Was Maisie wusste (eBook) - Henry James - E-Book

Was Maisie wusste (eBook) E-Book

Henry James

4,8

Beschreibung

Europa im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert: In Wien verwendet Sigmund Freud zum ersten Mal den Begriff 'Psychoanalyse', und in London fährt unter dem Asphalt, auf dem sich die Kutschen voranschleppen, die weltweit erste U-Bahn. Lady Ida Farange ist eine überdrehte Dame von Welt auf der Suche nach einem Mann mit Geld; ihr Exmann Beale ist nach der Scheidungsschlacht ebenfalls knapp bei Kasse und außerdem ein notorischer Schürzenjäger. Zwischen den beiden Egoisten hin- und hergerissen wird Töchterlein Maisie; ein halbes Jahr bei der Mutter, ein halbes beim Vater - so lautet der Richterspruch. Die Eltern missbrauchen das Kind als Instrument ihres Hasses auf den jeweils anderen. Maisie erkennt, wozu sie benutzt wird, und legt sich eine Überlebensstrategie zurecht; sie stellt sich dumm, beobachtet aber scharf und taktiert selbst. Aus dem Blickwinkel des Mädchens erlebt der Leser einen Reigen aus Unmoral und Gier, den das kindliche Bewusstsein mit faszinierender Klarheit analysiert. Die Dekadenz der englischen Oberschicht im beginnenden Industriezeitalter und die Psyche eines Kindes, dessen Welt aus den Fugen gerät - das sind Henry James' große Themen in diesem aufwühlenden Roman. Einer der bedeutendsten Romane des Jahrhundertautors in der brillanten Neuübersetzung von Gottfried Röckelein. Mit einem Nachwort von Angela Schader.

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Henry James

Was Maisie wusste

 

Roman

 

Aus dem Englischen

von Gottfried Röckelein

 

Nachwort von Angela Schader

 

 

 

ars vivendi

 

 

Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Ausgabe (Erste Auflage Februar 2016). Die Originalausgabe erschien 1897 unter dem Titel What Maisie Knew. Die Übersetzung folgt der bei Penguin Books erschienenen Ausgabe.

 

© 2016 by ars vivendi verlag GmbH & Co. KG, Bauhof 1, 90556 Cadolzburg

Alle Rechte vorbehalten

www.arsvivendi.com

 

Lektorat: Stefan Imhof

Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag unter Verwendung eines Fotos von © Tanya Gramatikova / Trevillion Images

Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag

 

eISBN 978-3-86913-699-8

 

Inhalt

 

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Kapitel XVII

Kapitel XVIII

Kapitel XIX

Kapitel XX

Kapitel XXI

Kapitel XXII

Kapitel XXIII

Kapitel XXIV

Kapitel XXV

Kapitel XXVI

Kapitel XXVII

Kapitel XXVIII

Kapitel XXIX

Kapitel XXX

Kapitel XXXI

 

Anmerkungen

Kinderzimmer, unbeheizt

Der Autor

 

Es hatte nach einem endlosen Rechtsstreit ausgesehen, und er war in der Tat kompliziert gewesen; der Beschluss über den Einspruch bestätigte jedoch das Ersturteil des Scheidungsgerichts hinsichtlich des Sorgerechts für das Kind. Der Vater, obgleich aufs Unrühmlichste mit Schimpf und Schande überzogen, hatte damals seinen Standpunkt so vorteilhaft vertreten, dass man ihn – diesem Sieg geschuldet – beschied, er dürfe das Mädchen behalten. Es lag nicht so sehr daran, dass das Ansehen der Mutter umfassender als das des Vaters beschädigt worden wäre, sondern daran, dass die glanzvolle Selbstdarstellung einer Dame (und die dieser Dame vor dem Gericht wurde aufs Aufmerksamste zur Kenntnis genommen) vielleicht eher als Offenlegung von Makeln bewertet wird. Das zweite Urteil wurde allerdings durch eine Auflage ergänzt, welche, was Beale Farange1 betraf, den ihm aus dem Spruch zunächst erwachsenen süßen Triumph etwas vergällte: durch die Verfügung, er habe seiner ehemaligen Gattin jene sechsundzwanzighundert Pfund zu erstatten, welche diese etwa drei Jahre zuvor für den Kindesunterhalt und, förmlich im Rahmen einer verbürgten Vereinbarung, mit der Maßgabe »bereitgestellt hatte«, wie formuliert worden war, dass er auf gerichtliche Schritte verzichtete – eine Summe, über die er die Verfügungsgewalt hatte und über deren Verwendung Rechenschaft abzulegen er nicht ansatzweise in der Lage war. Diese ihrem Widerpart auferlegte neue Verpflichtung war durchaus dazu angetan, Idas Groll nicht unbeträchtlich zu mildern; der Stachel ihrer Niederlage saß nicht mehr ganz so tief, und Mr Farange hatte daher die Arena zwangsläufig mit sichtlich gesenktem Kopf statt erhobenen Hauptes verlassen. Er war nicht imstande gewesen, die Summe auf den Tisch zu legen oder sonst wie beizubringen, weshalb ihm schlussendlich als einziger Ausweg aus seiner misslichen Lage und nach einem Gezänk, das mit kaum weniger Publicity und kaum mehr Anstand als die eigentliche Scheidungsschlacht verlaufen war, nur der Kompromiss blieb, den ihm seine juristischen Berater vorschlugen und der schließlich von den Anwälten der Gegenseite angenommen wurde.

