Washington Square - Henry James - E-Book

Washington Square E-Book

Henry James

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Beschreibung

Sonderedition zum 100. Todestag Die unscheinbare Tochter des wohlhabenden New Yorker Arztes Dr. Austin Sloper verliebt sich in den charmanten, aber mittellosen Morris Townsend. Erst spät erkennt Catherine dessen wahres Ich ... 

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Henry James

Washington Square

Roman

Aus dem Englischenvon Karl Ludwig Nicol

Deutscher Taschenbuch Verlag

Neuübersetzung 1998

© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41164-6 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-19139-5

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

1. KAPITEL

2. KAPITEL

3. KAPITEL

4. KAPITEL

5. KAPITEL

6. KAPITEL

7. KAPITEL

8. KAPITEL

9. KAPITEL

10. KAPITEL

11. KAPITEL

12. KAPITEL

13. KAPITEL

14. KAPITEL

15. KAPITEL

16. KAPITEL

17. KAPITEL

18. KAPITEL

19. KAPITEL

20. KAPITEL

21. KAPITEL

22. KAPITEL

23. KAPITEL

24. KAPITEL

25. KAPITEL

26. KAPITEL

27. KAPITEL

28. KAPITEL

29. KAPITEL

30. KAPITEL

31. KAPITEL

32. KAPITEL

33. KAPITEL

34. KAPITEL

35. KAPITEL

HENRY JAMES WASHINGTON SQUARE

LEBEN UND WERK

[Informationen zum Buch]

[Informationen zum Autor]

|7|1.KAPITEL

In der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts und insbesondere gegen Ende dieses Zeitraums praktizierte in New York ein Arzt, dessen Geschäft blühte und der wohl in außergewöhnlichem Maß das Ansehen genoß, das man in den Vereinigten Staaten schon immer hervorragenden Angehörigen der medizinischen Zunft geschenkt hat. Dieser Berufsstand wurde in Amerika stets in Ehren gehalten und erwarb sich mit mehr Erfolg als anderswo ein Anrecht auf das schmückende Beiwort »liberal«. In einem Land, in dem man, um gesellschaftlich eine Rolle zu spielen, sich entweder sein Einkommen verdienen oder den Eindruck erwecken muß, daß man es sich verdient, scheint die Heilkunst in hohem Maß zwei anerkannte Quellen des Ansehens zu vereinigen. Sie gehört dem Bereich des Praktischen an, was in den Vereinigten Staaten eine beträchtliche Empfehlung darstellt, und sie erscheint ins Licht der Wissenschaft getaucht, ein Vorzug, den man in einer Gesellschaft zu schätzen weiß, in der die Liebe zum Wissen nicht immer Hand in Hand ging mit Muße und günstigen Umständen.

Zu Dr.Slopers Ruf trug es wesentlich mit bei, daß sein Fachwissen und seine Geschicklichkeit in völlig ausgewogenem Verhältnis zueinander standen. Er war das, was man einen gelehrten Arzt nennen könnte, und dennoch war seine Behandlung keineswegs theoretisch: er verschrieb stets etwas zum Einnehmen. Obgleich er für überaus gründlich gehalten wurde, war er nicht unangenehm |8|theoretisch. Und wenn er auch gelegentlich Dinge eingehender erklärte als es für den Patienten von Nutzen schien, ging er doch nie so weit (wie gewisse praktische Ärzte, von denen man gehört hatte), sich auf das Erklären allein zu verlassen, sondern hinterließ immer ein unergründliches Rezept. Es gab Ärzte, die hinterließen ihr Rezept ohne jegliche Erläuterung. Er gehörte auch nicht zu dieser Kategorie, die letztlich die ungebildetste war. Man wird sehen, daß ich einen klugen Mann beschreibe, und diese Klugheit ist denn auch der Grund, weshalb Dr.Sloper zu einer lokalen Größe wurde.

Zu der Zeit, in der wir uns hauptsächlich mit ihm befassen, war er etwa fünfzig Jahre alt und seine Popularität hatte ihren Höhepunkt erreicht. Er war sehr geistreich und galt in der besten Gesellschaft New Yorks als ein Mann von Welt– was er in der Tat auch hinlänglich war. Um möglicher Mißdeutung vorzubeugen, beeile ich mich hinzuzufügen, daß er nicht im mindesten etwas von einem Scharlatan an sich hatte. Er war durch und durch ein ehrenhafter Mann, ehrenhaft in einem Grade, daß ihm womöglich nur die Gelegenheit fehlte, um das volle Ausmaß zeigen zu können. Und sieht man einmal ab vom beträchtlichen Wohlwollen seines Patientenkreises, der sich gern etwas darauf einbildete, den »glänzendsten« Arzt des ganzen Landes zu haben, so rechtfertigte er tagtäglich sein Anrecht auf die Fähigkeiten, die ihm von der Stimme des Volkes zugesprochen wurden. Er war ein guter Beobachter, ja ein Philosoph, und »glänzend« zu sein war für ihn das Natürlichste von der Welt und fiel ihm (wie die Stimme des Volkes sagte) so leicht, daß er niemals auf bloße Wirkung aus war und keinerlei der kleinen Kniffe und Überheblichkeiten von Leuten |9|zweitklassiger Reputation nötig hatte. Man muß zugeben, daß ihn das Schicksal bevorzugt hatte und daß sich der Weg zum Wohlstand für ihn als wohlgeebnet erwies. Er hatte mit siebenundzwanzig Jahren geheiratet: eine Liebesheirat mit einem höchst reizvollen Mädchen, Catherine Harrington aus New York, die ihm, zu all ihrem Charme auch noch eine erstklassige Mitgift einbrachte. Mrs.Sloper war liebenswürdig, graziös, gebildet, elegant und im Jahr 1820 war sie eines der reizvollen Mädchen der noch bescheidenen, aber vielversprechenden Landeshauptstadt, die sich um die Battery gruppierte und die Bay überragte und deren äußerste Grenze die grasbedeckten Straßenränder der Canal Street bildeten. Mit siebenundzwanzig Jahren hatte sich Austin Sloper gerade so weit einen Namen gemacht, daß es nicht mehr ungewöhnlich erschien, unter einem Dutzend Bewerber ausgewählt zu werden von einer jungen, hochgestellten Frau, die zehntausend Dollar Einkommen und die bezauberndsten Augen von ganz Manhattan hatte. Diese Augen und noch einiges, was dazugehörte, waren an die fünf Jahre eine Quelle äußerster Genugtuung für den jungen Arzt, der ein ebenso hingebungsvoller wie ausnehmend glücklicher Ehemann war.

