Weltfrieden - Lucia Jay von Seldeneck - E-Book

Weltfrieden E-Book

Lucia Jay von Seldeneck

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Beschreibung

Als der ehemalige Betriebskindergarten gut zehn Jahre nach der Wende verkauft werden soll, weckt das den verloren geglaubten Gemeinschaftsgeist in der alten Belegschaft - und völlig unvermittelt ergibt sich eine Chance, den Lauf der Dinge zu ändern. Nach der Abwicklung des Brandenburger Chemiewerks im Jahr 1994 sind Erika und ihr Mann Mitte 50 und schlagartig arbeitslos. Ihre Tochter kehrt ihnen den Rücken und zieht nach Berlin. Doch als immer mehr Berliner den See vor ihrer Stadt zur Wochenendzone erklären und Golfplätze und Luxus-Villen bauen, bekommt das Ehepaar wieder Boden unter die Füße. Erika und ihr Mann werden unersetzbar: Sie putzen die Ferienhäuser, kümmern sich um Gärten, Bootshäuser und verstopfte Regenrinnen. Als sie den Garten des ehemaligen Betriebskindergartens "Weltfrieden" entrümpeln sollen, stoßen sie auf Fundstücke, die beweisen, dass der Treuhandabwickler sich mit dem Verkauf des Werks selbst bereichert hat. Nun, Jahre später, soll erneut viel Geld fließen. Noch während sie überlegen, ob sie in Aktion treten sollen, wird ihnen die Entscheidung auf unerwartete Weise abgenommen. Weltfrieden ist eine unterhaltsame wie skurrile Anti-Heldengeschichte. Eine Erzählung von den Verwicklungen der Treuhand sowie eine Ode an die Freundschaft - und die Narrenfreiheit in der zweiten Lebenshälfte. Das gleichnamige Hörbuch erscheint bei GOYALiT

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Lucia Jay von Seldeneck

Weltfrieden

Roman

Das Buch

Als der ehemalige Betriebskindergarten gut zehn Jahre nach der Wende verkauft werden soll, weckt das den verloren geglaubten Gemeinschaftsgeist in der alten Belegschaft – und völlig unvermittelt ergibt sich eine Chance, den Lauf der Dinge zu ändern.

Nach der Abwicklung des Brandenburger Chemiewerks sind Erika und ihr Mann Mitte fünfzig und schlagartig arbeitslos. Ihre Tochter kehrt ihnen den Rücken und zieht nach Berlin. Doch als immer mehr Berliner den See vor ihrer Stadt zur Wochenendzone erklären und Golfplätze und Luxusvillen bauen, bekommt das Ehepaar wieder Boden unter die Füße. Erika und ihr Mann werden unersetzbar: Sie putzen die Ferienhäuser, kümmern sich um Gärten, Bootshäuser und verstopfte Regenrinnen.

Als sie das Grundstück des Betriebskindergartens »Weltfrieden« entrümpeln sollen, stoßen sie auf Fundstücke, die beweisen, dass der Treuhandabwickler sich mit dem Verkauf des Werks selbst bereichert hat. Gut zehn Jahre nach der Wende soll erneut viel Geld fließen. Noch während sie überlegen, ob und wie sie einen Weiterverkauf abwenden können, wird ihnen die Entscheidung auf überraschende Weise abgenommen.

Weltfrieden ist eine so unterhaltsame wie skurrile Anti-Heldengeschichte. Eine Erzählung von den Verwicklungen der Treuhand sowie eine Ode an die Freundschaft – und die Narrenfreiheit in der zweiten Lebenshälfte.

 

© Franziska Jay von Seldeneck

 

Die Autorin

Als Kind dachte Lucia Jay von Seldeneck (*1977 in Westberlin) lange Zeit, dass das Land hinter dem Grenzübergang unbewohnt sein muss. Später wurde das Neuland vor der Stadt zu einer Verheißung: Eine nie da gewesene Weite ließ sie zuweilen das Gefühl verspüren, die große Welt zu erobern. Als sie dann bei einer märkischen Zeitung ihr Volontariat machte und die Geschichten der Menschen hörte, merkte sie zum ersten Mal, dass sie einiges nachzuholen hatte.

Von Lucia Jay von Seldeneck sind bisher fünf Berlin-Bücher in der Reihe 111 Orte beim Emons-Verlag erschienen sowie drei Bücher mit Kurzgeschichten beim Kunstanstifter Verlag. Weltfrieden ist ihr erster Roman.