In dem Vergleich erließ man ihm seine Schulden und verfügte über das Mädchen auf eine Weise, die dem Urteilsspruch eines Salomon zur Ehre gereicht hätte. Die Kleine wurde zweigeteilt und den Disputanten genau hälftig zudiktiert. Sie hatten sie, abwechselnd, sechs Monate zu übernehmen; sie sollte je eine Hälfte des Jahres mit jeweils einem der beiden verbringen. In den Augen derer, die noch von dem grellen Licht geblendet waren, das die Gerichtsverhandlung ausgestrahlt hatte – einem Licht, in dessen Schein sich kein Elternteil auch nur im Mindesten als treffliches Vorbild für die Jugend oder als Muster an Tugendhaftigkeit präsentiert hatte –, galt dies als eine seltsame Form von Rechtsprechung. Was man aufgrund der Beweisaufnahme hätte erwarten können, wäre die Bestellung einer geeigneten angesehenen, oder doch wenigstens vorzeigbaren, dritten Person aus dem Freundeskreis der Familie in loco parentis2 gewesen. Augenscheinlich war jedoch das Umfeld der Faranges vergeblich nach einem solchen Schmuckstück abgesucht worden, weshalb die einzige Lösung – um letztlich allen Problemen gerecht zu werden und ohne Maisie3 in ein Heim zu stecken – darin bestand, die Betreuung der Schutzbefohlenen in der Weise aufzuteilen, wie ich sie beschrieben habe. Für ihre Eltern gab es mehr Gründe, dem zuzustimmen, als es für beide jemals zuvor Gründe für eine Zustimmung zu irgendetwas anderem gegeben hätte, und nun schickten sie sich mit Maisies Hilfe an, jene Distinktion zu genießen, die der Vulgarität aufwartet, sobald Letztere nur hinreichend belegt ist. Das Auseinanderbrechen ihrer Ehe war weithin kommentiert worden, und während sie als Paar vollkommen unbedeutend gewesen waren, war ihnen jetzt, als Getrennte, allgemeines Aufsehen sicher. Hatten sie denn nicht einen Eindruck vermittelt, der die Leute dazu brachte, die Zeitungen nach Aufrufen zur Rettung des kleinen Mädchens durchzublättern, nach der Resonanz einer lautstarken öffentlichen Meinung dahingehend, dass man eine Aktion starten müsse oder dass sich eine barmherzige Persönlichkeit melden möge? Tatsächlich hob eine wohlgesinnte Lady einen vorsichtigen Finger; sie war entfernt mit Mrs Farange verwandt, der sie vorschlug, man könne doch ihr, die sie selbst schon Kinder aufgezogen und Horte betrieben habe und dies noch heute tue, gestatten, den Zankapfel zu sich zu nehmen, auf dass sie ihn in ihr System integriere und damit zumindest einen Elternteil entlaste. Dies stelle doch für Maisie nach ihren unvermeidlichen sechs Monaten bei Beale jedes Mal eine größere Abwechslung dar.

»Eine größere Abwechslung?«, schrie Ida. »Ist es denn nicht Abwechslung genug für sie, von dem gemeinen Rohling zu der Person zu kommen, die diesen Kerl von allen auf der ganzen Welt am meisten verabscheut?«

»Nein, weil du ihn so sehr verabscheust, dass du in ihrer Gegenwart ununterbrochen über ihn sprechen wirst. Sie wird ihn dauernd vorgehalten bekommen, weil du ihn fortwährend schlechtmachst.«

Mrs Farange starrte sie an. »Soll das also heißen, dass ich mich nicht gegen die niederträchtige Art und Weise wehren darf, in der er mich schlechtmacht?«

Die gute Lady erwiderte darauf zunächst nichts; ihr Schweigen stellte einen vernichtenden Kommentar zu einer solchen Sicht der Dinge dar. »Armes kleines Äffchen4!«, entfuhr es ihr schließlich, und diese Worte bildeten die Inschrift auf dem Grabstein von Maisies Kindheit. Das Mädchen wurde seinem Schicksal ausgeliefert. Allen Außenstehenden war klar, dass das Einzige, was es mit beiden Elternteilen verband, in der beklagenswerten Tatsache bestand, als Tochter wie ein jederzeit verfügbares Gefäß für Gehässigkeiten zu fungieren, als ein Porzellantässchen mit so viel Fassungsvermögen, dass darin ätzende Säuren angemischt werden konnten. Sie hatten das Kind nicht für sich beansprucht, um ihm etwas Gutes zukommen zu lassen, sondern um sich mit seiner unfreiwilligen Hilfe gegenseitig Verletzungen zuzufügen. Das Kind sollte ihrem Zorn dienen und ihre Rache besiegeln, denn beide Ehepartner waren zu gleichen Teilen von der Schwere des Richterspruchs versehrt worden, weil darin letztinstanzlich der von beiden Seiten aufgebracht vorgetragene Anspruch abgewiesen wurde, »alles« bekommen zu wollen. Indem man jeder Partei nur die Hälfte zugestand, konzedierte man scheinbar, dass keine so charakterlos war, wie die andere behauptete, oder anders formuliert: Man stellte beide als gleichermaßen schlecht dar, weil keine Seite für sich genommen besser war als die andere. Die Mutter hatte verlangt, dem Vater zu verwehren, »auch nur einen Blick auf das Kind zu werfen«; der Vater hatte vorgebracht, dass schon die leichteste Berührung des Kindes durch die Mutter »nichts weniger als eine Besudelung« darstelle. Dies waren die gegensätzlichen Grundprinzipien, nach denen Maisies Erziehung erfolgen sollte; ihr blieb es überlassen, sie zusammenzubringen, so gut sie es vermochte. Nichts war am Anfang anrührender als ihr Unvermögen, sich das Leid auszumalen, welches ihr kleines, unbeflecktes Herz erwartete. Voll Entsetzen dachte der eine oder die andere in ihrem Umfeld an das, was den für Maisies Seelenheil Verantwortlichen alles einfallen könnte; niemandem gelang es zu dem Zeitpunkt sich vorzustellen, dass die beiden zu einem Handeln in der Lage wären, welches dem Mädchen nicht zum Schaden gereichen würde.