Der Umstand, daß er eine reiche Frau geheiratet hatte, brachte keine Änderung für den Weg, den er eingeschlagen hatte, und er pflegte seine Berufstätigkeit ebenso zielstrebig, als wenn er keine andern Geldmittel zur Verfügung gehabt hätte als seinen Anteil am bescheidenen väterlichen Erbe, das er sich beim Tode seines Vaters mit seinen Brüdern und Schwestern geteilt hatte. Sein Ziel war nicht vorwiegend gewesen, Geld zu verdienen, sondern vielmehr etwas zu lernen und eine Tätigkeit auszuüben. Etwas Interessantes zu lernen und etwas Nützliches |10|zu tun, das war, grob gesagt, der Plan, den er sich entworfen hatte und auf den der zufällige Umstand, daß seine Frau ein Einkommen hatte, keinerlei Einfluß ausübte. Er fand Freude an seiner Praxis und daran, eine Geschicklichkeit zu üben, derer er sich aufs angenehmste bewußt war. Es war offensichtlich, daß er gar nichts anderes als ein Arzt sein konnte, daß er durch und durch Arzt blieb und zwar unter den bestmöglichen Bedingungen. Natürlich ersparte ihm seine angenehme häusliche Situation eine Menge Plackerei, und die Zugehörigkeit seiner Frau zu den »oberen Zehntausend« brachte ihm eine ziemliche Anzahl solcher Patienten, deren Symptome, wenn auch nicht an sich interessanter als diejenigen niedrigerer Schichten, doch zumindest beständiger auftreten. Er strebte nach Erfahrung, und im Laufe von zwanzig Jahren wurde ihm eine Menge davon zuteil. Man muß hinzufügen, daß er sie in mancherlei Formen erhielt, die sie, was auch immer ihr wirklicher Wert gewesen sein mochte, nicht gerade willkommen machte. Sein erstes Kind, ein kleiner Knabe, der äußerst vielversprechend war, wie er, der nicht leicht in Begeisterung geriet, felsenfest glaubte, starb mit drei Jahren, trotz allem, was die Zärtlichkeit der Mutter und das Fachwissen des Vaters aufwandten, um ihn zu retten. Zwei Jahre später schenkte Mrs.Sloper einem zweiten Kind das Leben: einem Säugling, dessen Geschlecht das arme Kind, nach der Ansicht des Doktors, als keinen ebenbürtigen Ersatz für seinen beklagten Erstgeborenen erwies, aus dem er einen bewundernswerten Mann hatte machen wollen. Das kleine Mädchen war eine Enttäuschung; aber das war nicht das Schlimmste. Eine Woche nach seiner Geburt zeigte die junge Mutter, die, wie man so sagt, sich gut angelassen hatte, plötzlich alarmierende Symptome, |11|und noch ehe eine Woche verstrichen war, wurde Austin Sloper Witwer.

Für einen Mann, dessen Gewerbe es war, Menschen am Leben zu erhalten, hatte er sicherlich in seiner eigenen Familie nur Unzulängliches zuwege gebracht. Und ein angesehener Arzt, der innerhalb von drei Jahren seine Frau und seinen kleinen Sohn verliert, sollte vielleicht darauf gefaßt sein, entweder sein Können oder seine Liebe in Frage gestellt zu sehen. Unser Freund indes entging der Kritik, das heißt, er entging aller Kritik außer seiner eigenen, die die allersachkundigste und fürchterlichste war. Für den Rest seiner Tage ging er dahin unter der Last seines höchstpersönlichen Tadels und trug für immer die Narben einer Züchtigung, die ihm die stärkste Hand, die er kannte, in jener Nacht zugefügt hatte, die auf den Tod seiner Frau gefolgt war. Die Welt, die ihn, wie gesagt, zu schätzen wußte, hatte zuviel Mitleid mit ihm, um ironisch zu sein. Sein Mißgeschick machte ihn interessanter und verhalf ihm sogar, in Mode zu kommen. Man stellte fest, daß selbst Arztfamilien den heimtückischen Formen von Krankheiten nicht entgehen können und daß Dr.Sloper außer den zwei erwähnten Patienten schließlich auch noch andere verloren hatte, was einen ehrenhaften Präzedenzfall bildete. Sein kleines Mädchen blieb dem Doktor. Und wenn es auch nicht das war, was er sich gewünscht hatte, so beschloß er doch, das Beste aus ihm zu machen. Er hatte einen unverbrauchten Vorrat an Autorität zur Verfügung, von dem das Kind in seinen ersten Jahren reichlich abbekam. Es war– selbstverständlich– nach seiner armen Mutter genannt worden, und selbst im frühesten Säuglingsalter des Mädchens rief der Arzt es nie anders als Catherine. Es wuchs als sehr robustes und gesundes |12|Kind auf, und sein Vater sagte sich oft, wenn er es ansah, daß er, so wie es war, wenigstens nicht befürchten mußte, es zu verlieren. Ich sage »so wie es war«, da, um der Wahrheit die Ehre zu geben– doch das ist eine Wahrheit, auf die ich später zurückkommen möchte.

