Wenn dein Herz woanders wohnt - Judith Wilms - E-Book
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Wenn dein Herz woanders wohnt E-Book

Judith Wilms

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Beschreibung

Sie teilen sich eine Wohnung. Sie haben sich noch nie gesehen. Trotzdem könnten sie sich ineinander verlieben ...

Die Einrichtungsexpertin Leonie braucht dringend einen Tapetenwechsel, um neue Kreativität zu schöpfen. Die Wochenenden, wenn ihr Sohn bei ihrem Ex-Mann ist, verbringt sie deshalb in einer fremden Wohnung – sie gehört dem Wochenendheimfahrer Thies, den sie noch nie gesehen hat. Und dessen Inneneinrichtung leider nur wenig über ihn preisgibt. Leonie, die am liebsten mit Farben experimentiert, juckt es in den Fingern, sein Zuhause schöner zu gestalten. Auf ihre gut gemeinten Dekorationsvorschläge folgt allerdings eine entrüstete handschriftliche Nachricht von Thies. Doch je mehr Botschaften sie austauschen, desto sympathischer wird ihr der geheimnisvolle Mitbewohner …

Was – oder wen – brauchst du, um dich zuhause zu fühlen? Eine feinfühlige und moderne Wohlfühlgeschichte, der dem zeitgenössischen Liebesroman einen neuen Anstrich gibt.

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Seitenzahl: 451

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Judith Wilms reist gerne mit leichtem Gepäck, sammelt lieber Momente als Dinge und mistet zu Hause regelmäßig aus – doch von guten Büchern kann sie sich einfach nicht trennen. In ihren Wohlfühlromanen Liebe braucht nur zwei Herzen und Wenn dein Herz woanders wohnt verwebt sie beliebte Lifestyle-Themen mit einer wunderschönen Liebesgeschichte. Wenn sie nicht gerade schreibt, verbringt sie die Zeit am liebsten mit ihren beiden Kindern, Waldspaziergängen oder einer Tasse Darjeeling. Sie lebt in Stuttgart, wo sie von ihrem Schreibplatz aus die Sonne aufgehen sehen kann.

Außerdem von Judith Wilms lieferbar:Liebe braucht nur zwei Herzen

JUDITH WILMS

Roman

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Copyright © 2022 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Angela Kuepper

Covergestaltung- und abbildung: www.buerosued.de

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-27382-8V002

www.penguin-verlag.de

Sehnsuchtsträume

Prolog

Nr. 214 Arsenic Green. Der Name hielt, was er versprach: Als ich den kleinen Eimer öffnete, sah die Farbe wirklich giftgrün aus.

Wenn ich mich daranmachte, eine Wand zu streichen, vergaß ich sonst immer alles um mich herum, vergaß zu essen oder auf die Uhr zu blicken. Ich sah nichts anderes mehr als ein mildes Taubenblau. Ein warmes Sonnengelb. Oder ein leichtes Baumwollweiß. Erst wenn ich mit Streichen fertig war, tauchte ich aus der Farbe wieder auf wie aus einem Traum.

Aber dieses Mal war es anders. Dieses Mal war ich in Eile. Am nächsten Abend würde er zurückkommen. Bis dahin musste alles fertig und wieder an seinem Platz sein.

Wenn ich zuvor hier gewesen war, hatte ich es vermieden, in dieses Zimmer zu gehen. Schließlich war es sein Schlafzimmer. Ich hatte mich zwischen dem kleinen Nebenzimmer, Bad, Küche und dem vollgestopften Wohnzimmer bewegt. Hatte die Teller und Tassen in der Küche vorsichtig verwendet, die vielen Stapel Bücher und Schallplatten nur einmal durchgesehen. Ich hatte mich wie der Gast verhalten, der ich ja auch war. Aber jetzt ging es um alles. Ich wusste keine andere Möglichkeit mehr: Ich musste es einfach versuchen. Ich setzte die beste Waffe ein, die ich hatte – einen Raum umzugestalten. Das konnte ich gut. Das war meine Stärke und die Grundlage dafür, dass ich als Grafikerin in der Werbeagentur für Einrichtungskunden arbeiten konnte. Und dieses Mal sollte die Wirkung meiner besten Waffe, nun ja, giftgrün sein. Wenn ihn diese Aktion nicht ärgern würde, dann wusste ich wirklich nicht, was ich noch tun sollte.

Dafür musste ich aber das Bett von der Wand abrücken. Als ich mich vorbeugte, um das Gestell mit voller Kraft zu bewegen, nahm ich den Duft des Kopfkissens wahr. Frisch, mit einem Hauch von Zitrone, ohne stechend zu wirken. Vielleicht die Spuren seines Shampoos oder seines Waschmittels … Reiß dich zusammen, Leonie!, schimpfte ich stumm mit mir. Energisch schob ich das Bett noch ein Stück weiter und warf die Abdeckplane darüber. Die Kommode und den Schrank, der aus irgendeinem Grund halb leer war, rückte ich in der Mitte des Raumes zusammen. Sorgfältig klebte ich alle Leisten ab. Dann machte ich mich ans Werk.

Die Raufasertapete weigerte sich erst, die Farbe gut anzunehmen. Ich musste ordentlich Druck auf die Farbrolle ausüben. Sie machte ein schmatzendes Geräusch, als ich sie tief in die Wanne tauchte und an dem Gitter abrollte. Zufrieden betrachtete ich das Ergebnis. Das Grün verlief geradezu ins Kränkliche.

Ich zwang mich, die Striche ordentlich auszuführen, auch wenn die Zeit knapp wurde. Es durfte nicht schludrig aussehen. Später würde ich so tun müssen, als gefiele mir das Ergebnis. So richtig, richtig gut.

Ich trat einen Schritt zurück, legte den Kopf schief, breitete die Arme aus und sagte probeweise an die leere Wand hin, von der meine Stimme zurückhallte: »Ist doch toll!«

Plitsch. Meine Handbewegung war so schwungvoll gewesen, dass ein giftgrüner Spritzer auf der edlen Kommode landete. »Mist!« Schnell holte ich einen Lappen aus der Küche und wischte die Farbe von dem Kirschholz weg. »Das hast du Schöne nicht verdient.«

Als ich den Lappen zurück ins Waschbecken legte, fiel mein Blick auf die Küchenuhr. Die ganze Aktion hatte schon länger gedauert als geplant.

Gerade als ich zurück in sein Schlafzimmer kam – in die Giftkammer –, summte mein Handy mit einer Nachricht. Ausgerechnet von ihm. Ein Bild von der Kampenwand, dahinter der Himmel tieforange mit roten und pinken Streifen. Unglaublich schön. »Herbstsonnenuntergang«, schrieb er nur. Inzwischen schickte er mir jeden Samstagabend so ein Foto. »Ich dachte, der Farbverlauf gefällt dir.«

Und das tat er. Natürlich tat er das. So weit kannten wir uns ja nun schließlich. Aber dieses Mal antwortete ich ihm nicht. Nicht mit einem Farbnamen, Feuersalamanderorange etwa oder Karmesinrot. Sondern gar nicht. Ich drückte das Bild weg. Ich konnte das jetzt nicht.

Ich wollte ihn aus seiner Wohnung vertreiben.

Aber wollte ich ihn auch aus meinem Leben vertreiben?

In der Nacht schlief ich in meinem kleinen Nebenzimmer unruhig und in kurzen Intervallen. Nach einem Espresso aus seiner chromfarbenen Maschine begann ich den zweiten Anstrich. Besonders um die Schlafzimmertür herum war es schwierig, ich strich die kleineren Stellen mit einem schmalen Pinsel. Erst als alle Wände des Schlafzimmers fertig waren, gönnte ich mir eine Pause. Und der Wand ganz kurz die Möglichkeit anzutrocknen, bevor ich die Möbel zurückschob.

Später entfernte ich geschickt die Abdeckplane, ohne dass etwas abplatzte, schob den Schrank zurück an seinen Platz und Bett und Kommode so, dass sie die feuchte Wand nicht berührten. Dann wusch ich Rolle und Pinsel im Bad aus.

Draußen wurde es schon dämmrig. Ein typisch trüber Herbstnachmittag. Hastig räumte ich meine Tasche zusammen und betrachtete ein letztes Mal die Wirkung von Nr. 214 Arsenic Green. Ob mir schlecht war vor Aufregung über seine Reaktion oder wegen des Farbtons, vermochte ich gar nicht mehr zu sagen.

Als ich schließlich meine Espressotasse in die Spülmaschine räumte, hörte ich ein Auto heranfahren. Mit zwei Schritten war ich am Wohnzimmerfenster. Ein roter Fiat parkte gerade an der gegenüberliegenden Straßenseite.

Könnte er das sein? Jetzt schon?

