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'Wo ick bin, da is vorn!' Berliner sind eigen und eigenwillig. Weder höflich noch bescheiden. Aber diese derben Draufgänger haben es geschafft, das olle Berlin zum Nabel der Welt zu machen! Die Autorinnen haben 111 Menschen in dieser Stadt getroffen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie alle haben für einen Moment ihre Welt mit ihnen geteilt. Zum Beispiel die 75-jährige Hausbesetzerin Doris Syrbe, die sich gegen den Verkauf der Seniorenvilla gewehrt hat, oder Rennfahrerin Heidi Hetzer, die im Rolls Royce die Welt umrundet. Oder aber auch Klavierhelmut, der heute Abend bestimmt wieder auf der Kottbusser Brücke spielt, während der Visionär Ralf Steeg weiter daran arbeitet, dass die Berliner bald wieder in der Spree schwimmen können.
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Seitenzahl: 211
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111 Berliner, die man kennenlernen sollte
Lucia Jay von Seldeneck und Verena Eidel
emons: Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Emons Verlag GmbH // 2016 Alle Rechte vorbehalten Texte: Lucia Jay von Seldeneck © der Fotografien: Verena Eidel Gestaltung: Emons Verlag Kartenbasisinformationen aus Openstreetmap, © OpenStreetMap-Mitwirkende, ODbL ISBN 978-3-96041-152-9 E-Book der gleichnamigen Originalausgabe erschienen im Emons Verlag
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Vorwort
1_Ahmad Arsan | Der Jacques
2_Alexander Kroupa | Insektenzähler
3_Andreas Müller | Jugendrichter mit Ansage
4_Andreas Scholz | Bademeesta im Prinzenbad
5_Anna Haase | Toilettenführerin
6_Anna Kyrieleis | Flaggschiffsteuerfrau
7_Anne Haertel | Verkupplerin
8_Ann-Kathrin Carstensen | Spitzenfrau
9_Arno Funke | Dagobert
10_Aydin Akin | Der Aktivist auf dem Fahrrad
11_Bascha Mika | Aufrüttlerin
12_Ben Scheffler | Hindernisüberwinder
13_Bernadette La Hengst | Agitationschanteuse
14_Bernhard Pilz | Selbstversorger
15_Birger Schmidt | Kinostürmer
16_Cem Avsar | Missionsleiter
17_Christel Barth | Die Abgehärtete
18_Christina Weber | Kräuterfee
19_Christine Fischer-Defoy | Schweigenbrecherin
20_Ciarán Fahey | Entdecker
21_Constanze Behrends | Dialektjongleuse
22_Didi und Stulle | Urkeulen
23_Dimitri Hegemann | Subkulturbotschafter
24_Doreen Kutzke | Jodellehrerin
25_Doris Syrbe | Hausbesetzerin
26_Eberhardt Franke | Orgel-Ebi
27_Edicson Ruiz | Der mit dem Bass tanzt
28_Egon Brandstetter | Bodybuilder
29_Erika Mayr | Bienenkönigin
30_Erika Rabau | Shootingstar
31_Fabian von Wachsmann | Einheizer
32_Fadhumo Musa | Aktiviererin
33_Fiona Bennett | Behüterin
34_Fiona Brunk | Schulgründerin
35_Gerhard Seyfried | Knollennasenbullenerfinder
36_Gilles Duhem | Autorität vom Rollberg
37_Gisela Sommer | Transvestitenimitatorin
38_Die Goldelse | Siegesgöttin für die Berliner
39_Grace | Torschützenkönigin
40_Graf Haufen | Schatzhüter
41_Günter Schmidtke | Ein Leben für das Ballhaus
42_Günther Krabbenhöft | Kreuzberger Dandy
43_Hania Hakiel | Have a drink with a shrink
44_Hanna Poddig | Vollzeitaktivistin
45_Hans-Jürgen Heinicke | Schatzsucher
46_Harald Warmbrunn | Faxenmacher
47_Harry Lehmann | Herr der Düfte
48_Heidi Hetzer | Weltumfahrerin
49_Heike Wiese | Kiezdeutschexpertin
50_Henning Harnisch | Spielerweiterer
51_Henning Vierck | Philosoph unterm Apfelbaum