 

 

 

schluß mit den klagen

aus ist der traum

runter vom wagen

und rauf aufn baum

fernseher aus sternschnuppen an

rein in die frau und raus ausm mann

rein ins vergnügen und raus ausm krieg

zurück in die höhle dahinten ist licht

aber alle oder keiner

(Gerhard Gundermann aus alle oder keiner)

Oktober 2001

1. Das Haus des Königs

Erika betrachtete die Wiese und war zufrieden. Bis zum Seeufer war vom Herbstlaub der alten Eichen nichts mehr zu sehen, und vor dem Gartentor standen sieben prall gefüllte dunkelgraue Plastiksäcke, fest verschnürt, damit die Blätter nicht wieder entweichen konnten. Picobello. Und die Oktobersonne setzte noch eins drauf und brachte einen Wasserstreifen in der Mitte des Sees zum Leuchten, so wie der See nur im Herbst leuchten konnte, aufgewärmt und satt nach einem langen Sommer.

Wie jeden Donnerstag waren Erika und Hermann Grüning von neun bis zwölf Uhr beim König gewesen. Der König hieß eigentlich Günther Gräber und kam aus Berlin. Dort veranstaltete er Konzerte mit klassischer Musik. Genauer hatte er sich dazu nie geäußert. Er war vor fünf Jahren der Erste gewesen, der hier am Ufer des Groß Rietzener Sees ein Haus baute – ein weißes, lang gezogenes und, wie Erika fand, elegantes Haus mit einer ausladenden Terrasse.

Früher hatten dort am Rietzener Horn, wo jetzt das Haus des Königs stand, die russischen Offiziere im immer verrauchten »See-Quell« gezockt. Einen Teil der alten Gaststätte hatte der König stehen gelassen. Er nutzte ihn als Geräteschuppen. Und unter dem Schuppen befand sich der Eiskeller, gemauert aus behauenen Findlingen. Diesen Keller zeigte der König seinen Gästen besonders gern. Und auch den Grünings hatte er bei ihrem ersten Rundgang stolz erklärt: »Das ist der Beweis, dass dieser Ort schon vor hundert Jahren ein beliebtes Ziel für Berliner Ausflügler war. Das Bier wurde im Steinkeller mit Eisschollen aus dem See kühl gehalten. Den ganzen Sommer lang!«

Und wieder oben auf der Terrasse gab es noch eine Zugabe: »So einen 180-Grad-Panoramablick über das Wasser, den gibt es nicht noch einmal, den hat kein einziges Schloss in ganz Brandenburg. Wenn Friedrich der Große das hier gesehen hätte«, es folgte eine ausladende Geste über den See, »dann würde Sanssouci nicht in Potsdam stehen, sondern genau hier!«

Seitdem nannten sie ihn den König.

Sie waren nun schon seit vier Jahren für Garten und Haus des Königs zuständig – und sie hatten bald gemerkt, dass sie ganz gut zueinanderpassten. Der König liebte Ordnung und vermied persönliche Gespräche, genau wie die Grünings.

Sie waren spät dran wegen der vielen Blätter. Als Hermann die Rechen im Schuppen verstaut hatte, trat Herr Gräber noch einmal aus dem Haus.

»Frau Grüning!« Mit kleinen, vorsichtigen Schritten kam der König über den Weg auf sie zu. Seine grauen Haarsträhnen stellten sich im Wind in alle Richtungen auf, und sein gezopfter dunkelblauer Wollpullover schlackerte an seinem Körper. Anerkennend blickte er kurz über den perfekt geharkten Rasen.

Erika fragte sich wieder einmal, ob er vielleicht krank war. Er war dünner geworden. Aber wie um ihre Gedanken wegzuscheuchen, zündete sich Herr Gräber, als er über die Steinplatten bei ihr angekommen war, einen seiner kleinen Zigarillos an. Dann sagte er, wie immer höflich und mit leiser Stimme: »Ich habe versprochen, Sie beide einmal zu fragen.« Er drückte sich oft sehr umständlich aus. Umso überraschter war Erika, als der König ziemlich direkt zur Sache kam: »Hätten Sie, nun ja, hätten Sie eventuell noch die Zeit, sich um ein weiteres, nun ja, Haus zu kümmern?«

Er sagte nie »putzen«. Er vermied das Wort, weil er sie nicht despektierlich behandeln wollte. Er sagte »reinemachen« oder »klar Schiff machen«, aber meistens: »für Ordnung sorgen«. Ordnung bedeutete ihm alles. Der König hatte dem Ehepaar Grüning in den letzten Jahren zuerst sehr zögerlich, dann aber Stück für Stück seine Ordnung anvertraut.

