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Eine Liebe, die es einem erlaubt, man selbst zu sein. Das ist die Art von Liebe, die man bewahren sollte
Seit sie letztes Jahr von ihrem Verlobten am Altar stehen gelassen wurde, wünscht sich Holly nichts sehnlicher, als bis Weihnachten einen neuen Freund zu finden, den sie über die Feiertage mit zu ihrer Familie nehmen kann. Dass dieser Plan aufgeht, hofft auch Kai Kane, der Hollys täglichen Dating-Marathon in seinem Restaurant nicht länger mitansehen möchte. Deshalb macht der mürrische Inhaber ihr ein Angebot, das sie in ihrer Verzweiflung nicht ablehnen kann: Er hilft ihr bei der Suche nach Mister Right, dafür muss sie alle folgenden Dates woanders verbringen. Doch je erfolgreicher ihre Suche läuft, desto mehr bereut Kai seinen Plan. Denn mit ihrer aufgeschlossenen und chaotischen Art hat Holly längst sein Herz erobert ...
»Brittainy C. Cherry reißt einen in jeder Hinsicht mit. Ob emotional oder humorvoll - diese Frau ist unschlagbar. Für mich ist sie die Meisterin der perfekten Worte. Ihre Geschichten werden für immer einen festen Platz in meinem Herzen haben.« @LXVANESSAXL
Auftakt der neuen Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry
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Seitenzahl: 397
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Prolog
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Epilog
Die Autorin
Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX
Impressum
Brittainy C. Cherry
Wenn deine Wärme meine Kälte besiegt
Roman
Ins Deutsche übertragen von Ralf Schmitz
Seit sie letztes Jahr an Weihnachten von ihrem Verlobten am Altar stehen gelassen wurde, wünscht sich Holly nur eins: bis zu den Feiertagen einen neuen Freund zu finden. Sie kann sich nichts Schlimmeres vorstellen, als nach Birch Lake zurückzukehren und wieder allein bei ihrer Familie unterm Weihnachtsbaum zu sitzen – ohne jemanden, der sie von der Erinnerung an das letzte Weihnachten ablenken kann. In ihrer Verzweiflung startet Holly einen Dating-Marathon und verabredet sich jeden Abend zur selben Zeit mit einem anderen potenziellen Kandidaten im Mano’s, einem edlen Restaurant bei ihr um die Ecke. Damit erregt sie vor allem die Aufmerksamkeit des mürrischen Inhabers Kai Kane. Nicht nur bringt Holly mit ihrer fröhlichen und chaotischen Art in seinem Laden alles durcheinander, er kann auch nicht mehr mitansehen, wie sie jeden Tag aufs Neue von den Männern enttäuscht wird. Daher macht er ihr ein Angebot, das sie einfach nicht ausschlagen kann: Er hilft ihr bei der Suche nach Mister Right, dafür muss sie aber alle folgenden Dates weit weg von seinem Restaurant verbringen. Doch je erfolgreicher ihre gemeinsame Suche läuft, desto mehr bereut Kai seinen Plan. Denn Holly hat bereits lange vor Weihnachten sein Herz erobert …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle
das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für all die Typen, die ich über Dating-Apps kennengelernt habe:
Danke für all das, was ich in meinen Büchern verarbeiten konnte, ihr Idioten.
Ich hoffe, ihr genießt die Feiertage.
Du nicht, Marty.
Fick dich, Marty.
Heiligabend
»Bist du dir auch ganz sicher?«, fragte Cassie, als sie meinen Brautschleier richtete. Ich betrachtete mich im Umkleidespiegel. Ich sah aus wie meine Mutter an ihrem Hochzeitstag. Schon deshalb kamen mir beinah die Tränen.
Meine Mutter war die schönste Frau, die ich jemals gesehen hatte, daher erschien mir die Tatsache, ein paar ihrer Eigenschaften in meinem Gesicht zu erkennen, wie ein Geschenk. Meine dunkelbraune Haut hatte den gleichen Farbton wie ihre. Auch meine Stupsnase und mein herzförmiges Gesicht glichen ihr.
Mein Lächeln hatte ich ebenfalls von ihr, aber die Augen hatte ich von meinem Vater. Sie waren tiefbraun, mit Anzeichen goldener Sprenkel darin.
Mom war bis eben noch bei mir im Umkleidezimmer gewesen, hatte sich aber entschuldigen müssen, weil sie immer wieder in Tränen ausbrach und rief: »Mein Baby heiratet heute!«
Wenn meine Gefühle ein Fluss waren, dann waren die meiner Mutter ein Ozean – ausladend, vielschichtig und tief.
Mein Herz raste, als ich mich im schönsten aller Hochzeitskleider sah.
Cassie redete weiter auf mich ein, während sich mir der Kopf drehte. »Weil die Ehe eine große Verpflichtung bedeutet, und weil wir noch so jung sind, Holly, und weil …«
»Ich liebe ihn«, erwiderte ich und wandte mich um, während mir das Herz die Brust sprengte. Ich blickte auf den Verlobungsring an meinem Finger. Wärme erfüllte meine Brust, und die Freude ließ mein Herz hüpfen. Ich wusste, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Ich wählte den Mann, der mich wählte. »Wir sind seit Jahren zusammen, und ich weiß nicht, warum wir noch warten sollten. Ich verstehe ja, dass du mir als beste Freundin die ›Letzte Chance, dich in Sicherheit zu bringen‹-Rede hältst, aber mach dir keine Sorgen, ich habe mir den Richtigen ausgesucht, ich bin heute nicht die Braut, die sich nicht traut.«
»Gut«, sagte sie und glättete ihr rotes Seidenkleid. »Weil nämlich gerade der gesamte Ort in der Kirche darauf wartet, dass du vor den Traualtar trittst, da möchte ich nur ungern die Trauzeugin sein, die allen erklären muss, dass du die Hochzeitsfeier in letzter Sekunde abgeblasen hast.«
Ich schnippte mit den Fingern. »Wo wir gerade vom Feiern reden …« Ich raffte das schwere Kleid in meine Arme, lief zu meiner übergroßen Handtasche, entnahm ihr einen Stapel Papiere und hielt sie Cassie hin. »Ich habe die Kapitel gelesen und korrigiert, die du mir geschickt hast.«
»Was hat das mit der Hochzeitsfeier zu tun?«
Tatsächlich hatte es gar nichts damit zu tun, nur damit, wie mein Verstand tickte. Ständig stellte ich seltsame Verbindungen her. »Du weißt doch, dass da eigentlich kein Zusammenhang besteht, ich habe mich nur daran erinnert, dir die Kapitel zurückzugeben.«
Cassie schüttelte den Kopf. »Arbeitest du sogar an deinem Hochzeitstag?« Sie kicherte. »Minuten, bevor du vor den Traualtar trittst?«
»Was soll ich sagen? Ich bin eben mit Leidenschaft bei der Sache.« Ich zog einen Stift aus der Handtasche und nahm ihr ein paar der Seiten wieder ab. »Ich habe mir überlegt, dass wir noch …«
»Holly!«, schimpfte Cassie und zog mir die Blätter aus der Hand. »Heute wird nicht gearbeitet!«
Ich schmollte. »Heute wird nur geheiratet?«
»Heute wird nur geheiratet.«
»Na schön, aber sobald der Tag zu Ende ist, arbeiten wir weiter.«
»Vielleicht sollten wir uns auch Weihnachten freinehmen.«
»Sei nicht albern. Liebesromane schreiben sich nicht von alleine.«
Cassie und ich schrieben zusammen Bücher, seit wir Teenager waren, und hatten damit unter unserem Künstlernamen H. C. Harvey schon früh Erfolg gehabt. Gerade drohte unser Verlag mit einem unumstößlichen Abgabetermin. Was uns jedoch nicht wirklich schockierte, weil wir immer in letzter Minute abgaben. Wir waren zusammen in der Kleinstadt Birch Lake, Wisconsin, aufgewachsen und seit der Grundschule beste Freundinnen. In Birch Lake kannte nicht nur jeder jeden wie seine eigene Westentasche, sondern vermutlich auch noch die letzten vier Stellen von dessen Sozialversicherungsnummer. Ich war vor ein paar Jahren mit Daniel nach Chicago gezogen, hatte aber immer gewusst, dass ich im Kreis meiner Familie und Freunde in unserem kleinen Heimatort heiraten wollte.
