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Nach dem Tod ihrer Eltern versucht die Journalistin Louise Brown der Endlichkeit des Lebens etwas Sinnstiftendes abzugewinnen. Sie wird Trauerrednerin und Zeugin dessen, was von uns bleibt. Dies verändert nicht nur ihre Einstellung zum Tod, sondern auch ihre Haltung zum Leben. Louise Brown schenkt uns unvergessliche Bilder, die daran erinnern, was uns als Menschen ausmacht. Ein tröstendes und befreiendes Buch, das Mut macht, das Leben auf die Dinge auszurichten, die von Bedeutung sind.
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Seitenzahl: 190
Louise Brown
Was bleibt, wenn wir sterben
Erfahrungen einer Trauerrednerin
Diogenes
Für Runhild
(In my sleep I dreamed this poem)
Someone I loved once gave me
a box full of darkness.
It took me years to understand
that this, too, was a gift.
Mary Oliver, The Uses of Sorrow
Kleine Apfelbäume oder Der Tod ist eine individuelle Angelegenheit
In der Kapelle stehen Apfelbäume. Kleine Bäume, jeweils drei links und drei rechts vom Altar. Der Duft ihrer Früchte mischt sich mit dem süßlich-staubigen Geruch der Friedhofskapelle.
Die Apfelbäume rahmen zwei Särge ein. In den Särgen liegen Eheleute, Karlin und Hermann, die kurz hintereinander gestorben sind. Zwei Särge sind ungewöhnlich für eine Trauerfeier, aber ich finde den Anblick nicht befremdlich. Eher finde ich es tröstlich, dass ein Paar, das über sechzig Jahre zusammen war, auch gemeinsam verabschiedet wird.
Die Särge sind mit Rosen, Sonnenblumen und Äpfeln geschmückt. Sonnenstrahlen fallen durch das Buntglasfenster über dem Altar und tauchen alles in warmes Licht. Ich stelle mich ans Pult und schaue auf die leeren Bänke. In wenigen Minuten werden sie sich mit den Angehörigen und Freunden der Verstorbenen füllen. Mein Herz schlägt schneller bei dem Gedanken, dass ich als Trauerrednerin die Abschiedsrede für das Ehepaar halten darf. Ich werde am Pult des Pastors stehen und durch die gesamte Abschiedsfeier leiten.
In meiner Rede werde ich vom Leben und Sterben dieser Menschen erzählen. Wie immer hoffe ich, dass ich den Angehörigen etwas von ihrem Schmerz zu nehmen vermag; dass ich ihnen Halt geben kann auf ihrem Weg in ihr Leben ohne die Verstorbenen.
Wie das geht? Es gibt keine Formel für das Gelingen einer Trauerrede. Sicher gibt es sie auch nicht, die perfekte Trauerrede. Aber wenn eine Tochter sagt, sie hatte das Gefühl, dass ihr Vater bei der Abschiedsfeier dabei gewesen sei, und sie habe dies als tröstlich empfunden, oder wenn mich ein Trauergast hinterher fragt, ob ich den Verstorbenen gekannt hätte, dann weiß ich, dass ich mit meinen Worten zumindest einige der Zuhörenden erreicht habe. Oder einige Gäste sich und ihren Verstorbenen in ihnen wiedergefunden haben. Und dass diese Worte in einer Zeit, in der den Trauernden so vieles fremd erscheint, zumindest für die Dauer der Abschiedsfeier eine Vertrautheit ermöglicht haben.
Allein mit Daten und Fakten gelingt eine Rede nicht, glaube ich. Nur, welche Bilder und Lebensmomente sollte man zu den Fakten hinzuholen? Welche sind die richtigen, die wichtigen Erinnerungen? Welche schenken einem das Gefühl, dass ein verstorbener Mensch einem wieder nahe ist? In diesem zeitweise schmerzhaften, aber schönen Beruf denke ich immer häufiger über diese Frage nach: Welche Erinnerungen sollen von uns bewahrt werden? Woran wollen wir uns erinnern? Was bleibt von uns, wenn wir sterben? Was bleibt?