»Es geht um das Nachbargrundstück.« Herr Gräber zündete sich den Zigarillo wieder an, der zwischenzeitlich ausgegangen war, und wies auf das Grundstück, das völlig verwildert war. Unzählige Bäume und Büsche hatten sich dort breitgemacht und formten ein wildes und undurchsichtiges Gebirge. Darunter mussten sich große Höhlen befinden, in die das Tageslicht nur schwer eindrang. Umso mehr, als das Ganze auch von zahlreichen Kletterpflanzen überwuchert war, unter anderem von wildem Wein. Dieser leuchtete jetzt in der Oktobersonne mit einem prachtvollen, herbstlichen Rot.

Dass dort ein Haus stand, konnte man beim besten Willen nicht erkennen. Aber die Grünings kannten es. Sie kannten jedes Haus am Seeufer. Sie wussten, wer früher in den Häusern gelebt hatte und unter welchen Umständen sie die Besitzer gewechselt hatten – und heute putzten sie sie. Alle bis auf dieses Haus. Es war das letzte an der Straße, die vom Dorf Wolzow immer am Seeufer entlang zu den einzelnen Grundstücken führte und erst an dem großen Stahltor endete, am ehemaligen Werksgelände. Auf dem Stahlblechschild am rechten Pfeiler stand in schon ziemlich verblasster Schrift: VEB Fermentationswerke Königswerder-West. Daneben hing ein neues gelbes Plastikschild: Betreten verboten.

Auf der einen Seite neben dem Tor war die Mauer eingerissen und ein Trampelpfad führte darum herum. Dort hatte der Wald in den letzten Jahren fast das ganze Gelände zurückerobert. Er war sozusagen im Begriff, sich einfach über die weitläufigen Produktions-, Verwaltungs- und Garagengebäude drüberzustülpen, sie restlos zu verschlingen. Und sein Hunger war noch nicht gestillt. Er hatte bereits die Werksmauer überwunden und war bis zum ersten Haus vorgedrungen, dem Nachbarhaus des Königs, wo jetzt der wilde Wein herrschte. Er hatte bereits die hohen Kiefern erklommen und ließ aus den Kronen der Bäume seine Ranken hin- und herwehen.

»Doch nicht etwa …?«, begann Erika zögerlich. Sie war sich nicht sicher, ob sie richtig verstanden hatte.

»Doch ja, es geht um den alten Betriebskindergarten, hier hinter dem Zaun. Das Gebäude wird natürlich abgerissen, dieser, nun ja, Flachbau mit dem Pappdach ist ja völlig verkommen … Der König machte eine eindeutige Bewegung: »Das hat mir der Eigentümer versichert, der hier vor ein paar Tagen vorbeigekommen ist.« Der König musste husten. Alle drei warteten bis es vorbei war. »Es ist ein Geschäftsmann aus Potsdam, und er heißt …« Der König schaute auf die Visitenkarte, die er wegen der fehlenden Brille ziemlich weit weghalten musste, und sagte noch leiser als sonst: »Behrends … Sascha Behrends. Und dieser Herr Behrends …« Der König sagte es so leise, dass Erika und Hermann es wirklich kaum noch verstanden: »… möchte verkaufen.«

Er setzte mit wieder etwas lauterer Stimme hinzu: »Es ist ja trotz allem ein Wassergrundstück mit Seezugang. Und jetzt sollte es eben etwas, nun ja, etwas freigelegt werden. Ich habe versprochen, dass ich Sie einmal frage«, erklärte der König weiter in vertraulichem Ton. »Und es würde ja bestimmt nicht schaden, wenn Sie dort drüben einmal, nun ja, einmal etwas Hand anlegen.«

Er lächelte. Man konnte ihm anmerken, dass er es begrüßen würde, wenn das Vorrücken des Waldes in Richtung seiner eigenen Grundstücksgrenze beendet würde. »Ich schätze eine natürliche Uferzone«, beteuerte er. »Das wissen Sie ja. Aber das mit den Ruinen, das geht etwas zu weit. Ein Schandfleck. Zehn Jahre nach dem Mauerfall muss das nun wirklich nicht mehr sein. Das lockt doch die falschen …« Wieder musste er husten und erholte sich nur langsam von dem Anfall. Erika und Hermann standen etwas hilflos daneben und warteten, bis er weitersprechen konnte.

Der König wandte sich wieder zu ihnen: »Es geht also wie gesagt darum, die, nun ja, Spuren der Vergangenheit aus dem Haus zu entfernen und das Grundstück einigermaßen begehbar zu machen.« Er drückte den Zigarillo in seinem silbernen Hand-Aschenbecher aus, schraubte den Deckel zu und ließ die kleine runde Dose wieder in seiner Hosentasche verschwinden.