Schlagartig kam Bewegung in mich. Ich hastete Richtung Tür. Nur schnell weg. Vielleicht erreichte ich den Ausgang zum Hinterhof, bevor er die Haustür öffnete. Er sollte mich hier und jetzt nicht erwischen.

Nicht wegen der Schlafzimmerfarbe. Über die würden wir bald sprechen oder vielmehr, hoffentlich, streiten. Nein, nicht deswegen. Sondern, weil ich absolut nicht wusste, wie ich auf ihn reagieren würde.

Schließlich waren wir uns noch nie persönlich begegnet.

Kapitel 1: Vanillegelb

Leonie

Sechs Wochen zuvor

Geld fließt ganz leicht zu mir. Ich ziehe Geld magnetisch an.

Ich betrachtete den Papierstreifen mit der Affirmation darauf, löste den Finger von dem Tesa, der überlappte, und stützte mich mit einem Arm auf dem Waschbeckenrand ab. Je häufiger ich diese Sätze las, desto weniger schien ich sie zu verstehen. Aber besondere Zeiten erforderten eben besondere Maßnahmen. Ich vermied es, mir in die Augen zu sehen, als ich den Streifen unter die anderen Affirmationen an den Spiegel klebte.

Nur gut, dass Milan noch nicht lesen konnte. Natürlich würde er mir Löcher in den Bauch fragen, was diese Buchstaben bedeuteten. Vielleicht könnte ich ihm sagen, es stünde eine Anleitung zum Zähneputzen für ihn darauf. Obwohl er viel zu schlau war, um mir das abzukaufen. Oder womöglich war ich nur zu schlecht darin, ihn anzuflunkern und dabei ein ernstes Gesicht zu bewahren. Ich schnappte meinen himbeerroten Pulli vom Badewannenrand und beeilte mich, endlich loszukommen. Als ich im Treppenhaus schon fast unten war, hörte ich, wie im Erdgeschoss eine Wohnungstür aufging. Scharrnberger! Die letzten Stufen sprang ich hinunter und hechtete zur Tür hinaus. Ich hatte schon vor drei Tagen nur herumgestottert, und so langsam gingen mir die Ausreden aus, wenn er mich wieder abfangen und zur Rede stellen sollte. Erst in der Tram beruhigte sich mein Atem. Ich lehnte die Stirn gegen die Scheibe. Es musste sich etwas ändern. Dringend. Wann war ich eigentlich zu einem gehetzten Eichhörnchen geworden, das vor seinem Vermieter floh? Ich schob den Gedanken weg, aber natürlich kannte ich die Antwort sehr genau: seit dem Tag, an dem Raphael ausgezogen war.

Normalerweise musste ich jeden Morgen unwillkürlich lächeln, wenn ich durch die Eingangstür in die Agentur trat. Ganz am Anfang, weil ich so stolz gewesen war, eine Agentur gefunden zu haben, die nicht einfach nur Werbung machte, sondern auf Einrichtungskunden spezialisiert war. Kataloge für Badhersteller, Werbung für Farbfirmen, Social-Media-Kampagnen für die mutigeren kleinen Möbelläden. Später dann immer noch, weil ich mich jeden Tag aufs Neue darüber amüsierte, dass diese schlichte Eingangstür in der eher unscheinbaren Münchner Lisztstraße ein Innenleben offenbarte, das man dahinter niemals vermuten würde. Die Wände waren nicht weiß, sondern in modischen Farben gestrichen – Honiggelb, Basaltgrau, Korallenrot. Ein großer Vorteil, wenn die Farbfirma Juniper schon so lange Kunde war. Im Grunde war man ja verpflichtet, die Produkte einmal selbst zu testen. Der Eingangstresen war ein ungewöhnlicher handgefertigter Holztisch in riesigen Ausmaßen und die Bürostühle ausnahmslos stilvolle Bauhausklassiker. Ich hatte mich in dieser Mischung, die farbenfroh und doch ästhetisch daherkam, immer wohlgefühlt.

In letzter Zeit jedoch hatte ich die Agentur immer häufiger mit einem flauen Gefühl im Bauch betreten. Die mutigen kleinen Möbelläden hatten nicht viel Budget für die Kampagnen, und der Badhersteller Lavand, der uns seit zehn Jahren treu gewesen war, wurde inzwischen hinter vorgehaltener Hand als Wackelkandidat bezeichnet. Immer wieder war die Stimmung hektisch. Und das lag nicht an den Abgabeterminen.

»Hallo, ihr Lieben!«, rief ich trotzdem wie immer in die Runde, als ich das Großraumbüro betrat. Die Kolleginnen, die bereits am Platz waren, winkten oder grüßten zurück. Auf dem Weg zur Küche – zuallererst musste eine große Tasse Kaffee her – kam ich am Druckerraum vorbei. Ich sah, wie die Praktikantin darin unbeweglich auf einen Stapel Blätter in ihrer Hand starrte.

Ich stoppte und lehnte mich zur Tür hinein. »Anna-Lena, richtig?« Die Praktikantin nickte schüchtern. Mit riesigen Augen sah sie mich an. Ich fand sie faszinierend: Ihre Seelenfarbe war ein ganz helles Vanillegelb. Freundlich, fröhlich und ruhig. Ich konnte es nicht nur spüren, sondern geradezu sehen.

Ich zeigte auf den Drucker. »Brauchst du Hilfe mit dem Papiereinzug?«, fragte ich. »Der klemmt manchmal, und dann muss man …«

Aber Anna-Lena schüttelte den Kopf. »Ich soll für Christine die neue Farbübersicht ausdrucken, aber ich bin mir nicht sicher, ob das so richtig ist. Die Beschriftung ist verschoben, und jetzt … Das muss für das Morgenmeeting fertig sein.«

Ich sah auf den Bogen. Fünf Brauntöne waren darauf abgebildet, aber die Bezeichnungen waren nach hinten verschoben, eine fehlte. Ich verstand gut, dass Anna-Lena nervös war. Christine konnte sehr ungemütlich werden, wenn sie schon am frühen Morgen mit halb fertigen Unterlagen arbeiten musste. Anna-Lena wusste das sicher noch nicht, aber wir anderen nannten Christine mehr oder weniger liebevoll »den Drachen«. Zugegeben, meistens weniger liebevoll.

Ich tippte auf die verschiedenen Quadrate. »Das hier ist Warmes Erdbraun, dann kommt Wollbeige, Strandbeige und hier Kaschmirbraun. Das Feld ohne Bezeichnung – hier, siehst du, das hellste Braun von allen – heißt bei dem Kunden Leichtes Leinenbeige.«

»Das weißt du auswendig?«

Ich zuckte nur mit den Schultern. Anna-Lena war noch nicht lange hier und kannte mich dementsprechend nicht gut. Fünf verschiedene Brauntöne aus der aktuellen Kollektion von Juniper zu benennen war gar nichts.

»Damit die Bezeichnungen sich nicht verschieben, musst du das Dokument als PDF zum Drucker schicken. Komm, ich zeige dir schnell, wie das geht. Wir haben noch zehn Minuten bis zum Meeting, das schaffen wir. Da können wir uns sogar noch ganz schnell einen Kaffee holen.« Anna-Lena zog eine erleichterte Miene.

Das Morgenmeeting fand immer im kleinen Konferenzraum statt, weil es dort keine Stühle gab, sondern bloß einen großen, runden Stehtisch. So dauerten die Meetings nicht zu lange, hatte Christine verkündet, und man spräche nur über das Wesentliche. Ob das wirklich so stimmte, wagte ich manchmal zu bezweifeln. Meistens lehnten sich die Kolleginnen an die Fensterfront, stellten sich vor die weiße Wand, die als Projektionsfläche für den Beamer diente, oder blieben neben der Tür stehen, so wie Anna-Lena. Am Tisch sammelten sich oft nur die Teamleiterinnen, die dort ihre Unterlagen ablegen und ausbreiten konnten, um über den aktuellen Stand der Kampagnen, Ideen und Druckvorgänge zu berichten. Nicht jeden Tag wollte man Christine so nahekommen.