|13|2.KAPITEL

Als das Kind etwa zehn Jahre alt war, lud Dr.Sloper seine Schwester, Mrs.Penniman, ein, bei ihm zu wohnen. Die Fräulein Sloper waren indes zwei an der Zahl und beide hatten früh geheiratet. Die jüngere, Mrs.Almond mit Namen, war die Frau eines wohlhabenden Kaufmanns und die Mutter einer blühenden Familie. Sie wirkte natürlich selbst blühend und war eine gutaussehende, sorglose, verständige Frau und die Lieblingsschwester ihres klugen Bruders, der in bezug auf Frauen, selbst wenn sie mit ihm nahe verwandt waren, ein Mann ausgeprägter Vorlieben war. Er zog Mrs.Almond seiner Schwester Lavinia vor, die einen armen Geistlichen geheiratet hatte, der von kränklicher Konstitution und blumiger Beredsamkeit war und sie schließlich im Alter von dreiunddreißig Jahren als Witwe– ohne Kinder, ohne Vermögen– zurückließ, mit nichts als der Erinnerung an Mr.Pennimans blumenreiche Redeweise, ein gewisses vages Aroma, das ihren eigenen Gesprächsstil umgab. Nichtsdestoweniger hatte Dr.Sloper ihr eine Heimstätte unter seinem eigenen Dach angeboten, die Lavinia mit der Bereitwilligkeit einer Frau annahm, die die zehn Jahre ihres Ehelebens in der Kleinstadt Poughkeepsie zugebracht hatte. Der Doktor hatte Mrs.Penniman nicht vorgeschlagen zu kommen, um ständig bei ihm zu wohnen, sondern vielmehr, daß ihr sein Haus als Aufenthaltsort zur Verfügung stehe, während sie sich nach einer unmöblierten Wohnung umsehe. Es ist fraglich, ob |14|Mrs.Penniman jemals die Suche nach einer Wohnung ins Auge faßte, aber außer Frage steht, daß sie niemals eine fand. Sie nistete sich bei ihrem Bruder ein und wich nicht mehr, und als Catherine zwanzig Jahre zählte, war Tante Lavinia nach wie vor eine der eindrucksstärksten Gestalten ihrer unmittelbaren Umgebung. Mrs.Pennimans eigene Erklärung der Angelegenheit war, daß sie geblieben war, um die Erziehung ihrer Nichte in die Hand zu nehmen. Sie hatte diese Erklärung zumindest jedermann gegeben außer dem Doktor, der nie nach einer Erklärung fragte, über die er sich Tag für Tag seine Gedanken machen konnte. Obwohl Mrs.Penniman eine Menge jener gewissen Art von aufgesetzter Selbstsicherheit besaß, schreckte sie doch, aus unerfindlichen Gründen, davor zurück, sich ihrem Bruder als Quelle von Erziehungskunst zu präsentieren. Sie war nicht sonderlich gewitzt, aber immerhin genug, um sich davon abhalten zu lassen, diesen Fehler zu begehen, und ihr Bruder war seinerseits gewitzt genug, um sie, in ihrer Lage, dafür zu entschuldigen, daß sie ihm einen beträchtlichen Teil der Lebenszeit auf der Tasche lag. Er billigte daher stillschweigend den Plan, den Mrs.Penniman ihrerseits stillschweigend entworfen hatte: wie wichtig es sei, daß das arme mutterlose Mädchen eine vorzügliche Frau um sich habe. Seine Billigung konnte nur stillschweigend erfolgen, da er nie von seiner Schwester als intellektueller Leuchte hingerissen war. Außer als er sich in Catherine Harrington verliebte, war er in der Tat nie von weiblichen Eigenschaften, welcher Art auch immer, hingerissen. Und obwohl er bis zu einem gewissen Grade das war, was man einen Arzt für Damen nennt, war doch seine persönliche Meinung vom komplizierteren Geschlecht nicht gerade übertrieben hoch. Er sah dessen Kompliziertheit |15|mehr als eigenartig an denn als erbaulich, und er hatte eine Auffassung vom Glanz der Vernunft, die, im ganzen gesehen, nur dürftig befriedigt wurde durch das, was er an seinen weiblichen Patienten wahrnahm. Seine Gattin war eine vernünftige Frau gewesen, aber sie bildete eine leuchtende Ausnahme. Von den verschiedenen Dingen, derer er sicher war, stellte dies wohl das hauptsächlichste dar. Eine solche Überzeugung trug natürlich wenig dazu bei, seine Witwerschaft zu lindern oder abzukürzen, und bestenfalls setzte es seiner Anerkennung von Catherines Möglichkeiten und Mrs.Pennimans Dienstleistungen eine Grenze. Nichtsdestoweniger nahm er nach Ablauf von sechs Monaten die ständige Anwesenheit seiner Schwester als vollendete Tatsache hin, und als Catherine älter wurde, erkannte er, daß es in der Tat gute Gründe dafür gab, weshalb sie eine Gesellschafterin ihres eigenen unvollkommenen Geschlechts bekommen hatte. Er war ausnehmend korrekt gegenüber Lavinia, gewissenhaft, formell korrekt, und sie hatte ihn niemals in Wut gesehen außer einmal in ihrem Leben, als ihm bei einer theologischen Diskussion mit ihrem einstigen Mann das Temperament durchgegangen war. Mit ihr diskutierte er nie über Theologie noch überhaupt über irgend etwas. Er begnügte sich damit, seine Wünsche hinsichtlich Catherine sehr entschieden zu äußern in Form eines klaren Ultimatums.

Einmal, als das Mädchen etwa zwölf Jahre alt war, hatte er zu Mrs.Penniman gesagt:

»Versuche aus ihr eine kluge Frau zu machen, Lavinia; ich möchte, daß sie eine kluge Frau wird.«

Mrs.Penniman blickte daraufhin einen Augenblick gedankenvoll drein. »Mein lieber Austin«, fragte sie dann, »denkst du, es ist besser klug zu sein als gut?«

|16|»Gut wofür?« entgegnete der Doktor. »Man ist für nichts gut, wenn man nicht klug ist.«

Mrs.Penniman sah keinen Grund, dieser Feststellung zu widersprechen. Möglicherweise erwog sie, daß ihr eigener großer Nutzen in der Welt ihrer Befähigung für vielerlei zu verdanken war.

»Natürlich wünsche ich, daß Catherine gut wird«, sagte der Doktor am nächsten Tag, »aber sie wird nicht weniger rechtschaffen sein, wenn sie kein Dummkopf ist. Ich befürchte nicht, daß sie böse wird; ihr Charakter wird niemals die Bitterkeit der Böswilligkeit aufweisen. Sie ist ›so gut wie gutes Brot‹, wie die Franzosen sagen. Aber in sechs Jahren möchte ich sie nicht vergleichen müssen mit einem guten Butterbrot.«

»Befürchtest du, daß sie langweilig wird? Mein lieber Bruder, ich bin es, die für die Butter sorgt; du brauchst also nichts zu befürchten!« sagte Mrs.Penniman, die die »vielseitige Ausbildung« des Kindes in die Hand genommen hatte, indem sie sein Klavierspiel beaufsichtigte, worin Catherine ein gewisses Talent zeigte, und indem sie mit ihm zum Tanzunterricht ging, wo Catherine, wie man gestehen muß, nur eine mäßige Figur machte.