»Ich hoffe überhaupt, dass sich im kommenden Frühjahr hier einiges verändert«, sagte er schnell. »Das alte Tor sollte schon längst zurückgebaut worden sein, und wer weiß, was hier dann auf dem Gelände entstehen kann. Das wird sich noch zeigen …«

Hermann nestelte etwas umständlich an seinen Jackenärmeln herum, die natürlich, wie immer bei Hermann, viel zu kurz waren. Hermann war einfach zu groß für alle Konfektionsgrößen. »Zu lange Knochen«, sagte er immer. Seine großen Hände baumelten weit unterhalb der Jacke wie Fremdkörper. Auch seine Fußknöchel guckten unter den Hosenbeinen heraus. Langer – so hieß er schon in der Armee, und so nannten ihn seine Freunde und früheren Kollegen.

»Wir könnten mal im Kalender nachsehen«, sagte er schließlich zögernd und kratzte sich unter seiner Wollmütze. Erika und Hermann sahen sich an. Sie wussten nicht, was sie noch hätten sagen können. Schließlich nahm Erika ihr Handy aus der Tasche und erschrak. Sie waren viel zu spät dran. Und Frau Cramer hasste nichts mehr als Zuspätkommen.

 

Hermann drückte aufs Gas. Sie überholten ein Auto mit Berliner Kennzeichen. Er war stolz auf seinen blauen Barkas. Er würde ihn nie gegen ein West-Auto eintauschen. Man konnte sich Hermann ohne seinen Barkas gar nicht vorstellen. Seinen ersten bekam er, als er Leiter des Instandhaltungsbetriebs im VEB geworden war. Dort war er verantwortlich für alle Anlagen, die nicht direkt mit der Fermentation zu tun hatten, also für Verwaltungsgebäude, Wohnheim, Heizkraftwerk und Kindergarten. »Der Lange ist um die Häuser« hieß es damals, wenn man ihn suchte. Später hatte er sich für die Ferienhäuser am See wieder einen Barkas besorgt, diesmal mit Pritsche.

Sie fuhren zu Frau Cramer. Auf der schmalen Seitenstraße, die durch den Wald führte, versperrte ein neuer weißer Lieferwagen den Weg. Baumschnitt. Einige bekannte Gesichter, jetzt in orangefarbenen Westen, fuhrwerkten mit langstieligen Schneidegeräten am Straßenrand. Vorsichtig manövrierte Hermann den Barkas an dem weißen Wagen der Straßenbaubehörde vorbei. Nur wenige Millimeter trennten den blauen und den weißen Lack. Ein Kopfnicken auf Augenhöhe, und sie fuhren weiter.

»Es gibt ihn also noch«, brach Hermann das Schweigen.

»Und ihm gehört der Kindergarten«, stellte Erika fest. Jeden Morgen hatten sie ihre Tochter Heike am Tor des Kindergartens abgeliefert.

»All die Jahre …«, sinnierte Hermann. Er räusperte sich und stellte fest: »Und jetzt will er ihn verscherbeln.«

Erika rutschte auf dem Sitz hin und her. Schließlich sagte sie: »Ich bin dagegen.«

Der Kindergarten war eine Geschichte aus der alten Zeit. Damit hatten sie längst abgeschlossen. Hermann nickte und blickte in die Ferne. »Und warum sollen wir das Grundstück überhaupt lichten, wenn dann am Ende doch die Bagger kommen und alles plattmachen?«

Erika gab ihm recht. »Der Kindergarten soll uns in Frieden lassen.« Das Thema war erledigt.

 

Der Barkas hielt vor der alten Seevilla. Erika beeilte sich auszusteigen. Sie holte ihr Fahrrad von der Pritsche und lehnte es an den Gartenzaun. Hermann startete den Zweitakter in Richtung Baumarkt, um noch ein Rinnenrohr für das Haus der Meineckes zu besorgen.

Durch die Bäume konnte Erika auf den See sehen: Da waren sie wieder. Wie immer waren sie lautlos aufgetaucht. Es mussten Hunderte sein. Unzählige sich bewegende schwarze Punkte. Aus dem Augenwinkel beobachtete sie die Kormorane, wie sie mit ihren Flügeln die Fische aufscheuchten. Sie waren nicht immer da gewesen, aber jetzt, so kam es Erika zumindest vor, sah man sie häufiger.