Meine Anschrift mochte mich als Großstadtmädchen ausweisen, doch tief in meinem Herzen hatte ich noch immer eine Schwäche für das ländliche Wisconsin und meine kleinstädtischen Mitbürger. Alle dreihundertzwei – nein, falsch – dreihundertdrei Seelen. Ich hatte vergessen, dass Kelly aus der Bäckerei vergangenen Sonntag ihr drittes Kind bekommen hatte.
Und wie hätte man den Heiligen Abend besser verbringen können als mit einer zünftigen Birch-Lake-Hochzeit?
»Okay, meinetwegen. Aber konzentrieren wir uns lieber auf die momentane Situation. Sehen wir zu, dass du unter die Haube kommst«, sagte Cassie und unterband damit jedes weitere Wort über die Arbeit. Und als sie mir den Brautstrauß reichte, sah sie aus, als wollte sie jeden Augenblick in Tränen ausbrechen.
»Was?«, fragte ich.
»Nichts, gar nichts, es fühlt sich nur plötzlich so echt an, weißt du? Dich in dem Kleid zu sehen. Ich habe einfach Angst davor, meine beste Freundin zu verlieren.«
»Mensch, Cass, jetzt heul doch nicht! Ich weiß ja, dass Daniel und du euch nicht ausstehen könnt, aber ich verspreche, du wirst mich nicht verlieren. Außerdem bist du die eine Hälfte von H. C. Harvey. Du kannst mich gar nicht verlieren. Darunter würde nämlich mein Bankkonto leiden.«
Sie lachte leise und wischte sich die Tränen von den Wangen. »Damit das klar ist: Ich hasse Daniel nicht. Ich dachte nur nicht, dass er der Richtige für dich sein könnte.«
»Aber das ist er. Er ist der Einzige für mich.«
»Ja, das sehe ich jetzt auch. Egal, bringen wir dich unter die Haube.« Sie führte mich in die Vorhalle und blieb vor der Tür stehen, hinter der meine Eltern auf mich warteten.
Bevor Cassie die Tür öffnete, hielt sie noch einmal kurz inne und warf einen Blick in meine Richtung. »Bist du dir sicher, Holly?«, fragte sie ein letztes Mal.
Diesmal schien sie es ernst zu meinen.
Die Wirkung auf mein Nervensystem erschütterte mich ein wenig.
»Cassie, es ist Zeit für mich, zu sagen, dass ich mir sicher bin.«
»Ja, natürlich.« Sie drückte die Tür auf und ließ mich hindurchtreten.
Mum umarmte mich weinend, während Dad stumm lächelnd im Hintergrund stand. Mein kleiner Bruder Alec erklärte, ich sähe immerhin besser aus als mein sonst übliches nachlässiges Erscheinungsbild. Ein größeres Kompliment konnte man von einem Bruder unmöglich erwarten.
Alec und ich sahen uns nicht besonders ähnlich. Er glich eher unserem Vater. Wie dieser war er ein großer, schlanker Typ mit Buzz Cut. Wo ich Rundungen besaß, glich Alec einem Stecken. In der Grundschule hatten ihn alle ›Slim Jim‹ gerufen, und er hatte es gehasst. Ich beneidete ihn, weil er essen konnte, was er wollte, ohne dabei zuzunehmen, während ich schon zwei Pfund zulegte, wenn ich nur an einen Keks dachte.
Nach seinem halbwegs netten Kompliment nahmen Alec und Mum ihre Plätze ein.
Dann führte Dad mich zum Altar, wo Daniel auf mich wartete. Daniel wirkte nervös. Was mich nicht überraschte, denn er bekam jedes Mal Ausschlag, wenn er vor Menschen auftreten musste. Vor anderen zu reden, war seine größte Angst, sodass ihm die Vorstellung, vor der versammelten Stadt das Treuegelöbnis ablegen zu müssen, vermutlich um den Verstand brachte.
Doch als Dad mich meinem Bräutigam zuführte, meldeten sich auch meine Nerven. Ich wandte mich Cassie zu, um ihr den Strauß zu übergeben, und sie nahm ihn mit der Andeutung eines Lächelns entgegen.
Auch sie wirkte nervös, was merkwürdig war. Denn Cassie glänzte gewöhnlich vor anderen Leuten. Ihre extrovertierte Art hatte schon bei Dutzenden Signierstunden in hellem Glanz erstrahlt. Schwitzte sie etwa? Es war doch trotz der vielen Menschen nicht warm im Saal.
Pastor Thomas begann mit der Zeremonie, und ich spürte, wie mir meine eigene Nervosität auf den Magen schlug, als er sagte: »Wenn jemand der Anwesenden etwas gegen diese Verbindung einzuwenden hat, möge er jetzt sprechen oder auf ewig schweigen.«
Was für ein seltsamer Satz während einer Hochzeitsfeier! Ich hätte ihn gerne gestrichen, aber er gehörte nun einmal traditionell dazu. Und was konnte ich schon gegen Traditionen einwenden, selbst wenn sie total idiotisch waren? Man konnte sich doch unmöglich vorstellen, dass irgendwer aufstand und Einspruch …
»Ich erhebe Einspruch!«
Ich blinzelte.
Einmal.
Zweimal.
Dann ein drittes Mal.
Ich starrte Daniel an.
Die Worte sprudelten nur so über seine Lippen.
Meine Brauen zogen sich zusammen, und ich neigte den Kopf. »Was?«
»Ich erhebe Einspruch«, wiederholte er und schüttelte unentwegt den Kopf. »Ich erhebe Einspruch, Einspruch, Einspruch …«
Pastor Thomas beugte sich zu Daniel vor. »Ich denke, alle haben Sie bereits beim ersten Mal gehört, mein Sohn.«
Daniel strich mit einer Hand über seinen Anzug. »Ja. Natürlich. Verzeihung.« Er sah mich an und wand sich unbehaglich. »Es tut mir so leid, Holly.«
»Was soll das werden?«, wollte Cassie wissen, die neben mir stand und meinen Brautstrauß hielt. »Wage es bloß nicht, Daniel!« Sie schüttelte heftig den Kopf; ihre weit aufgerissenen Augen waren von Panik erfüllt.
»Was soll er nicht tun?«, fragte ich. »Er meint das nicht ernst. Es ist ein Scherz. Ein schlechter Scherz, aber immerhin ein Scherz.« Ich sah wieder Daniel an. »Nicht? Du meinst es nicht ernst, stimmt’s?«
Er kniff sich in den Nasenrücken. »Holly … Es tut mir leid … Ich …«
»Was soll das werden?«, fuhr auch ich ihn jetzt an, und mein Blick schoss zurück zu Cassie. »Was soll das?«
Ihre Augen blickten glasig. Das Entsetzen in ihrem Blick verwandelte sich in Zerknirschung. »Er verlässt dich.«
Ich kicherte und schüttelte ungläubig den Kopf. »Nein, das tut er nicht.«
»Doch, ich verlasse dich«, stellte Daniel fest, diesmal in einem Anfall von Selbstsicherheit. Ein bisschen zu selbstsicher für einen Mann, der tat, was er soeben getan hatte. Ein bisschen mehr Bescheidenheit, bitte, du verdammter Wichser!