Mrs.Penniman war eine große, hagere, blonde, ziemlich verwelkte Frau mit durchaus gutherzigem Wesen, einem hohen Grad an Wohlerzogenheit, einer Vorliebe für Unterhaltungsliteratur und einem gewissen töricht wirkenden Mangel an Direktheit und Offenheit des Charakters. Sie war romantisch, sie war sentimental und sie hatte eine Passion für kleine Geheimnisse und Heimlichkeiten, eine sehr unschuldige Leidenschaft, da ihre Geheimnisse bisher immer so wenig hergaben wie faule Eier. Mrs.Penniman war nicht völlig aufrichtig, doch dieser Mangel hatte keine große Bedeutung, da sie nie |17|etwas zu verbergen hatte. Sie hätte gern einen Liebhaber gehabt, um mit ihm unter einem Decknamen zu korrespondieren und die Briefe in einem Laden zu hinterlegen. Ich fühle mich verpflichtet zu sagen, daß ihre Einbildungskraft die Vertraulichkeit nie weiter trieb als bis zu diesem Punkt. Mrs.Penniman hatte nie einen Liebhaber gehabt, doch ihr Bruder, der sehr scharfsinnig war, rechnete mit einem Gesinnungswandel bei ihr. »Wenn Catherine um die siebzehn ist«, sagte er sich, »wird Lavinia den Versuch unternehmen und ihr einreden, daß irgendein junger Mann mit Schnurrbart sich in sie verliebt hat. Das wird völlig unrichtig sein. Kein junger Mann, ob mit oder ohne Schnurrbart, wird sich jemals in Catherine verlieben. Aber Lavinia wird sich damit beschäftigen und mit ihr darüber sprechen. Vielleicht spricht Catherine, wenn Lavinias Vorliebe für heimliche Unternehmungen bei ihr keinen Anklang findet, sogar mit mir darüber. Catherine wird es nicht begreifen und sie wird es nicht glauben– zum Glück für ihren Seelenfrieden. Die arme Catherine ist nicht romantisch.«

Sie war ein gesundes, gut gewachsenes Kind, ohne eine Spur von der Schönheit ihrer Mutter. Sie war nicht häßlich, sie hatte lediglich einen reizlosen, uninteressanten, sanften Gesichtsausdruck. Das Höchste, was jemals zu ihren Gunsten geäußert wurde, war, sie habe ein »nettes« Gesicht. Und obwohl sie eine Erbin war, hatte noch niemals jemand daran gedacht, sie für eine Schönheit zu halten. Die Meinung ihres Vaters hinsichtlich ihrer moralischen Untadeligkeit war voll gerechtfertigt; sie war ausnehmend und unbeirrbar gut, liebevoll, fügsam, folgsam und durchaus geneigt, die Wahrheit zu sagen. In jüngeren Jahren war sie ein ziemlicher Wildfang gewesen, und obwohl es ein peinliches Geständnis für eine |18|Romanheldin ist, muß ich hinzufügen, daß sie so etwas wie ein Vielfraß war. Soviel ich weiß, stahl sie nie Rosinen aus der Speisekammer, aber sie gab ihr Taschengeld für Sahnetörtchen aus. Eine kritische Haltung hierzu wäre jedoch unvereinbar mit einer aufrichtigen Bezugnahme auf die frühen Annalen eines jeden Biographen. Catherine war unbestreitbar nicht klug; sie war nicht geschickt beim Unterricht und gewiß auch sonst nicht. Sie war nicht außergewöhnlich unbegabt, und sie eignete sich genug Bildung an, um sich respektabel zu behaupten in der Konversation mit ihren Altersgenossen, unter denen sie allerdings, wie zugegeben werden muß, lediglich einen zweiten Platz einnahm. Bekanntlich ist es in New York für ein junges Mädchen möglich, einen ersten Platz einzunehmen. Catherine, die äußerst bescheiden war, hatte kein Verlangen zu glänzen, und bei den meisten gesellschaftlichen Ereignissen, wie man so sagt, führte sie ein Mauerblümchendasein. Sie liebte ihren Vater ungemein und fürchtete ihn sehr. Sie hielt ihn für den klügsten, stattlichsten und angesehensten Mann. Das arme Mädchen fand solchen Gewinn in der Hingabe an ihre Zuneigung, daß die kleine Regung von Scheu, die sich in ihre kindliche Neigung mischte, der Sache mehr eine Würze verlieh, als daß sie ihre Intensität minderte. Catherines größter Wunsch war, sein Gefallen zu finden, und ihre Vorstellung von Glück bestand in dem Bewußtsein, daß es ihr gelungen war, ihm zu gefallen. Über einen bestimmten Punkt hinaus war ihr das allerdings nie geglückt. Obwohl er, im ganzen gesehen, sehr gütig zu ihr war, wurde sie sich dessen völlig bewußt, und über den fraglichen Punkt hinauszugelangen schien ihr wirklich etwas, wofür es sich zu leben lohnte. Was sie natürlich nicht wissen konnte, war, daß sie ihn enttäuschte, |19|obgleich sich der Doktor bei drei oder vier Gelegenheiten ziemlich unverhohlen darüber geäußert hatte. Catherine wuchs wohlbehütet und wohlhabend auf. Aber als sie achtzehn war, hatte Mrs.Penniman keine kluge Frau aus ihr gemacht. Dr.Sloper wäre gern auf seine Tochter stolz gewesen, aber es gab nichts bei der armen Catherine, worauf man hätte stolz sein können. Natürlich gab es auch nichts, worüber man sich hätte schämen müssen. Aber das war nicht genug für den Doktor, der ein stolzer Mann war und es nur zu gern gehabt hätte, seine Tochter für ein außergewöhnliches Mädchen halten zu können. Man hätte voraussetzen können, daß sie hübsch und reizvoll, intelligent und bemerkenswert würde, da ihre Mutter während ihrer kurzen Lebenszeit die bezauberndste Frau gewesen war, und was ihren Vater betraf, so kannte er selbstverständlich seinen Wert. Hin und wieder fühlte er Erbitterung bei dem Gedanken, ein Allerweltskind hervorgebracht zu haben, und er ging gelegentlich so weit, eine gewisse Genugtuung in der Vorstellung zu finden, daß seine Frau diese Erfahrung nicht mehr hatte erleben müssen. Diese Entdeckung kam ihm natürlich nur ganz allmählich, und erst als Catherine zu einer jungen Dame herangewachsen war, sah er die Sache als entschieden an. Er neigte dazu, zahlreiche Zweifel zu ihren Gunsten auszulegen; es eilte ihm nicht damit, zu einer Entscheidung zu kommen. Mrs.Penniman versicherte ihm häufig, daß seine Tochter ein reizendes Wesen habe, aber er wußte, wie diese Versicherung aufzufassen war. Sie besagte für ihn, daß Catherine nicht verständig genug war, um zu bemerken, daß ihre Tante eine Gans war; eine geistige Beschränktheit, die Mrs.Penniman nur angenehm sein konnte. Sowohl sie als auch ihr Bruder übertrieben in ihrer Meinung |20|indes die Beschränktheit des jungen Mädchens; denn obwohl Catherine ihre Tante sehr gern hatte und sich der Dankbarkeit bewußt war, die sie ihr schuldete, hatte sie doch Mrs.Penniman gegenüber keine Spur jener sanften Scheu, die ihrer Bewunderung für ihren Vater das Gepräge gab. Ihrer Meinung nach hatte Mrs.Penniman nichts von diesem Unermeßlichen an sich. Catherine durchschaute sie gleich auf einmal völlig und wurde nicht geblendet von ihrer Erscheinung, während die großen Fähigkeiten ihres Vaters in ihrem weitreichenden Umfang sich in einer Art leuchtender Verschwommenheit zu verlieren schienen, die erkennen ließ, daß sie nicht dort aufhörten, sondern daß Catherines geistiges Vermögen ihnen nicht mehr folgen konnte.