2. Das Haus von Frau Cramer

Erika stellte sich auf die Zehenspitzen und betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Sie hatte sich in den letzten zehn Jahren nicht allzu sehr verändert. Ein paar Falten mehr vielleicht, aber richtig alt sah sie eigentlich nicht aus. Sie strich über die kurzen braunen Locken. Es waren nicht ihre echten Haare, aber sie gaben viel »Wolle«, wie sie es nannte, und ließen sie etwas größer erscheinen, als sie in Wirklichkeit war. Das gefiel ihr. Sie schminkte sich nicht. Ob sie schön war oder nicht, das hatte sie eigentlich nie interessiert.

Als die Fermentationswerke Königswerder West (FKW) 1994 geschlossen wurden, war sie sechsundfünfzig und Hermann fünfundfünfzig Jahre alt. Sie war fast fertig gewesen mit ihrem Biologie-Fernstudium, das sie neben der Arbeit im Betrieb absolviert hatte. Sie hatte sich jung gefühlt, noch mal was anzufangen. Doch dann blieb plötzlich alles stehen. Während um sie herum alles immer schneller wurde, die Autos, die Supermärkte, die Versicherungen, die Auslandsreisen – alles raste an ihr vorbei, irgendwo in weiter Entfernung, sie hörte davon, kam aber nicht mehr vom Fleck.

Sie blickte sich fest in die Augen, während ihre Hand mechanisch die herunterlaufenden Tröpfchen Glasreiniger über der Spiegelfläche verteilte. Ihr Gesicht verschwamm, verzerrte sich und tauchte dann fleckenweise wieder auf. Die Erinnerungen, die heute Vormittag mit dem Kindergarten aufgetaucht waren, hatten sie durcheinandergebracht. Sogar etwas mehr, als sie zugeben wollte. Und mit den Erinnerungen war auch wieder etwas von damals zu spüren, etwas, womit sie nicht mehr gerechnet hatte: die Angst die der Ohnmacht. War das alles doch noch nicht vorbei? Sie griff nach dem Handy in ihrer Hosentasche. Die glatten Rundungen in der Hand zu halten, beruhigte sie jedes Mal. Sanft fuhr sie über die Tasten und drückte die nachgiebigen Felder leicht ein. Das Handy gab ihr ein gutes Gefühl, ein Gefühl von Halt und Verlässlichkeit, so, wie es nur technische Geräte vermitteln können. Sie achtete jeden Morgen darauf, dass die Batterie voll aufgeladen war.

Als sie eine halbe Stunde später in dem etwas düsteren Gästezimmer von Frau Cramer stand und die Bettwäsche bügelte, dachte sie nach. Bedächtig führte sie das Bügeleisen über den Stoff. Das Bügelbrett gab die Bahn vor. Es war, als ob das Bügeleisen ihre rechte Hand führte und den Bettbezug wie von selbst nach links über das Brett schob. Sie spürte es richtig körperlich, wie das schrumpelige, faltige Bettzeug glatt und glänzend wurde.

 

Sie versuchte sich vorzustellen, wie es wohl im Innern des überwucherten Hauses aussehen mochte. Sie hatte den Speisesaal noch gut vor Augen, dazu ihre Tochter Heike und die anderen Kinder, die durch den Garten hinterm Haus in Richtung See rannten. Aber das war Jahre her. Bereits kurz nach der Wende wurde der Kindergarten geschlossen. Wer noch kleine Kinder hatte, musste sie nun anderswo unterbringen. Die nicht betriebsnotwendigen Einrichtungen müssten zurückstecken, hieß es. Am Ende der Straße vor dem Kindergarten parkten bald darauf die großen West-Autos, auch der rote BMW von Sascha, den sie jetzt »Herr Behrends« nennen sollten. Sascha hatte im Speisesaal eine Art Büro eingerichtet. Eine Zeit lang wurde der Kindergarten sogar als Wohnung benutzt. Ein Kollege von Sascha war für alle möglichen Türschlösser und Schließanlagen zuständig. Hermann hatte sich noch bemüht, die alten, funktionstauglichen Schlösser zu erhalten, um weiterhin den Überblick zu behalten. Aber es hatte nichts gebracht. Die Schlösser wurden alle ausgetauscht.

Am schlimmsten aber waren die Nächte. Im Speisesaal wurde gefeiert, oft mit lauter Musik, manchmal jede Nacht. Alle kriegten das mit. Nur dass den Kollegen damals nicht nach Feiern zumute war. Sie mussten zusehen, dass sie nicht untergingen.

