weg - Beate Fuhrmann - E-Book

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Beate Fuhrmann

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Beschreibung

Beate Fuhrmann schreibt Kurzgeschichten rund um das Thema "weg". Dabei geht es wie erwartet um Verlust und Tod, um das Ende von Beziehungen und Freundschaften. Aber es sind nicht nur Menschen, die weg sind, sondern auch Dinge, Probleme oder Gefühle. Die Autorin lässt uns teilhaben an Veränderungsprozessen und den besonderen Momenten im Leben ihrer Figuren, spannt den Bogen von ganz tiefer Traurigkeit und Schwermut zu den höchsten Glücksgefühlen. Und auch wenn die Geschichten alle unabhängig voneinander sind, immer wieder neue Personen und Situationen auftauchen, so sind sie alle auf besondere Weise miteinander verknüpft und das nicht nur durch das gemeinsame große Thema "weg".

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Seitenzahl: 78

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Nein, es gibt keine Zufälle. Es geschehen immer genau die Dinge, die wir brauchen, um die Erfahrungen zu machen, an denen wir wachsen.

(Beate Fuhrmann)

Inhalt

Weg

Carola

So ist sie

Sonntagnachmittag

Mit Blick auf die Straße

Schmuckstück

Heimwegtelefon

In den Warenkorb

Das letzte Bild

Das Klavier

Blicke

Die Schreibblockade

Das Foto

Besuch bei Omi

Eine ungewöhnliche Freundschaft

Haus am See

Die Schlittschuhläuferin

Konfetti

In der Ferne hält ein Zug

weg

Er war weg. Die Erkenntnis traf mich ziemlich plötzlich und ich überlegte, wann ich ihn zuletzt gesehen hatte. Ich hatte gerade meinen Papiermüll in die blaue Tonne geleert und meinen Blick über den Innenhof schweifen lassen, das kleine rote Fahrrad registriert, das Jonas wieder einmal achtlos liegengelassen hatte, und die welken Blätter, die schmutzig und nass übriggeblieben waren; ich hatte hochgeschaut zu einem sehr grauen Himmel, der das Licht fernhielt, aber keinen Regen versprach, und während mein Blick die Fenster streifte, dachte ich unvermittelt: er ist weg. Und ich konnte nicht sagen, wann ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Eine ganze Weile schon nicht mehr. Nicht nur ein paar Tage. Wochen. Es waren Wochen. Sein Fenster lag im ersten Stock, es war geschlossen, eine nicht mehr ganz so weiße Gardine bedeckte die obere Hälfte der Scheibe. Also ist er nicht ausgezogen, dachte ich. Aber vielleicht doch? Gardinen kann man ja auch hängenlassen. Und ich hatte es nicht bemerkt? Ohne Abschied? Nein. Keine Blumen auf der Fensterbank. Er hatte keine Pflanzen, das wusste ich, und keine Haustiere. Also brauchte er auch niemanden, der in seiner Abwesenheit die Katze fütterte oder die Fische im Aquarium, keinen, der die Blumen goss. So konnte er einfach weg sein. Musste niemandem Bescheid sagen, niemandem seine Schlüssel geben. Wie lange hatte ich ihn nicht gesehen? Ich dachte an die große Gestalt mit dem wirren Haar. Selbst die lauten schwerfälligen