»Wirklich?«, japste ich wie alle anderen in der Kirche. Seit dem interessanten Bekenntnis, Einspruch erheben zu wollen, war allgemein viel gejapst worden. Was sich vielleicht sogar hübsch angehört hätte, wäre es nicht im herzzerreißendsten Augenblick meines Lebens erfolgt. »Du meine Güte, du verlässt mich!«
»Ich bin in dich verliebt«, sagte er und blickte in meine Richtung.
Ich blinzelte heftig. In mich verliebt? Noch nie im Leben war ich dermaßen fassungslos gewesen. Wie konnte er mir sagen, er sei in mich verliebt, während er mich gleichzeitig an unserem Hochzeitstag sitzen ließ?
Meine Verwirrung endete, als ich bemerkte, dass er gar nicht mich ansah. Er blickte Cassie an.
Meine Cassie.
Meine Koautorin.
Meine beste, allerbeste Freundin.
Meine beste Freundin, die mit meinem Brautstrauß vor meinem Traualtar stand und Daniel fest in die Augen sah.
Meinem Daniel.
Meinem Verlobten.
Meinem besten, allerbesten Freund.
Gleich würde ich mich übergeben.
»Cassie!«, blaffte ich sie an, während sie einfach nur dastand. Sie hatte die Lippen leicht geöffnet, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Ich wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, um sie aus der Trance zu wecken, in der sie offenbar versunken war, und schnippte mit den Fingern. »Cassie, was ist hier los?«
»Ich liebe dich auch«, sagte sie zu Daniel, als würde ich gar nicht existieren.
Daniel trat mit ausgestreckter Hand einen Schritt auf Cassie zu.
Während mein Herz sank.
Sie ergriff seine Hand und ließ meinen Brautstrauß los, der achtlos zu Boden fiel. Eine der Rosen brach vom Stängel, die Blätter der Zantedeschien lösten sich aus dem Strauß, Schleierkraut streifte meine Absätze.
Mein.
Herz.
Sank.
Daniel nahm Cassies Hand fester, und zusammen liefen sie durch den Mittelgang der Kirche, vorbei an den dreihundertzwei – nein, falsch – dreihundertdrei Bürgern unserer kleinen Stadt. Kellys Neugeborenes weinte. Was ich dem Kind nicht verdenken konnte. Das Ereignis hatte sich in eine moderne Shakespeare-Tragödie verwandelt.
Daniel und Cassie ließen mich verwirrt, mit gebrochenem Herzen und allein vor dem Traualtar stehen.
Schon irre, wie mutterseelenallein man sich unter dreihundert Augenpaaren fühlen kann.
Da eilte Mum zu mir und schloss mich in ihre Arme. Dad blähte die Nüstern, als wollte er Daniel für das, was er getan hatte, vernichten. Dann bat er alle, doch bitte nach Hause zu gehen.
Alec hänselte mich nicht oder zählte mich aus. Er riss auch keinen dummen Witz unter Geschwistern, sondern schien mich ehrlich zu bedauern. Was alles irgendwie nur noch schlimmer machte.
In dem Augenblick schwor ich mir, mich niemals wieder zu verlieben. Ich bezweifelte stark, dass ich diesen Verrat so schnell verwinden würde, und wollte mir nie wieder die Blöße geben, so verletzt zu werden wie an diesem Tag. Niemals wieder würde ich mich jemandem so weit öffnen, dass er mich dermaßen tief verletzen konnte.
Ja, in dieser Hinsicht war ich mir absolut sicher.
Nie, niemals wieder würde ich mich auf einen Mann einlassen.
Zehn Monate später
»Ich kann nicht glauben, dass ich mich noch einmal darauf einlasse«, brummte ich, als ich in den Fond des Taxis stieg und wie ein Ballon, dem man die Luft rausgelassen hatte, in das fleckige Polster schrumpfte. Erst vor Monaten hatte ich mir fest vorgenommen, diesen Weg, nachdem ich im Frühjahr versucht hatte, wieder unter Leute zu gehen, nicht noch einmal einzuschlagen. Ich hatte mir geschworen, nie wieder auszugehen, und doch begab ich mich jetzt wieder geradewegs in Teufels Küche.
So war das mit dem Alleinsein – es führte einen unweigerlich in die übelste Lage.
Und nun, da die Weihnachtsfeiertage vor der Tür standen und alle Welt sich aneinander kuschelte, begab ich mich auf die Jagd nach jemandem, der mich auf andere Gedanken bringen würde. Und wenn es mit uns überhaupt so weit kam, konnte derjenige gerne auch meinen Körper auf andere Gedanken bringen. Schließlich hatte mich seit fast einem Jahr kein Mann mehr intim berührt.
Ja, ich hatte mich mit Männern getroffen, aber zu Intimitäten war es dabei nie gekommen. Ich kam mir schon vor wie die letzte Banane, die, verschrumpelt und unattraktiv, noch immer einsam im Regal lag. Wahrscheinlich würde ich zu Bananenbrei zerfallen, wenn ein Mann die Innenseite meines Oberschenkels berührte.
Ich hätte schwören können, ein Kichern zu hören, als ich mich wieder bei den Dating-Apps anmeldete: Schon witzig, dich hier wiederzusehen, Holly. Weißt du noch,wie du letzten Frühling gedacht hast, du wärst was Besseres? Das war echt drollig. Setz dich doch. Die Wichser, die du beim letzten Mal abgewiesen hast, sind alle noch hier und warten nur darauf, dir auf der Rückbank des Honda Civic ihrer Mutter an den Zehen zu lutschen.
Der erste Kandidat war Bentley, ein Grafikdesigner.
Wir trafen uns lediglich zu Kaffee und Kuchen. Ich stand auf Verabredungen zum Kaffee. Manche waren strikt dagegen, mir aber war es viel lieber, als mit jemandem essen zu gehen. Stellt euch nur mal vor, ihr trefft euch mit jemandem und merkt schon nach der Hälfte der Vorspeise, dass der Typ überhaupt nicht zu euch passt. Dann müsst ihr noch den gesamten Hauptgang aussitzen und so tun, als wärt ihr ernsthaft an diesem miesen Date interessiert!
Bei einer Verabredung zum Kaffee jedoch gab es immer die Möglichkeit zu einem schnellen Abgang. Wenn das Date den Bach runterging, würde ich mir noch einen Espresso oder, wenn ich entsprechend übermütig war, einen Cortado bestellen und mich anschließend vergnügt auf den Weg machen. Ohne stundenlange peinliche Zwangskonversation. Beim zweiten Mal konnte man sich immer noch zum Essen treffen. Aber beim ersten Mal? Da genügte ein Kaffee, zumal ich keine Zeit zu vergeuden hatte. Ich musste mich auf meine Arbeit konzentrieren, denn ich war neuerdings eine alleinschreibende Vollzeitautorin von Liebesromanen und hatte einen absolut unaufschiebbaren Abgabetermin vor der Brust. Eigentlich sollte ich überhaupt nicht ans Ausgehen denken, aber ich wollte in den kommenden Monaten einfach nicht allein sein.