Es war dies eine Gesellschaft, in der sich die Menschen einen großen Teil ihrer Zeit ohnehin nur mit Geschwätz vertrieben; dennoch hatte das entzweite Paar zuletzt gute Gründe, in dieser Hinsicht eine Phase gesteigerter Aktivität zu erwarten. Beide gürteten die Lenden; sie fühlten sich, als hätten die Auseinandersetzungen gerade erst begonnen. Eigentlich fühlten sie sich jetzt insofern verheirateter denn je, als ihre Vorstellung von dem, was eine Ehe zuvörderst sein sollte, die von einer hervorragenden Gelegenheit zum Streiten war. Schon zuvor hatte es »Parteien« gegeben, und jetzt gab es nicht weniger als zuvor. Auch für die jeweiligen Parteigänger eröffneten sich neue Aussichten in der verheißungsvollen Form eines Übermaßes an oberflächlichem Hin- und Hergerede. Die vielen Freunde der Faranges kamen zusammen, um Meinungsverschiedenheiten über sie auszutauschen; über Teetassen und Zigarren hinweg lebten alte Kontroversen wieder auf. Ständig hatte jeder jedem etwas sehr Schockierendes zu berichten, und keiner hätte es amüsant gefunden, wenn sich niemand aufgeregt hätte. Von dem Paar schien eine zwischenmenschliche Anziehungskraft auszugehen, die nur im Verhältnis der beiden zueinander ohne Wirkung blieb. Tatsächlich sagte es eine Menge über Ida aus, wenn es hieß, dass ihr keiner außer Beale an den Kragen wollte, und über Beale, dass nur sein Weib infrage käme, sollte ihm jemals jemand die Augen auskratzen. So befand die allgemeine Meinung als Erstes, dass die beiden unbeschreiblich gut aussähen; eine tiefschürfendere Analyse hatte nie stattgefunden. Beide zusammen kamen, um ein Beispiel zu nennen, auf eine Körpergröße von circa zwölf Fuß5, und nichts wurde mehr diskutiert als die proportionale Aufteilung dieser Größe. Der einzige Makel an Idas Schönheit bestand in einer gewissen Länge und Reichweite der Arme, die möglicherweise dafür verantwortlich waren, dass sie ihren Exmann so oft beim Billard geschlagen hatte, einem Spiel, bei dem sie eine Überlegenheit demonstrierte, welche, so behauptete sie, hauptsächlich für jenen Zorn verantwortlich war, der bei ihm seinen Ausdruck in physischer Gewalt fand. Im Billard brachte sie es zu einer solchen Vollendung, dass, wann auch immer ihr Name fiel, er sofort staunend und anerkennend mit diesem Spiel in Verbindung gebracht wurde. Mit einer einzigen Ausnahme wurde, trotz einiger sehr lang geratener Konturen, alles an ihr – was durchaus voluminös hätte sein dürfen und in seiner Üppigkeit vielen Frauen zum Vorteil gereichte – bewundert und wegen seiner Kleinheit erwähnt. Diese Ausnahme bildeten ihre Augen, die einfach von normaler Größe hätten sein können, die aber die ansonsten zurückhaltende Vorgabe der Natur überstiegen; andererseits war ihr Mund fast nicht wahrnehmbar, und was den Umfang ihrer Taille anging, so war dieser Anlass für unbefangene Spekulationen und Wetten. Sie war eine Person, die, wenn sie sich außer Haus begab – und sie begab sich ständig außer Haus –, allerorten das Gefühl hervorrief, man sei ihr schon oft begegnet, ein Gefühl eigentlich, als triebe sie eine Art Unwesen mit ihrer Allgegenwart, weshalb es an den üblichen öffentlichen Orten als reichlich ordinär gegolten hätte, sie anzustaunen. Dergleichen taten nur Auswärtige; die aber taten es ausgiebig – zur Kurzweil der Alteingesessenen, denen ein solches Verhalten als todsichere Methode galt, sich durch exotisches Gebaren bloßzustellen. Sie trug ihre Kleidung auf die gleiche Weise wie ihr Mann; sie trug sie so, wie ein Zug Passagiere befördert. Es gab Leute, die den jeweiligen Geschmack der Faranges in aller Öffentlichkeit verglichen und darüber diskutierten, welche Textilien oder Accessoires sie an welcher Stelle und in welcher Weise trugen. Im Großen und Ganzen neigte man jedoch dazu, das Lob Ida zu zollen, weil sie weniger opulent auftrat, insbesondere, was Schmuck und Blumen anbelangte. Beale Farange war schon von Natur aus dekoriert, ja beinahe kostümiert: Sein enormer blonder und glatt gestriegelter Bart wirkte wie ein polierter goldener Brustharnisch, und die ewig strahlenden Zähne, die nicht zu verbergen er seinem langen Schnurrbart anerzogen hatte, verliehen ihm in jeder nur denkbaren Situation den Ausdruck von Lebensfreude. In seiner Jugend war er für die Diplomatenlaufbahn ausersehen und vorübergehend, ohne Salär, einer Gesandtschaft zugeteilt worden, was ihm oft erlaubte zu sagen: »Zu meiner Zeit, im Orient«. Doch sahen die gegenwärtigen Zeitläufte irgendwie keine Verwendung für ihn vor, waren an ihm vorbeigerauscht und hatten ihn im immerwährenden Piccadilly6 zurückgelassen. Alle wussten, was er besaß: lediglich fünfundzwanzighundert. Die arme Ida, die ihr ganzes Vermögen durchgebracht hatte, hatte nun nichts mehr außer ihrem Wagen und ihrem gelähmten Onkel. Das Untier, wie dieser genannt wurde, hatte angeblich allerlei auf die Seite geschafft. Für das Kind war vorgesorgt, dank einer gewitzten Patin, einer verstorbenen Tante Beales, die der Kleinen etwas dergestalt vermacht hatte, dass die Eltern nur auf die Erträge Zugriff hatten.

 

I

 

 

Zwar war für das Kind vorgesorgt worden, aber die neue Vereinbarung musste sich zwangsläufig verstörend auf einen jungen Geist auswirken, der sich vollkommen bewusst war, dass sich ganz gewiss etwas von großer Tragweite ereignet hatte, und der deshalb bang Ausschau hielt nach den Auswirkungen einer so bedeutsamen Ursache. Es sollte das Schicksal dieses duldsamen kleinen Mädchens werden, mehr zu sehen, als es zunächst verstand, aber auch, und dies von Anfang an, viel mehr zu verstehen, als dies vielleicht je zuvor ein Mädchen vergleichbaren Alters, wie duldsam auch immer, getan hatte. Nur ein Trommlerjunge7 in einer Ballade oder Legende hätte sich so wie Maisie inmitten des heftigsten Kampfgetümmels befinden können. Man zog sie ins Vertrauen bei Gefühlsausbrüchen, die sie mit dem gleichen unbeteiligten Blick verfolgte, wie sie das vielleicht bei Lichtbildern getan hätte, die von einer Laterna magica produziert worden und über die Wand geflimmert wären. Ihre kleine Welt war eine phantasmagorische: bizarre Schatten, die über eine Projektionsfläche tanzten. Ihr war, als gäbe man die ganze Vorstellung nur für sie, einen Winzling, ein halb verschrecktes kleines Kind in einem großen, dunklen Theater. Kurz gesagt, sie wurde aus einer freisinnigen Grundhaltung heraus mit dem Leben bekannt gemacht, in welcher der Egoismus anderer auf seine Kosten kam, und außer ihrer mädchenhaften Selbstbescheidung gab es nichts, was verhütet hätte, dass sie dem zum Opfer fiel.