Als ich den Raum betrat, bemerkte ich sofort die kleine Sammlung Farbtöpfe, die unser Team nach einem Brainstorming am Freitag nicht ins Materiallager geräumt hatte. Schnell stellte ich mich davor, damit Christine die Unordnung nicht gleich am frühen Morgen bemerkte. Ich linste noch einmal hinter mich. Farrow & Ball, eine der besten und teuersten Marken, mit außergewöhnlichen Farbschattierungen: Giftgrün, Hellorange, Elektrischblau. Wir waren tief in die Konkurrenzanalyse abgetaucht, und ich hoffte, dass unser Farbkunde Juniper nicht auf die Idee kam, ähnlich Ausgefallenes produzieren zu wollen. Gerade als ich aufblickte, stellte sich Valerie an den runden Tisch, eine unserer Art-Direktorinnen. Valerie bestand allerdings auf der Bezeichnung Art Directrice, französisch ausgesprochen. Vorsichtig legte sie ihre Unterlagen auf den Tisch und tastete dann mit einer Hand an ihre Wange. Beide Seiten waren deutlich geschwollen nach ihrer Weisheitszahn-Operation Mitte letzter Woche. Sie hatte sogar zurück in die Klinik gehen müssen, da sich eine Naht gelöst hatte. Ich konnte mich gerade noch davon abhalten, mir selbst an die Wange zu greifen. So eine Zahngeschichte wünschte man nicht einmal seinem ärgsten Feind. (Außer Tamara. Der wünschte ich eine Wurzelbehandlung.) Valerie wäre aber nicht Valerie, wenn sie nicht direkt nach der OP wieder ihre beruflichen E-Mails beantwortet hätte, am nächsten Tag im Büro gewesen wäre und Kundentelefonate mit geschwollenem Mundraum durchgeführt hätte, egal, wie undeutlich. Sie zog eine kleine Kapsel aus ihrer Jeanstasche. Dann spülte sie das, was ich als Schmerzmittel einordnete, mit einem Schluck aus ihrer Kaffeetasse hinunter.

Ich blickte auf die Tasse in meiner eigenen Hand. Valerie gehörte definitiv ins Bett und nicht an den Bürotisch.

Ich nippte gerade an meinem Kaffee und wunderte mich, dass es schon fünf nach neun war, als Christine mit ihren schnurgeraden platinblonden Haaren endlich hereinstürmte und etwas von »Feuerwehr bei Lavand« murmelte. Genervt knallte sie ihr Handy auf den Tisch, direkt auf das Blatt mit den beigen Farbtönen, das Anna-Lena für sie ausgedruckt hatte. »Feuerwehr« bedeutete, dass man bei einem Kunden schnell und dringend eingreifen musste, weil etwas schiefgelaufen war: Fehler im gedruckten Katalog, plötzliche Änderungen in der Kollektion, obwohl die Kampagne kurz vor Launch war, ein schlecht gelaunter Kunde, den man beschwichtigen musste, oder eine falsche Papiersorte für den Flyer. In letzter Zeit war Lavand, ein Familienunternehmen aus dem Allgäu, das hochwertige Waschbecken, Toiletten und Duschköpfe herstellte und deutschlandweit als Qualitätsmarke bekannt war, immer häufiger ein Feuerwehr-Kandidat gewesen. Das war kein gutes Zeichen.

Christine atmete tief durch und fing sich. »Okay«, sagte sie, schon etwas ruhiger. Sie legte ihr Handy zur Seite und betrachtete das Papier darunter. »Gut«, sie nickte. »Alles klar, mit den neuen Tönen der Saison können wir vielleicht eine skandinavisch anmutende Fotostrecke machen.«

Anna-Lena und ich wechselten einen Blick. Die Praktikantin lächelte nicht, aber ihre großen Augen schauten schon nicht mehr so ängstlich drein.

Unser Team begann, die Eckdaten für die Fotostrecke von Juniper zu besprechen. Es ging darum, welche Kapazitäten frei waren, wie man das Budget des Fotoshootings gering halten konnte und dass wir noch einmal brainstormen würden, ob es wirklich skandinavisch werden würde – »zu oft gesehen« und »wenig originell« wurde eingeworfen. Ich verfolgte die Diskussion von meinem Stehplatz an der Wand aus, wandte aber heute nichts ein. Als Teilzeitgrafikerin und Mutter würde ich eben so eingeplant werden, wie es ging.

Die Glastür wurde aufgerissen, und Mascha kam hereingerannt. Mit hochroten Wangen rief sie: »Sorry, sorry, sorry! Die S-Bahn ist liegen geblieben, wir mussten alle auf einen Ersatzzug warten.« Schnell huschte sie zu einem freien Platz an der Fensterfront, schnitt hinter Christines Rücken eine Grimasse mit zusammengebissenen Zähnen in meine Richtung. Ich schickte ihr ein mitfühlendes Lächeln. Mascha hatte gleichzeitig mit mir hier in der Agentur angefangen. Christine war damals noch unsere Teamleiterin gewesen. Das hatte Mascha und mich zusammengeschweißt. »Wir haben es gemeinsam durch den Aufstieg des Drachens geschafft, wir schaffen alles«, hatte Mascha einmal scherzhaft zu mir gesagt. Aber da war viel Wahres dran. Nächte mit Lieferpizza kurz vor Druckunterlagenschluss, wilde Agenturfeiern und Präsentationen vor schlecht gelaunten Marketingleitern – Mascha und ich hatten alles gemeinsam überstanden. Sogar die Zeit, in der ich im Mutterschutz gewesen und Mascha gleichzeitig zur Art-Direktorin befördert worden war, hatte unserer Freundschaft nichts anhaben können. Und Mascha hatte mir auch beigestanden, als die Sache mit Raphael gewesen war.

»Wie steht es mit Baum9?«, fragte Christine und leitete damit zum nächsten Team über. Valerie übernahm es, den aktuellen Stand des Projekts zu erläutern. Der kleine, hippe Möbelhersteller Baum9 war noch nicht lange an Bord. Sie hatten nur ein geringes Budget zur Verfügung, gaben sich jetzt aber unzufrieden über die ersten Kampagnenlayouts und bemängelten den Druck eines Flyers.

In diesem Moment spürte ich, dass mein Handy in der Hosentasche lautlos vibrierte. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, immer nachzusehen, ob der Kindergarten anrief. Möglicherweise hatte Milan sich ja verletzt oder Ähnliches. Aber es war eine Nachricht von Raphael.

Ich hielt die Luft an, checkte kurz, ob Christine abgelenkt war. Dann tippte ich auf Öffnen.

Habe gerade die Nebenkostenabrechnung gezahlt. Nur dass du Bescheid weißt, falls Scharrnberger dir über den Weg läuft und dich fragt.

Ich spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen. Die Nebenkostenabrechnung. Für eine Wohnung, in der Raphael längst nicht mehr wohnte. Er schrieb mir das so, als wäre es das Normalste auf der Welt. Nur war es das für mich nicht. Am liebsten würde ich den Kontakt mit Raphael abbrechen. Dass das unmöglich war, lag nicht nur daran, dass Milan seinen Papa behalten sollte. Sondern auch, weil ich so etwas wie eine 400-Euro-Nebenkosten-Nachzahlung nicht leisten konnte mit meinem Teilzeitgehalt. Und deswegen heute Morgen noch vor dem Vermieter weggerannt war, weil ich geglaubt hatte, er würde nachhaken, wann denn die Überweisung käme. Ich dachte es wieder, mein Mantra, das mich in diesen Tagen so oft begleitete: Ich musste aus dieser teuren Wohnung raus! Schnellstens. Und dafür brauchte ich Geld.

Geld fließt ganz leicht zu mir. Ich ziehe Geld magnetisch an.

So ein Quatsch. Niemand zog Geld einfach so an. Geld musste man verdienen. Durch mehr Gehalt, zum Beispiel. Durch eine Beförderung, zum Beispiel.

Ich schob mein Handy wieder in die Hosentasche und versuchte, die Gedanken an Raphael zu verdrängen.

Christine sprach gerade von Fingerspitzengefühl und von einem Krisengespräch mit Baum9. Sie blickte in die Runde. Dass Valerie dringend heute noch wegen der Layouts den Möbelhersteller anrufen und alles klären müsste. Geplatzte Naht hin oder her. Eine Juniorin blickte unsicher von ihrem Mitschrieb auf.

Für den Bruchteil einer Sekunde war es still im Konferenzraum. Gerade öffnete Valerie den Mund, so weit es ging, für eine Antwort, da brach es aus mir heraus.

»Ich mache das«, hörte ich mich sagen. Alle drehten sich zu mir um. Ich war Teil des Teams, das die Farbhersteller betreute. Ich hatte noch nie mit Baum9 zu tun gehabt. Ich kannte den Etat nicht. Valerie sah mich für einen kurzen Moment überrascht an. Dann ging der Blick in Wut über.

»Vielleicht sollte ich einfach …«, begann sie, aber ich schnitt ihr das Wort ab. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Mascha mich anstarrte.

»Kein Problem. Ich übernehme das. Wirklich.« Vor lauter Aufregung verschluckte ich mich und hustete kurz.