Schritte im alten Treppenhaus hatte ich gar nicht vermisst. Wo konnte er denn sein? In Urlaub? Ich erinnere mich nicht, ob er jemals in Urlaub gefahren war. Gesprochen hatten wir jedenfalls nicht darüber. Dafür war er auch schon zu lange weg, dachte ich, aber wer weiß? Es gibt Menschen, die verbringen die Wintermonate irgendwo im Süden, vielleicht hatte er beschlossen, dass er diesen grauen Winterhimmel hier satthatte, die Kälte, diese nasskalten Tage, die trostlosen kahlen Äste, die wie unordentliche Bleistiftstriche auf einem Blatt Papier den Himmel durchkreuzten, wenn man hochschaute. Ich schaute nicht gerne hoch. Hätte mir Schneemomente gewünscht, dicke weiße Flocken, die alles bedecken und alles verschlucken, vor allem den Lärm, hätte mir lachende Kinder mit dicken Mützen und roten Nasen gewünscht und Schneebälle, die durch die Luft fliegen. Stattdessen Nieselregen. Mürrische Gesichter zwischen den hochgeschlagenen Jackenkragen und unter den Regenschirmen. Nun, heute regnete es wenigstens nicht. Ob er einen Verwandtenbesuch machte? Hatte er Verwandte? Kinder, Geschwister? Ich überlegte. Hatten wir je darüber gesprochen? Wir hatten miteinander gesprochen, ja, aber nicht oft und nur Belangloses, nichts, das jetzt in meiner Erinnerung aufploppte. Verwandte? Ich wusste es nicht. Ich dachte an seine leise Stimme, erstaunlich leise für einen so großen stämmigen Mann, hatte ich immer wieder mal gedacht. Schon so lange lebten wir im selben Haus und ich wusste nichts vom ihm. Nein, ich wusste wirklich so gut wie nichts von ihm. Vielleicht ist er im Gefängnis, dachte ich plötzlich und erschrak über diesen Gedanken. Eine Geldstrafe vielleicht, die er nicht bezahlen kann, stattdessen dreißig Tage Haft. Waren es nicht schon mehr als dreißig Tage? Unsere letzte Begegnung, wann war sie gewesen? Ich dachte an seine starken Oberarme, an das Tattoo auf dem Unterarm. Vielleicht war er ja gar nicht so gutmütig, wie er auf mich immer wirkte. Vielleicht hatten diese Arme zugeschlagen, diese fleischigen Hände zu Fäusten geballt jemanden verletzt? Du spinnst, sagte eine innere Stimme. Verkehrsdelikt. Etwas geklaut. Dafür geht man nicht ins Gefängnis, sagte diese innere Stimme, diesmal verächtlich. Nein, ich wollte nicht daran denken, Drogen, Betrug, Verhaftung… Krankenhaus, fiel mir ein. Oh Gott, vielleicht war mein Nachbar im Krankenhaus und wir wussten es nicht. Auf der Straße zusammengebrochen, ein Autounfall? Er hatte gar kein Auto. Aber vielleicht war er angefahren worden? Der Gedanke ließ mich nicht mehr los. Krank, verletzt, und keiner, der ihn besuchte, Blumen auf das Tischchen stellte, neben seinem Bett. Wie konnte ich herausfinden, ob mein Nachbar im Krankenhaus war? Sollte ich alle Krankenhäuser anrufen? Und dann? Würden sie mir überhaupt Auskunft geben? Sollte ich mich an die Hausverwaltung wenden? Sollte ich ihn nicht bei der Polizei als vermisst melden? Aber ich war ja nur eine Nachbarin.