Während der Taxifahrer das Café ansteuerte, nahm ich mir den Roman vor, den ich gerade las. Ich hatte immer ein Buch dabei, so wie andere ihre Handys – die Bücher waren einfach mit meinen Händen verwachsen. Stellt euch mal vor, ihr geratet in eine peinliche Lage und habt nichts, womit ihr eure Hände beschäftigen könnt. Bücher haben mir im öffentlichen Nahverkehr schon viele Male das Leben gerettet. Ihr wärt entsetzt, wenn ihr wüsstet, wie oft ich mich während unangenehmer Begegnungen im Stadtverkehr schon ins Lesen geflüchtet habe.
Bücher haben bereits Millionen Menschen aus ungemütlichen Situationen gerettet.
Der Taxifahrer hielt am Straßenrand. »Wir sind da. Macht zehn fünfzig.«
Ich bedankte mich und zahlte mit meiner Kreditkarte. Er sagte nichts, als ich ausstieg und die Tür hinter mir zuwarf.
Ich schob das Buch in meine Handtasche zurück und sah Bentley auf mich zukommen.
Wow!
Aus irgendeinem Grund sahen die Typen in echt immer besser aus als auf den Dating-Apps. Meistens mangelte es ihnen an fotografischem Talent, sodass es fast immer eine erfreuliche Überraschung war, ihnen persönlich zu begegnen. Es ließ sich unmöglich leugnen, dass Bentley gut aussah. Er war groß und hatte wunderschöne blonde Locken, von denen jede perfekt auf seinem Kopf saß. Und er trug Designer-Klamotten: einen Mantel mit spitz zulaufendem Revers von Ted Baker und Slipper von Salvatore Ferragamo. Meine Fähigkeit, Designer-Kleidung zu erkennen, ging auf das Konto meiner Mutter.
Als Bentley näher kam, stieg mir der Duft eines rauchigen, aber einwandfreien Parfums in die Nase.
Nicht schlecht, Bentley. Gar nicht schlecht.
»Hi, du musst Holly sein«, sagte er mit tiefer, weicher, berauschender Stimme. Als er vor mir stand, erkannte ich die Tom-Ford-Brille vor seinen schönen, haselnussbraunen Augen.
Ich lächelte ihn an und errötete ein wenig. »Ja, Bentley. Es ist schön, dich persönlich zu treffen.«
Ich wollte ihm die Hand geben, doch ehe ich dazu kam, bemerkte er: »Du siehst etwas molliger aus als auf dem Foto.«
Was im Namen von Mortal Kombat … Hatte er mir mit seinen Worten gerade einen Tiefschlag versetzt?
»Molliger?«, fragte ich mit hochgezogener Augenbraue. Das für ihn reservierte Lächeln verging mir.
»Du weißt schon …« Er gestikulierte und streckte die Hände aus, als wollte er den Wanst des Weihnachtsmanns umarmen. »Breiter.«
Ich blinzelte ein paarmal, dann marschierte ich zu dem Taxi zurück, mit dem ich gekommen war, und klopfte an die Scheibe. »Taxi! Taxi!« Schnell stieg ich wieder ein. Der Fahrer sah mich irritiert an, ehe ich im Material seiner Rückenlehne versank. »Bringen Sie mich zu unserem Ausgangspunkt zurück«, ächzte ich. Er startete den Motor und fuhr in die Richtung, aus der wir gekommen waren.
Wie ich Männer hasste. Wenn irgendjemand etwas Aufschlussreiches über mich wissen wollte, dann war es das: Ich hasste Männer! Ach, hätte meine Vagina sie doch nur genauso verachtet wie mein Herz.
Als wir vor meinem Apartmentkomplex hielten, berechnete der Taxifahrer fünfzehn Dollar.
»Was? Vor fünf Minuten waren es noch zehn Dollar irgendwas«, beschwerte ich mich.
Er zuckte die Achseln. »Die Inflation spielt verrückt.« Er tippte gegen den Bildschirm, der den Preis anzeigte. »Fünfzehn vierundfünfzig.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Sehen Sie mich lachen?«, gab er trocken zurück.
Ich knurrte in mich hinein. Der Taxifahrer war schon der zweite Mann, der mir heute Vormittag auf die Nerven ging, und ich hatte immer noch keinen Espresso bekommen. Mein Mut sank schneller, als Jack auf dem Stück Treibholz Rose’ Hand losließ.
Widerwillig bezahlte ich die Fahrt und stieg aus dem Wagen. Als ich auf das Haus zuging, in dem ich wohnte, grinste mich Curtis, der Portier, an. »Hey Holly, Sie sind aber schnell zurück. Hätte schwören können, Sie sind eben erst losgefahren.«
Ich erwiderte Curtis’ Grinsen. Er war ein älterer Herr in den Siebzigern und seit drei Jahren hier Portier. Er war ein äußerst freundlicher Mann und grüßte mich jedes Mal auf die liebenswürdigste Weise. Vielleicht hasste ich doch nicht alle Männer, nur die in ungefähr meinem Alter.
Ich griff in die Handtasche und zog meinen Roman heraus. »Sagen wir einfach, Bücher sind manchmal besser als die Wirklichkeit.«
»Ich muss sagen, ohne ein Buch in Händen würde ich Sie fast nicht wiedererkennen.«
»Bücher sind mittlerweile meine Uniform.«
Er tippte sich an die Mütze und hielt mir die Haustür auf, damit ich hineingehen konnte. Noch im Gehen begann ich mit dem nächsten Kapitel. Manche Autorinnen sagen, sie könnten nicht gut lesen, während sie selbst schreiben, aber das gilt nicht für mich. Ehe ich Autorin wurde, war ich eine absolute Leseratte, und es würde immer eine der Konstanten in meinem Leben sein, so viele Bücher wie möglich zu lesen. In diesem Jahr hatte ich schon zweihundertfünfzig gelesen und zweifelte nicht daran, bis Silvester mein Ziel von dreihundertfünfundsechzig zu erreichen. Vielleicht hatte mich seit längerer Zeit kein richtiger Mann mehr zum Höhepunkt gebracht, dafür sagten mir ausreichend fiktive Männer die richtigen Dinge, um mich erröten zu lassen.
Mit gesenktem Kopf trat ich in die Lobby, während ich einige der besten Dialogzeilen las, die mir je untergekommen waren. Sie waren so überirdisch gut, dass ich nur denken konnte: Wow, ich wünschte, ich würde so gut schreiben. Ich bewunderte Autorinnen mit einer solchen Begabung und fühlte mich so sehr in ihre Welt hineingezogen, dass ich schon selbst Schmetterlinge im Bauch bekam.
Dermaßen in meine Lektüre versunken, lief ich, ehe ich mich versah, gegen eine Wand.
Nein, Moment, das war überhaupt keine Wand.
»Mist!«, rief jemand, und Sekunden später schepperte es. Flüssigkeit ergoss sich über mich. Kreischend sprang ich vor den Scherben und spritzenden Flüssigkeiten zurück.
Ich triefte von Kopf bis Fuß vor Alkohol.
Mein Haar stank wie eine Halbliterflasche Whiskey, und mein Trenchcoat verströmte das unverwechselbare Aroma von Tequila.
»Was zur Hölle?«, blaffte der Fremde.
Als ich aufblickte, sah ich mich einem Mann mit denkbar griesgrämigem Gesichtsausdruck gegenüber. Ich hatte gar nicht gewusst, dass man so sehr das Gesicht verziehen konnte. Sein cremefarbenes T-Shirt war ebenso durchnässt wie das hell- und dunkelbraun gemusterte Hemd, das er darüber trug. Auch seine weißen Adidas-Turnschuhe waren jetzt nicht mehr weiß, und aus seinem perfekt gestutzten Bart tropfte es.
»Wollen Sie mich verarschen?«, fragte er grimmig.