Selbst Christine zog überrascht eine Augenbraue hoch. Sie musste denken, ich wolle Valerie helfen. Oder vielleicht hörte sie an meiner Stimme ganz genau, dass ich mehr als das vorhatte. Ich wusste, dass das Valeries Gebiet war. Und dass ich eigentlich dafür keine Zeit hatte. Milans Kindergarten schloss um halb drei. Mein eigener Etat wartete auf neue Layouts. Das Fotoshooting mit den Beigetönen wollte organisiert werden. Ich hatte keine Ahnung, worum es im Detail bei Baum9 ging und wie die Ansprechpartner reagieren würden. Und so, wie Valerie herüberstarrte, würde sie mir keine Einzelheiten verraten.

»Okay.« Christines Stimme ging am Schluss nach oben. Versuch es mal, schien sie zu sagen. Ich nickte und nahm einen weiteren Schluck von meinem Kaffee, der heute ziemlich bitter geraten war.

Christine musterte mich immer noch.

Geld musste man verdienen. Durch mehr Gehalt, zum Beispiel. Durch eine Beförderung, zum Beispiel. Christine war genau die Richtige, um das zu verstehen. Und trotzdem war das als Teilzeitangestellte nicht einfach.

Ich schluckte den letzten Rest bitteren Kaffees hinunter und sagte: »Übrigens habe ich eine Idee für eine Neukundenakquise.«

Zwanzig Augenpaare ruhten auf mir. Ich hätte ja auch einfach später Christine beiseitenehmen können. Was immer mich geritten hatte, das zu sagen, jetzt hatte ich jedenfalls zwanzig Zeugen.

Christine strich sich eine Strähne ihres schnurgeraden Haares hinters Ohr. »Klingt interessant. Gibt’s was Konkretes?«

»Es … es ist noch nicht spruchreif. Ich präsentiere es dir, wenn ich es ausgearbeitet habe. Mit konkreten Zahlen.«

Mit konkreten Zahlen! Die einzigen Zahlen, die ich gut kannte, waren die Farbnummern der Kollektionen. »Ich … In zwei Wochen spätestens.« Christine runzelte die Stirn, aber dann nickte sie.

Mein Herz raste. Zwei Wochen. Zwei Wochen waren gar nichts. Vor allem, wenn man keinen einzigen Anhaltspunkt hatte, wo oder wie man einen neuen, zahlenden Kunden aus dem Hut zaubern sollte. Die wuchsen schließlich nicht auf Bäumen.

»Was, um Himmels willen, machst du da?«

Ich saß an meinem Schreibtisch und schluckte den Bissen Käsebrot hinunter. Dann antwortete ich: »Mein Mittagessen essen?«

»Das meine ich nicht!« Mascha hatte gewartet, bis Valerie in die Mittagspause verschwunden war, um mich zur Rede zu stellen. »Leonie Schäfer! Was ist bloß in dich gefahren? So habe ich dich ja noch nie erlebt!«

»Ich mich auch nicht«, murmelte ich, bevor ich den nächsten Bissen nahm. Mascha legte ihre Packung Sushi auf meinen Schreibtisch und zog sich einen Stuhl heran. Seufzend ließ sie sich darauf fallen, sodass ihre braunen Schraubenzieherlocken wackelten. Sie nahm die Stäbchen aus der Verpackung und zeigte mit ihnen auf mich. »Also los. Erzähl mir alles. Wieso bist du heute Morgen zum Vize-Drachen mutiert?«

Ich ließ mein Käsebrot sinken. »Samstag war ich in meinem üblichen Supermarkt an der Ecke. Ich glaube, Milan wächst wieder, ich muss praktisch jeden Tag neue Cornflakes kaufen, er mampft sie alle weg … Na ja, ist ja auch egal. Jedenfalls, als ich zum Kühlregal wollte, stand da Tamara.«

»Oh«, machte Mascha.

»Tamara, die sich nur mal schnell eine Buttermilch kauft. Und ich? Ich habe mich hinter meinem Einkaufswagen versteckt und bin zum nächsten Regal gerollt. Dort habe ich geduckt gewartet, bis sie weg war. Und dann habe ich völlig vergessen, selbst Milch mitzunehmen, weil ich die ganze Zeit nur damit beschäftigt war, dass Tamara mich nicht entdeckt.«

Maschas Miene war voller Mitleid.

Ich strich mir über die Stirn.

»Milan musste zu Hause die Cornflakes ohne Milch essen. Mascha, ich will mich einfach nicht mehr wegducken müssen. Ich muss aus dieser Gegend weg. Ich muss aus dieser Wohnung raus. Schnellstens. Und dafür brauche ich Geld. Für einen Umzug und dafür, meine nächste Wohnung alleine zu bezahlen. Inklusive aller Nebenkosten. Die hat Raphael nämlich auch schon wieder überwiesen.«

Mascha legte mir eine Hand aufs Knie. »Ach Leonie. So ein riesiger Mist. Dass die aber auch nur fünf Straßen weiter wohnen müssen … Ich meine, für Milan ist es toll, dass er seinen Papa so einfach sehen kann, aber …«

»Ja.« Ich schnaufte. »Aber für mich wohnt somit die Vergangenheit nur fünf Straßen weiter. Ich möchte ja auch nicht aus München weg, ich möchte nur …«

»Dich nicht wegducken müssen und dich in deinem Umfeld bewegen können, ohne der Affäre deines Mannes über den Weg zu laufen.«

Ich sah Mascha streng an. »Raphael und ich, wir waren nie verheiratet. Und vielleicht weiß ich jetzt auch, warum. Und Tamara ist nicht mehr die Affäre. Das war sie nur, solange Raphael und ich zusammen waren. Tamara ist jetzt die Lebensgefährtin.«

Als ich das sagte, hörte ich selbst, wie hart ich klang. Gar nicht wie ich selbst. Aber ich war in diesem Stadium, in dem der Schock nicht mehr neu war, wo die Traurigkeit verflogen und man wütend genug war, verrückte Dinge zu tun. Verrückte Dinge wie Versprechungen zu machen, man könnte einen Neukunden an Land ziehen, nur um mehr Gehalt und damit die Chance auf eine neue Wohnung zu bekommen.

»Okay.« Mascha legte ihre Stäbchen weg und drückte die Schultern durch. »Gehen wir die Aktion neue Wohnung an. Wonach suchen wir? Groß genug für Milan und dich, nicht zu weit draußen, aber schön und bezahlbar. Oh.« Sie ließ die Schultern wieder hängen.

»Genau.«

München war wunderschön. Ich liebte die Isar und den Englischen Garten, ich liebte Milans kleine Kita und den Bäcker mit den frischen Semmeln um die Ecke. Ich liebte die Biergärten und den weiß-blauen Himmel. Nur die Preise, die liebte ich nicht, seit ich alleinerziehende Mutter mit einer Teilzeitstelle war.

Mascha nickte langsam. »Verstehe. Deswegen diese Vize-Drachen-Aktion. Deswegen bist du Valerie so in den Rücken gefallen. Auch wenn es uncharakteristisch für dich ist. Leonie, ich bin vollkommen bei dir. Ich helfe dir mit dem Neukunden, wie auch immer ich kann.«

»Danke, du Liebe. Was würde ich nur ohne dich …«

Sie ließ mich nicht ausreden, schob meinen Bürostuhl mit mir darauf ein Stück weg und rollte vor meinen Bildschirm.

»Als Erstes geben wir eine Suchanzeige für eine Wohnung auf. Wer weiß, wer sich daraufhin meldet. Inseriert wird so etwas praktisch nicht, aber vielleicht sucht irgendein privater Vermieter händeringend nach einer tollen Person wie dir. Wir lassen da jetzt nichts unversucht!«

Mascha und ich verbrachten den Rest der Mittagspause, gemeinsam eine Anzeige zu formulieren. Dann nahm ich mein Herz in die Hand und rief Raphael an. Ich erklärte ihm, dass ich ausnahmsweise länger arbeiten müsse, und fragte, ob er Milan vom Kindergarten abholen könne. Er checkte seinen Kalender und sagte dann Ja. Er würde eine interne Besprechung auf den nächsten Tag verschieben. Kurz zögerte er.

»Ich habe den Rest des Tages dann keinen festen Termin mehr. Könnte ich Milan bis zum Abendessen dabehalten?«

Es war immer seltsam. Seltsam zu wissen, dass Raphael die Zeit mit Milan vermisste und sich nach Alltagsdingen mit ihm sehnte. Dass Milan mit Raphael und Tamara am Tisch sitzen würde wie eine kleine Familie. Dass Raphael nicht wusste, dass ich heute jede Minute hier zum Arbeiten brauchen würde und deswegen sogar dankbar war.

»Ja okay, dann …«

»Du könntest ihn um halb sieben holen. So wird es nicht zu spät für ihn.«

»Gut. Ich bin um halb sieben da. Bis dann.«

»Bis dann«, sagte Raphael, und manchmal klang er wie der Raphael, den ich einmal geliebt hatte.