52_Hjalmar Stecher | Bonbonmacher
53_Idil Baydar | Hauptstadtpreisträgerin für Integration und Toleranz
54_Inge Deutschkron | Unermüdliche Heldin
55_Irene Kotnik | Frau mit Antrieb
56_Irmela Mensah-Schramm | Polit-Putze
57_Isa von Hardenberg | Gastgeberin
58_Isabella Mamatis | Geschichtensammlerin
59_Jack Hunter | Bürgermeister von Old Texas Town
60_Jeanette Koepsel | Stadtjägerin
61_Jessica Groß | Ärztin im Dienst
62_Joab Nist | Zettelsammler
63_Joana Breidenbach | Überzeugungsgründerin
64_Jochen Sandig | Raumpionier
65_Joe Hatchiban | Am Mikrofon
66_Joe Taylor | Stadtfarmer
67_Josef Foos | Yogi-Mann
68_Julius von Bismarck | Reaktionstester
69_Jutta Weitz | Mitte-Macherin
70_Kai Gildhorn | Selbstbediener
71_Kingsley Arthur | Willkommenheißer
72_Klaus Bittermann | Kiezheldenchronist
73_Klaus Cornfield | Berlins Sonnenschein
74_Klavierhelmut | Pianomann
75_Lo Graf von Blickensdorf | Adelig aus Leidenschaft
76_Maike Plath | Bildungsrevoluzzerin
77_Manuel Bonik | Birdman
78_Marcus Benser | Blutwurstritter
79_Mareike Geiling | Zimmervermittlerin
80_Mario Röllig | Vergangenheitsbewältiger
81_Marlies Herdejürgen | Wirtin
82_Martin Sonneborn | Unser Mann in Brüssel
83_Meryem Ergolu | Neuköllnerzählerin
84_Michael Bohmeyer | Geldverschenker
85_Michael Ng | Traditionalist
86_Nadania Idriss | Feuerentfacherin
87_Nikolai Makarov | Oberrusse von Berlin
88_Nora Al-Badri | Befreierin der Königin
89_Norbert Zahmel | Robbenflüsterer
90_Onkel Philipp | Puppendoktor
91_Peter Raue | Anwalt der Künste
92_Platten Pedro | King of Vinyl
93_Rafael Horzon | Multitalent
94_Rainer Brendel | Der 6en-Mann
95_Ralf Steeg | Freischwimmer
96_Raúl Krauthausen | Ganz normaler Glasknochenbesitzer
97_Renate Lorenz | Doktor Dolittle und ihre Tiere
98_Rico Diessner | Loopmeister
99_Robin Schellenberg | Parkdeckkultivierer
100_Schwester Margareta | Mutmacherin
101_Sebastian Matthias Weißbach | Südostsprinter
102_Sevgi Bayram | Wegbereiterin
103_Sharon Adler | Pionierin
104_Simona Malvezzi | Kontextproduzentin
105_Stefan Schmidt | Straßenchorleiter
106_Sybille Ugé | Flotte Lotte
107_Thomas-Dietrich Lehmann | Taxipfarrer
108_Tom Luszeit | Der Soldat vom Checkpoint Charlie
109_Waldtraut Balzer | Backmeisterin
110_Wolfgang Lange | Spree-Kapitän
111_Wolfgang Nadolski | Weihnachtsmann (der echte)
Bildteil
Übersichtskarten
»Wo ick bin, da is’ vorn!« Berliner sind eigen und eigenwillig. Weder höflich noch bescheiden. Aber diese derben Draufgänger haben es geschafft, das olle Berlin zum Nabel der Welt zu machen.
Unterwegs durch diese Stadt haben wir ziemlich schnell gemerkt, dass es eben die Menschen sind, die Berlin zu dem machen, was es ist: ein Ort, der Platz bietet für die ganz großen Visionen genauso wie für die verrückten Einfälle über Nacht. Eine Stadt, die offen ist für alles, was mit Leidenschaft angepackt wird!
Wir haben 111 Berliner getroffen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie alle haben für einen Moment ihre Welt mit uns geteilt. Jedes Mal war etwas zu spüren von dem, was über das »Man-müsste-mal ...« hinausgeht: »Wir machen das jetzt einfach. Unser Ding.« Nora Al-Badri befreit eine Königin, Klavierhelmut wartet auf die nächste Lücke im Autostrom, Heidi Hetzer fährt im Oldtimer um die Welt, und Aydin Akin muss noch Marx und Engels überholen.