Einige Monate nach der Trauerfeier stehe ich am Marktstand und kaufe Äpfel. Als ich dabei einen in der Hand halte, muss ich an die Trauerfeier von Karlin und Hermann denken. Ich rieche die Äpfel, die an den Bäumchen hingen, sehe das weiche Licht auf den Särgen. Und dann sehe ich ein anderes Bild: ein Haus am Rande einer norddeutschen Kleinstadt. Vor den Fenstern stehen Obstbäume in sauberen Reihen. Ich sehe ein Wohnzimmer und einen Teppich, der zurückgerollt wurde, und einige Paare im mittleren Alter, die auf den nackten Holzdielen zu einem Schlager einen Foxtrott tanzen.
In diesem Wohnzimmer saß ich zum Trauergespräch. Vor jeder Rede treffe ich mich mit den Angehörigen, um Informationen und Gedanken über die Verstorbenen zu sammeln. Im Falle von Karlin und Hermann führte ich das Gespräch mit ihren erwachsenen Kindern. Am Esstisch der Eltern schrieb ich Geburts-, Hochzeits- und Sterbedaten auf; ich notierte »Hof der Familie, Spargel und Schweine« und wie sie aus dem Hof eine Baumschule gemacht haben. Wie diese für Mutter und Vater zur Lebensaufgabe wurde, und dass der Vater mehlige und die Mutter knackige Äpfel bevorzugte. Wie sie zwei Wochen vor ihrem Tod in einem Heim benachbarte Zimmer bezogen, doch bereits eine Woche später wieder zusammengelegt wurden. Dreiundsechzig Jahre hatten sie ein Schlafzimmer geteilt. Innerhalb von wenigen Tagen waren sie nacheinander gestorben.
Während in der Kapelle das Licht der Sonne auf die Särge fiel, erzählte ich Karlins und Hermanns Geschichte: wie sie für ihre Arbeit gelebt haben, Fleiß und Pflichtbewusstsein ihr Leben wie die Jahreszeiten das Gedeihen der Bäume bestimmt haben und wie sie jahrzehntelang dem gleichen Tagesablauf folgten: mit der Sonne aufstehen, um Punkt zwölf Uhr Mittagessen für die Mitarbeiter auftischen und um 19 Uhr Brote vor dem Fernseher essen. Und ich erzählte, wie sie am Freitagabend alle Pflichten fallenließen und zu dem einen oder anderen Grog mit Freunden in ihrem Wohnzimmer zu James Last getanzt haben, bis – zumindest in meiner Vorstellung – die Sterne über den Feldern funkelten.
Bis heute denke ich an dieses Bild, wenn ich auf dem Markt einen Apfel in meiner Hand halte. Bis heute wird mir dabei warm ums Herz. Es handelt sich um einen meiner ersten Trauerfälle, und vielleicht war ich deshalb für seine Botschaft besonders empfänglich. Er hat mir gezeigt, dass wir meist mehr sind, als wir zu sein scheinen, und wir alle überraschende und widersprüchliche Seiten haben. Dass diese Besonderheiten manchmal erst mit dem Tod zum Vorschein kommen. Dass der Tod uns dazu bringen kann, in der Hektik unseres Alltags innezuhalten und genauer hinzuschauen. Und wir erst dann die Einmaligkeit einer Person entdecken, die sich weniger in den großen Taten als in den kleinen Details zeigt. Details, die sich oft im Alltäglichen verbergen. Das war eine der ersten Erkenntnisse, zu der mich meine Arbeit als Trauerrednerin gebracht hat: wie einzigartig und wertvoll wir alle in unserer Alltäglichkeit sind.