Kapitel 2: Wacholdergrün

Leonie

»Ich habe die Farbe gekauft!« Meine Mutter stand in ihrem salbeigrünen Flur und hielt mir stolz eine Packung entgegen, noch bevor die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war. Ich ignorierte die Packung und umarmte sie erst einmal. »Hallo, Mama.« Schon von hier konnte ich im Wohnzimmer den Dschungel der Pflanzen sehen, der mir immer wieder ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Meine Mutter wusste nicht, dass ihre Seelenfarbe ein sattes Wacholdergrün war. Frisch, nährend, erdverbunden. Sie sagte mir nur immer wieder, wie wohl sie sich mit diesem sanft hellgrünen Flur fühlte, den ich ihr gestrichen hatte. Oder mit den Pflanzen, die ihre Freundinnen, ihr Freund Gerhard und ich ihr im Laufe der Zeit geschenkt hatten. Ich verriet ihr nicht, dass all das ein System hatte. Ein System, das dafür sorgte, dass sie sich hier fühlte wie ein Fisch im Wasser. Die richtige Umgebung war manchmal alles, was es brauchte, um glücklich zu sein.

Sie drückte mich fest und schob mich dann eine Armlänge von sich. »Müde siehst du aus. Ist viel los bei der Arbeit?«

Ich nickte. »Ja, ich komme direkt von der Agentur. Ich bin auch nur kurz hier. Nachher hole ich Milan bei Raphael ab.«

»Also haben wir Zeit hierfür?« Sie hielt die Packung erneut hoch. Eine Haarfarbe, um meinen dunklen Ansatz auszugleichen. Unwillkürlich legte ich die Hand auf den Scheitel. Aber es half ja nichts. »Ich denke ja.«

Schon eine ganze Weile hatte meine Mutter Andeutungen gemacht wegen meiner Haare. Und ich hatte ausnahmsweise den Friseurtermin hinausgezögert. Zugegeben, mir gefiel der Ansatz auch nicht, aber der Unterschied von sonnig-blond gefärbt zu meinem natürlichen Karamellton war nicht so gravierend. Ich sah nicht ungepflegt aus, nur nicht mehr ganz so wie ich selbst.

Aber wer das war, ich selbst, wusste ich ohnehin schon eine Weile nicht mehr.

Die letzten Hinweise meiner Mutter hatte ich abgewehrt mit der Begründung, dass ich mir einen Friseurbesuch derzeit nicht leisten konnte. Und das stimmte! Wenn Milan gleichzeitig neue Sommerschuhe benötigte, ging das eindeutig vor. Aber irgendwie hatte sie sich in den Kopf gesetzt, dass ich keinen Mann finden oder wiedergewinnen würde (hier eine bedeutungsvolle Pause), wenn ich so herumliefe. Meine Kleidung war sauber und sorgfältig farblich abgestimmt, meine Nägel waren gepflegt. Ich sah nun wirklich nicht verlottert aus. Dass ich Raphael, mit dem ich inzwischen schon neun Monate nicht mehr zusammen war, mich nicht zurückgewinnen wollte, ignorierte sie, und das wiederum ignorierte ich. Eine gut gelernte Choreografie. Also war ich auf ihren Vorschlag eingegangen, meine Haare so zu färben, dass ich zukünftige Friseurbesuche umgehen könnte.

»Bernsteinbraun«, las ich auf der Packung. Obwohl der Name nichts mit meinem Dunkelblond zu tun hatte, war ich überrascht, wie gut die Abbildung meine Naturhaarfarbe traf. »Das sieht ja gar nicht so schlecht aus.«

Es war ein seltsames Gefühl, vor ihr im Bad auf dem Hocker zu sitzen und mir von ihr die Farbe auf den Kopf schmieren zu lassen. Sie zog das Handtuch sorgsam an meinen Schultern zurecht und strich nach jedem Druck auf die Tube meine Haare gleichmäßig glatt. »So okay?«

Ich nickte nur. Ich fühlte mich mit einem Mal zurückversetzt in meine Teenagerzeit. Manchmal hatte ich mir die Haare selbst getönt, manchmal hatte sie mir geholfen. Egal, welches Farbexperiment ich durchziehen wollte, welchen Stil ich tragen wollte. Es waren Zeiten gewesen, in denen wir ein eingeschworenes Team gewesen waren. Neue Wohnung. Neue Nachbarn. Neue Schulklasse. Anders als andere Freundinnen, die froh waren, wenn sie mit ihren Eltern nicht in einem Raum sein mussten, war ich immer froh, dass wir unsere Sofa-Tage hatten: wir beide, zusammen im kleinen Wohnzimmer, jede auf ihrer Seite der Couch. Jede hatte gelesen, was sie hatte lesen wollen, oder gegessen, was sie hatte essen wollen. Wahrscheinlich hatten wir noch nicht einmal viel geredet. Aber die Nähe der anderen war wohltuend gewesen. Ich bin hier, hatte es von den Wänden geflüstert, die ich damals terrakottarot gestrichen hatte, und ich gehe nicht weg. Milan war jetzt zu klein, wahrscheinlich würde er sich nicht mehr daran erinnern, wie die Stimmung, wie das ganze Lebensgefühl wechselte, wenn die Familie von drei auf zwei schrumpfte. Und Raphael war sehr viel mehr Teil von Milans Alltag, als es mein Vater je gewesen war. Dreizehn war ich gewesen, als er endgültig gegangen war. Eine Unglückszahl.

Später setzten wir uns in ihren Wohnzimmerdschungel. Mit meinem großen Handtuch-Turban, unter dem noch eine Schicht Alufolie war – offenbar ein Geheimtipp, damit die Farbe besser aufgenommen wurde –, stieß ich bei jeder Kopfbewegung an die herabhängenden Blätter der Monstera. Meine Mutter stellte ein Tablett auf den Couchtisch. »Hier, ich hab dir eine Tasse Tee gemacht.«

»Danke.« Ich pustete in die Tasse. Sie war so umsichtig, mir einen einfachen Pfefferminztee aufzubrühen und nicht einen ihrer Hippie-Tees mit scharfen Gewürzen, die ich gar nicht mochte. Dabei hatte dieser Tee hier genau das Grün, das meiner Mutter so guttat. Ihre Seelenfarbe. Ihre Seele. Ich lächelte in meine Tasse.

»Wie geht es dir?«

Mein Lächeln verwelkte. Seufzend stellte ich die Tasse ab. »Ich habe mich heute meiner Kollegin Valerie gegenüber unmöglich verhalten, und ach ja, Samstag habe ich mich vor Raphaels Neuer im Supermarkt weggeduckt.«

»Oh.« Sie legte die Hände in den Schoß.

»Ja.«

»Klingt nach einer harten Zeit.«

»Das ist es auch. Ich muss unbedingt eine andere Wohnung finden.«

Sie schüttete mit so viel Schwung Tee in ihre Tasse, dass alles überschwappte. »Huch!« Hastig stand sie auf, holte ein Küchentuch und tupfte den Couchtisch trocken.

Als sie endlich fertig war und sich wieder gesetzt hatte, sah sie mir immer noch nicht in die Augen.

»Mama, ich weiß, was du jetzt sagen willst.«

»Nein, ich meine, ja …« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Tasse und sagte dann: »Ich habe ja immer gesagt, dass du bleiben solltest, weil Milan sonst sein Umfeld verliert.«

»Ich weiß.«

»Und dass das für dich damals ziemlich hart war.«

»Ja. Aber ich hatte dich. Du warst mein Umfeld.«

Sie legte ihre Hand auf mein Knie.

»Das stimmt. Und … Ich verstehe ja, dass du dieser … Frau nicht dauernd über den Weg laufen kannst.«

»Ich suche einfach etwas, das so nahe ist, dass Milan in der Kita bleiben kann, und so weit weg, dass ich mehr Abstand gewinne. Nur ist alles, was ich bis jetzt gefunden habe, furchtbar teuer.«

»Gibt es denn keine Zwischenlösung? Ich weiß nicht. Einen Übergang. Du musst ja nicht gleich alles Knall auf Fall hinter dir lassen.«

»Das tue ich doch gar nicht! Milan wird Raphael weiterhin genauso oft sehen. Nur ich hoffentlich nicht.«

Meine Mutter wischte einen unsichtbaren Krümel vom Couchtisch, dann ließ sie den Blick durchs Wohnzimmer schweifen. Kurz blieb sie dabei an meinem Alu-Turban hängen, kniff die Augen zusammen und überlegte weiter. Zu der Monstera neben der Couch sagte sie: »Einen Urlaub auf einer Insel, damit du runterkommst.«

»Zu teuer.«

»Ein Wohnungstausch mit jemand anderem.«

»Hm, würde so etwas gehen? Mit Milan? Ich weiß nicht.«

»Oder … Oder die Wohnung deines Vaters.«

»Die Wohnung am Viktoriaplatz? Aber die ist doch vermietet.«

»Ja, das ist sie. Aber …« Sie nippte nachdenklich an ihrem Tee, rieb sich an der Nasenspitze. Ihre halblangen, naturgewellten braunen Haare standen über dem Ohr leicht ab. Sie war nach wie vor der Mensch mit den längsten Wimpern, den ich kannte, und den freundlichsten Augen. Wenn sie so nachdachte, sah sie aus wie eine gute Waldfee: erdig, natürlich, nicht immer von dieser Welt. »Wenn ich mich richtig erinnere, ist in der Wohnung deines Vaters ein Zimmer frei.«

»Wie meinst du das? Hast du sie überwacht oder so etwas?« Ich zog die Augenbrauen hoch, um zu zeigen, wie sarkastisch ich das meinte. Dabei wackelte mein Turban bedenklich.