Das erste halbe Jahr lebte sie bei ihrem Vater, der sie nur insofern schonte, als er ihr die an sie adressierten maßlosen Briefe ihrer Mutter vorenthielt. Er beschränkte sich darauf, mit den Kuverts vor ihrer Nase zu wedeln, dabei seine Zähne zu zeigen und Maisie durch die Art zu unterhalten, wie er die Briefe quer durch den Raum und – zack! – ins Feuer schmiss. Sogar in einem solchen Augenblick hatte sie aber beklemmende Anwandlungen von Kraftlosigkeit, von einem Schuldgefühl, weil sie sich der Situation nicht gewachsen fühlte, während sie die Faszination jener Brachialität verspürte, mit der ihr Vater die steifen, ungeöffneten Umschläge, deren imposante Monogramme – Ida hatte ein hemmungsloses Faible für Monogramme – sie sich gern betrachtet hätte, wie gefährliche Geschosse durch die Luft zischen ließ. Die bedeutsamste Wirkung der bedeutsamen Ursache war Maisies eigene, jetzt größere Bedeutsamkeit, was sich ihr hauptsächlich als eine Zunahme von Freiheiten darstellte, die man sich im Umgang mit ihr herausnahm, indem man sie hin- und herzerrte und abküsste, sowie als ein im Vergleich zu früher bedeutenderes Maß an Nettigkeit, das von ihr eingefordert wurde. Ihre Physiognomie war irgendwie ausgeprägter geworden; die Herren, die ihren Vater besuchten, traktierten ihr Gesicht ständig mit irgendwelchen Zuneigungsbekundungen und dem Rauch ihrer Zigaretten. Einige dieser Herren ließen sich die Zigaretten von ihr mit Streichhölzern anzünden; andere setzten sich das Mädchen zu rüdem Hopsen auf die Knie, zwickten es dabei in die Waden, bis es – unter allgemeinem Beifall – aufschrie, und verglichen seine Beine abfällig mit Zahnstochern. Das Wort blieb ihm im Gedächtnis und bestärkte es fortan in dem Gefühl, dass es ihm an etwas ganz Bestimmtem mangelte, das allgemein gehegten Erwartungen entgegenkäme. Maisie fand heraus, was ihr fehlte: Es war die Veranlagung zur Produktion einer körpereigenen Substanz, welcher Moddle8, ihre Kinderfrau, einen kurzen, hässlichen Namen9 gab, einen Namen, der beim Dinner auf eine für das Kind unangenehme Weise mit jenem Teil des Bratens verbunden war, den es nicht mochte. Inzwischen waren die Zeiten vorbei, in denen es keine Erwartungen zu erfüllen hatte, zumindest keine außer jenen von Moddle, die in Kensington Gardens10 immer auf der Bank saß, wenn es zu ihr zurückkam, um sich bei seiner Kinderfrau zu vergewissern, ob es sich beim Spielen nicht zu weit entfernt hatte. Moddles Erwartung bestand lediglich darin, dass es dies nicht tun möge, und das Mädchen kam ihr so unbekümmert nach, dass die lange und heitere Unbeschwertheit jener Tage nur in den Augenblicken getrübt wurde, in denen es sich fragte, was mit ihm geschehen würde, sollte es einmal zurückrennen und feststellen, dass da keine Moddle mehr auf der Bank saß. Sie gingen weiterhin in den Park, aber jetzt hatte sich auch dort etwas verändert. Maisie musste ununterbrochen die Beine anderer Kinder betrachten und ihre Betreuerin fragen, ob das Zahnstocher seien. Moddle war gnadenlos ehrlich; sie sagte stets: »Ach Gott, Kleine, so ein Paar11 wie das deinige gibt’s kein zweites Mal.« Das schien mit etwas zu tun zu haben, das Moddle auch oft sagte: »Du spürst, dass es große Spannungen gibt – daran liegt’s; und die wirst du noch ärger zu spüren kriegen.«

So spürte Maisie sie nicht nur von Anfang an, sondern wusste auch, dass sie sie spürte. Das war zum Teil die Folge davon, dass ihr Vater ihr sagte, auch er spüre sie, und dass er in ihrer Gegenwart Moddle auftrug, sie müsse dies dem Kind eindringlich klarmachen. Maisie hatte, im Alter von sechs Jahren, die Tatsache verinnerlicht, dass alles ihretwegen anders geworden war, dass alles so organisiert wurde, um ihm zu ermöglichen, sich uneingeschränkt ihr zu widmen. Stets sollte sie die Worte im Kopf behalten, mit denen Moddle ihr aufs Nachdrücklichste einprägte, wie sehr er an seinem Kind Anteil nahm: »Dein Papa wünscht, dass du niemals vergisst, wie übel man ihm mitgespielt hat.« Wenn Maisie die Haut in Moddles Gesicht ohnehin schon übermäßig und nahezu schmerzhaft gespannt vorkam, so verstärkte sich dieser Eindruck immer dann, wenn die Betreuerin, wozu sie oft Gelegenheit hatte, so etwas äußerte. Das Kind fragte sich, ob bei solchen Worten die Haut nicht noch mehr als sonst schmerzte; aber nach und nach gelang es ihm, dem Bild von den Leiden seines Vaters, und insbesondere dem Umgang ihrer Kinderfrau damit, jenen Sinn beizumessen, der dem Ganzen zukam. Nachdem Maisie allmählich »gewitzter« geworden war, wie jene Gentlemen, die ihre Waden kritisiert hatten, zu sagen pflegten, fand sie in ihrem Innern eine Ansammlung von Bildern und Echos, denen sie Bedeutungen zuordnen konnte – Bilder und Echos, für sie aufbewahrt im Dämmerlicht des Kindlichen, im Dunkel des Wandschranks, in den unerreichbaren Schubladen, wie Spiele, die zu spielen sie noch zu klein war. Die große Anspannung bestand für Maisie inzwischen darin, die Dinge, die ihr Vater über ihre Mutter sagte, in der richtigen Weise handzuhaben, wobei es sich zumeist um Dinge handelte, die ihr Moddle nach einem flüchtigen Blick darauf wieder aus der Hand nahm und im Schrank verstaute, als wären es komplizierte Spielsachen oder schwierige Bücher. Es war ein wundervolles Sortiment einschlägiger Objekte, das sie im weiteren Verlauf dort entdeckte, alle bunt durcheinandergewürfelt und im selben Behältnis wie die Sachen, die ihre Mutter über ihren Vater gesagt hatte.