Ob Orgel-Ebi, Polit-Putze oder Flotte Lotte – sie alle sind Berliner Originale. Und sie alle lassen es sich nicht nehmen, ihre Stadt mitzugestalten. So wie Jutta Weitz, die damals kurz nach der Wende die leer stehenden Gewerberäume von Mitte übergangsweise den Künstlern und Club-Betreibern überließ und so das Prinzip Zwischenraumnutzung erfand, oder wie Ralf Steeg, der nicht lockerlassen wird, bis die Berliner wieder in der Spree schwimmen können.
Und denk immer dran: Pikst dich die Berliner Schnauze auch mal ein bisschen, sie ist dennoch: eine Aufforderung zum Tanz!
Verena & Lucia
Der Jacques
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Er übersieht niemanden. Jeder, der eintritt, wird begrüßt, zum Tisch begleitet, in ein Gespräch verwickelt – und schon ist er wieder weiter, untergetaucht zwischen den immer vollen Tischen, um mit einer herbeigezauberten Flasche Wein ein paar Plätze weiter die Gläser zu füllen. Gefühlte zehn Sekunden später wiederum sucht man ihn vergeblich an dieser Stelle – und entdeckt ihn kurz darauf dann am anderen Ende der Bar. Sie rufen: »Jacques! Hallo!« Ahmad Arsan zuckt die Schultern: »Das macht überhaupt nichts. Ich bin doch schließlich das Café Jacques.« Und auch woher er kommt, weiß niemand so ganz genau. Aus Marokko, sagen die einen, aus Persien, glauben die anderen. Das amüsiert Ahmad Arsan. Aber das alles sei ja auch nicht so wichtig. Wichtig sei einzig und allein die Leidenschaft. Und für ihn sind das eben: gutes Essen und guter Wein. Das sei es, was er tue, und das mache ihn eben auch aus, erklärt der Gastronom.
Falls er eines Tages nicht mehr mit dem Herzen dabei sein sollte, ist es vorbei. Das hat er sich geschworen. »Aber«, sagt Ahmad Arsan und lacht, so ansteckend, wie er es immer tut: »Es macht ja Spaß wie nie zuvor!« Und solange das so ist, geht er morgens ab zehn Uhr einkaufen, dann werden Gerichte überlegt und Zutaten der Saison kombiniert. »Heute haben wir eine Rhabarber-Ingwer-Soße kreiert«, sagt er freudig und fügt dann mehr zu sich selbst hinzu: »Die könnte man eigentlich mit Steinbuttfilet ...« Und abends, ja abends sei er dann eben für seine Gäste da. Da mache er eigentlich nichts Neues, eine Gaststätte eben, sagt er. Aber Ahmad Arsan macht das so, dass seine Gäste aus der ganzen Stadt kommen – und bleiben.
Info
Lieblingsort Der Karpfenteich: »Da gehe ich immer hin, um mich zu erholen. Wenn ich einmal um den Teich herumgelaufen bin, setze ich mich an den Rand und beobachte die Kinder und Spaziergänger. Das tut gut.« | Adresse Treptower Park, Puschkinallee, 12435 Berlin-Treptow
Wer ins Café Jacques geht, der nimmt sich nichts Weiteres vor, sondern lässt sich ganz auf drei Dinge ein: gutes Essen, guten Wein – und das ein oder andere philosophische Gespräch mit Ahmad Arsan natürlich.
In der Nähe
Ciarán Fahey (1.32 km)
Bernhard Pilz (1.57 km)
Ralf Steeg (1.93 km)
Jochen Sandig (2.03 km)
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Insektenzähler
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Man merkt dem Projekt nicht sofort an, dass es die Naturwissenschaft weltweit revolutioniert: Es beginnt in den schmalen verdunkelten Gängen zwischen jahrhundertealten Schränken in einem der unzähligen, für Besucher nicht zugänglichen Räume des Naturkundemuseums. Alexander Kroupa zieht einen Holzkasten aus dem Schrank, vorsichtig, beinahe andächtig: Monster-Wespen, auf Nadeln gespießt, hinter Glas. »Schon allein Wespen und Bienen gibt es zwei bis drei Millionen«, erzählt der Biologe beiläufig. Die Sammlung des Museums umfasst 30 Millionen Objekte. Es könnten aber auch zehn Millionen mehr oder weniger sein, so genau wisse das hier niemand.