Man darf nicht glauben, daß Dr.Sloper seine Enttäuschung an dem armen Mädchen ausließ oder ihr jemals Anlaß zu dem Verdacht gab, sie habe ihm übel mitgespielt. Im Gegenteil, aus Angst, ihr gegenüber ungerecht zu sein, erfüllte er seine Schuldigkeit mit mustergültigem Eifer und erkannte an, daß sie ein ergebenes und liebevolles Kind war. Außerdem war er ein Philosoph: er rauchte eine ganze Menge Zigarren über seiner Enttäuschung auf, und zur rechten Zeit gewöhnte er sich daran. Er war davon überzeugt, daß er nichts erwartet hatte, allerdings mit einer etwas verwunderlichen Schlußfolgerung. »Ich erwarte nichts«, sagte er sich, »so daß es, wenn sie mir eine Überraschung bereitet, ein einziger klarer Gewinn ist. Und wenn sie es nicht tut, so ist es kein Verlust.« Das war um die Zeit, als Catherine ihr achtzehntes Lebensjahr erreicht hatte, woraus sich ersehen läßt, daß ihr Vater sich nicht übereilt hatte. Zu dieser Zeit schien sie nicht nur unfähig, Überraschungen zu bereiten, sondern vielmehr war es fast die Frage, ob sie welche |21|hätte erleben können, so ruhig und teilnahmslos war sie. Leute, die sich grob ausdrücken, nannten sie stupide. Aber sie war teilnahmslos, weil sie schüchtern war, unangenehm, bedrückend schüchtern. Das wurde nicht immer verstanden, und manchmal rief sie den Eindruck von Stumpfheit hervor. In Wirklichkeit war sie das mitfühlendste Geschöpf der Welt.

|22|3.KAPITEL

Als Kind hatte sie die Erwartung geweckt, groß zu werden; aber als sie sechzehn war, hörte sie auf zu wachsen und ihre Statur war, wie das meiste andere ihrer Körperbildung, nicht ungewöhnlich. Sie war jedoch kräftig und gut gebaut, und ihre Gesundheit war glücklicherweise ausgezeichnet. Es wurde bereits festgestellt, daß der Doktor ein Philosoph war, aber ich hätte nicht für seine Philosophie eingestanden, wenn das arme Mädchen schwächlich und leidend gewesen wäre. Ihr gesundes Aussehen war in erster Linie der Grund, ihr ein Anrecht auf Schönheit zuzubilligen. Und ihre reine, frische Haut, auf der weiß und rot völlig gleichmäßig verteilt waren, sah wirklich vorzüglich aus. Ihre Augen waren klein und unauffällig, ihre Gesichtszüge ziemlich füllig und ihre langen Haare braun und glatt. Ein langweiliges, reizloses Mädchen, so nannten sie unnachsichtige Kritiker, ein zurückhaltendes, damenhaftes Mädchen hingegen die phantasievolleren, doch weder von den einen noch von den andern wurde sie eingehend erörtert. Als ihr zu gegebener Zeit bedeutet wurde, daß sie eine junge Dame sei– und sie brauchte eine gute Weile, bis sie es glauben konnte–, entwickelte sie auf einmal eine lebhafte Vorliebe für Kleidung: eine lebhafte Vorliebe ist genau der treffende Ausdruck dafür. Ich glaube, ich müßte es ganz klein schreiben: ihr Urteil auf diesem Gebiet war keineswegs unfehlbar: es war Verwirrungen und Verlegenheiten ausgesetzt. Ihre große Hingabe an diese Angelegenheit war in Wirklichkeit |23|das Verlangen einer wenig wortgewandten Natur, sich kundzutun; sie suchte, durch ihre Kleidung sprechend zu sein und ihren Mangel an Ausdrucksvermögen durch eine auffällige Freimütigkeit der Kleidung wettzumachen. Doch wenn sie versuchte, sich durch ihre Kleidung auszudrücken, so ist es den Leuten gewiß nicht zu verdenken, wenn sie Catherine nicht für geistreich hielten. Man muß hinzufügen, daß sie zwar ein Vermögen zu erwarten hatte– Dr.Sloper hatte lange Zeit 20000Dollar im Jahr verdient und die Hälfte davon beiseite gelegt–, daß aber der Geldbetrag, der ihr zur Verfügung stand, nicht höher war als das Taschengeld, das viele ärmere Mädchen bekamen. Zu jener Zeit flackerten in New York noch immer einige Altarfeuer im Tempel republikanischer Schlichtheit, und Dr.Sloper hätte es gern gesehen, wenn seine Tochter mit klassischer Grazie als Priesterin dieses sanften Glaubens aufgetreten wäre. Insgeheim verzog er ziemlich sein Gesicht, wenn er daran dachte, ein Kind von ihm könnte abstoßend oder übertrieben gekleidet sein. Er selbst schätzte die Annehmlichkeiten des Lebens und machte beträchtlichen Gebrauch von ihnen; aber er hatte einen Abscheu vor Vulgarität und sich sogar die Theorie zurechtgelegt, daß sie in der Gesellschaft, die ihn umgab, im Zunehmen sei. Außerdem war der Standard des Luxus in den Vereinigten Staaten vor dreißig Jahren keineswegs so hoch wie gegenwärtig, und Catherines kluger Vater vertrat die altmodischen Ansichten bezüglich der Erziehung von Jugendlichen. Hierüber hatte er keine besondere Theorie, und er war bis jetzt kaum in die Zwangslage geraten, zu seiner Selbstverteidigung eine Sammlung von Theorien bereitzuhalten. Es schien ihm lediglich gehörig und vernünftig, daß eine wohlerzogene junge Dame nicht ihr |24|halbes Vermögen auf dem Rücken herumtrug. Catherines Rücken war breit und hätte eine ganze Menge tragen können, aber unter dem Druck des väterlichen Mißfallens wagte sie niemals ihn zu enthüllen, und unsere Heldin wurde zwanzig Jahre alt, ehe sie sich als Abendkleid eine mit Goldfransen besetzte rote Satinrobe gönnte, obwohl sie das seit vielen Jahren ersehnt hatte. Dieses Kleid ließ sie, wenn sie es trug, wie eine Frau von dreißig erscheinen. Seltsamerweise aber zeigte sie trotz ihrer Vorliebe für ausgefallene Kleider keine Spur von Koketterie, und wenn sie die Gewänder anzog, richtete sich ihre Sorge darauf, ob ihre Kleidung und nicht sie selbst gut aussehen würde. Über diesen Punkt gibt die Geschichte keine Auskunft, doch ist die Annahme berechtigt, daß sie das eben erwähnte prunkvolle Gewand bei einer kleinen Gesellschaft trug, die ihre Tante, Mrs.Almond, gab. Das Mädchen war damals in seinem einundzwanzigsten Lebensjahr, und Mrs.Almonds Gesellschaft war der Auftakt zu etwas sehr Bedeutsamem.