Ihr war bewusst, dass zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt, der tagtäglich näher rückte, ihre Mutter an der Tür auftauchen würde, um sie mit zu sich zu nehmen, und hätte nicht die erfindungsreiche Moddle in sehr großen Buchstaben und einfachen Worten auf einen Bogen Papier jede Menge Vergnüglichkeiten geschrieben, derer Maisie sich in dem anderen Haus erfreuen würde, hätte diese Aussicht ihr jeden verbleibenden Tag verdüstert. Moddles Verheißungen reichten von »zärtliche Mutterliebe« bis zu »ein verlorenes Ei zum Tee« und mündeten allmählich sogar in die Vorstellung, abends lange aufbleiben und besagte Dame, zum Ausgehen zurechtgemacht, in Samt und Seide gehüllt und mit Diamanten und Perlen geschmückt, betrachten zu dürfen, weshalb es für Maisie eine echte Hilfe war, das Stück Papier zu spüren, das sie auf Moddles Geheiß in die Tasche gesteckt hatte und dort mit der Faust umklammerte, als die Stunde der Wahrheit schlug. Die Stunde der Wahrheit sollte ihr eine lebhafte Erinnerung bescheren, nämlich die an einen denkwürdigen Zornesausbruch Moddles im Salon, wo sie als Entgegnung auf etwas, das ihr Vater soeben gesagt hatte, schrie: »Sie sollten sich in Grund und Boden schämen, Sir! Das Blut müsste Ihnen ins Gesicht schießen für das, was Sie hier tun!« Vor der Tür stand die Kutsche, in der Maisies Mutter saß. Ein darin ebenfalls anwesender Herr, einer, der immer anwesend war, lachte lauthals los. Ihr Vater, der seine Tochter in den Armen gehalten hatte, sagte zu Moddle: »Sie, meine Liebe, knöpfe ich mir gleich anschließend vor!«, woraufhin er seine Zähne besonders eindrücklich zeigte, während er das Mädchen an sich drückte und die Worte wiederholte, für die ihn die Kinderfrau gescholten hatte. Maisie war sich in dieser Situation deren Bedeutung gar nicht richtig bewusst, sondern staunte eher über Moddles plötzliche Unbotmäßigkeit und ihr dunkelrotes Gesicht; dennoch vermochte sie das Gesagte fünf Minuten später in der Kutsche zu wiederholen, als ihre Mutter sie in einem Wust aus Küssen, Seidenbändern, Augen, Armen, merkwürdigen Geräuschen und lieblichen Düften aufforderte: »Und, mein Engelschatz, hat dir dein ekelhafter Papa eine Botschaft für deine liebe Mama mitgegeben?« Und in diesem Augenblick geschah es, dass ihr die von ihrem ekelhaften Papa gesprochenen Worte erneut in ihren kleinen, verwirrten Ohren klangen, von wo aus sie, auf das Begehr ihrer Mutter hin, schnurstracks zu ihren kleinen unschuldigen Lippen und in ihre klare, durchdringende Stimme wanderten. »Er sagte, ich soll dir von ihm ausrichten«, gab sie wortgetreu wieder, »dass du eine hundsgemeine Drecksau bist.«

 

II

 

 

Jener wache Sinn fürs Unmittelbare, der für den kindlichen Geist wie Sauerstoff ist, ließ ihr Vergangenes jedes Mal genauso konturlos erscheinen wie Zukünftiges. Sie überließ sich dermaßen vertrauensvoll der Gegenwart, dass beide Elternteile eigentlich hätten ergriffen sein müssen. Bei all der ihrem Kalkül zugrunde liegenden Gefühllosigkeit – der Augenschein gab ihnen zunächst recht: Maisie war der kleine gefiederte Spielball, den sie mit Ingrimm zwischen sich hin- und herfliegen ließen. Alles Schlechte, das ihre begnadete Phantasie im jeweils anderen sah oder diesem zutraute, kippten sie in die von Ernst und Staunen erfüllte Seele ihrer Tochter wie in ein Gefäß ohne Boden, und zweifellos sah es jeder der beiden mit dem reinsten Gewissen der Welt als Pflicht an, Maisie die ungeschminkte Wahrheit zu vermitteln, welche ihr als Schutzschild gegenüber dem jeweils anderen Elternteil dienen sollte. Sie war gerade in dem Alter, in dem alle Märchen wahr sind und alle Wahrnehmungen zu Geschichten werden. Die momentane Wirklichkeit war das Absolute, allein das Gegenwärtige war lebendig. Die Schimpfkanonade beispielsweise, die ihre Mutter in der Kutsche von sich gab, nachdem die Tochter mit Punkt und Komma das wiedergegeben hatte, was ihr vom Vater aufgetragen, war für sie wie ein Schriftstück, das mit jenem papierenen Rascheln in ihr Gedächtnis rutschte, mit dem ein Brief in den Postkasten fällt. Und wie ein Brief wurde sie als Teil des Inhalts eines prall gefüllten Postsacks zu gegebener Zeit bei der korrekten Adresse zugestellt. Angesichts solcher emotionalen Aufwallungen, die sich über Jahre hinzogen, überkam die Verbündeten beider Parteien gelegentlich das Gefühl, es müsse etwas unternommen werden zugunsten dessen, was sie »das wahre Kindeswohl, so begreifen Sie das doch!« nannten. Das Einzige, das unternommen wurde, bestand jedoch im Allgemeinen darin, dass irgendjemand seufzend bemerkte, das Kind halte sich ja zum Glück nicht das ganze Jahr über dort auf, wo es sich in dem unerquicklichen Augenblick gerade befand, und dass es außerdem, sei es aufgrund von extremer Verschlagenheit oder extremer Beschränktheit, die Dinge offenbar nicht richtig begreife.