Das Unterfangen: Kroupa und sein Team haben ein Softwareprogramm entwickelt, mit dem sie die Insekten, welche allein die Hälfte der gesamten Sammlung des Museums ausmachen, digitalisieren. Für die Bilder hat die Haustechnik des Museums einen Prototyp gebastelt, der aus alten Drehscheiben, Motoren und einer mobilen Kamera besteht – und einwandfrei funktioniert. Inzwischen können Wissenschaftler weltweit die ersten Typen aus der Sammlung auf der Webseite ansehen und damit arbeiten. Bisher mussten Insektenforscher zu den großen Sammlungen reisen oder sich Typen zuschicken lassen – was manches Mal nicht glimpflich für die Tiere ausging. Und Forscher aus ärmeren Ländern blieben oft ausgeschlossen. Jetzt kann jeder auf ZooSphere.net die artspezifischen Merkmale heranzoomen – und seine Neuentdeckung zuordnen.
Info
Lieblingsort Der Botanische Garten: »Mit seiner vielfältigen Pflanzenwelt und damit natürlich auch reichhaltigen Insektenwelt ist er nicht nur ein Park, sondern ein liebevoll gestalteter Ort zum Entspannen und Entdecken.« | Adresse Königin-Luise-Straße 6–8, 14195 Berlin-Dahlem
»Und es wird nie abgeschlossen sein«, sagt Alexander Kroupa und strahlt dabei, »es werden ja immer wieder neue Arten entdeckt.« Er selbst sei ja auch den Insekten verfallen. Bei ihm habe es mit einer Goldwespe angefangen, sagt er und zieht einen Insektenkasten mit kubanischen Bembix-Arten unter seinem Schreibtisch hervor. Das erklärt auch, wie Alexander Kroupa das große Entstauben der Insektenkästen angeht: mit Leidenschaft.
In der Nähe
Norbert Zahmel (0.23 km)
Mario Röllig (2.22 km)
Cem Avsar (3.29 km)
Isabella Mamatis (3.56 km)
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Jugendrichter mit Ansage
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Seinen wahrscheinlich wichtigsten Entschluss im Kampf gegen den Rechtsextremismus fasst Richter Müller eines Nachts um drei Uhr in einer Kreuzberger Kneipe: In jedem Gerichtssaal Deutschlands ist das Kaugummikauen verboten – aber das Tragen von Springerstiefeln mit weißen Schnürsenkeln, ein eindeutiges Bekenntnis zu Gewaltbereitschaft und Rassismus, wird geduldet? Als Andreas Müller tags darauf das Gericht in Bernau betritt, verbietet er besagte Schuhe in seinem Saal. Von da an gilt: »Wer bedroht, beschimpft oder aber in Springerstiefeln auftritt – bekommt von Müller eine Auflage. Und zwar sofort.«
Das war 1998. Wenn er heute an diesen Tag zurückdenkt, an dem sich 24 Stiefel im Flur aufreihten und alle Zuschauer im Gerichtssaal in Socken auf der Bank saßen, muss Andreas Müller lachen wie über einen gelungenen Streich. Doch kurz darauf tauchten Hakenkreuze auf der Bank vor seinem Gerichtssaal auf. Drohungen gegen Müller, erklärt er sachlich. Es war klar: Er sollte es persönlich nehmen. Das hat er getan: »Ich habe in Haft genommen, was ich in Haft nehmen konnte.« Er wird zum meistgefürchteten Richter der rechtsradikalen Szene. Vor allem, weil er schnell verhandelt. Die Schuldigen werden von da an direkt aus dem Saal heraus verhaftet. Das ist neu. Das ist eine Ansage.
Info
Lieblingsort Das Nationaldenkmal: »Bei gutem Wetter sieht man von hier oben fast über die ganze Stadt. Und um das Denkmal herum sitzen fast immer Menschen von überallher auf den Stufen: Es ist ein bunter und relaxter Ort – das gefällt mir.« | Adresse Viktoriapark, 10965 Berlin-Kreuzberg
Die Zeitungen nennen ihn »den härtesten Richter Deutschlands« oder auch »Richter Gnadenlos«. Den ersten Titel nimmt Andreas Müller gern an – aber das Wort »gnadenlos« macht ihn wütend: Gnade sei schließlich ein wesentlicher Bestandteil des Rechts. »Ich reg mich immer so auf«, sagt er entschuldigend. Zum Glück, möchte man ihm sagen, doch da ist er schon beim nächsten Thema: Legalisierung von Haschisch. »Dafür kämpfe ich ja auch.« Kurz scheint er selbst darüber zu staunen, wie er das alles schafft. Da klingelt auch schon wieder das Telefon, ein Fernsehsender fragt an für eine Talkshow.