»Nein, nein, ich weiß nur noch, dass dein Vater damals in den Mietvertrag hat eintragen lassen, dass das dritte Zimmer frei bleibt. Weißt du? Das ist so ein winziges Nebenzimmerchen. Und er wollte irgendwie, ich weiß nicht, sich etwas offenhalten, falls er mit Marianne streitet, oder was weiß ich, oder falls du mal eine Couch zum Übernachten brauchst.«

»Die hätte ich zur Not ja bei dir, die Couch.«

»Das stimmt. Warum auch immer er das wollte, ich erinnere mich, dass er das durchbekommen hat: Die Wohnung wurde damals an einen Wochenendheimreisenden vermietet, und das dritte Zimmer blieb praktisch unbewohnt. Weil es so klein ist, war es offenbar kein Problem. Mit dem Mietpreis ist er dem Mieter entsprechend entgegengekommen, das war der Deal. Wahrscheinlich passt in dieses Zimmer nur eine Matratze rein, mehr nicht.«

»Ich kann ja schlecht mit Milan in ein Mini-Zimmer ziehen.«

»Das sollst du ja auch gar nicht. Ich dachte nur, als Zwischenlösung, nur für dich.«

Die Zwischenlösung. Da war sie wieder. Mama hatte Raphael immer gemocht, sehr sogar. Jedes Mal, wenn ich mit ihr sprach, versuchte sie, mir irgendwie zu vermitteln, dass Raphael ja wieder zurückkommen könnte. Warum sie das dachte, war mir schleierhaft. Die Zeichen standen nicht gerade auf Versöhnung. Und sie selbst hatte es in ihrer Trennungsgeschichte von Papa auch nicht so erlebt. Blieb nur eins: Es war absolutes Wunschdenken. Weil sie hoffte, es würde mich glücklich machen. Das war schließlich alles, was sie wollte.

»Mama …«

»Nein, nein, nicht so vorschnell!« Sie stellte ihre Tasse ab und richtete sich auf. Plötzlich war ein Leuchten in ihren Augen. »Was wäre, wenn du das einfach mal testen würdest, bevor du diesen riesigen Kraftakt unternimmst, in München eine bezahlbare Wohnung für dich und dein Kind zu suchen? Was wäre, wenn du einfach mal nur für ein Wochenende in dieses Nebenzimmer gehen würdest für eine Auszeit, in der du zur Ruhe kommst und dabei dieser … Person nicht über den Weg laufen kannst?«

Das klang tatsächlich nicht schlecht. Und ich liebte sie dafür, dass sie Tamara grundsätzlich nur »diese Person« oder »diese Frau« nannte und das Gesicht dabei verzog, als hätte sie in eine Zitrone gebissen.

»Ich muss mir für die Arbeit tatsächlich mal in Ruhe Gedanken machen, wo ich einen Neukunden auftreibe. Und eine Auszeit klingt nicht schlecht. Aber was soll ich gerade dort?«

Meine Mutter zuckte lapidar mit den Schultern. »Es kostet dich im Gegensatz zu einem Hotelzimmer nichts.«

Ich schnaubte. »Das ist leider wahr.«

»Maus«, Mama nannte jeden Maus, den sie liebte, Milan, mich und ihren Gerhard. »Mach das doch. Dann kommst du mal runter. Hast eine andere Perspektive auf die Dinge. Du brauchst einfach Zeit, um dir über alles klar zu werden.«

Ich hatte den Verdacht, dass das Mamas Worte waren für: Um zu überlegen, ob du Raphael nicht doch zurückgewinnen kannst. Aber für den Moment hörte ich ihr gebannt weiter zu. Irgendetwas an dieser Vorstellung, mich für achtundvierzig Stunden aus allem einmal herauszunehmen, war einfach zu gut. Mich in einem Umfeld zu bewegen, das mich nicht mit jedem Einrichtungsstück an Raphael erinnerte. Mich in einem ganz anderen Stadtteil von München aufzuhalten, sodass ich Tamara nicht über den Weg laufen würde. Und trotzdem war ich nur eine U-Bahn-Fahrt entfernt, falls etwas mit Milan sein sollte.

»Und natürlich hat man zwischen Arbeit und einem Fünfjährigen keinen Kopf für irgendwas. Ich weiß, dass das alles sehr anstrengend ist. Aber Leonie, es könnte noch anstrengender sein, gerade jetzt in einer neuen Wohnung ein neues Leben mit neuen Freunden und Nachbarn für dich und Milan aufzubauen. Gib dir Zeit.«

Zeit. Vielleicht hatte sie recht. Ich brauchte Zeit. Zeit …

»Oh mein Gott, Mama, die Zeit!«

Ich fasste mir an den Turban. »Wie lange ist das Zeug jetzt schon drauf?«

Sie schlug die Hand vor den Mund.

Ich rannte ins Bad. Das waren doch jetzt dreißig statt fünfzehn Minuten gewesen!

»Das ist bestimmt nicht so schlimm …«, hörte ich Mama aus dem Flur.

Ich zog den Aluberg vom Kopf, beugte mich hektisch über die Wanne und wusch mit der Duschbrause kopfüber die Haarfarbe aus. Das Wasser lief mir in die Augen. Ich fluchte, gleichzeitig spürte ich, wie Mama mir von der Seite ein Handtuch hinhielt, und nahm es dankbar an.

Schnell rubbelte ich die Haare ab, drückte mir das Handtuch auf die brennenden Augen und richtete mich auf.

»Wie sieht es aus?«, fragte ich.

Es lag ein minimales Zögern in ihrer Stimme. »Wenn man es föhnt, wirkt die Farbe meistens noch anders«, sagte sie.

Ich drehte mich um und sah in den Spiegel.

Meine Haare waren dunkel. Viel zu dunkel. Eindeutig dunkler, als auf der Verpackung abgebildet. Mir fiel sofort die richtige Farbbezeichnung dafür ein: Tamaras Braun.

Kapitel 3: Aquamarinblau

Leonie

Das hier war … ein Desaster. Ich war nach Hause gerast und stand nun vor meinem Badezimmerspiegel mit dem goldenen Rand. Und vor dieser furchtbar blöden Affirmation, die daran klebte. Ganz bewusst sah ich weg. Ich hatte völlig andere Sorgen: Meine Haare waren dunkel! Ich zupfte an einer einzelnen Strähne, nahm die Haare dann in einen kurzen Pferdeschwanz zusammen. Ließ sie wieder offen fallen. Die Farbe war ein dunkles, sattes Mokkabraun. Nur dass mir dieses Braun ein blasses Gesicht zauberte. So, als ob mir Sorgen und Traurigkeit aus dem Kopf gewachsen wären. Aber das stimmte ja gar nicht. Das war nicht ich. Ich war karamellblond, und am besten sah ich aus, wenn man dieses Blond noch mit helleren Strähnen strahlen ließ. So als ob ich Zuversicht, Ideen und ein Lächeln ausstrahlen würde. So, als ob es ein leichter Sommertag wäre.

Das Problem war: Tamaras Haarfarbe war genau dieses dunkle Mokkabraun. Und ich durfte auf gar keinen Fall danach aussehen, als ob ich ihr nacheifern würde. Energisch nahm ich noch einmal meine Haare zusammen und versuchte, einen Dutt zu formen. Was würde das denn sonst vermitteln? Dass ich dachte, Raphael würde zu mir zurückkommen, wenn ich so aussähe wie Tamara? So ein Quatsch! Ich wünschte mir Raphael nicht zurück. Ich wünschte mir nicht, auszusehen wie Tamara. Alles, was ich mir wünschte, war, etwas weiter weg zu wohnen und eben nicht jeden Tag an die beiden erinnert zu werden. Schon gar nicht jedes Mal, wenn ich in den Spiegel sah.

Ich ließ die Haare los und setzte mich kraftlos auf den Badewannenrand. Okay, Leonie Schäfer, denk nach. Was ist jetzt der nächste beste Schritt?