Mein Blick flog von ihm zu meinem Roman. »Sie haben mein Buch ruiniert!«, schimpfte ich und spürte, wie ein außerordentlich nachvollziehbares Ausmaß an Zorn in mir aufstieg. Die Buchseiten waren klebrig und fleckig. Dabei wurde es doch gerade spannend. Das Paar in meinem Roman stand kurz vor dem ersten Kuss, nachdem sie sich vorher so episch an den Kragen gegangen waren, wie ich es noch nie zuvor erlebt hatte.
»Sie machen Witze. Sie haben mich angerempelt. Nicht umgekehrt.« Seine tiefe Stimme knurrte vor Wut. Dann fuhr er sich mit seiner klebrigen Hand durch das dunkelbraune Haar und schüttelte ein bisschen von dem Tequila heraus. Seine Augen waren braun. Braun mit bernsteinfarbenen Sprenkeln. Augen, in die man sich verlieben oder die man auf Anhieb hassen konnte. Das hing ganz davon ab, wie der Mann einen ansah.
Ich bekam den Hassblick ab.
»Ich bin zuerst hier gegangen«, widersprach ich ihm. »Außerdem sollten Sie nicht mit so einem Riesenkarton Schnaps herumlaufen, ohne auf Ihre Umgebung zu achten.«
»Und Sie sollten Ihre Nase nicht in ein Buch stecken, ohne auf Ihre Umgebung zu achten«, konterte er spöttisch.
»Alles in Ordnung?«, fragte Curtis, der in die Lobby kam, um sich das Malheur anzuschauen.
»Nein«, antworteten der Fremde und ich wie aus einem Mund. Vermutlich würden wir nie wieder über irgendwas einer Meinung sein.
»Sie hat mir das ganze Zeug aus den Händen geschlagen, weil sie nicht darauf geachtet hat, was um sie herum passiert«, erklärte der Typ.
Ich sah Curtis schmollend an und zeigte ihm mein Buch. »Er hat mir die Seiten versaut.«
Curtis grinste ein wenig und zuckte die Achseln. »Das Leben passiert, wenn wir nicht in alle Richtungen gleichzeitig schauen. Und manchmal gibt es eben eine Sauerei.«
Der gute, alte Curtis mit seinen Lebensweisheiten.
Der Typ, der den Charme von Curtis’ Bemerkung nicht erkannte, schnaubte verächtlich.
Manche wussten gute Dialoge eben nicht so zu schätzen wie ich, so viel stand fest.
Curtis ging zu dem Typen und klopfte ihm auf den Rücken. »Keine Sorge, Kai, ich lass das Chaos von der Putzkolonne beseitigen. Gehen Sie nur und säubern sich ein wenig.«
Kai.
Sein Name sagte mir jetzt nicht besonders zu. Und dazu sah er auch noch aus wie ein Kai. Eingebildet, arrogant und obszön. Aber nicht auf die Art obszön, die mir zusagte.
Ich hasste heute Vormittag alle Männernamen, von dem lieben Curtis mal abgesehen.
Zuerst Bentley, dann der Taxifahrer, und jetzt dieser Kai.
Langsam gewöhnte ich mich an den Gedanken, noch ein weiteres Jahr ohne Oberschenkelberührung zuzubringen.
»Das waren Spirituosen im Wert von über tausend Dollar«, stöhnte Kai. »Wer wird mir den Verlust jetzt ersetzen?« Sein Blick wanderte in meine Richtung. Sein Gesicht war immer noch zu einer Grimasse erster Güte verzerrt, und ich fragte mich unwillkürlich, wie hoch wohl sein Blutdruck war. Der Mann sah jedenfalls gestresst aus.
Ich warf die Hände in die Luft. »Sehen Sie nicht mich an! Sie schulden mir ein Buch.«
Er verdrehte die Augen. »Klar, weil Ihr Wälzer da genauso viel wert ist wie das hier.«
»Der ›Wälzer‹ ist ein Historienroman, vielen Dank auch. Und dass Sie den Wert nicht erkennen, heißt noch lange nicht, dass mein Buch weniger wertvoll ist als Ihr Schnaps.«
Ja, gut, das Buch hatte fünf Dollar neunundneunzig bei Walmart gekostet, aber das musste ich ihm ja nicht auf die Nase binden. Ihm und seinem hochnäsigen Ego. Ich wette, er war ein echter Partyschreck.
Und mir gefiel auch nicht, wie ihm das Wort ›Wälzer‹ über die Lippen kam. Er verwendete es als Beleidigung, was eigentlich ein Kompliment war. Solche Wälzer halfen mir über meine Durststrecke hinweg. Ich nahm solche Wälzer jeden Abend mit ins Bett, und wegen eben dieser Wälzer lief mein Deckenventilator im Dauerbetrieb, weil nämlich die von den Seiten ausgehende Hitze fast genügte, um mich zum Orgasmus zu bringen.
Fast.
Kai sagte jetzt nichts mehr. Grummelnd und finster um sich blickend strich er sich mit dem Daumen über die Nase. Dann machte er sich daran, die großen Glasscherben aufzuheben und sie in seinen Karton zu legen. Als er in die Hocke ging, strafften sich seine Arme ein wenig, und seine Oberarmmuskeln wölbten den Stoff seines Karohemds, was meinen Blicken nicht entging. Ebenso wenig konnte ich übersehen, wie stark seine Oberschenkel waren. Jede Wette, dass er zwischen diesen Bad Boys eine Wassermelone zerquetschen konnte, wenn er sich nur genug anstrengte.
Neulich erst war ich auf Social-Media-Abwege geraten und hatte mir – keine Ahnung – fünf Stunden lang einen Kerl angesehen, der mit nacktem Oberkörper Holz hackte und schließlich mit den Oberschenkeln eine Wassermelone zerquetschte. Warum zermalmte er mit den Oberschenkeln ein Kürbisgewächs? Fragt bitte nicht mich. Und wieso sah ich mir an, wie er besagtes Kürbisgewächs zermalmte? Nun ja, weil es … beeindruckend war.
Ich wette, Kai würde das auch hinkriegen. Natürlich mit griesgrämigem Gesicht.
Ich hasste es, dass mich jetzt dieses Verlangen überkam, als ich in seine Richtung blickte. Mein Körper war ein Verräter. Eigentlich sollten wir uns in einem Meer des Hasses, nicht der Anziehung suhlen. Warum waren Arschlöcher immer so unbestreitbar attraktiv? Eine Schande, dass Kai so gut aussah, während man über seinen Charakter nur das Gesicht verziehen konnte.
Einen Moment lang hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen der Glasscherben auf dem Boden. Also wollte ich ein paar Scherben für ihn aufheben.
»Hauen Sie einfach ab«, knurrte Kai leise.
»Sie werden mir nicht sagen, was ich tun soll«, blaffte ich zurück und hob eine Glasscherbe auf. Als ich sie in den Karton warf, schien Kai nur noch wütender zu werden.
»Nur weil Sie ein hübsches Gesicht haben, müssen Sie nicht meinen, Sie könnten hier Chaos stiften und sich anschließend noch ansehen, was Sie angerichtet haben. Verschwinden Sie!«
»Fick dich, Griesgram.«
»Träum weiter, Olivia.«
»Was soll das denn heißen?«
»Schon mal Popeye gesehen? Seine hohle, ahnungslose Freundin Olivia? So sind Sie.«
»Hatten Sie mich gerade nicht hübsch genannt?«
Er blinzelte verdutzt. »Wie bitte?«
»Sie hatten mich hübsch genannt.«
»Nein, ich habe Sie Olivia genannt.«
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Nein, davor. Sie sagten: ›Nur weil Sie ein hübsches Gesicht haben.‹«
»Himmel«, schnaubte er und raufte sich die Haare. »Das haben Sie meiner Bemerkung entnommen? Dass Sie hübsch sind?«
Ich fühlte, wie ich ein bisschen rot wurde. Was sollte ich sagen? Dreihundert plus Tage.