 

Erika drückte auf den Dampfknopf. Es zischte laut auf. Das tat irgendwie gut. Sie drückte noch mal. Und noch ein drittes Mal. Schließlich war das jetzt schon fast sieben Jahre her. Und seit immer mehr Berliner die Region rund um den See zur Ferien- und Wochenendzone erklärten und hintereinander Ferienhäuser Golfplätze und Hotels bauten, gab es ja auch wieder Arbeit.

»Ihr habt euch was aufgebaut«, hatte Martina einmal gesagt, »Ihr seid eure eigenen Chefs. Für mich kam das nicht infrage, ich musste sofort was anderes finden. Egal was. Ich wär sonst durchgedreht. Aber auf der Stelle!«

Martina war ihre Nachbarin und damals in den FKW war sie Leiterin der Produktionsabteilung. Sie hatte ein etwas schiefes Gesicht. Die linke Gesichtshälfte hing einfach ein bisschen weiter unten. Das irritierte etwas, und gleichzeitig ließ es einen nur schwer wieder los. So als ob die linke Gesichtshälfte einen festhalten wollte.

Martina redete viel. Eigentlich ununterbrochen. Sie schnatterte. Martina denkt laut, nannte Hermann das. Und Erika war ihr oft genug dankbar dafür.

»Das Beste daran: Ihr seid niemandem Rechenschaft schuldig. Ihr putzt, wie es passt – und wenn es euch mal irgendwo nicht passt – dann könn’ die euch, schwups, den Buckel runterrutschen!« Und sie hatte recht. Sie waren frei. Sie bekamen das Arbeitslosengeld, das bei ihnen schon Altersübergangsgeld hieß, also nur noch eine Überbrückung zur Rente war und mit anderen Worten so viel hieß wie: Da kommt nichts mehr. »A wie Abstellgleis«, nannte das Martina.

Aber mit den Wochenendhäusern konnten sie jetzt doch etwas dazuverdienen. Und Heike in Berlin unterstützen. Die dreihundert Mark, die sie ihrer Tochter monatlich überwiesen, waren Erika wichtig. Auch wenn das Geld momentan ihre einzige Verbindung war. Es war der Faden, den sie nicht abreißen lassen wollte. Heike hatte das Geld nie eingefordert, aber Erika wusste, sie konnte es brauchen, jetzt, wo Paula da war, das Kind ihres Kindes, schoss es Erika durch den Kopf, ihre Enkeltochter.

Martina arbeitete jetzt in der Kreisstadt in der Verwaltung. Im Meldeamt war nicht viel los. Abmelden musste man sich schließlich nicht, wenn man wegzog. Zuzüge waren selten. »Außer natürlich: Ich verpfeif euch. Dann wär Schluss mit der Ferienhaus-Kaffeekasse!« Martina war ein geborenes Streithuhn. »Würd ick natürlich nie machen, wissta ja.«

Martina liebte es, zu piksen und zu piesacken. Sie konnte nicht anders, und dann lenkte sie wieder ein. Vielleicht wollte sie nur deshalb ein bisschen sticheln und triezen, um gleich wieder alle umarmen zu dürfen. Denn sie war eine treue Seele wie keine Zweite. Und sie hatte ein Faible für Frisuren. Es konnte nicht strähnig und fransig und farbig genug sein. Sie wechselte alles durch, nach Lust und Laune.

Martina war Wissenschaftlerin durch und durch. Als ausgebildete Biochemikerin konnte sie jeden überzeugen, dass alles Chemie ist. Dabei war sie das Gegenteil von jedem Wissenschaftler-Klischee: Sie war lebendig und laut, spritzig und warmherzig. Und sie nahm es mit allem und jedem auf. Nach der Wende war sie in die Pfalz gezogen und arbeitete in der Forschungsabteilung eines großen Pharmaunternehmens. Aber als sie nach drei Jahren wiederkam, war sie wie ausgewechselt.

»Nich’ ein’ Tag länger hätt ich’s dort ausgehalten«, sagte sie ernst. Ihre linke Gesichtshälfte sackte jedes Mal ab bei der Erinnerung daran. Vielleicht das Alleinsein, ging es Erika durch den Kopf. Ganz neu irgendwo ankommen – ihr selbst graute es schon bei dem Gedanken daran. Aber wenn man Martina fragte, dann kürzte die immer bloß schnell ab: »Is doch jut, dass ick heile wieder zurück bin.« Wenn es emotional wurde, konnte Martina ihren Dialekt nur schwer unterdrücken.

 

Erika räumte die Wäsche in den Schrank. Frau Cramer lebte inzwischen das ganze Jahr über in der Seevilla auf der Halbinsel, und sie bestand darauf, dass Erika eine Kittelschürze trug.