Etwa drei oder vier Jahre zuvor hatte Dr.Sloper seine Hausgötter stadtaufwärts, wie man in New York sagt, umgesiedelt. Seit seiner Heirat hatte er stets ein rotes Backsteingebäude mit Granitsimsen und einem riesigen Fächerfenster über der Tür bewohnt, in einer Straße gelegen, die zu Fuß fünf Minuten von der City Hall entfernt war und (in gesellschaftlicher Beziehung) ihre besten Tage um 1820 gesehen hatte. Danach begann sich die modische Strömung stetig nordwärts zu richten, was sie in New York wegen der kanalartigen Enge, in der es verläuft, denn auch tun muß, und der gewaltig brausende Verkehr rollte rechts und links des Broadway weiter. Zu der Zeit, als der Doktor umzog, war das geschäftige Murmeln zu einem mächtigen Lärm angeschwollen, der Musik war in |25|den Ohren aller guten Bürger, die interessiert waren an der wirtschaftlichen Entwicklung ihrer glückbringenden Insel, wie sie es so gern nannten. Dr.Slopers Interesse an diesem Phänomen war lediglich indirekt– wiewohl es unmittelbarer hätte sein können, wenn man berücksichtigt, daß im Lauf der Jahre die Hälfte seiner Patienten zu überarbeiteten Geschäftsleuten geworden war–, und als die meisten benachbarten Wohnhäuser (die gleichfalls mit Granitsimsen und riesigen Fächerfenstern geziert waren) in Kontore, Lagerhäuser und Schiffsagenturen umgewandelt oder anderweitig den Grundbedürfnissen des Handels dienstbar gemacht worden waren, da beschloß er, sich nach einer ruhigeren Wohnstätte umzusehen. Das Ideal an Ruhe und vornehmer Zurückgezogenheit war 1835 am Washington Square zu finden, wo sich der Doktor ein stattliches, neuzeitliches Haus baute mit weit ausladender Fassade, einem großen Balkon vor den Fenstern des Salons und einer Flucht weißer Marmorstufen, die zu einem gleichfalls mit weißem Marmor eingefaßten Portal emporführten. Dieses Gebäude und viele seiner Nachbarn, denen es genau glich, hielt man vor vierzig Jahren für die Verkörperung der neuesten Errungenschaften architektonischer Technik, und sie sind bis zum heutigen Tag sehr solide und ehrenwerte Wohnstätten geblieben. Vor ihnen lag der Platz, der in beträchtlichem Umfang unansehnliche Bepflanzung aufwies, die von einer hölzernen Umzäunung umgeben war, was seinen ländlichen und leutseligen Eindruck noch erhöhte. Um die Ecke lag der erlauchtere Bereich der Fifth Avenue, die hier ihren Anfang nahm mit einer Atmosphäre von Weiträumigkeit und Selbstbewußtsein, die sie bereits als zu Höherem bestimmt kennzeichnete. Ich weiß nicht, ob es auf liebevolle frühere Erinnerungen |26|zurückgeht, aber jedenfalls erscheint diese Gegend von New York vielen Menschen als die reizvollste. Sie hat etwas von einer angestammten Stätte der Ruhe, wie sie sich sonst nicht häufig findet in andern Vierteln dieser langgestreckten, schrillen Stadt. Sie macht einen wohlhabenderen, reifer entwickelten, ehrwürdigeren Eindruck als irgendeine der stadtaufwärts liegenden Abzweigungen der längs verlaufenden Verkehrsader– den Eindruck, als habe sie so etwas wie eine gesellschaftliche Geschichte gehabt. Hier war es, wie du aus guter Quelle erfahren haben mochtest, daß du in eine Welt gelangt warst, die vielfältige Quellen von Interessantem anbot. Hier war es, wo deine Großmutter in ehrwürdiger Abgelegenheit wohnte und eine Gastlichkeit übte, die sich ebenso der kindlichen Phantasie wie dem kindlichen Gaumen empfahl. Hier hattest du deine ersten Spaziergänge unternommen, warst dem Kindermädchen mit ungelenkem Gang gefolgt und hattest den fremdartigen Duft der Götterbäume geschnuppert, die damals dem Platz im wesentlichen seinen Schatten spendeten und ein Aroma verströmten, demgegenüber du noch zu unkritisch warst, um eine Abneigung dagegen zu verspüren. Hier schließlich war es, wo sich der Kreis deiner Wahrnehmungen und Eindrücke erweiterte durch deinen ersten Unterricht, erteilt von einer vollbusigen, stämmigen alten Dame mit einem Lineal, die ständig Tee aus einer blauen Tasse trank, deren Untertasse nicht dazu paßte. Hier jedenfalls verbrachte meine Heldin viele Jahre ihres Lebens, was meinen topographischen Exkurs entschuldigen mag.