Ich dachte an ihn, wenn ich morgens aus dem Haus ging und abends, wenn ich zurückkam. Wenn ich über den Hof ging, sah ich, dass sein Fenster nicht erleuchtet war, und warum war mir das in den letzten Wochen nicht aufgefallen? Ich dachte von nun an ständig an ihn. Beobachtete sein Fenster, das immer geschlossen blieb und abends dunkel; ich hoffte, ihm am Briefkasten zu begegnen, hallo, ja, wir haben uns ja wirklich lange nicht gesehen! Ich lauschte, wenn ich Schritte im Treppenhaus hörte, ob es seine waren, seine schweren Schritte auf den alten Holzstufen. Ich fragte auch die anderen Hausbewohner. Keiner wusste, wo er war. Und keiner erinnerte sich genau, wann man ihn zuletzt gesehen hatte. Mir war kalt bei dem Gedanken an ihn. Vielleicht liegt er tot in der Wohnung, dachte ich ein paar Tage später und war furchtbar erschrocken. Dass ich daran noch nicht gedachte hatte! Man würde es riechen, oder? Ich ging tatsächlich ganz nah an seine Wohnungstür und schämte mich dabei und mir war schlecht – vor Angst. Kein merkwürdiger Geruch. Doch erleichtert war ich nicht. Ich dachte an sein warmes Lächeln, seine ruhige Art, seine graue Lockenmähne. Ich vermisste ihn. Es war merkwürdig, erst hatte ich es ewig nicht bemerkt, dass er weg war, und jetzt dachte ich dauernd an ihn. Als ich eines Morgens eilig die Treppe hinunterlief und er plötzlich vor mir stand, erschrak ich zutiefst. Da war er! Er trug einen kleinen schwarzen Koffer in der Hand und einen grauen Schal um den Hals und auch sein Gesicht wirkte grau. Und müde. Ich blieb stehen und starrte ihn an. Ich war so überrascht, dass ich keine Worte fand. Nein, in Urlaub war er sicher nicht gewesen. Eher Gefängnis oder Krankenhaus und bei den Gedanken schämte ich mich wieder. Wie geht es Ihnen, hörte ich ihn fragen. Ich sagte gut, und dass ich ihn ja lange nicht gesehen hätte und mir schon Sorgen gemacht hätte, es sprudelte jetzt nur so aus mir heraus, von Gefängnis sagte ich natürlich nichts. Ein Unfall, ja, sagte er da. Mit leiser Stimme. Meine Tochter hatte einen Unfall. Ich bin zu ihr gefahren, sofort. Sie lag im Koma. Ich war bei ihr, bis sie endlich wieder aufwachte. Seine Stimme versagte. Er räusperte sich. Sagte nichts mehr. Ich auch nicht. Ich hatte keine Worte. Ich sah, dass der große müde Mann Tränen in den Augen hatte, als er ohne ein weiteres Wort mit schweren Schritten an mir vorbei die Treppe hochging.

Carola

Er hasste Krankenhäuser. Und jetzt saß er hier, auf dem viel zu kleinen Stuhl neben ihrem Bett und starrte abwechselnd auf die weiße Wand und ihr weißes Gesicht auf dem weißen Kopfkissen, rutschte unruhig hin und her, konnte nicht glauben, dass sie es war, die dort lag, regungslos, stumm, schwer verletzt.

Als der Anruf kam, war er sofort aufgebrochen. Verwirrt und aufgeregt und voller Angst hatte er schnell ein paar Sachen in seinen kleinen schwarzen Koffer geworfen, den Mantel übergezogen und den grauen Schal um den Hals gehängt. Es gab niemanden, dem er Bescheid sagen musste, denn er hatte keine Haustiere, die gefüttert werden mussten und auch keine Pflanzen, die vertrocknen könnten in seiner Abwesenheit. Niemanden hatte er getroffen, als er die Wohnung, das Haus verließ und die Straßenbahn zum Bahnhof nahm. Jetzt stand er auf und ging mit schweren Schritten langsam zum Fenster, blickte eine Weile in die Ferne ohne wirklich etwas zu sehen, dann ging er zurück zum Bett, setzte sich wieder auf den Stuhl, der viel zu klein war für einen Mann seiner Größe und betrachte sie. Überall Schläuche, ein Monitor piepste regelmäßig, sie hatte die Augen geschlossen, ein hässliches weißes Pflaster klebte auf ihrer Stirn, es war in der Mitte rot von Blut. Rote Striche verzierten ihre blassen Wangen, es waren Schnitte von den Glassplittern, er wandte den Blick ab, er konnte es nicht länger ertragen. Eine Schwester betrat das Zimmer, kontrollierte die Patientin, hängte eine neue Infusion an, dann sah sie ihn an und sagte mit leiser, freundlicher Stimme auf Französisch zu ihm: „Sie sehen sehr müde aus, wollen Sie sich nicht etwas ausruhen? Wir werden Sie sofort informieren, wenn sich etwas an ihrem Zustand verändert, ganz bestimmt.“ Er sah sie an, mit trübem Blick und er wusste, sie hatte recht, langsam nickte er, dann richtete er sich auf. Worte hatte er keine, erst recht keine französischen, er fühlte sich seltsam leer, sein Hals fühlte sich kratzig an, er räusperte sich, aber das änderte nichts.