Oft sagen die Angehörigen zu Beginn eines Gesprächs: »Ich weiß gar nicht, was ich über meine Mutter erzählen soll.« Zunächst sprechen wir dann über ihren Tod und erst danach über ihr Leben. Wenn die Tochter oder der Sohn dann erzählt, mal knapp, mal ausführlich, mal hastig und viel, mal langsam und lückenhaft, weil sie oder er nicht weiß, wann die Mutter die Lehre angefangen oder den Vater kennengelernt hat; wenn der Erzählfaden sich langsam zu spinnen beginnt und beim Erzählen die Welt draußen verschwindet; wenn eine Familie beim Erzählen durcheinanderspricht, lacht und weint, dann erlebe ich das als einen intensiven Moment. Ich sehe, wie sich die Gesichter der Hinterbliebenen beleben. Wie etwas in ihren Augen zu leuchten beginnt. Oft spüre ich ihre Erleichterung, wenn sie die Geschichten ihrer Verstorbenen erzählt haben; eine Erleichterung, die davon kommt, dass sie diese mit all ihren Details erzählen durften. Aber auch, weil die Geschichte ihrer Verstorbenen auch ihre eigene ist.
Es soll wissenschaftliche Studien geben, die nachweisen, dass beim Erinnern die Körpertemperatur ansteigt. Ich bin keine Wissenschaftlerin. Alles, was ich hier berichte, beruht auf meinen persönlichen Erfahrungen. Mir gefällt aber der Gedanke, dass das Innehalten und Erzählen von Vergangenem uns von innen wärmen, unsere Herzen höher schlagen und uns wieder spüren lässt, was durch einen Todesfall zuerst einmal vom Schmerz begraben wird.
Wenn eine Tochter erzählt, wie ihre Mutter mit sechs Jahren über das vereiste Haff fliehen musste oder wie das Haus der Familie von einer Überflutung zerstört wurde und ihre Mutter sich klaglos neben den Aufräumarbeiten um die Kinder und den Laden gekümmert hat; wie sie sich, als die Ehe der Tochter zerbrach, um die Enkel gekümmert und später trotz ihrer Krebserkrankung im Laden der Kinder gestanden hat … Wenn eine Tochter all das erzählt, was in der Familie zwar bekannt ist, aber so erstmals in seiner Gesamtheit angesprochen wird und ihr damit dessen Bedeutung bewusstmacht, dann erlebe ich schon mal, dass sich die Tochter am Ende eines Gesprächs zurücklehnt, erstaunt auf die vollgeschriebenen Seiten meines Notizblocks blickt und sagt: »Ich hätte nie gedacht, dass es so viel über Mutter zu sagen gibt.« Oder: »Meine Mutter hat ganz schön viel im Leben geschafft.«
Es gibt in unseren Leben zwei fundamentale Ereignisse: die Geburt und den Tod. Während sich ein neuer Mensch mit der Fanfare kindlichen Geschreis ankündigt, nimmt ein Sterbender in tiefer Stille Abschied. Auch wenn Ärztinnen oder Familienmitglieder an seinem Lebensende um ihn herumwuseln, wenn Geräte piepsen oder Stimmen laut werden, erleben viele Angehörige den Moment des Sterbens – zumindest beschreiben sie es so –, als würde sich das Geschehene in Zeitlupe abspielen oder die Zeit stillstehen. Auch in den Minuten oder Stunden nach dem Sterben bleibt etwas von dieser Stille wie ein lautloses Echo im Raum; eine Stille, die viele von uns gar nicht mehr kennen oder nicht kennen wollen.
Ich will nicht wiederholen, was immer wieder behauptet wird: dass selbst das Sterben oder Trauern früher besser war als heute. Etwa, wenn Oma zu Hause aufgebahrt lag und Familie, Nachbarn und Freunde sich so in Ruhe und in vertrauter Umgebung von ihr verabschieden konnten. Als das Abschiednehmen noch eine gemeinsame Erfahrung war, während es heute eine einsame Angelegenheit ist, die jeder für sich bewältigen muss. Tatsächlich bin ich in meiner Arbeit vielen Familien begegnet, die nach dem Tod bei ihren Verstorbenen geblieben sind, manche eine halbe Stunde, manche einen Tag lang. Die im Krankenhaus am Bettrand gesessen oder sich zu Hause um das Pflegebett ihres Verstorbenen versammelt haben. Die für sie eine Kerze angezündet, ihre Lieblingsmusik angemacht oder die Hand gestreichelt haben. Die alle Termine und Alltagsgedanken vor der Tür gelassen und diese stillen Stunden, wenn nicht genossen, dann doch hinterher zu schätzen gewusst haben. Zumindest erzählen sie das so: wie gut es tat, diese Zeit mit ihren Verstorbenen zu verbringen. Wie dieses Zusammensein, ob allein oder mit anderen Angehörigen, noch lange in ihnen schwingt.