Ich hatte noch eine halbe Stunde. Die Zeit würde nicht reichen, meine dunklen Haare zu überfärben, und außerdem wusste ich gar nicht, wie ich das anstellen sollte. Wie könnte ich eine frische Färbung aufhellen, ohne dass dabei noch mehr schiefging und ich hinterher etwa einen Grünstich hatte?

Gleich würde ich Milan abholen müssen. Ich musste ein andermal zum Drogeriemarkt gehen und dort meine passende Nothilfe suchen oder doch einen Friseurtermin buchen. Jetzt brauchte ich etwas, das mir sofort helfen würde. Ich griff nach dem Badehandtuch neben mir, ließ es dann aber wieder sinken. Ich könnte mit Turban auftauchen und sagen, meine Haare wären nach dem Duschen noch nass, aber was, wenn er mir herunterrutschte? Vielleicht im peinlichsten Moment, genau dann, wenn Tamara vor mir stand? Nein, das Handtuch schied aus.

Entschlossen stand ich auf und lief in den Flur. Ich öffnete die Kommodenschublade. Hier mussten alle Tücher, Kappen und Mützen sein … Ich schob Milans Wintermütze beiseite, ein Baumwollhalstuch, das federblau und dünn war. Wenn ich mir das wie auch immer um den Kopf wickelte, würde man deutlich die Haarfarbe durchscheinen sehen. Eine Baseballkappe von Milan – ich setzte sie auf – war entschieden zu klein. Sie blieb wie ein wackeliges Sahnehäubchen oben auf meinem Kopf sitzen, bevor sie zu Boden fiel. Ich grub die Hände tiefer in die Schublade und stieß zwischen Handschuhen und Milans Schals auf etwas Festes, Muschelweißes.

Das Album. Ich schob die Schals beiseite und zog das dicke Fotoalbum heraus.

Stimmt ja. Das letzte Mal, als ich auf dem Sofa gesessen und das Album angesehen hatte – ein gutes halbes Jahr musste das jetzt her sein oder sogar länger? –, hatte ich es irgendwohin verstauen wollen, wo ich es garantiert nicht so schnell wiedersehen würde. Ich wollte es nicht im Regal stehen haben, hatte es aber nicht fertiggebracht, es wegzuwerfen. Schließlich waren hier auch viele Familienfotos mit Milan drin. In einer Kurzschlussreaktion hatte ich es, es musste ein bereits frühlingshafter Märztag gewesen sein, in der Kommodenschublade versenkt. Weil ich gewusst hatte, dass ich so schnell nicht wieder in den Wintersachen kramen und darauf stoßen würde. Einen Atemzug lang hielt ich das Album in der Hand. Dann schlug ich es auf.

Ich hielt mir die Seite mit dem Foto so nah vors Gesicht, dass meine Nasenspitze fast das Papier berührte. Körnige Auflösung, ein Schnappschuss im Dämmerlicht. Hier auf dem Bild hatte ich die Hände in die hinteren Hosentaschen gesteckt, streckte mich mit dem Oberkörper zu Raphael. Der fuhr sich gerade durch die Haare. Und sah mich so an. Die Körpersprache war auch in schlechter Auflösung zu erkennen. Die Farben stimmten nicht, die Kamera hatte nicht besonders viele Pixel gehabt, aber ich erinnerte mich noch an das Kieselgrau der Steine am Seeufer. An das Orangerot des Lagerfeuers. An das kratzige Sandbraun seines Strickpullovers, als er mich zum ersten Mal in den Arm nahm. Was er anhatte, als er mich das letzte Mal umarmt hatte, wusste ich nicht mehr.

Ich seufzte, und der Atemstoß wurde warm vom Papier zurückgeworfen, das ich immer noch so nah vor meine Nase hielt. Für einen Moment ließ ich das Album auf die Kommode zurücksinken. Blätterte um. Nahm meinen Mut zusammen und zog es wieder heran.

Und da war sie. Die Hoffnung. Konnten Gefühle auch eine Seelenfarbe haben? Wenn ja, dann war die Hoffnung azurblau. Wie der Himmel auf diesem Foto aus dem ersten gemeinsamen Spanienurlaub. Sonne, Strand, ein korallenroter Bikini. Und darüber das Azurblau unendlich, unendlich weit. So viele Möglichkeiten. So viel Hoffnung. Auf ein gemeinsames, schönes Leben. Auf noch bessere, noch glücklichere Zeiten.

Die weiteren Bilder musste ich nicht mehr ansehen. Ich kannte sie bereits auswendig. Die von Raphaels Studentenbude, in der ich praktisch mitgewohnt hatte. Die späteren Fotos, ein anderes Brillenmodell, ein erschöpftes, aber glückliches Lächeln. Die Pullis weniger kratzig. Die Wohnungseinrichtungen nicht mehr provisorisch. Dafür mehr Dreitagebart. Das erste silberfarbene Haar an seiner Schläfe, viel zu früh, wie er lachend behauptet hatte.

Ich klappte das Album so heftig zu, dass das Patschen von der Flurwand zurückhallte. Eine Ewigkeit war das jetzt her. Eine Ewigkeit, von einer Umarmung am Lagerfeuer bis zum einsamen Herumstehen in einer Wohnung, in der es von den Wänden hallte.

Wenn die Hoffnung azurblau war, welche Farbe hatte dann die Enttäuschung?

Nein, Enttäuschung war nicht das richtige Wort für das steinschwere Gefühl in meinem Bauch.

Es klingelte an der Tür, und ich schreckte hoch. Oh Gott, wie viel Uhr war es? Ich sah auf die Wanduhr. Zwanzig nach sechs. Gleich musste ich los. Es klingelte noch mal, ein ungeduldiger Ton, und gleichzeitig rief eine Frauenstimme: »Ich bin’s!«

Unwillkürlich musste ich grinsen. Sie konnte nicht einmal warten, bis ich es zur Tür geschafft hatte.

Erst als ich die Hand auf die Türklinke legte, registrierte ich, dass ich mit der anderen Hand immer noch das Fotoalbum umklammerte. Mist. Ich versteckte es hinter meinem Rücken. Dann öffnete ich die Tür.

Meine Nachbarin und langjährige Freundin Billie hielt eine Rotweinflasche, wiederverkorkt, in mein Blickfeld. »Ta-daa! Wir wollten euch mal wieder zum Grillen nach drüben einladen. Außerdem habe ich noch etwas Wein übrig, und da wollte ich dieses eine Kochbuch von dir ausleihen …« Ihr Lächeln versiegte. Sie sah mich erstaunt an. »Du hast dunkle Haare!«

Im ersten Moment erwiderte ich nichts. Sie ließ mir auch gar keine Zeit dazu.

»Steht dir gut! Aber … Hast du geweint?«

»Nein!« Ich blinzelte. Mir über die Augen wischen konnte ich nicht, weil ich das Album verstecken musste.

Sie machte ein paar Schritte in den Flur hinein. Ihr Handy, das sie wie immer an dieser glitzernden Kette umhängen hatte, klackerte dabei an ihre große Gürtelschnalle. »Ich wollte es lieber direkt mit dir ausmachen als am Telefon, wann ihr mal wieder …« Dann stutzte sie. Griff nach meinem Arm.

»Was hast du denn da?«

Ich sagte doch tatsächlich: »Nichts!«

Sie schnappte sich das Album. »Gib mir das!« Stattdessen drückte sie mir die Rotweinflasche in die Hand.

»Du weißt doch, dass ich nicht trinke!«, protestierte ich.

»Seit jetzt schon«, erwiderte sie trocken. Typisch Billie. »Hast du das etwa gerade angeschaut?« Vorsichtig legte sie das Album auf die Flurkommode. »Mensch, Leonie! Wieso denn?«

Ich schloss die Tür, lehnte mich dagegen. »Nein, nein, ich habe es gerade nur … aufgeräumt.«

»Du solltest dir das gar nicht mehr ansehen!« Sie gestikulierte mit den Armen in der Luft. »Ich weiß ja nicht, warum du wieder … Oh, warte.«

Sie sah mich noch prüfender an. Ich blinzelte schon wieder.

»Warte mal. Bald ist der achte September. Richtig? Wann genau?«

Ich sah auf meine Fußspitzen, wackelte mit dem großen Zeh.

»Am Sonntag. Am Sonntag ist der achte September.« Der achte September, an dem es noch so warm war, dass man mit Freunden abends ein Lagerfeuer am See machen konnte, mit kieselgrauen Steinen, orangerotem Feuer und sandbraunem Pulli. Und einer besten Freundin, die das in einem Schnappschuss für immer festhielt.

Billies Stimme wurde ein Flüstern.