Mrs.Almond wohnte viel weiter stadtaufwärts in einer noch unentwickelten Straße mit einer hohen Nummer, in einer Gegend, wo die Stadt ein visionäres Aussehen |27|annahm, wo Pappeln neben dem Pflaster wuchsen (sofern überhaupt eines vorhanden war) und ihren Schatten mit den steilen Dächern planlos verstreuter holländischer Häuser vermischten und wo sich Ferkel und Küken in der Gosse tummelten. Diese malerischen ländlichen Elemente sind jetzt völlig aus dem New Yorker Stadtbild verschwunden, doch fand man sie noch im Gedächtnis von Einwohnern mittleren Alters in Stadtvierteln, wo man heutzutage bei der Erinnerung daran erröten würde. Catherine hatte eine große Anzahl von Vettern und Basen, und mit den Kindern ihrer Tante Almond, die schließlich neun an der Zahl waren, stand sie in sehr vertrautem Verhältnis. Als sie jünger war, hatten sie ziemlich Scheu vor ihr gehabt; sie hielten sie, wie man so sagt, für eine höhere Tochter und jemanden, der durch seinen vertrauten Umgang mit ihrer Tante Penniman gleichsam Vornehmheit widerspiegelte. Mrs.Penniman war den kleinen Almonds mehr ein Gegenstand der Bewunderung als der Sympathie. Das Verhalten der Tante war eigentümlich und furchterregend, und ihre Trauergewänder– sie kleidete sich noch zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes in Schwarz und erschien dann urplötzlich eines Morgens mit rosa Rosen an ihrer Haube– waren an ungewöhnlichen und unerwarteten Stellen mit Spangen, Glasperlen und Anstecknadeln aufgemacht, was von Vertraulichkeiten abhielt. Sie ging mit Kindern zu starr um, im Guten wie im Bösen, und hatte eine bedrückende Art, spitzfindige Dinge von ihnen zu erwarten, so daß ein Besuch bei ihr ähnlich war, als würde man zur Kirche mitgenommen und müßte sich in die vorderste Bank setzen. Nach einer Weile jedoch stellte man fest, daß Tante Penniman nur etwas Nebensächliches in Catherines Leben war und nicht ein Teil ihres |28|Wesens und daß das Mädchen, wenn es einen Samstag mit seinen Verwandten verbrachte, durchaus beim Gänsemarschspiel und selbst beim Bockspringen mitmachte. Auf dieser Basis kam es mühelos zu einem Einverständnis und mehrere Jahre lang verbrüderte sich Catherine mit den jungen Verwandten. Ich sage verbrüdern; denn sieben der kleinen Almonds waren Knaben, und Catherine hatte eine Vorliebe für Spiele, für die Hosen am bequemsten sind. Nach und nach aber wurden die Hosen der kleinen Almonds länger, und die, die sie trugen, begannen, sich zu zerstreuen und sich im Leben einzurichten. Die größeren Kinder waren älter als Catherine, und die Knaben wurden aufs College geschickt oder in Kontoren untergebracht. Von den Mädchen heiratete eines sehr pünktlich und das andere verlobte sich ebenso pünktlich. Um das letztgenannte Ereignis zu feiern, gab Mrs.Almond die von mir bereits erwähnte kleine Gesellschaft. Ihre Tochter sollte einen stämmigen jungen Börsenmakler heiraten, einen Burschen von zwanzig Jahren. Man hielt das für eine sehr gute Sache.

|29|4.KAPITEL

Mrs.Penniman, mit mehr Spangen und Armringen denn je, kam selbstverständlich zu der Einladung, begleitet von ihrer Nichte. Auch der Doktor hatte versprochen, später am Abend hereinzusehen. Es sollte viel getanzt werden, und noch ehe das sehr weit gediehen war, kam Marian in Begleitung eines hochgewachsenen jungen Mannes zu Catherine. Sie stellte ihn vor als jemanden, der den dringenden Wunsch hatte, die Bekanntschaft unserer Heldin zu machen und als einen Vetter von Arthur Townsend, ihrem Verlobten.

Marian Almond war ein hübsches Persönchen von siebzehn Jahren, mit einer sehr kleinen Figur und einer sehr großen Schärpe, zu deren Lebensart der Ehestand nichts mehr hinzufügen mußte. Sie hatte bereits ganz das Gebaren einer Dame des Hauses, die ihre Gäste empfängt, ihren Fächer schwenkt und sagt, daß sie bei so vielen Leuten, um die sie sich kümmern müsse, keine Zeit zum Tanzen habe. Sie sprach lang und breit über Mr.Townsends Vetter, dem sie einen Klaps mit dem Fächer verabreichte, ehe sie sich andern Obliegenheiten zuwandte. Catherine hatte nicht alles verstanden, was sie sagte. Ihre Aufmerksamkeit war ganz in Beschlag genommen durch ihre Bewunderung der Gewandtheit von Marians Verhalten und ihrer Einfälle und durch den Anblick des jungen Mannes, der bemerkenswert gut aussah. Es gelang ihr jedoch, was ihr sonst so oft nicht geglückt war, wenn ihr andere vorgestellt wurden: Sie |30|hatte seinen Namen mitbekommen, der offensichtlich derselbe war wie von Marians kleinem Börsenmakler. Catherine war beim Vorstellen immer aufgeregt; für sie war es ein schwieriger Moment, und sie wunderte sich, daß manche Leute– zum Beispiel eben jetzt ihr neuer Bekannter– ihn für so belanglos hielten. Sie fragte sich, was sie sagen sollte und was es für Folgen hätte, wenn sie nichts sagte. Momentan waren die Folgen sehr angenehm. Mr.Townsend, der ihr keine Zeit zur Verlegenheit ließ, begann ungezwungen lächelnd mit ihr zu plaudern, als kenne er sie schon ein Jahr lang.