Die These von Maisies Beschränktheit, die sich ihre Eltern schließlich zu eigen machten, korrespondierte mit einem bedeutsamen Tag in ihrem kleinen, stillen Leben: mit dem Tag, an dem sie – ganz für sich, aber ein für alle Mal – in vollem Umfang erfasste, welch sonderbaren Amtes sie waltete. Die Erkenntnis führte buchstäblich zu einem moralischen Umsturz und vollzog sich in den Tiefen ihres Wesens. Die steifen Puppen auf den dunklen Regalen begannen ihre Arme und Beine zu bewegen; alte Verhaltens- und Redeweisen begannen einen Sinn zu ergeben, der sie erschreckte. Sie entdeckte eine neue Empfindung bei sich, die Empfindung von Gefahr, woraufhin sich ein neues Gegenmittel einstellte: die Idee von einem inneren, wahren Ich oder, anders ausgedrückt, von Verstellung. Anhand unvollständiger Indizien, doch mit erstaunlichem Vorstellungsvermögen, fand sie heraus, dass sie ein Sammelbecken des Hasses und die Überbringerin von Beleidigungen gewesen und dass alles deshalb so schlecht und böse war, weil man sie dazu benutzt hatte, dass es so wurde. Ihre geöffneten Lippen pressten sich zusammen und versiegelten ihren Mund in der Entschlossenheit, sich nicht länger benutzen zu lassen. Sie würde alles vergessen, sie würde nichts wiederholen, und als man ihrer erfolgreichen Umsetzung dieser Strategie Tribut zollte, indem man sie eine kleine Idiotin nannte, durchströmte sie ein völlig neues Wonnegefühl. Wenn ihre Eltern dann abwechselnd und in ihrer Gegenwart verkündeten, sie sei mit zunehmendem Alter und auf schockierende Weise immer dümmer geworden, dann hatte das nichts zu tun mit irgendeiner realen Beschränkung des Flusses ihres kleinen Lebens. Indem sie ihren Eltern den Spaß verdarb, verschaffte sie sich zusätzlich welchen. Sie nahm immer mehr auf; sie nahm zu vieles wahr. Miss Overmore12, ihre erste Gouvernante, war es gewesen, die bei einem folgenschweren Anlass die Saat der Heimlichkeit gesät hatte; gesät nicht dadurch, dass sie etwas sagte, sondern durch ein bloßes Rollen jener schönen Augen, die Maisie von Anfang an bewunderte. Zu dem Zeitpunkt war Moddle nach mehrfachen Wohnungswechseln, über die das Kind nur vage informiert war, schon zu einer Gestalt verblasst, die einbalsamiert war in Erinnerungen an von Hunger diktierten Verabsentierungen aus der Kinderstube und jämmerliche Lücken im Alphabet, die immer dann zu traurigen Blamagen führten, wenn Maisie aufgefordert wurde, die Existenz von etwas anzuerkennen, das die Kinderfrau den »wichtigen Buchstaben haitch«13 nannte. Miss Overmore verabsentierte sich niemals, wie hungrig sie auch war, wodurch sie sich irgendwie als etwas Besonderes auswies, und dieses Anderssein wurde durch eine äußere Attraktivität unterstützt, die Maisie für einzigartig hielt. Mrs Farange hatte die Ansicht geäußert, sie sei schon fast zu hübsch, woraufhin jemand die Frage gestellt hatte, was dies denn für eine Rolle spiele, solange Beale nicht anwesend sei. »Beale hin oder her«, hatte Maisie ihre Mutter erwidern hören, »ich nehme sie, weil sie eine Dame und trotzdem schrecklich arm ist. Sind recht nett, die Overmores, aber zu Hause sind sie sieben Schwestern. Was denken sich die Leute eigentlich?«

Maisie wusste nicht, was sich die Leute dachten, aber sie kannte schon bald alle Namen aller Schwestern. Sie konnte sie schneller hersagen als das Einmaleins. Obwohl sie nie Fragen stellte, machte sie sich insgeheim auch Gedanken über die schreckliche Armut, über die ihre Gesellschafterin ebenfalls nie sprach. Jedenfalls tauchte, nach rätselhaften Gesetzmäßigkeiten, immer etwas zu essen auf; Miss Overmore hatte nie eine Schürze um wie Moddle, und beim Essen hielt sie die Gabel mit abstehendem kleinen Finger. Das Kind, das sie bei vielen Gelegenheiten aufmerksam beobachtete, beobachtete sie insbesondere bei dieser. »Ich finde, du bist wunderschön«, sagte sie oft zu ihr; sogar Mama, die auch wunderschön war, hatte nicht so eine hübsche Art, die Gabel zu halten. Maisie verknüpfte diese effektvollere Ausstrahlung mit der Tatsache, dass sie selbst inzwischen »groß« geworden war, denn sie wusste selbstverständlich, dass Kinderfrau-Gouvernanten nur etwas für kleine Mädchen waren, die aber, nach ihren Worten, nicht »echt klein« waren. Außerdem wusste sie instinktiv und ungenau, dass die Zukunft noch viel größer war als sie selbst und dass dies zum Teil mit der Anzahl von Gouvernanten zu tun hatte, die dann auf der Lauer liegen und auf dem Sprung sein würden, um aus ihren Verstecken hervorzuschnellen. Alles, was sich ereignet hatte, als sie echt klein gewesen war, schlummerte jetzt im Verborgenen – alles, mit Ausnahme der absoluten Gewissheit (einem Vermächtnis Moddles aus alten Zeiten), dass für ein Kind das Natürliche einer Elternschaft darin bestand, beide getrennt voneinander und nacheinander zu haben, wie beispielsweise zuerst den Hammelbraten und dann den Nachtisch oder zuerst in die Wanne und dann ins Bett.

»Weiß er, dass er lügt?« So lautete die Frage, die sie Miss Overmore mit lebhaftem Nachdruck an jenem Tag gestellt hatte, an dem sich ihr Leben so plötzlich verändern sollte.

»Weiß er was –?« Miss Overmore sah sie mit großen Augen an. Sie hatte einen Strumpf über ihre Hand gezogen und stach immer wieder mit einer Nadel hinein, die sie nach dem Herausziehen kurz in der Schwebe hielt. Zwar war das eine eher hausbackene Tätigkeit, aber diese Bewegung war, wie alle ihre Bewegungen, voller Grazie.