In der Nähe
Hjalmar Stecher (0.12 km)
Wolfgang Nadolski (0.17 km)
Klavierhelmut (0.18 km)
Jessica Groß (0.66 km)
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Bademeesta im Prinzenbad
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Wenn er zwischen Kaltbecken und Nichtschwimmerbecken entlangläuft, drückt jede seiner Bewegungen die unverkennbare bademeistereigene Hoheitsgewalt aus. Es ist die Mir-entgeht-nichts-Pose. »Entweder man hat’s drauf, oder man hat’s nicht drauf!«, sagt Andreas Scholz, ohne den Blick von den knallblauen Becken zu wenden. Und das glaubt man ihm sofort.
Dabei hat der gelernte Kfz-Mechaniker lange gebraucht, um sein Talent zu erkennen. Er nennt sich selbst einen Quereinsteiger. Er war damals Hartz-IV-Empfänger, wusste nicht mehr weiter und hat dann, sagt er, einfach mal Glück gehabt: ein Job im Schwimmbad, die Möglichkeit, den Rettungsschwimmer zu machen – und dann ist er irgendwann hier im Prinzenbad gelandet. »Als Bademeesta«, er betont jede einzelne Silbe dieses Wortes beinahe ehrfürchtig, als wäre es ein unerreichbarer Titel, »muss man vor allem eins sein: selbstbewusst«, erklärt Scholz. Das stehe an erster Stelle, dann folgen: sportlich und diplomatisch. »Und«, ihm fällt noch was ein: »Du darfst nicht aussehen wie een Vogelbeen!«
Info
Lieblingsort Brauhaus Südstern: »Viele Alt-Berliner Kneipen müssen schließen, aber das Brauhaus neben der Hasenheide bleibt sich treu. Meine Empfehlung für den Feierabend: Draußen sitzen und ein selbst gebrautes Bier trinken!« | Adresse Hasenheide 69, 10967 Berlin-Neukölln
Andreas Scholz kennt die meisten Gäste vom Sehen. Einige auch besser, denn er hält gern mal ein Schwätzchen. »Wir sehen die Jugendlichen aufwachsen hier«, erklärt er. Und kennen unsere Kandidaten. Ohne Security gehe es zwar nicht mehr im Prinzenbad, aber insgesamt sei es entspannter geworden. Ein richtiges Familienbad. Aber es gibt eben auch die heißen Tage, und dann ist es ein Knochenjob. Da kommen bis zu 8.000 Leute ins Freibad. Die drei Sätze, die Bademeister Scholz jeden Tag unzählige Male in sein Megafon spricht, sind: »Nicht von den Längsseiten springen!«, »Wir schubsen uns nicht!« und »Im Innenbereich bitte nicht rauchen!«. »Viel mehr ist dit eigentlich nicht«, sagt Scholz bescheiden, und man denkt, dass es eben ein seltenes Glück ist, wenn einer so zufrieden ist mit sich und seiner Arbeit.
In der Nähe
Marlies Herdejürgen (0.52 km)
Heike Wiese (0.53 km)
Klaus Bittermann (0.62 km)
Graf Haufen (0.68 km)
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Toilettenführerin
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Der Gendarmenmarkt: Über den Platz verteilen sich unzählige kleine Gruppen – sie drängen entweder um einen Regenschirm, hocken auf den Domtreppen oder folgen einer hochgehaltenen Fahne. Hin und wieder löst sich eine einzelne Person aus einer Menschentraube und steuert auf eine Seite des Platzes zu. Hier steht sie, die von Karl Friedrich Schinkel passend zu Dom und Konzerthaus entworfene öffentliche Toilette. Und seit über 100 Jahren herrscht hier reger Betrieb. Das sogenannte Café Achteck von Berlin hat eine Geschichte.