Die meisten Menschen fühlen sich unwohl, wenn sie ihrer Putzfrau gegenüberstehen, das wusste Erika inzwischen. Sie konnten nicht damit umgehen, dass jemand ihren Dreck wegmachte. Erika verstand das nicht. Hermann und sie organisierten die Häuser und bekamen Geld dafür. Und sie musste zugeben, es machte ihr Spaß, ihre eigene und, wie sie inzwischen sagen konnte, unschlagbare Systematik Stück für Stück in allen Häusern entlang des Seeufers einzurichten. In jede einzelne Schublade und hinter jeder Schranktür. Sie fand sogar, dass sich ihre frühere Arbeit im Labor und ihre Arbeit in den Häusern gar nicht so sehr voneinander unterschieden. Es gab ein System, das es aufrechtzuerhalten galt. Ob sie Pilzbestände testete oder die Rillen zwischen den Fliesen putzte – in beiden Fällen kam es auf Gründlichkeit an. Und das lag ihr. Sie konnte ja im Grunde gar nicht anders. Schon als sie noch ein Kind war, hieß es: Erika ist ein fleißiges Mädchen. Und alle predigten ihr: Nur mit Fleiß kommt man weiter. Das hielt sie über Wasser. Ob da noch etwas anderes war, und wenn ja, was das war, das konnte Erika nicht genau sagen.

 

Jeden Morgen setzte sie sich mit ihrem Kaffee, den sie ohne Filter mit Wasser aufbrühte, an ihren Küchentisch und trug die Stunden und Einnahmen in das linierte Heft ein.

VP -,43 M stand noch der Preis vorne auf dem vergilbten Etikett. Hermann und sie organisierten ihre Woche nach den Häusern, in denen sie putzten. Sie hatten zusätzliche Ersatzschlüssel angefertigt, und diese hingen jetzt mit farbigen Plastikanhängern an einem langen Brett, das Hermann neben ihrer Wohnungstür angebracht hatte, ein Schlüssel neben dem anderen. Es kamen immer neue Haken dazu – in diesem Sommer waren es allein vier neue Schlüssel.

Als Heike das Schreibheft bei einem Besuch entdeckt hatte, warf sie ihrer Mutter vor, kleinlich zu sein. »Dieser Ordnungsfimmel bremst doch jede neue Idee. Denn sie hat ja nur eine Chance, wenn sie in eure Super-Ordnung reinpasst.« Und sie hatte recht. Aber die Ordnung war auch das Gerüst, auf das sich Erika und Hermann verlassen konnten. Und mit dieser Ordnung und den Einträgen in ihrem Schreibheft kam Erika auch wieder einem Traum näher, den sie langsam wieder für möglich hielt. Dieser Traum war Spitzbergen.

Seit sie als Kind die Fotos von der Exkursion ihres Onkels nach Norwegen gesehen hatte, träumte sie von der Einsamkeit und Klarheit des Nordens. Sie hörte noch wie damals den Satz, als ihr Onkel mit ernster Miene erklärt hatte: »Nur wer das ewige Eis erlebt hat, hat wirklich gelebt.« Und dieser Satz klang wie ein Versprechen oder eigentlich mehr noch wie eine Verpflichtung, die Erika damals als Kind eingegangen war. Dann wurde die Mauer gebaut, und Erika hatte sich damit abgefunden, dass Spitzbergen für sie unerreichbar bleiben würde. In letzter Zeit hatte sie aber wieder an das Foto und ihren Onkel denken müssen. Die weiße Welt. Sie träumte auch wieder, genau wie damals als kleines Mädchen, von dem Schiff, das mit lautem Getöse durch die Eisschollen bricht. Sie hätte gerne gewusst, ob man das Eis riechen kann.

Aber für Spitzbergen musste sie sich die Marotten der Hausbesitzer merken. Zum Beispiel die Kittelschürze. Und genau die hatte Erika heute im Auto vergessen, weil es beim König so spät geworden war. Das war noch nie vorgekommen. Es fielen zwar keine Worte darüber, aber es war zu spüren, dass die Verletzung der Kittelschürzen-Regel als kleine Provokation gedeutet wurde.

»Jetzt bloß nicht noch die Türen vergessen«, dachte Erika. Frau Cramer wünschte nämlich, dass alle Zimmertüren im 45-Grad-Winkel offen stehen. Immer. Erika konnte das sogar irgendwie verstehen. Sie selbst liebte Ordnung und Klarheit. Sie nahm diese Marotte nicht allzu ernst und vermutete, dass Frau Cramer sie mit solchen Regeln auch irgendwie prüfen wollte. Vielleicht hoffte sie auch insgeheim, dass Erika sie vergäße.

