Okay, jetzt war es so weit. Ich sah die beiden an. »Ihr kennt mich ja und wisst, dass ich mir immer Gedanken mache. Wenn mir jemand was sagt, dann nehme ich das ernst und …« Ich strich mir eine Strähne hinters Ohr, ehe ich weiterredete. »Ihr habt mir gestern ja ein paar Dinge gesagt. Zum einen ging es darum, dass ich in euren Augen … na ja, mehr mein Leben leben müsste und ich es bereuen könnte, wenn ich einige Dinge nicht mache. Also so was wie Herzschmerz haben, wobei … das schließe ich aus. Aber zum Beispiel richtig abfeiern, einfach mal unerwartet einen Fremden küssen, mir die Haare schneiden, obwohl … eine freche Frisur machen wäre mir lieber, als mir gleich die Haare zu schneiden. Na ja, all das halt, ihr wisst schon, was ich meine. Wie in dem Spiel und … na ja, keine Ahnung, ich will wirklich herausfinden, ob man das braucht. Oder besser gesagt will ich vermeiden, später überhaupt mal daran denken zu müssen.«

Ich sah zwischen den beiden hin und her, dann deutete ich erneut auf die Liste. »Also, was habe ich gemacht? Ich habe mir mal all das aufgeschrieben, was so laut Statistik bei den anderen beliebt ist. Und daraus habe ich dann diese Liste gemacht. Und die will ich durchziehen. Einfach damit ich mir später nicht irgendwas vorwerfen muss. Theoretisch.« Ich biss mir auf die Lippe. »Und, was sagt ihr, ist das ein guter Plan?«

Um keinen Rückzieher machen zu können, beugte ich mich nach vorn und reichte Nika die Liste. Sie griff danach und Lina drückte sich an sie, um besser daraufsehen zu können. Gespannt, wie sie reagieren würden, setzte ich mich dazu.

Sofort war es still und die beiden begutachteten die Punkte, die ich mühsam zusammengefasst hatte. Während meine Anspannung allmählich wuchs, glitten ihre Blicke über das Papier. Langsam über jede Zeile.

Lina war die Erste, die wieder zu mir aufsah. Viele Fragen spiegelten sich in ihren Augen. »Das ist schon irgendwie cool, aber keine Ahnung, wie hast du dir das vorgestellt?«

»Du willst also echt was Verbotenes tun. Willst du wo einbrechen oder was genau? Und die Sache mit dem Küssen steht auch drauf. Hier, Punkt sechs.« Nika deutete mit dem Finger auf die Stelle in der Liste. »Da. Einmal einen Fremden küssen.« Sie hob den Blick und grinste mich an.

»Also wenn es so viele gut finden, dann muss ich da wohl durch. Ganz offensichtlich muss ja etwas dran sein, das wollten echt viele im Netz, ich hab in fast jedem Kommentar davon gelesen. Nur deswegen hab ich den Punkt dann mit draufgenommen – wegen meiner Recherche. Wenn ich was mache, dann richtig …«

Lina lachte und Nika trug noch immer ein Grinsen auf den Lippen. »Also ich finde es irgendwie verrückt, so was kann echt nur dir einfallen«, sagte sie schließlich und fügte dann an: »Gerade kann ich mir zwar nicht vorstellen, wie du das durchziehen willst …«

Ich nickte. »Das weiß ich auch noch nicht so richtig, aber ich will es auf alle Fälle tun. Wenn jemand Listen und Statistiken beherrscht, dann ja wohl ich. Eventuell arbeite ich mit Einträgen oder so. In der App. Irgendwie wird das schon.«

Lina sah mich an. »Täusch dich da mal nicht, so einfach ist das auch wieder nicht. Selbst wenn der Wille da ist, musst du es am Ende dann auch wirklich machen. So wie gestern. Wären wir in den Pool reingesprungen, so spontan wie Jakob und das Mädchen, dann wäre es lustig gewesen, aber wenn du planst reinzuspringen … na ja. Meinst du, es hat dann noch den gewünschten Effekt?«

Nachdenklich wiegte ich den Kopf hin und her. Da könnte sie recht haben. »Stimmt schon. Vielleicht müsste ich wen haben, der mir hilft. Jemand, der sich nicht so viel aus den Dingen macht.«

»Das ist doch schon mal ein Ansatz.« Lina musterte mich. »Oh, Kaia! Ich seh’s genau, du überlegst doch jetzt schon, wer das sein könnte, oder? War ja klar. Wenn du was willst, dann ziehst du es wirklich durch.«

Mein Handy klingelte. Oje, ich musste los. Es war der erste Timer, aber gleich stand das Gespräch mit dem Professor an.

»Ich muss gehen. Also, wenn ihr eine Idee habt, immer her damit. Okay? Bis später!«

KAPITEL 5

War die Idee gut? Jemanden zu finden, der mich dazu animierte, die Punkte auf meiner Liste umzusetzen? Meine Gedanken drehten sich wild im Kreis, als ich die Uni erreichte.

»Ich hab es dir doch schon ein paarmal gesagt, ich hab da keinen Bock drauf.«