»Es sind jetzt zehn Jahre, oder? Ein Jubiläum. Raphael und du, ihr seid vor zehn Jahren zusammengekommen. Deswegen ist es gerade so …«

Ich hob den Blick, vor meinen Augen verschwamm ihre besorgte Miene.

Verdammt. Warum mussten beste Freundinnen immer alles so genau wissen?

»Stopp!« Sie sagte es so resolut, dass ich zusammenzuckte.

»Du vergießt jetzt keine einzige Träne mehr, verdammt«, mit einem Ruck entkorkte sie die Flasche, die mir dabei fast aus der Hand rutschte. »Du weinst jetzt nicht deiner Vergangenheit hinterher. Das ist das alles gar nicht wert!« Sie griff nach ihrem Handy. »Du bist seit einem Dreivierteljahr alleine und widmest dich jetzt der Zukunft. Der Zukunft, Baby! Wir finden dir einen Neuen. Einen jungen, knackigen, willigen …«

»Oh Gott.« Ich nahm einen tiefen Schluck aus der Flasche, schüttelte mich wegen des ungewohnt herben Geschmacks, der in meinem Mund alles zusammenzog.

Billie konzentrierte sich auf ihr Display. Sie murmelte: »Okay, gut, muss ich so eine Dating-App runterladen, oder geht das auch über den Browser, wenn ich dir jetzt ein Profil anlegen will?«

»Bist du verrückt?« Ich versuchte, ihr das Handy zu entreißen und dabei nichts aus der Flasche zu verschütten. »Kommt gar nicht infrage! Ich mache doch kein Online-Dating!«

Ich suchte keinen Mann, ich suchte eine Wohnung!

»Du sagst das ja so, als wäre das unanständig! Oder als gäbe es da nur Idioten. Das ist doch eine totale Neunzigerjahre-Einstellung. Man kann online auch einen finden, der vertrauenswürdig und liebevoll ist. Ja, das ist gut!« Sie beugte sich über ihr Handy, als gäbe sie diese Worte in das Suchfenster ein, und sagte dabei gedehnt: »Ver-trauens-würdig und liebe-voll.«

»Wage es ja nicht!« Jetzt musste ich doch lachen. Das war ganz klar ein Manöver, um mich aufzuheitern. Billie würde niemals gegen meinen Willen so ein Profil erstellen.

Sie ließ das Telefon sinken und lächelte mich an.

»Ach, Süße«, sagte sie nur.

»Ja«, sagte ich, nickte, und dann kam noch aus meinem Mund: »Ich glaube, ich habe gerade ein größeres Problem als das.« Ich zeigte auf meinen dunklen Schopf.

»Sieht doch gut aus …«

»Ich sehe aus, als würde ich Tamara nacheifern. Das hier war komplett ein Unfall. Und es ist überhaupt nicht die richtige Farbe für mich. Was mache ich denn jetzt? Wenn mich Tamara so sieht?«

»Hast du einen Sonnenhut? Oder … eine Schwimmkappe vielleicht? Markus hat im Keller noch einen Motorradhelm …« Als ich den Kopf schüttelte, bekam ihr Gesicht einen kämpferischen Zug. »Weißt du, was, wieso solltest du dir nicht die Haare färben dürfen? Auch in so einem Ton? Du hast dein eigenes Leben. Das mit Tamara nichts mehr zu tun hat. Die und Raphael sind jetzt miteinander glücklich. Bitte schön, meinetwegen. Aber du bist es einfach auch, auf deine Art. Scheiß doch darauf, was die denkt.«

Dieses Bild – Raphael, glücklich, mit Tamara – vermischte sich in meinem Bauch ungut mit dem Alkohol. Ich linste auf die Wanduhr, schlüpfte dann in meine Flipflops, stellte die Flasche auf die Kommode. Direkt neben das dicke muschelweiße Fotoalbum. Energisch zog ich die Kommodenschublade noch einmal auf, nahm meine Kaschmirmütze heraus, die dunkel amethyst-violett war. »Billie«, ich zog mir die Mütze auf den Kopf und steckte alle Haare darunter, die noch herauslugten, »das mit dem Grillen machen wir nächste Woche. Ich freue mich darauf. Aber jetzt muss ich los. Der einzig wahre, richtig tolle Mann, den ich in meinem Leben brauche, wartet nämlich auf mich.«

Billie schnaubte. »Milan zählt nicht.«

Ich öffnete die Tür mit Schwung: »Und ob der zählt!«

Auch wenn ich es nicht erwarten konnte, Milan abzuholen, mochte ich diesen Weg nicht. Ich mochte diese fünf Straßen nicht, vorbei an gepflegten Häuserreihen und einem großen Kirschbaum, vorbei an der Bäckerei, deren Duft schon zwei Ecken vorher in der Luft lag. Ich mochte das kanariengelb gestrichene Haus mit den türkisfarbenen Balkonen nicht. Das sollte wohl lustig sein? Lebensfroh oder so etwas? Es störte mich nicht nur, weil das Raphaels neues Zuhause war. Wie war er ein Mensch geworden, den ich nicht mehr kannte? Wie war er ein Mensch geworden, der in einem gelben Haus mit türkisfarbenen Balkonen leben konnte? Wobei, Raphael hatte sich nie an solchen Farbkombinationen gestört, sondern ich. Meine Flipflops klatschten laut auf der Straße, als ich einen älteren Mann mit Dackel überholte.

Im Hausflur roch es nach Zitronenreiniger. Ich hielt die Luft an und drückte auf den Klingelknopf, auf dem wie selbstverständlich Brandt / Graf stand.

»Das ist Mama!«, hörte ich es drinnen rufen. Und ein aufgeregtes Füßetrappeln. Jetzt, wo sich ein Grinsen auf meinem Gesicht breitmachte, spürte ich erst, wie fest ich gerade die Zähne zusammengebissen hatte. Die Tür öffnete sich, und da stand Tamara. Mein Grinsen verschwand. Milan kam angeflitzt, warf sich mir in die Arme, als hätte er mich nicht heute Morgen das letzte Mal gesehen, und ich beugte mich hinunter und verbarg mein Gesicht in seinen Haaren. »Na du?«, sagte ich leise.

»Mm«, machte Milan und drückte mich noch fester. »Coole Mütze!«, fand er dann. Ich widerstand dem Drang, sie mir noch tiefer ins Gesicht zu ziehen.

»Hallo, Leonie«, sagte Tamara, und wie immer klang es wie eine Entschuldigung.

Ich richtete mich auf, sagte: »Ja. Hallo«, und sah ihr nun doch in die Augen. Freundliche Augen hatte sie. Als ich sie Mascha zum ersten Mal beschrieben hatte, hatte ich das nicht gesagt, sondern alle Schimpfwörter verwendet, die mir eingefallen waren. Aber es stimmte. Freundlich und tief mokkabraun, genau wie ihre Löwenmähne. Das Problem mit Tamara war: Sie war nett. Und das passte mir ehrlich gesagt überhaupt nicht. Ihre Seelenfarbe war ein sattes Aquamarinblau, nicht ganz so knallig wie ihr türkisfarbener Balkon, sondern tief und angenehm. Und das sagte doch schon alles.

Sie starrte irritiert auf meine Wintermütze, öffnete den Mund für eine Frage, sah dann aber schnell weg. »Also dann …«, sagte sie, und ich wusste, was jetzt kam. Jedes Mal, wenn wir uns sahen, versuchte die nette Tamara von der seltsamen Situation abzulenken, indem sie Small Talk betrieb. Und das führte bei mir dazu, dass ich mir nur noch mehr auf die Zähne biss. Und sie daraufhin nur noch mehr redete. Und dieses Mal gab es nicht bloß den rosa Elefanten, sondern sogar eine violette Mütze, die sie auf keinen Fall erwähnen wollte. »Habt ihr was Schönes vor am Wochenende, Milan und du? In den Zoo vielleicht oder so?«

Treffer, versenkt. Sie wusste nicht, dass an dem Wochenende eigentlich Raphaels und mein Jubiläum war. Sie wusste nicht, dass das genau das falsche Thema war, um eine leichtere Atmosphäre heraufzubeschwören. Als ich nicht gleich antwortete, strich sie sich eine wilde Locke hinters Ohr und fuhr einfach fort. »Wir werden es wohl eher ruhiger angehen, vielleicht mal eine Fahrradtour oder so, aber ansonsten …«

Vielleicht wollte sie, dass das langweilig klang. Aber ich kannte diese ruhigen Wochenenden als frisch verliebtes Paar. Ich bekam die Zähne kaum auseinander, und schon gar nicht konnte ich jetzt auf ihr gemeinsames, harmonisches, blödes Wochenende eingehen, das für sie etwas ganz anderes bedeutete als für mich.

Ich räusperte mich. »Milan hatte seinen karminfarbenen Rucksack dabei …«, brachte ich hervor.