Erika wusste, dass Herr Cramer seine Frau schon vor einiger Zeit verlassen hatte und dass Frau Cramer keine einfachen Jahre hinter sich hatte. Sie versuchte auf dem nahen Golfplatz neue Kontakte zu knüpfen. Auf der Kommode im Wohnzimmer lagen Hochglanz-Zeitschriften, sie hießen Golf-Time, Lady Golf und Golfjournal.

»Golf ist meine Leidenschaft«, pflegte sie zu sagen. Im Flur hingen auch zahlreiche Auszeichnungen. Beim näheren Betrachten hatte Erika allerdings entdeckt, dass es sich vor allem um Mitmach-Urkunden von Wohltätigkeits-Turnieren handelte.

Sie nahm den Eimer mit den Putzsachen und räumte alles weg. Unten wartete bereits Frau Cramer. Sie hatte sich geschminkt und sah jetzt um etliche Jahre jünger aus, wie Erika zugeben musste. Das gehörte zum Donnerstagnachmittag dazu: Am Ende der drei Stunden wurde Frau Cramer jedes Mal gesprächig   – und holte die Flasche mit dem französischen Cognac.

»Frau Grüning, es gibt da noch etwas, das Sie wissen müssen.« Erika zog die Augenbrauen hoch und setzte sich auf den Sessel, den Frau Cramer ihr anbot. »Ich werde hier vielleicht nicht mehr lange alleine leben«, fuhr Frau Cramer fort, und ihre Stimme nahm einen triumphierenden Klang an: »Also, was ich sagen möchte: Es gibt da seit Kurzem jemanden in meinem Leben …« Sie machte eine Pause und nahm einen kleinen Schluck.

Auweia, dachte Erika und schielte auf ihre Handy-Uhr, das würde wohl etwas länger dauern heute. Wenn es nicht Frau Cramer wäre, würde sie sich das nicht antun. Aber Herr und Frau Cramer waren damals die Ersten gewesen.

Hermann war auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt mit Herrn Cramer ins Gespräch gekommen. Abends hatte ihr Hermann dann davon erzählt, beiläufig, bevor er mal wieder zur Garage ging, um dort seine Platten richtig laut zu hören. »Er hat gefragt, ob wir jemanden kennen, der sein Wochenendhaus putzt.« Sie hatte Hermann gar nicht richtig zugehört. Aber als sie dann wieder alleine war, ging ihr der Satz immer und immer wieder durch den Kopf – und dann wusste sie es plötzlich: Sie würden das machen.

»Eigentlich war es vom ersten Moment an klar«, hörte sie Frau Cramers Stimme weitererzählen, »er ist um einiges jünger als ich – aber was zählt schon das Alter, nicht wahr, Frau Grüning?« Frau Cramer kicherte etwas und ging mit ihrem Glas in die Küche, um sich Eiswürfel zu holen. »Aber das Wichtigste, Frau Grüning«, Frau Cramers Augen tauchten über der offenen Kühlschranktür auf, »das Wichtigste ist doch, dass ich aktiv geworden bin. Aktion mit Ausrufezeichen! Das sagt meine Therapeutin mir immer: Aktion mit Ausrufezeichen – damit ich es mir merken kann!« Sie schien nachzudenken und schenkte sich nach.

Erika ließ sie noch eine Zeit lang weitererzählen von dem jungen Mann, der anscheinend Fotograf war und ein außergewöhnlich talentierter Golfspieler – dann unterbrach sie Frau Cramer mit den Worten: »Der WC-Reiniger ist alle«, und stand auf. Der Umschlag mit dem Geld lag wie immer auf der Marmoranrichte im Flur, sie schnappte ihn sich und verließ das Haus.

 

Mit dem Fahrrad konnte sie die Abkürzung durch den Wald nehmen. Erika kannte jede Kuhle und jede Wurzel. Und die sandigen Stellen, in denen man mit dem Fahrrad stecken blieb, umfuhr sie, ohne nachzudenken.

Der Weg führte an einem alten Ferienlager vorbei, sie sah die großen und kleinen leer stehenden Bungalows zwischen den hohen Kiefern. Neben dem Eingangstor bog sie ein auf den Ernst-Thälmann-Damm.

Hier an der Uferstraße reihten sich die Seegrundstücke aneinander, schlichte Bungalows und einige alte Landhäuser. Diese Häuser kümmerten sich nicht um wechselnde Systeme. Sie ließen es geduldig geschehen. Wenn die neuen Eigentümer es so wollten, dann wurden die alten Backsteine eben kurzerhand verputzt und lila angestrichen.