»Na, der Papa.«

»Dass er lügt?«

»Das ist das, was ich ihm von Mama ausrichten soll: ›dass er lügt und weiß, dass er lügt‹.« Miss Overmore wurde sehr rot, obwohl sie lachte, bis ihr der Kopf nach hinten fiel. Dann stach sie wieder und so vehement auf ihre umwickelte Hand ein, dass Maisie sich fragte, wie sie das aushielt. »Soll ich ihm das sagen?«, fuhr das Kind fort. Und da wandte sich ihre Gesellschafterin in der unmissverständlichen Sprache eines Augenpaares von tiefem Dunkelgrau an sie. »Ich kann nicht Nein sagen«, erwiderte dieses so eindeutig wie möglich. »Ich kann nicht Nein sagen, weil ich Angst vor deiner Mama habe; das verstehst du doch, oder? Aber wie könnte ich Ja sagen, wo dein Vater so nett zu mir gewesen war und so lange mit mir geredet hat, als wir ihn neulich im Park getroffen haben und er mich mit seinen wundervollen Zähnen angelächelt hat; als er sich so sehr gefreut hat, uns zu sehen, dass er den Herrn, mit dem er zusammen war, stehen ließ, kehrtmachte, mit uns weiterging und eine halbe Stunde mit uns verbrachte?« Irgendwie kam durch Miss Overmores strahlend schöne Augen der Vorfall mit einem Zauber in Maisies Erinnerung zurück, den er damals gar nicht gehabt hatte, und dies trotz der Tatsache, dass ihre Gouvernante ihn danach einziges Mal mehr erwähnte. Nachdem Papa sich von ihnen verabschiedet hatte, gab sie dem Kind auf dem Heimweg zu verstehen, dass es ihr recht wäre, wenn es der Mama nichts davon erzählte. Maisie mochte ihre Gouvernante so sehr und war so erfüllt von dem bezaubernden Gefühl, von ihr gemocht zu werden, dass sie diese Bemerkung als Schlussstrich unter den Vorfall akzeptierte und sich verwundert dreinfügte. Diese Verwunderung lebte jetzt wieder auf, wurde lebendig in der Erinnerung an das, was Papa zu Miss Overmore gesagt hatte: »Ich brauche Sie nur anzusehen, um zu erkennen, dass Sie ein Mensch sind, auf dessen Hilfsbereitschaft ich zählen kann, wenn es darum geht, meine Tochter zu retten.« Maisies Unkenntnis dessen, wovor sie gerettet werden sollte, minderte nicht ihre Freude an der Vorstellung, dass Miss Overmore sie retten würde. Das würde sie beide nur noch enger zusammenbringen.

 

III

 

 

Umso bestürzter war sie, als ihre Mutter mit Bezug auf etwas, das vor ihrer nächsten Übersiedelung zu erledigen war, sagte: »Dir dürfte ja wohl klar sein, dass sie nicht mit dir mitgeht.«

Maisie fiel fast in Ohnmacht. »Aber ich dachte, sie kommt mit.«

»Weißt du, es spielt nicht die geringste Rolle, was du denkst«, entgegnete Mrs Farange und wurde laut. »Und außerdem tätest du besser daran zu lernen, in Zukunft deine Gedanken für dich zu behalten, mein Fräulein.« Das war genau das, was Maisie bereits gelernt hatte, und ihr Lernerfolg war nichts weniger als die Ursache für die Gereiztheit ihrer Mutter. Die Dame verdächtigte sie eines perfiden, systematischen Querulantentums, einer Neigung, die ältere Generation durch Schweigen zu kritisieren, wo sie persönlich als Mutter ein Kind doch gern einfältig und zutraulich gesehen hätte. Zudem hätte sie gern Berichte über die Wirkung der Sottisen vernommen, mit denen sie Mr Faranges Charakter und seinen vorgeblichen Seelenfrieden attackierte, denn die Befriedigung, die sie beim Austeilen verspürte, schwand in dem Maße, wie keine Reaktion darauf erfolgte. Sie fühlte, dass der Tag bevorstand, an dem sie eine größere Freude darin empfinden würde, Maisie bei ihm abzuladen, als sie ihm wegzunehmen, umso mehr, als ihr Gewissen wegen der Schärfe rumorte, mit der eine freimütige Freundin bemerkt hatte, dass das ganze Gezerre der Eltern letzten Endes darauf hinauslaufe, dass beide versuchen würden, die Kleine zu einer Bürde für den anderen zu machen, was ein übles Spiel sei, bei dem eine liebende Mutter eindeutig keine gute Figur abgebe. Die Aussicht, keine gute Figur abzugeben – ihrer Überzeugung nach eine elitäre Disziplin, in der sie noch nie versagt hatte –, erzeugte in Ida Farange eine Übellaunigkeit, deren Auswirkungen verschiedene Personen zu spüren bekamen. Sie beschloss, dass in jedem Falle Beale sie zu spüren bekommen sollte; aufs Neue gelangte sie zu dem Schluss, dass sie in ihrem Eifer, ihm gegenüber möglichst ekelhaft zu sein, keinesfalls nachlassen dürfe. Nichts konnte ihn mehr inkommodieren, als zusätzlich zu dem Kind auch den Bonus einer hübschen weiblichen Dreingabe, der es das Kind sichtlich angetan hatte, nicht zu bekommen. Eines der Dinge, die Ida der Dreingabe erklärte, war, dass Beales Haus eines von der Kategorie sei, in dem sich keine anständige Frau sehen lassen dürfe. Miss Overmore selbst hatte gegenüber Maisie erklärt, dass sie die Hoffnung gehegt habe, sie ins Haus ihres Vaters begleiten zu dürfen, dass aber diese Hoffnung durch die Art, in der ihre Mutter darauf reagiert hatte, zunichtegemacht worden sei. »Sie sagt, wenn ich mich jemals unterstehen sollte, in seine Dienste zu treten, dürfte ich mich nie mehr in diesem Haus blicken lassen. Also habe ich versprochen, nicht zu versuchen, mit dir zu gehen. Wenn ich geduldig abwarte, bis du hierher zurückkehrst, werden wir bestimmt wieder zusammenkommen.«

Geduldig abzuwarten beziehungsweise überhaupt zu warten, bis sie wieder zurückkehrte, kam Maisie dann doch etwas lang vor. Es erinnerte sie an all die Dinge, die man ihr immer wieder versprochen hatte, wenn sie nur brav wäre, und die sie, trotz allen Bravseins, nie bekommen hatte. »Wer wird sich dann bei Papa um mich kümmern?«