Ich hob eine große Glasscherbe auf, doch Kai streckte die Hand danach aus. »Geben Sie her, sonst schneiden Sie sich noch.«
»Auf keinen Fall«, widersprach ich und riss die Scherbe an mich.
Er versuchte noch einmal, sie mir abzunehmen, dabei schnitt sie tief in meine Handfläche, und ein Rinnsal Blut tröpfelte mir über Hand und Unterarm.
»Sehen Sie, was Sie angerichtet haben!«, schrien wir unisono.
»Ich?«, blafften wir beide zugleich.
»Ja, Sie!«, schimpften wir, einer das Echo der anderen.
Er langte hinter sich und zog einen weißen Lappen aus seiner Gesäßtasche. »Nicht bewegen«, sagte er, nahm meine Hand, wickelte das Tuch darum und zog es fest. »Halten Sie das.«
»Für einen Mann, der mich geschnitten hat, stellen Sie ziemlich viele Anforderungen.«
»Ich habe Sie nicht geschnitten!«
»Na, und ob Sie mich geschnitten haben! Und zwar ganz schön tief!«, stellte ich theatralisch fest.
Er verstummte, hielt aber weiter meine Hand fest, bis ich sie seiner Wärme entwand. Ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, der Schnitt hätte nicht wehgetan, doch mein Stolz ließ nicht zu, den Schmerz vor ihm zu zeigen.
Ich rappelte mich auf, drückte das Tuch auf die Wunde und schnaubte: »Ich würde ja gerne sagen, dass es mich gefreut hat, Sie kennenzulernen, aber ich will nicht lügen.«
»Wie Sie meinen, Olivia.« Er hielt kurz inne, dann legte er das Stück Glas, das mich geschnitten hatte, in den Karton voller Scherben. »Lassen Sie da jemanden draufgucken. Das muss vielleicht genäht werden.«
»Was interessiert Sie das?«
»Gar nicht«, brummte er, »glauben Sie mir.«
Mehr sagte er nicht.
Ich deutete Kais Mangel an weiteren Worten als Hinweis darauf, dass unser Meinungsaustausch zu Ende war. Und ich würde nicht zulassen, dass seine braunen, bernsteingesprenkelten Augen ein letztes Mal seinen Abscheu vor mir bekundeten.
Alkohol für tausend Dollar im Eimer. Stinksauer traf meine Stimmung nicht mal ansatzweise.
»Nun mach kein Drama draus. Es war ja nicht mit Absicht«, meinte Ayumu, als ich Mano’s Bar and Restaurant betrat. »Schwamm drüber.«
»Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich gehöre nicht zu denen, die Alkohol im Wert von tausend Dollar mit einem Schulterzucken abtun. Vor allem nicht in der Woche vor unserer Eröffnung.« Ich hatte in den letzten zweieinhalb Jahren daran gearbeitet, den Laden hier aufzumachen, und nun brach der Gewinn schon in der ersten Woche ein.
»Vertrau mir, Kai, das ist wirklich kein Problem«, versicherte mir Ayumu, mein bester Freund und Geschäftspartner. Wenn es darum ging, Gelassenheit an den Tag zu legen, war das eindeutig sein Part. Was mich betraf, lautete mein Vor- und Zuname »Verspannt«.
Versehentlich hatte ich die Bestellung alkoholischer Spezialitäten statt ans Restaurant an meine Privatanschrift adressiert. Der Teil mochte mein Fehler gewesen sein, doch alles Übrige ging auf Olivias Konto. Sie war die wahre Schurkin des Tages.
Wobei mir die Frau den Karton nicht mutwillig aus der Hand geschlagen hatte. Vielmehr hatte sie die Frechheit besessen, mir die Schuld an dem Unfall zu geben, während sie ihre Nase zentimetertief in ihr Taschenbuch gesteckt hatte. Nichts an ihr hatte auf ihre Umgebung geachtet, daher war es eindeutig ihr Fehler gewesen, als sie mit mir zusammenstieß.
Und sie war nicht zum ersten Mal so geistesabwesend gewesen. Seit zwei Jahren wohnte ich jetzt in diesem Gebäude, nur einen Häuserblock vom Mano’s entfernt, und hatte diese Frau, die Nase tief in eins ihrer Bücher gesteckt, dort schon oft ein und aus gehen sehen. Meine Wohnung lag im vierundzwanzigsten Stock, und jedes Mal, wenn ich mit dieser Frau im Aufzug fuhr, war sie in ein Buch vertieft, ohne Verbindung zu der Welt um sie herum. Ich hatte beobachtet, wie ihr die Leute aus dem Weg gingen, wenn sie gedankenlos herumwanderte wie Belle in der Kleinstadt aus Die Schöne und das Biest anstelle eines lebenden, atmenden Menschen in Chicago. Ihr Mangel an Achtsamkeit ging mir auf die Nerven. In Anbetracht ihrer Selbstvergessenheit war es schockierend, dass sie nicht längst von einem Taxi überfahren worden war.
Ayumu klopfte mir auf den Rücken und hielt an seinem blödsinnigen breiten Grinsen fest. »Ich hab schon nachbestellt, was kaputtgegangen ist. Wir sind super auf die Eröffnung Ende der Woche vorbereitet. Und hast du meine schicke Cocktailliste gesehen?«
»Ich dachte, wir bieten keine schicken Cocktails an.« Ich hatte nichts übrig für schicke Cocktails. Man brauchte viel zu lang dafür. Ich bevorzugte einfache Drinks: Cosmos, Negronis, Manhattans. Den ganzen schicken Quatsch brauchten wir nicht. Abgesehen davon war das Essen, für das Ayumu zuständig war, die Hauptattraktion des Restaurants. Mano’s würde eine Kombination aus hawaiianischer und japanischer Küche anbieten, wovon Ayumu und ich schon seit mehr als zehn Jahren geträumt hatten. Ich war in Kauai geboren und aufgewachsen; Ayumus Familie stammte aus Japan, war aber schon vor seiner Geburt nach Chicago gekommen. Als ich mit achtzehn nach Chicago zog, war Ayumu mein Mitbewohner auf dem College gewesen, bis er die Kochschule besuchte. Seitdem waren wir Freunde und Geschäftspartner.
Das Mano’s war für uns ein wahr gewordener Traum, und ich wusste, das Restaurant würde sich in erster Linie wegen Ayumus Talent als Koch auszeichnen. Wir hatten schon jetzt begeisterte Besprechungen von einigen der besten Restaurantkritiker der Stadt eingeheimst und waren bereits in der ersten Woche vollständig ausgebucht. Was nicht an unserer schlichten Getränkekarte lag. Die Leute kamen wegen des Essens.
Außerdem verstand ich mich auf klassische Cocktails. Zu den Dingen, die Ayumu und ich, abgesehen von der Auswahl unserer Barkeeper, gemeinsam hatten, gehörte unsere Begabung für klassische Cocktails. Wer den schicken Quatsch wollte, konnte in eines der Millionen übrigen Restaurants in Chicago gehen. Unsere Drinks waren einfach, aber gut. Manchmal bedeutete weniger mehr.