Meine Mutter verstarb nachts, auf der Palliativstation eines ländlichen Krankenhauses. Am nächsten Tag lag sie aufgebahrt in einem kleinen weißen Zimmer, dem »Raum der Stille«. Ich kam morgens eilig aus der Großstadt an, um bei meinem Vater zu sein, der in sich zusammengesunken an ihrem Bettrand saß. Als ich das Zimmer betrat, wurde mir das Spüren fast zu viel. Beim Anblick meiner Mutter schien mein Schmerz nur noch größer zu werden, als würde etwas in mir zerreißen. Für meinen Vater hingegen waren die Stunden am Bett seiner verstorbenen Ehefrau schmerzhaft, aber notwendig. Am liebsten wäre er bei ihr geblieben, bei der Frau, die ihn über fünfzig Jahre begleitet hatte. Die ihm in diesem Moment noch greifbar nahe war, ihm aber gleichzeitig entschwand.
Während draußen der Wind durch die Pappeln rauschte, wurde die Stille im Raum zu laut für mich. Vielleicht, weil ich eine solch endgültige Stille noch nie erlebt hatte. Bis dahin war ich dem Tod kaum begegnet. Ich, die vermeintlich erfahrene und mutige Journalistin, die einen Terrorstaat bereist hatte und in einem britischen Militärflugzeug ans Ende der Welt geflogen war, verharrte nach dem Anblick meiner verstorbenen Mutter wie betäubt auf dem Krankenhausflur. Als würde ich vor einem Abgrund stehen. Es war ein demütigender und beängstigender Moment, der mich an die Zeichentrickserien meiner Kindheit erinnert, in denen sich vor Scooby Doo plötzlich eine Falltür auftat, in die er hinunter- und dann haltlos durch die Dunkelheit stürzte.
Der erste Verlust einer geliebten Person ist eine Wegmarke im Leben. Nichts ist danach wie zuvor. Das klingt düster, und so fühlt sich diese Erfahrung oft auch an. Doch die Begegnung mit dem Tod kann auch eine Chance in sich bergen. Für mich tat sie das. Oder besser gesagt: Für mich war sie eine große Lehre. Vielleicht die größte in meinem bisherigen Leben.
Vieles, das ich beim Stolpern über jene Türschwelle in das Leben als Trauernde gelernt habe, basiert auf eigenen Erfahrungen. Anderes haben mir die Verstorbenen und deren Hinterbliebene gezeigt, die ich in meiner Arbeit als Trauerrednerin begleiten durfte. Jede dieser Begegnungen hat in mir etwas bewegt, und aus jedem Gespräch habe ich etwas mitgenommen, das für mich wertvoll war und für das ich heute dankbar bin.
Einiges von dem, was ich auf dieser Reise lernen durfte, möchte ich gerne mit Ihnen teilen. Was es heißt, sterblich zu sein. Wie man an seiner Vergänglichkeit wachsen kann. Und wie das gehen kann, mit dem Tod zu leben.
Vielleicht erkennen Sie sich in meinen Erfahrungen wieder. Vielleicht können Sie davon etwas für sich mitnehmen. Vielleicht legen Sie dieses Buch lieber gleich wieder zur Seite.
Der Tod ist eine höchst individuelle Angelegenheit. Wenn man in seine Stille hineinhört, kann man etwas erfahren. Über die Verstorbenen. Über sich. Über das Leben.
Aber noch einmal zurück. Alles begann mit einem Hamster namens George.