»Was für eine reizende Gesellschaft! Welch bezauberndes Haus! Was für eine interessante Familie! Welch hübsches Mädchen Ihre Kusine ist!«

Auch wenn diese Bemerkungen nicht sonderlich tiefgründig waren, so schien sie Mr.Townsend als nette Unverbindlichkeiten vorzubringen und als Tribut an eine neue Bekanntschaft. Er blickte Catherine direkt in die Augen. Sie erwiderte nichts; sie hörte lediglich zu und sah ihn an. Und er, als erwarte er keine bestimmte Antwort, fuhr fort, ihr alles mögliche andere in derselben lässigen und natürlichen Art zu sagen. Auch wenn Catherine den Mund nicht aufbrachte, spürte sie doch keine Verlegenheit. Es schien ihr angebracht, daß er redete und sie ihn einfach ansah. Was das so selbstverständlich machte, war, daß er so gut aussah oder vielmehr, wie sie es für sich ausdrückte, so wunderschön war. Die Musik hatte eine Weile geschwiegen, setzte aber plötzlich wieder ein. Daraufhin fragte er sie mit einem innigeren, ausgeprägteren Lächeln, ob sie ihm die Ehre gebe, mit ihm zu tanzen. Selbst auf diese Frage gab sie keine vernehmliche Zustimmung. Sie ließ ihn lediglich seinen Arm um ihre Taille legen– als sie das tat, |31|hatte sie lebhafter denn je den Eindruck, daß dies ein bemerkenswerter Platz für den Arm eines Herrn sei–, und unverzüglich führte er sie im harmonischen Wechsel einer Polka im Saal umher. Als sie innehielten, fühlte sie, daß sie errötet war. Daraufhin unterließ sie es für einige Augenblicke, ihn anzusehen. Sie fächelte sich Luft zu und besah sich die Blumen, die auf ihren Fächer gemalt waren. Er fragte sie, ob sie wieder tanzen wolle, und sie zögerte mit der Antwort und blickte immer noch auf die Blumen.

»Macht es Sie schwindlig?« fragte er sie in einem Ton großer Liebenswürdigkeit. Da sah Catherine zu ihm auf. Er war wirklich wunderschön und ganz und gar nicht rot. »Ja«, sagte sie, und sie wußte kaum warum; denn Tanzen hatte sie noch nie schwindlig gemacht.

»Nun gut«, sagte Mr.Townsend, »dann setzen wir uns ruhig hin und plaudern. Ich werde gleich ein gutes Plätzchen dafür finden.«

Er fand ein gutes Plätzchen– ein reizendes Plätzchen, ein kleines Sofa, das wie geschaffen schien für zwei Personen allein. Inzwischen waren die Räume voller Menschen; die Zahl der Tänzer nahm zu, und unmittelbar vor ihnen standen Leute, die ihnen den Rücken zukehrten, so daß Catherine und ihr Begleiter abgeschirmt und unbeobachtet schienen. »Wir wollen plaudern«, hatte der junge Mann gesagt, aber nach wie vor bestritt er die gesamte Unterhaltung. Catherine lehnte sich auf ihrem Platz zurück, die Augen auf ihn gerichtet, lächelte und hielt ihn für ungemein klug. Er hatte Gesichtszüge wie junge Männer auf Bildern. Catherine hatte noch nie solche Züge– so fein, so vollkommen und wie gemeißelt– bei den jungen New Yorkern gesehen, denen sie auf der Straße begegnete und die sie bei Tanzveranstaltungen |32|traf. Er war groß und schlank, sah aber ungemein kräftig aus. Catherine fand, er sehe aus wie eine Statue. Doch eine Statue würde nicht so plaudern und hätte vor allem nicht Augen von so ungewöhnlicher Farbe. Er war noch nie bei Mrs.Almond gewesen und kam sich wie ein Fremder vor. So war es äußerst liebenswürdig von Catherine, sich seiner anzunehmen. Er war Arthur Townsends Vetter– kein sehr naher, ein ziemlich entfernter– und Arthur hatte ihn mitgebracht, um ihn der Familie vorzustellen. Tatsächlich war er in New York vollkommen fremd. Es war zwar sein Geburtsort, aber er war seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Er hatte sich in der Welt herumgetrieben und in weit entfernten Ländern gelebt; erst vor ein, zwei Monaten war er zurückgekehrt. New York war sehr angenehm, nur fühlte er sich einsam.

»Sehen Sie, die Leute vergessen einen«, sagte er und lächelte Catherine mit seinem bezaubernden Blick an, während er sich schräg vorwärts neigte und sich ihr zuwandte, die Ellbogen auf seine Knie gestützt.

Catherine schien es, daß ihn keiner, der ihn einmal gesehen hatte, jemals wieder vergessen könnte. Aber obgleich ihr dieser Gedanke kam, behielt sie ihn doch für sich, wie man etwas Kostbares bewahrt.

So blieben sie eine geraume Zeit sitzen. Er war sehr unterhaltsam und fragte sie nach den Leuten, die in ihrer Nähe standen. Als er versuchte zu erraten, wer einige von ihnen seien, geriet er dabei in die komischsten Irrtümer. Er kritisierte die Leute sehr freimütig in einer selbstbewußten, spontanen Art. Catherine hatte noch niemals jemanden– und schon gleich nicht einen jungen Mann– so reden hören. In dieser Art mochte vielleicht ein junger Mann in einem Roman sprechen |33|oder, noch besser, in einem Schauspiel, auf der Bühne, unmittelbar an der Rampe, den Blick zum Publikum gewandt und den Blick aller auf sich gerichtet, so daß man über seine Geistesgegenwart staunte. Und doch war Mr.Townsend nicht wie ein Schauspieler; er wirkte so echt, so natürlich. Das war äußerst interessant. Aber mitten hinein platzte Marian Almond, die sich durch die Menge drängte mit einem kleinen ironischen Ausruf, als sie die jungen Leute noch immer zusammen fand, was jedermann veranlaßte, sich umzudrehen und Catherine ein merkliches Erröten kostete. Marian unterbrach ihr Geplauder und bestellte Mr.Townsend– den sie behandelte, als wäre sie bereits verheiratet und er ihr Vetter geworden–, er möge eiligst zu ihrer Mutter kommen, die ihn schon seit einer halben Stunde Mr.Almond vorstellen wolle.

»Wir sehen uns wieder«, sagte er zu Catherine, als er sie verließ, und Catherine fand diese Wendung sehr originell.

Ihre Kusine nahm sie beim Arm und spazierte mit ihr umher. »Ich brauche dich nicht zu fragen, was du von Morris hältst«, rief das junge Mädchen.

»Ist das sein Name?«