Und diese zu erzählen hat sich die Stadtführerin Anna Haase zur Aufgabe gemacht. Die Idee für ihre »Tour de Toilette« hatte sie 2005, als am Welttag des Gästeführers das Thema »Oasen der Ruhe« ausgelobt wurde. Anna Haase war sich sicher, dass sich alle Kollegen die Kirchen und Friedhöfe der Stadt vornehmen würden. Aber das war ihr zu langweilig. Also begann sie, sich mit der Geschichte der öffentlichen Toiletten zu beschäftigen. Und so erzählt sie heute zum Beispiel von den ersten Klohäusern im alten Griechenland, wo Männer nebeneinanderhockten und plauderten und miteinander »Geschäfte machten«. Die Kaisersaal-Toilette am Potsdamer Platz ist auch eine Station auf ihrer Tour. Sogar der Kaiser ging hierher, wenn er musste. Daher komme auch der Spruch: »Ich muss mal kurz dorthin, wo der Kaiser zu Fuß hingeht.«
Info
Lieblingsort Die steinerne Chronik von Berlin: »Ein Fries über den Arkaden erzählt hier im Nikolaiviertel die sozialistische Geschichte Berlins: ein Stück Berlingeschichte als Bildergeschichte. Das kennen die wenigsten!« | Adresse Rathausstraße, Ecke Poststraße, 10178 Berlin-Mitte
Es gibt sie im Gründerzeitstil, in Neuer Sachlichkeit, Landhaus und natürlich in moderner Architektur. Anna Haase verteilt Toilettenpapier – und manchmal bringt sie auch Bier mit. »Damit die Leute auch mal müssen.« Ihre Bekannten haben immer gesagt: Anna, eine Toiletten-Tour? Das hast du doch gar nicht nötig! – Aber Anna Haase lacht: »Es interessiert die Leute ja! Vielleicht, weil es ein Tabuthema ist, aber vor allem deswegen, weil es die Geschichte dieser Stadt aus einer anderen Perspektive erzählt!«
In der Nähe
Didi und Stulle (0.31 km)
Nadania Idriss (0.55 km)
Jutta Weitz (0.8 km)
Inge Deutschkron (0.81 km)
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Flaggschiffsteuerfrau
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Noch drei Stunden bis Sendebeginn. Die Leiterin der Abendschau schlägt die Beine übereinander und ist: vollkommen entspannt. Dabei müsste doch mindestens alle drei Minuten das Telefon klingeln, die Redakteure und Reporter mit den neuesten Meldungen zur Tür hereinplatzen – die Abendschau ist schließlich die Nachrichtensendung für Berlin. Doch Anna Kyrieleis ist die Ruhe in Person. »Je aufregender es wird, desto konzentrierter bin ich.« Und ohne dieses Talent würde es wohl auch nicht gehen, überlegt sie laut. Denn: »Wir sind Berlin!« Und das sei einerseits genial: »So weiß ich immer Bescheid, welche Orte dieser Stadt gerade angesagt sind – und das, obwohl ich im Zweifel nie dort gewesen bin!« Aber, Anna Kyrieleis macht eine gedankenvolle Pause, natürlich sei es andererseits auch eine Riesen-Verantwortung. Denn die Abendschau mache die Ereignisse des Tages ja erst zu Nachrichten. »Alles, was in der Abendschau stattfindet, findet groß statt.« Das, sagt die Journalistin, muss man sich unbedingt bewusst machen – »Da wird es nämlich ernst« –, aber es ist auch etwas, über das man nicht die ganze Zeit nachdenken kann, zum Beispiel, wenn gerade eine schnelle Entscheidung her muss.
Aber vor allen Dingen, sagt Anna Kyrieleis, ist es eine Chance, das Berlin-Bild mit zu prägen. Oder, in ihren Worten: »Wir sind hier das Flaggschiff!« So hat sie zum Beispiel die Situation der Flüchtlinge in der Stadt zu einem großen Thema in der Abendschau gemacht.
Info
Lieblingsort »Die ›Odin‹: Die Fähre bringt die Ausflügler und Wochenendhäusler auf die Inseln im Tegeler See – und vereint während der Überfahrt die unterschiedlichsten Stadtmenschen im Ausflugsvorfreudenglück.« | Adresse Fähranleger Jörsstraße, 13505 Berlin-Konradshöhe (an Wochenenden und Feiertagen, April bis Oktober)
Und jede Entscheidung für etwas ist dann eben auch immer eine Entscheidung gegen ein anderes Thema. »Wir können hier nichts auf übermorgen verschieben.« Aber das ist ja auch mit das Beste daran, sagt die Chefin: Wenn die Sendung vorbei ist, dann fahre sie nach Hause zu ihrem Mann und ihren drei Kindern – und was dann noch in Berlin passiert, interessiert sie erst wieder am nächsten Morgen zur Redaktionskonferenz.