Ich erkenne es als Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet ich als Trauerrednerin in der Kapelle am Pult stehe. In meiner Kindheit gab es den Tod nicht, zumindest nicht in unserem Haus in London. Er existierte bei uns nicht, bis George zu uns kam. George starb auf mysteriöse Weise kurz nach seiner Ankunft, nachdem er meinen Vater in den Daumen gebissen hatte. Meine Eltern hatten sich von uns Kindern zu einem Haustier überreden lassen – zu einem vermeintlich unkomplizierten Hamster –, dessen Laufrad nun Tag und Nacht in seinem Käfig quietschte. Eines Morgens lag eine ungewöhnliche Stille im Hamsterhaus, das Rad bewegte sich nicht mehr. Wir haben George nicht zeremoniell im Garten begraben, so wie Eltern das heute mit den Haustieren ihrer Kinder tun. Meine Mutter hat die Gelegenheit nicht genutzt, um mit uns the talk übers Sterben zu führen. Als meine englische Großmutter später starb, fuhre ich nicht mit zur Beerdigung. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, meine Eltern zu bitten, mitfahren zu dürfen. Mein Vater wurde 1932 in London geboren. Auch in unserem Haushalt galt die unausgesprochene viktorianische Regel, dass Kinder zwar »gesehen, aber nicht gehört« werden sollten. Vielleicht lag es an ihren Erfahrungen als Kriegskinder, dass meine Eltern uns mit einem so düsteren Thema wie dem Tod nicht konfrontieren wollten. Mit der bitteren Erkenntnis, dass nichts im Leben beständig ist und Liebe immer Verlust bedeutet. Vielleicht wollten sie nicht erneut an die Verluste erinnert werden, die sie, direkt oder indirekt, als Kinder im Krieg erlebt hatten: meine Mutter in Hamburg und mein Vater in London.
Über das Thema Krieg sprachen wir meist anhand von positiven Anekdoten: Meine Mutter erzählte, wie sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder im Bunker von den Nachbarn mit Bonbons versorgt wurde. Mein Vater berichtete stolz, dass er sich bäuchlings auf die Straße gelegt hat, statt in einem unbekannten Gebäude Schutz zu suchen, wenn während seiner Zeitungsrunde Warnsirenen losheulten. Und wie er dabei in einer Zeitung geblättert hat, bis der Angriff vorbei war.
Nach dem Krieg und ihrem Kennenlernen in London waren meine Eltern vermutlich zu sehr mit den lebensbejahenden Swinging Sixties beschäftigt, um an die Zerstörung der Jahre davor zu denken. In den Siebzigerjahren war es dann der Aufbau ihres Geschäfts, der sie nicht mehr an die Stagnation und Zerstörung der Kriegsjahre zurückdenken ließ. Was auch immer die Gründe für ihr Verhalten waren: Viele Jahre war der Tod in meinem Alltagsleben kaum präsent. Dann kam alles anders.
Fast forward ins Jahr 2011: Ich muss an einen Spruch meiner englischen Großmutter denken: »You wait ages for a bus – and then two come along at the same time!« (Erst wartet man eine Ewigkeit auf den Bus, und dann kommen gleich zwei auf einmal!) Meine Großmutter wuchs in der englischen Arbeiterklasse auf und fuhr ihr Leben lang Doppeldeckerbus, selbstverständlich mit der obligatorischen Einkaufstasche und Kopftuch über den nachts aufgewickelten Haaren.
Übertragen auf mein Leben hieß das: Bis zu meinem sechsunddreißigsten Lebensjahr war ich jeglicher emotionaler Konfrontation mit dem Tod entkommen. Bis er innerhalb von drei Monaten gleich zweimal in mein Leben eintrat; dabei kam er nicht wie ein sehnsüchtig erwarteter Doppeldeckerbus über den Hügel getuckert, sondern schlug wie ein Meteorit in mein Leben ein. Das erste Mal beim Tod meiner Mutter. Und drei Monate später zum zweiten Mal, als mein Vater starb. Zu diesem Zeitpunkt hielt ich mich für eine einigermaßen weltgewandte junge Frau. Als Journalistin hatte ich mit Künstlern und Politikern, Gefängnisinsassen und Obdachlosen gesprochen. Ich meinte, einiges über die Welt und das Leben zu wissen, doch nach dem Tod meiner Eltern musste ich feststellen, dass ich, was das Thema »Tod und Sterben« angeht, völlig im Dunkeln tappte. Ich, die gestandene Journalistin, die auf der ganzen Welt gewesen war, hatte einen wesentlichen Flecken auf der menschlichen Landkarte umschifft. Einen Flecken, der so karg und einsam ist, dass es sich dort anfühlt, als ob man auf dem Mond ausgesetzt worden wäre: die Welt der Trauer.