»Dann willst du meine Getränkeauswahl gar nicht sehen?«, quengelte er. »Ich kann dem Team vor dem Eröffnungsabend beibringen, wie man die Drinks macht.«
Ich zog die Brauen zusammen. »Hast du eine Getränkekarte gemacht?«
»Nein, könnte ich aber«, rief er, als hätte ich ihm soeben grünes Licht für die besagten Drinks gegeben. Aber noch hatte ich nicht zugestimmt. Als wir beschlossen, das Mano’s gemeinsam aufzuziehen, hatten wir abgesprochen, dass ich für die Bar zuständig sein würde, während er die Küche übernahm. Womit er die schicke Speisekarte gestalten durfte.
Das war sein Bereich.
Die Spirituosen waren meiner.
Doch ehe ich Ayumu widersprechen konnte, flog die Eingangstür des Restaurants auf und mein kleiner Bruder marschierte herein, seinen Rucksack auf den Rücken geschnallt. Er trug ein breites Grinsen im Gesicht, was für ihn der Normalzustand war. Ich hätte schwören können, der Junge wusste gar nicht, was ein Stirnrunzeln war. Kaum zu glauben, dass wir miteinander verwandt waren. »Guten Tag, die Herren. Heute ist ein fantastischer Tag, um berühmt zu werden!«, jubilierte Mano.
Ich sah meinen Bruder mit hochgezogener Braue an. »Müsstest du nicht in der Schule sein?«
»Ich hab diese Woche nur vormittags Unterricht, schon vergessen?«
Mist. Die Arbeit hatte so viel Zeit beansprucht, dass ich Manos Halbtagsunterricht in dieser Woche vollkommen vergessen hatte.
Er ließ sich an der Bar nieder und schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. »Ich muss erst wieder zum Footballtraining heute Abend zurück sein. Schenk mir was Starkes ein.«
»Ich werde dir nichts anderes als ein Glas Wasser einschenken«, gab ich zurück.
»Was hat es für einen Sinn, dein Restaurant nach deinem Lieblingsbrüderchen zu benennen, wenn du ihm nicht mal einen Gratisschnaps gönnst?«, seufzte er.
»Es ist eine gute Gelegenheit, dich zu ärgern. Ich liebe es, dich zu ärgern.«
»Hey, Ayumu, ich wette, du möchtest den Grill anzünden und mir ein paar Gerichte auf der Speisekarte zum Kosten vorsetzen«, sagte Mano und sah meinen Geschäftspartner mit Herzchen im Blick an.
»Ich könnte dir schnell was machen«, stimmte Ayumu zu.
»Du verwöhnst ihn. Besser wär’s, du würdest ihn nicht verwöhnen«, ermahnte ich ihn.
»Sagt der Mann, der ein Restaurant nach ihm benannt hat«, schoss Ayumu zurück.
Das geschah mir recht.
»Für den Loco Moco würde ich töten.« Mano schenkte Ayumu einen von Hoffnung erfüllten Blick. Was ich dem Jungen nicht verdenken konnte, denn Ayumu machte das beste Loco Moco von ganz Illinois. Wenn ich es aß, fühlte ich mich immer, als wäre ich wieder auf der Insel und atmete den Gischt der Brandung.
Ayumu verschwand in der Küche, um meinem Bruder etwas zu essen zu machen. Der nahm den Rucksack ab und ließ ihn auf den Boden fallen.
»Vielleicht solltest du den Rucksack lieber aufmachen und mit den Hausaufgaben anfangen.«
»Ich habe keine Hausaufgaben. Außerdem bin ich eh schon ein Einser-Schüler. Was erwartest du noch von mir?«
Ich erwartete von ihm, dass es so blieb. Mein Bruder war fünfzehn Jahre jünger als ich, und wir waren in vollkommen unterschiedlichen Welten aufgewachsen. In seiner Welt gab es Geld für Sport nach Schulschluss, die Möglichkeit zur Nachhilfe sowie einen Aufpasser, der sich zu Hause um alles kümmerte.
Ich hatte nicht so gelebt. Obwohl wir dieselben Eltern hatten, hatten wir nicht die gleichen Eltern gehabt. In meiner Kindheit waren Mom und Dad noch nicht bereit gewesen, Eltern zu sein. Sie hatten eher Partys und Alkohol im Kopf gehabt als meine Erziehung, sodass ich die meiste Zeit allein gewesen war.
Mano war erst zur Welt gekommen, nachdem unsere Eltern das alles hinter sich gelassen hatten. Sie hatten ihr Leben auf die Reihe gekriegt und sich als überaus erfolgreiche Fotografen etabliert. Ihre Arbeiten waren nicht selten in National Geographic erschienen, und sie hatten für einige der reichsten Familien der Welt gearbeitet. Für Mano waren unsere Eltern Heilige. Er hatte die Kindheit genossen, von der ich immer geträumt hatte. Als ich fünfzehn war und er zur Welt kam, hatte ich eine Menge gegen ihn einzuwenden gehabt. Doch als ich älter wurde, ging mir auf, dass er für die unschönen Seiten meiner Jugend nichts konnte. Außerdem war er als Bruder einfach der Beste. Er war immer das freundlichste und liebenswerteste Kind der Welt gewesen.
Es war unmöglich, ihn nicht zu lieben.
Unsere Eltern hatten Mano während ihrer Reisen hauptsächlich selbst unterrichtet. Doch als sein Wechsel auf die Highschool anstand, hatte Mano darauf bestanden, sich diese Erfahrung nicht nehmen zu lassen, und meine Eltern gebeten, während des Schuljahrs bei mir wohnen zu dürfen und eine Privatschule zu besuchen. Wir hatten nichts gegen diese Idee einzuwenden. Ich hatte keine Sekunde etwas dagegen gehabt, meinen Bruder während des Schuljahrs um mich zu haben, im Gegenteil. Mir gefiel die Gesellschaft eines Familienmitglieds durchaus. Ich vermisste den kleinen Scheißer sogar, wenn er die Ferien und den Sommer bei unseren Eltern verbrachte.
»Mom und Dad haben gefragt, ob du zu Thanksgiving kommst, nachdem du die Feiertage im vergangenen Jahr ausgelassen hast«, sagte Mano, als ich ihm ein Glas Eiswasser eingoss.
»Ich hab dir doch schon gesagt, dass ich Thanksgiving arbeiten muss.«
»Ayumu muss an Thanksgiving nicht arbeiten.«
»Ja, aber Ayumu arbeitet auch nicht so hart wie ich. Abgesehen davon kann ich nicht einfach alles stehen und liegen lassen und über die Feiertage nach Hawaii fliegen.«
»Wieso nicht? Ich kann das doch auch. Mom und Dad würden dir auch den Flug bezahlen.«
»Ich brauche ihr Geld nicht«, erwiderte ich ein wenig verbissen.
»Alter«, sagte Mano und lehnte sich schulterzuckend auf seinem Barhocker zurück. »Sag doch einfach, dass du die Feiertage nicht mit der Familie verbringen willst, weil unsere Eltern dir fünfzehn Jahre lang emotional geschadet haben. Aber es wäre gut, dich deinem Trauma zu stellen.«
Der Generation Z ging es andauernd darum, sich mit dem eigenen Trauma auseinanderzusetzen, es sozusagen bei den Hörnern zu packen und mit dem Mist in den Sonnenuntergang zu reiten. Ich hatte in Manos Alter nicht mal gewusst, was ein Trauma überhaupt war. Ich hatte nur gewusst, dass das Leben scheiße war, und es meinen Eltern übelgenommen. Und als Millennial ging ich wie die meisten von uns mit meinem Trauma um: Ich schickte meinen Freunden selbstironische Memes, machte Überstunden, um mich nicht mit meinen Gefühlen beschäftigen zu müssen, und begrub das besagte Trauma tief, tief in mir selbst, während ich begeistert an die Musik der 90er zurückdachte.