»Das weiß der Himmel, mein Schatz!«, erwiderte Miss Overmore und schloss sie liebevoll in die Arme. Es gab tatsächlich keinen Zweifel, dass sie dieser schönen Freundin lieb und teuer war. Welch schlagenderen Beweises hätte es noch bedurft als der Tatsache, dass – noch ehe eine Woche verstrichen und trotz ihrer schmerzlichen Trennung und des Verbots ihrer Mutter und Miss Overmores Skrupel und Miss Overmores Versprechen – die schöne Freundin beim Haus ihres Vaters aufgetaucht war? Die kleine Frau, die man dort bereits stundenweise eingestellt hatte, eine dicke, dunkelhaarige kleine Frau mit einem ausländischen Namen und schmutzigen Fingern, die unentwegt eine Haube trug, womit sie anfänglich den trügerischen Anschein erweckte, als bliebe sie nur kurz; die zudem ihrer Schülerin Fragen stellte, welche nichts mit Schulaufgaben zu tun hatten, Fragen, die Beale Farange nach eigenem Dafürhalten als entsetzlich ordinär empfand, nachdem ihm zwei oder drei zitiert worden waren – dieses wunderliche Gespenst verblasste angesichts des strahlenden Geschöpfes, das um Maisies willen allen Widrigkeiten die Stirn geboten hatte. Das strahlende Geschöpf erzählte seinem kleinen Schützling freiheraus, was geschehen war: dass die Situation wahrhaftig unerträglich gewesen sei. Sie habe den Mrs Fa­­­­range geleisteten Schwur gebrochen; sie habe drei Tage lang mit sich gerungen und sich dann stracks zu Maisies Papa begeben und ihm die ungeschönte Wahrheit erzählt: dass sie seine Tochter sehr gern habe; dass sie sie nicht im Stich lassen könne; dass sie für sie jedes Opfer bringen wolle. Auf dieser Grundlage war vereinbart worden, dass sie bleiben konnte; ihre Courage wurde belohnt; sie ließ Maisie nicht im Unklaren über das Ausmaß von Courage, dessen es bedurft hatte. Einige der Dinge, die sie sagte, hinterließen einen besonderen Eindruck bei dem Kind: zum Beispiel die Eröffnung, dass ihre Schülerin mit zunehmendem Alter immer besser erfassen werde, wie »entsetzlich mutig« eine junge Dame sein müsse, um das zu tun, was sie getan hatte.

»Glücklicherweise wird so etwas von deinem Papa geschätzt; er schätzt es sogar immens.« Auch das war eine von Miss Overmores Aussagen – mit dezidierter Betonung des Adverbs. Maisie selbst war nicht weniger von dem beeindruckt, was ihre Freundin durchgemacht hatte, besonders als sie von dem schrecklichen Brief hörte, der von Mrs Farange eingetroffen war. Mama sei so aufgebracht gewesen, dass sie, wie Miss Overmore es ausdrückte, sie mit Beschimpfungen überzog – Beweis genug, dass sie beide sich nicht mehr auf ein gemeinsames Leben unter Mamas Dach zu freuen brauchten. Was allerdings Mamas Dach anging, so erschien es dem Kind dieses Mal ohnehin als eine nur entfernt mögliche Alternative, weshalb so gut wie keine Notwendigkeit bestand, das als Geheimnis zu bewahren, was Miss Overmore dem Kind mit feierlichem Ernst anvertraute, um es zu beruhigen: die Idee nämlich, dass es eine Rückkehr zu Mama überhaupt nicht mehr geben sollte. Es war Miss Overmores persönliche Überzeugung und auch Bestandteil dieses Gedankenaustausches, dass Mr Faranges Tochter, sobald sie nur eine eindeutige Vorliebe für ihren Vater zeigen würde, die »öffentliche Meinung« hinter sich hätte. Zwar begriff die arme Maisie den Sinn dieser Aufforderung nur sehr ungefähr, aber es gelang ihr, sich dem Geschehen voll und ganz zu überlassen. Sie hatte ihre erste leidenschaftliche Zuneigung erlebt, und deren Objekt war ihre Gouvernante. Keiner hatte ihr die Augen dahingehend geöffnet – und sie konnte es sich auch selbst nicht erklären beziehungsweise tat es nicht –, dass sie Miss Overmore lieber mochte als ihren Papa; hätte man sie jedoch ebendessen bezichtigt, hätte sie sich in der Lage gefühlt zu entgegnen, dass Papa Miss Overmore ganz genauso lieb hatte. Er hatte ihr das ausdrücklich gesagt. Und außerdem konnte sie es mit eigenen Augen sehen.

IV

All dies leitete sie in ihrem Tun an, aber es rief auch ihr Schicksal auf den Plan, den Tag, an dem sich ihre Mutter in der Kutsche, in der Maisie nur noch aus diesem Anlass mitfuhr, vor dem Haus einfinden würde. Die Frage, ob Miss Overmore mit ihr gehen würde, stellte sich jetzt nicht mehr; es herrschte allseits die Erkenntnis, dass ihre Auseinandersetzung mit Mrs Farange viel zu heftig gewesen war. Das Kind spürte es sofort; es gab keine Umarmung, keinen Freudenschrei, als jene Dame sie abtransportierte; es gab nur ein furchteinflößendes Schweigen, das nicht einmal durch die früher üblichen gehässigen Nachfragen durchbrochen wurde und das, passend zu seiner immanenten Unerbittlichkeit, seinen Höhepunkt in Gestalt einer noch furchteinflößenderen alten Frau fand, die sie direkt unter der Haustür erwartete. »Du kommst jetzt unter die Obhut dieser Frau«, sagte ihre Mutter. »Übernehmen Sie sie, Mrs Wix«, sprach sie gereizt in Richtung der Gestalt und gab dem Kind einen Schubs, der sich für Maisie anfühlte, als müsse ihre Mutter Mrs Wix eine Demonstration von Tatkraft und Entschiedenheit geben. Mrs Wix übernahm sie, und schon am darauffolgenden Tag hatte Maisie das Gefühl, sie würde sie nie mehr hergeben. So kurz nach Miss Overmore war Maisies erster Eindruck von ihr verheerend gewesen; doch nach Ablauf einer Stunde brachte etwas in ihrer Stimme in dem Mädchen eine bis dahin unberührte Saite zum Schwingen. Maisie erkannte später, was es war, obwohl sie es unmöglich hätte benennen können. Es waren Dinge, die sich nach wenigen Tagen der Gespräche mit Mrs Wix erhellten. In der Hauptsache ging es um ein Thema, auf das Mrs Wix immer gleich von sich aus zu sprechen kam: dass sie einst selbst ein kleines Mädchen gehabt habe und dass das kleine Mädchen jäh aus dem Leben gerissen worden sei. Sie habe sonst nichts und niemanden auf der Welt gehabt, und der Schmerz habe ihr das Herz gebrochen. Beide gingen einvernehmlich davon aus, dass Mrs Wix’ Herz seitdem gebrochen war. Maisie fühlte, dass Mrs Wix voller Hingabe und Verzweiflung Mutter gewesen und dass dies etwas war, was auf Miss Overmore nicht zutraf und, auf eine abnorme und verstörende Weise, auf Mama sogar noch weniger.

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