In der Nähe
Jack Hunter (3.95 km)
Jeanette Koepsel (4.79 km)
Michael Ng (5.54 km)
Bascha Mika (7.03 km)
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Verkupplerin
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Es geht ums Weitermachen. Ums Nicht-Aufgeben. Ein bisschen wie beim Gärtnern eben, wo man auch nicht gleich ernten kann. Mitten auf einer Brachfläche in Lichtenberg zwischen hochgeschossigen Plattenbauriegeln hatte Anne Haertel diesen Traum. Die Vergissmeinnicht blühen am Wiesenrand, in den Beeten leuchtet das frische Grün, und am Zaun protzt üppig der lila Flieder. Eine wohltuend grüne und vor allem wilde Oase mitten in dem ganz und gar linear angelegten Stadt-Wohngebiet. Aber als ob es nicht schon genug wäre, einen Flecken Natur mitten in der Stadt zu etablieren, einen Ort für wilden Wein, unzählige Sorten von Kartoffeln und Bienenvölker, einen Garten für die Kindergärten der Umgebung – Anne Haertel wollte noch mehr, als sie 2009 als Projektleiterin anfing.
Sie wollte, dass Menschen aus verschiedenen Kulturen in Lichtenberg gemeinsam gärtnern. Hälfte deutsch, Hälfte nichtdeutsch – so hatte sie es sich vorgenommen. »Ansonsten macht doch die Idee eines interkulturellen Gartens gar keinen Sinn.« Sie blickt fragend auf. In Kreuzberg oder anderswo wäre diese Idee nicht weiter befremdlich. In Lichtenberg hingegen sehr. Die Anwohner aus den umliegenden Häusern kamen nicht.
Info
Lieblingsort Spreebogenpark: »Wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs bin, halte ich gern hier am Wasser. Man spürt eine Weite mitten in der Stadt, das ist etwas Besonderes.« | Adresse 10559 Berlin-Mitte
Aber Stück für Stück fanden sich andere Naturfreunde ein – und heute ist ihre Vision Wirklichkeit geworden: Auf den 40 Beeten pflanzen und ernten heute Menschen aus Polen, Russland, Bosnien und Deutschland gemeinsam. Und das Beste, so Anne Haertel, es funktioniert: Es gibt einen Austausch über die Gartenarbeit und das gemeinsame Grillen und Essen am Abend. »Ich habe eben nicht lockergelassen«, sagt sie stolz. Der enterkulturelle Garten ist ein Erfolg – auch wenn die Nachbarn aus den Häusern drum herum immer noch nicht runterkommen. Aber vielleicht lädt ja dann doch irgendwann einmal der Blick über den blühenden Flieder zum ersten Schritt ein, aufeinander zu.
In der Nähe
Christel Barth (1.91 km)
Irmela Mensah-Schramm (2.77 km)
Schwester Margareta (3.02 km)
Kai Gildhorn (4.54 km)
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Spitzenfrau
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Es gibt das Häkeln, das Knoten und das ganz feine Häkeln mit der Nähnadel. Gelernt haben die Frauen die Techniken von ihren Müttern und Tanten. Jahrelang wird in den türkischen Familien für die Aussteuer der Töchter gehäkelt. Doch dass die Frauen hier in dem Raum in Neukölln eigentlich immer eine Häkelnadel in ihrer Handtasche dabeihaben, hat einen anderen Grund.
Ann-Kathrin Carstensen hatte irgendwann die Idee, für diese Spitzen neue Formen zu finden. Perlenbestickte Kragen zum Umbinden, aus kleinen Blumen gehäkelte Colliers und hauchzarte Negligés mit Trägern aus Spitze: Die Ergebnisse kann man heute im Showroom ihres Labels »Rita in Palma« in Neukölln, aber auch auf dem Vogue-Cover und im KaDeWe finden.
Info
Lieblingsort Der Häkelclub: »Dieser Ort ist meine Familie geworden. Hier kommen die türkischen Frauen zusammen, häkeln, quatschen, lernen Deutsch. Ich verbringe mein Leben hier und lerne auch dazu, jeden Tag.« | Adresse Kienitzer Straße 101, 12049 Berlin-Neukölln
Doch zuerst schien die Sache ziemlich aussichtslos, erzählt die Designerin. Sie hatte eine Menge Zettel in den umliegenden Backshops aufgehängt. Keine einzige Frau hat sich gemeldet. Dann hat sie sich an die türkischen Vereine gewandt. Wieder nichts.
Aber seit wir diesen Ladenraum haben, erzählt Ann-Kathrin Carstensen, haben die Frauen ihn auch zu ihrem Ort gemacht: Heute gibt es hier gemeinsame Frühstücke, Deutschkurse – und natürlich viele Häkelstunden! »Er ist zu unserem Zuhause geworden«, sagt Ann-Kathrin Carstensen und klingt sehr zufrieden.