»Fein, Psychodoktor Mano, danke für den Tipp.«
»Ich mein ja nur, Mann. Je früher du deinen Dämonen ins Auge blickst, desto früher kannst du sie austreiben.«
»Ich ziehe es vor, mit meinen Dämonen zu leben. Dann schlafe ich nachts besser.«
Ich hatte erwartet, dass Mano darüber kichern würde oder so, aber stattdessen warf er mir nur einen mitleidigen Blick zu, bei dem ich mich am liebsten in die Emo-Musik der Nullerjahre versenkt hätte, weil ich eben ein Millennial war.
»Ich kapier ja, dass du die Feiertage nicht mit Mom und Dad verbringen willst. Was früher ja auch okay war, weil du Penelope hattest …«
»Halt die Klappe, Mano.«
»Ich weiß, ich weiß: Sprich ihren Namen nicht aus. Aber da du sie jetzt an den Feiertagen nicht mehr siehst, ist die Vorstellung, dass du mutterseelenallein feierst, ganz schön traurig, Mann.«
»Wer sagt denn, dass ich allein bin? Jack wird mir Gesellschaft leisten.«
»Sag mir bitte nicht, dass du damit Jack Daniels meinst.«
Natürlich meinte ich Jack Daniels. Und bitte was war daran das Problem? Feiertage waren doch nur eine Methode der Unternehmen, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen und sie zu zwingen, ihre Zeit mit Angehörigen zu verbringen, die die Hauptursache für ihre Therapiekosten waren.
»Aber Kai, mit Penelope …«
Ich fühlte Zorn in mir aufsteigen, als Mano zum zweiten Mal den Namen dieser Frau erwähnte, aber ich gab mir große Mühe, mir meine Wut vor ihm nicht anmerken zu lassen, so wie es unser Vater immer vor mir getan hatte.
»Wie wäre es, wenn wir das Thema wechseln?«, fragte ich mit einem gequälten Lächeln, griff nach einem Lappen und machte mich daran, energisch über die Oberflächen zu wischen, um meinen Verstand daran zu hindern, sich allzu sehr mit Penelope zu befassen.
Sie war der letzte Mensch, an den ich denken wollte.
Trotzdem schlich sie sich manchmal noch uneingeladen in meine Gedanken, und dann brauchte ich nicht auch noch Mano, der permanent auf das Thema zu sprechen kam. Was genügte, um mir den gesamten Monat zu verderben. Ich hatte während der letzten beiden Jahre hart daran gearbeitet, über ihren Verlust hinwegzukommen, und sie war das Letzte, woran ich in der Woche vor der Restauranteröffnung denken wollte.
»Schön, erzähl mir von deinem Vormittag. Ist irgendwas Aufregendes vorgefallen?«, fragte Mano und leerte sein Glas Wasser in einem Zug.
Mein Zorn kochte nur noch höher, als ich an meinen Vormittag dachte, und ich spürte, wie mein Augenlid zuckte, als meine Gedanken sich unversehens den zerbrochenen Flaschen und Olivia zuwandten, die sich die Hand daran aufgeschnitten hatte. Grummelnd näherte ich mich den Tischen im Gastraum, um auch sie gründlich zu säubern. »Nichts, was der Rede wert wäre.«
»Sicher?«
»Ja«, nickte ich. »Sicher.«
Drei Jahre zuvor
»Sicher?«, fragte ich.
Ich wusste nicht, dass ein Herz so tief erschüttert werden konnte, nachdem ich gerade noch gedacht hatte, es würde die Möglichkeit feiern, ein neues Leben in die Welt zu setzen.
»Sind Sie sicher?«, fragte ich noch einmal.
Wir saßen vor dem Schreibtisch des Doktors. In der Rechten hielt ich Penelopes Hand, deren Finger mit meinen verschränkt waren. Noch nie hatte ich die Hand eines Menschen so fest umklammert, während ihre Finger in meinem Griff bebten. Mir war speiübel. Ich war einer Ohnmacht nah.
»Ja.« Er nickte. »Ich bin sicher.« Der Arzt blätterte in der Krankenakte. »Leider. Wir haben uns die Unterlagen mehrmals genau angesehen. Penelope leidet an Krebs im dritten Stadium. Es ist eine sehr seltene Art, aber wir können sofort mit der Behandlung beginnen, und …«
»Entschuldigung, stopp, langsam.« Ich wedelte mit der freien Hand in der Luft herum, während mein Verstand sich alle Mühe gab zu verarbeiten, was gerade passierte. »Letzte Woche hatten wir positive Schwangerschaftstests. Wir sind hergekommen, um das Ergebnis durch eine Blutprobe zu bestätigen, was auch geschehen ist. Und ein paar Wochen später sagen Sie uns, es gibt gar kein Baby? Stattdessen hat Penelope Krebs?«
Der Doktor runzelte die Stirn. Sein Stirnrunzeln machte mich stinksauer. Es war wie eine Entschuldigung für etwas, das gar nicht stimmte. Es konnte unmöglich stimmen. Es konnte einfach nicht …
Er räusperte sich. »Mr Kane, ich weiß, das ist nicht leicht zu verkraften …«
»Wie ernst ist es?«, unterbrach Penelope ihn.
Das Gesicht des Arztes verzerrte sich noch mehr.
Ich würde mich gleich übergeben.
»Wir müssen so bald wie möglich mit der Behandlung beginnen«, erklärte er.
Tränen liefen über Penelopes Wangen. Meine eigenen hielt ich zurück. Schließlich konnte ich wohl schlecht jetzt zusammenklappen, wenn meine Frau mich am meisten brauchte. Ich rückte näher, legte meine Arme um sie und zog sie an mich. »Es ist okay«, flüsterte ich an ihrem Ohr, während sie ihren Gefühlen an meiner Schulter freien Lauf ließ. »Ich bin bei dir.«
Gegenwart
Meine Hand war gestern, nach einem Nicht-Date mit einem Typen, der mich »mollig« genannt hatte, mit drei Stichen genäht worden. Das fasste zusammen, welche Richtung mein Leben zurzeit einschlug.
Dieser entsetzliche Tag hätte mir eine Warnung sein sollen, die Essensverabredung mit meiner Mutter heute lieber abzusagen, doch dann würde sie sich nur Sorgen machen und rein zufällig vor meiner Wohnung aufschlagen.
»Du liebe Güte, Schatz, es ist schon viel zu lange her!« Mom eilte durch das Café auf mich zu, schloss mich in ihre Arme, und ich schmolz förmlich in ihre mütterliche Umarmung hinein. Sie hatte recht. Es war wahrhaftig zu lange her, dass ich nach Hause gekommen war, um sie zu besuchen. Dabei hatte ich eine Umarmung meiner Mom bitter nötig. Ich hatte so hart an meinem nächsten Roman gearbeitet, dass ich fast zu einem Einsiedlerkrebs geworden war. Und »hart arbeiten« hieß, dass ich täglich zwölf Stunden lang auf eine leere Seite gestarrt und mich gefragt hatte, wie mein Verstand es nur zulassen konnte, dass ich seit fast einem Jahr an einer Schreibblockade litt.
Cassie hatte der Welt inzwischen bereits ihr erstes Soloprojekt präsentiert, doch meine Blockade wollte sich einfach nicht lösen. Was echt unfair war.
»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragte Mom bestürzt, als sie einen Schritt zurücktrat und meine Verletzung entdeckte.
»Ich hab mich geschnitten. Aber alles gut, nur ein paar Stiche.«
»Ach, Süße, du musst besser aufpassen. Warum hast du mich nicht angerufen? Ich hätte dir helfen können. Immerhin bin ich Ärztin.«