»Werde ich verrückt?«, war ein Gedanke, der mir in den Monaten nach dem Tod meiner Eltern wiederholt durch den Kopf schoss. Zeitweise fühlte ich mich tatsächlich so. Als wäre ich in der Geschichte von Alice im Wunderland in jenes dunkle Kaninchenloch gepurzelt. Als Trauernde ist man nicht von dieser Welt, man befindet sich vielmehr in einer Art Zwischenwelt; körperlich präsent, aber seelisch wie ein Ballon, der einst festgebunden war, nun aber über eine stürmische und düstere Landschaft driftet. In meiner Zeit als Trauernde existierten zwei Versionen von meiner Person: eine, die im Alltag funktionierte, die gearbeitet, eingekauft und mit dem Kind gelacht hat. Und eine, die sich zusammenkauerte und nach Stille und Dunkelheit sehnte. Die daran dachte, wie es wäre, Ruhe von all dem Schmerz in dieser Welt zu haben.
Heute bin ich, so glaube ich zumindest, ein wenig klüger, was die Trauer angeht. Aber nur ein wenig. Ich weiß zum Beispiel, dass sich die Trauer bei jedem anders auswirkt und es im Gegensatz zu langjährigen Vorstellungen keine festgelegten, zeitlich abgeschlossenen Trauerphasen gibt.
Ich weiß, welche Wirkung das Umfeld auf die Dauer und die Schwere der Trauer haben kann: dass ein Auffangnetz aus Familie und Freunden in dieser Zeit helfen kann, die Schärfe der Trauer wenn nicht zu mildern, dann wenigstens erträglich zu machen. Ich habe erlebt, dass man als Trauer-Veteran von einem erneuten Verlust genauso heftig getroffen werden kann wie beim ersten Mal. Gleichzeitig tröstet es mich zu wissen, dass man beim zweiten Mal besser versteht, warum man die Nächte wach liegt oder das Gefühl hat, sich selbst nicht mehr zu kennen. Ich habe verstanden, dass die Möglichkeit, in einem Trauergespräch über seinen Verlust, seine Gedanken, Ängste und die Zeit vor und nach dem Tod eines Angehörigen zu sprechen, helfen kann, die Trauer für einen Moment zu lindern. Wenn man bei einer Abschiedsfeier ein Echo von dem hört, was man dem Redner erzählt hat; wenn man sich dabei in seiner Trauer gehört und gesehen fühlt, kann das auf dem einsamen Weg des Abschieds eine unschätzbare Stärkung sein. Es muss auch kein professioneller Redner sein, der in diesem Gespräch zuhört oder durch die Trauerfeier leitet. Es kann ein Pastor sein. Ein Freund. Ein Familienmitglied.
Meine Eltern hatten sich beide eine christliche Abschiedsfeier gewünscht, und es war meine Aufgabe, dem Pastor von ihnen zu erzählen. Als meine Mutter starb, fühlte ich mich vor dem vereinbarten Treffen wie vor einem Bewerbungsgespräch. Welche Fragen würde er mir stellen? Der Pastor war ein freundlicher, reservierter Mann mit dem Händedruck eines Handwerkers, der sich aufrichtig für den Werdegang meiner Mutter interessierte. Ich erzählte ihm von ihrer beruflichen Laufbahn und den wichtigsten Stationen in ihrem Leben. Das Gespräch blieb in meiner Erinnerung sachlich. Hinterher fühlte ich mich merkwürdig leer. Auf der Zugfahrt nach Hause dachte ich darüber nach, was ich möglicherweise Wichtiges weggelassen hatte. Nur fiel mir damals nicht ein, was das war.