»Dieser Familienzusammenhalt hat mich immer schon angezogen.« Es fühlt sich richtig an, denn: Es ist ein Prozess. Die Frauen erfahren eine Wertschätzung ihrer Handarbeit, lernen aber auch den ganzen Ablauf kennen, der dazugehört, bis ihre Arbeit im KaDeWe zum Verkauf ausliegt. »Meine Vision ist es, dass wir hier mit 100 Frauen für Chanel produzieren«, sagt sie und fügt mit kämpferischem Nachdruck hinzu: »Und das meine ich ernst.« Und dass das Häkeln nicht verloren geht, ist nur ein kleiner Teil dieses Märchens, das dann wahr geworden sein wird.
In der Nähe
Hania Hakiel (0.33 km)
Meryem Ergolu (0.91 km)
Maike Plath (0.95 km)
Sharon Adler (0.99 km)
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Dagobert
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Als Arno Funke das Café am Ku’damm betritt, wird er mit Kopfnicken begrüßt. Man kennt ihn, denn hier trifft er sich immer mit den Journalisten. Er setzt sich an den Tisch und lächelt aufmunternd. Er weiß inzwischen nur zu gut, was jetzt kommt. Die Fragen, die ihm hier unter den roten Sonnenschirmen gestellt werden, weichen kaum voneinander ab: Wie war das damals, als er das KaDeWe um 500.000 Mark erpresst hat? Was hat er mit dem Geld gemacht? Hatte er Angst? Und: Bereut er es heute?
Arno Funke ist Deutschlands berühmtester Erpresser. Von 1992 bis 1994 ist er der Polizei immer wieder entwischt, für die Geldübergaben hat er sich alle möglichen Tricks einfallen lassen. Die BZ jubelte: »Dagobert, schlauer, als die Polizei erlaubt«, und ganz Berlin hörte seine verstellte Stimme übers Telefon an.
Info
Lieblingsort Der Dörferblick: »Für die Planung der Geldübergaben bin ich viel in der Stadt herumgekommen. Der ›Dörferblick‹ ist aber ein Ort aus meiner Kindheit. Von oben konnte man über die Grenze hinweg weit in den Osten gucken. Der Blick ist auch heute noch beeindruckend.« | Adresse Waßmannsdorfer Chaussee 189, 12355 Berlin-Rudow
Arno Funke lacht viel, wenn er von den Verfolgungsjagden, den Tonbändern und seinem selbst gebauten Schienenfahrzeug erzählt. Er genießt es, seine Überlegenheitsmomente auszuschmücken. Aber, und das ist ihm wichtig: Er sei damals sehr krank gewesen. Er erklärt: »Die Erpressungen waren meine letzte Chance, um nicht durchzudrehen.« Und deshalb sei die Frage nach der Reue auch nicht so einfach zu beantworten. Aber dass es nicht gut ausgehen konnte, war ihm schon bald klar.
Eigentlich möchte er nicht immer nur Dagobert sein. Schließlich ist er so viel mehr: Karikaturist und Buchautor zum Beispiel. Aber Arno Funke weiß auch, dass es nicht so einfach ist. Den Dagobert kann er nicht ablegen, auch nicht nach den sechs Jahren im Gefängnis. Und so trifft er sich immer wieder mit den Menschen unter den roten Sonnenschirmen. Er weiß inzwischen: Es bleibt für die meisten unvorstellbar, dass ein böser Mensch ein guter Mensch geworden sein soll. Also erklärt er es immer wieder. Und die Berliner scheinen nicht müde zu werden, Dagoberts Geschichten zu hören.
In der Nähe
Julius von Bismarck (7.15 km)
Sharon Adler (8.84 km)
Josef Foos (8.96 km)
Henning Vierck (9.11 km)
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Der Aktivist auf dem Fahrrad
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Schon von Weitem schrillt seine Trillerpfeife durch die Straße, dann fliegen einzelne, vom Megafon verzerrte Worte wie Wahlen, Steuerzahler und Ausländer herüber – und dann, ja dann ist Aydin Akin auf seinem Fahrrad auch schon vorbeigefahren. Auf dem Schild, das auf seinem Rücken hängt, kann man, wenn man schnell ist, noch lesen, worum es dem Lärmmacher geht: Suche wahre Demokratie.