Jahre später, nach zahlreichen Gesprächen mit Hinterbliebenen, wurde mir bewusst, was ich weggelassen hatte: Ich hatte dem Pastor nicht von den schmutzigen Knien meiner Mutter erzählt, nachdem sie in ihrem geliebten Blumenbeet gejätet hatte. Oder von ihrer nächtlichen Autofahrt, bei Schneetreiben auf der vereisten Landstraße, um mich, damals noch eine Jugendliche, aus der Disco abzuholen. Ich hatte ihm nicht erzählt, wie gerne sie im Herbst im See schwamm, während andere in ihren Mänteln vorbeispazierten. Oder von ihrem Hals, an den ich mich als Kind so gerne geschmiegt habe, weil er weich und warm war und so gut duftete. Und wie dieser Hals, als sie krank war, nicht mehr so gut gerochen hat wie früher.
Als der Pastor bei ihrer Beerdigung seine Ansprache hielt, schien uns kein Rednerpult, sondern eine Erdspalte zu trennen. Sprach er von der Person, die ich geliebt, mit der ich mich täglich ausgetauscht, gelacht und gestritten hatte? Die hier vor mir in diesem Sarg lag? Alles erschien mir in dieser Stunde unwirklich, als wäre ich auf der falschen Trauerfeier. Dabei lag es nicht am Pastor, dass ich meine Mutter in seinen Worten nicht wiederfand. Er hat mit den Informationen gearbeitet, die ich ihm gegeben hatte. Nur wusste ich damals noch nicht, welche Erinnerungen für mich später entscheidend sein würden. Woran ich mich nach dem anfänglichen Schock und der inneren Starre mit der Zeit erinnern würde und erinnern wollte. Im Nebel der ersten Trauer hatte ich mich an die Fakten geklammert; an ihren Lebenslauf und die Meilensteine in ihrem Leben. Für manche mögen diese Details in einer Abschiedsrede wichtig und ausreichend sein. Mir fehlten aber die entscheidenden Bilder, die meine Mutter auszeichneten. Die für mich genauso wichtig werden sollten wie die Meilensteine.
Vielleicht ist es wie mit einem Fotoalbum: Oft liegen die lustigsten, ehrlichsten und authentischsten Bilder lose hinten im Buch. Die Bilder, die am Rande offizieller Anlässe wie Urlaub, Preisverleihung oder der Feier zum 50. Geburtstag entstanden sind. Die Bilder, bei denen nicht posiert wurde. Die man mit Absicht nicht eingeklebt hat, weil sie unscharf oder verwackelt sind. Die oft unbeachtet bleiben, aber die man dennoch nicht wegwerfen kann, weil sie beim Anschauen etwas in unserem Innern bewegen. Weil sie so voller Leben sind.
Da ist das Bild der Mutter mit dem Klecks Sahne auf der Wange beim Backen einer Geburtstagstorte. Das von den Teenagern, abgelichtet beim Tanzen im Partykeller, mit roten Augen und in den schrägsten Tanzpositionen. Oder das des Vaters, der sich mit seinem blutigen Metzgerskittel über seine kleine Tochter auf dem Dreirad beugt. Dieses Bild ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Ich weiß noch gut, wie mir die Tochter im Trauergespräch erzählte, dass sich ihr Vater, trotz Zwölf-Stunden-Schichten in der Schlachterei, immer Zeit für sie genommen habe, wenn sie mit ihm auf dem Hof das Radfahren üben wollte.
Oder vielleicht ist es auch wie bei einem Film, wenn nach dem offiziellen Abspann zum Spaß einige Pannen gezeigt werden: Am Ende eines Lebensfilms bleiben in unseren Erinnerungen oft die weniger perfekten Momente präsent. Die Momente, in denen wir uns von der unpolierten, menschlichen Seite zeigen. Für mich brauchte es den Tod meiner Eltern, um zu erkennen, wie kostbar diese unperfekten Momente sind, die wir vorerst für weniger bedeutsam halten, die uns aber später mit so viel Wärme erfüllen können.
Anna starb im Frühling im Heim. Sie war zerbrechlich, hatte aber bis zum Schluss unter keiner schweren Krankheit gelitten. Sie schlief einfach mittags in ihrem Sessel ein, der in ihrem Zimmer mit Blick auf einen Kirschbaum stand, und wachte nicht wieder auf. An der Natur – Wiesen und Wäldern – konnte sie sich ein Leben lang erfreuen. Diese Freude ging auf ihre Kindheit zurück.