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Grey hatte Spuren in meinem Herzen hinterlassen. Und ich hoffe so sehr, dass ich auch welche in seinem hinterlassen habe
Als ich meinen neuen Job als Nanny einer reichen Familie antrat, ahnte ich nicht, dass es Greysons Kinder waren, die ich betreuen würde. Und auch nicht, dass aus dem Jungen, den ich einmal geliebt hatte, ein Mann geworden ist - ein eiskalter, einsamer, unnahbarer Mann. Greys Lachen ist verschwunden. Alles an ihm ist in Schmerz versunken. Doch ab und zu erkenne ich noch den Jungen von damals in seinen sturmgrauen Augen - und ich weiß, dass es sich um ihn zu kämpfen lohnt.
"Brittainy C. Cherry ist für mich die Königin der Worte und Emotionen. Niemand kann dich mit seinen Geschichten gleichzeitig so glücklich und traurig machen wie sie." Berenikes Bücherhimmel
Auftakt der herzzerreißenden CHANCES-Reihe von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Brittainy C. Cherry
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Seitenzahl: 495
Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Erster Teil
Prolog
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
Zweiter Teil
21
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23
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29
30
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Dank
Die Autorin
Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX
Impressum
Brittainy C. Cherry
Wie die Ruhe vor dem Sturm
Roman
Ins Deutsche übertragen von Katja Bendels
Als Eleanor Gable ihren neuen Job als Nanny einer reichen Familie antritt, staunt sie nicht schlecht. Denn der alleinerziehende Vater der beiden kleinen Mädchen, um die sie sich von nun an kümmern soll, ist niemand anders als Greyson East – ihre erste große Liebe. Eleanor ist überwältigt von den Gefühlen, die das Wiedersehen mit Grey in ihr auslöst. Doch schnell wird klar, dass Grey nichts mehr mit dem Jungen, den sie einst kannte, gemein hat. Aus dem Teenager, der ihr zeigte, wie perfekt die Liebe das Leben machen kann, ist ein eiskalter, unnahbarer und einsamer Mann geworden. Greys Lachen, das Eleanor so geliebt hat, ist verschwunden, alles an ihm scheint in Schmerz versunken. Eleanor muss Grey versprechen, ihren Job zu machen – nicht mehr und nicht weniger. Sie soll auf Distanz bleiben und auch keine Erinnerungen an die Vergangenheit heraufbeschwören. Doch Eleanor erkennt ab und zu noch den Jungen von damals in Greys sturmgrauen Augen. Und Eleanor weiß, dass es sich um diesen Jungen zu kämpfen lohnt …
Für Mama.
Danke für deine Zuversicht.
»Wenn ich früher als kleiner Junge schlimme Bilder in den Nachrichten gesehen habe, hat meine Mutter immer zu mir gesagt: ›Sieh nach den Helfern. Du wirst immer jemanden finden, der hilft.‹«
– Fred Rogers
8. April 2003
Alles, was meine Mutter über das Leben wusste, hatte sie von Mister Rogers gelernt.
Sie nannte ihn den besten Lehrer in allen Lebenslagen und schwor, dass er ihr schon unzählige Male das Leben gerettet hätte. Jedes Mal, wenn sie etwas belastete, arbeitete sie sich mithilfe seiner Lebensweisheiten durch ihre Probleme. Wenn sie glücklich war, dann von ganzem Herzen. Wenn sie verletzt war, analysierte sie, was dazu geführt hatte.
Ich kannte keine Frau, die so sehr eins mit ihrer eigenen Energie war. Ihre Selbstwahrnehmung war einfach bewundernswert. Sie erhob niemals die Stimme und war immer die Ruhe in Person. In Gegenwart meiner Mutter konnte man einfach nicht wütend sein. Ich glaubte wirklich, das sei unmöglich.
Ihretwegen verbrachten wir unsere Dienstagabende mit Fred Rogers.
Nur an diesen Abenden aßen wir nicht am Tisch, sondern holten die Aufstelltabletts hervor, und es verging kein Dienstag, an dem sie, mein Vater und ich uns nicht eine Folge von Mister Rogers’ Neighborhood ansahen. Es war eine seltsame Tradition, doch meine Mutter folgte ihr bereits seit ihrer Kindheit. Sie selbst hatte die Sendung jede Woche mit Grandma angeschaut, und als sie Dad kennenlernte, musste er ihr versprechen, diese Tradition fortzuführen, sollten sie jemals Kinder bekommen.
Auch ich liebte es. Vermutlich gab es nicht viele Sechzehnjährige, die Mr Rogers kannten, geschweige denn mochten, aber, ganz ehrlich, sie verpassten etwas. Auch wenn die Sendung schon älter war, so waren die Lektionen, die man dort für sein Leben lernte, immer noch ziemlich aktuell.
Dieser Dienstag verlief nicht anders als sonst. Wir aßen Hackbraten und Stampfkartoffeln, wir unterhielten uns über Musik, wir lachten über Dads schlechte Witze und redeten über Mr Rogers’ Sammlung gehäkelter Jacken, die meiner ziemlich ähnlich sah, wenn man bedachte, dass Mom mir jedes Jahr eine zum Geburtstag häkelte.
Alles war gut, bis drei Worte meine Welt aus den Angeln hoben.
»Ich habe Krebs.«
Mein Körper reagierte auf eine Weise, die ich nie für möglich gehalten hatte. Ich fiel nach hinten gegen die Sofalehne, als hätte mir jemand eine Faust in den Magen gerammt und alle Luft aus meinem Körper entweichen lassen.
Ich sah meine Mutter an, verwirrt, überrascht, voller Schmerz. Meine Handflächen wurden feucht, mein Magen zog sich zusammen, und ich fühlte mich, als müsste ich mich übergeben.
»Was?«, flüsterte ich, das Wort kam mir kaum über die Lippen.
Drei Worte.
Es waren nur drei Worte. Drei Worte, die meine Stimmung änderten. Drei Worte, die mir das Herz brachen. Drei Worte, die ich nie hatte hören wollen.
Ich habe Krebs.
Mein Blick glitt zu Moms Lippen, als sie sprach. Zumindest dachte ich, dass sie das tat. Sagte sie überhaupt etwas? Oder bildete ich es mir nur ein? Oder verfolgten mich die Echos meiner Vergangenheit?
Grandpa hatte Krebs gehabt.
Er hatte gegen den Krebs gekämpft.
Er war am Krebs gestorben.
Dieses Wort verhieß nichts Gutes.
Ich schüttelte immer wieder fassungslos den Kopf, während die Tränen langsam über Moms Wangen rollten, und als ich zu Dad blickte, sah ich, dass auch seine Augen feucht waren.
»Nein.«
Das war alles, was ich sagen konnte.
Das war alles, was ich denken konnte.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Nein, das ist nicht wahr.«
Dad legte Daumen und Zeigefinger an seine Nasenwurzel. »Es ist wahr.«
»Nein«, wiederholte ich. »Ist es nicht.«
Mom konnte einfach keinen Krebs haben.
Menschen wie sie bekamen keinen Krebs. Sie war die gesündeste Frau der Welt. Ich meine, ihre Vorstellung von einem verrückten Snack waren gewürfelte Karotten-, Apfel- und Gurkenstückchen. Wenn man ihre Haut anritzte, blutete sie wahrscheinlich Brokkoli. Gesunde Menschen wie Mom wurden nicht krank. Sie wurden höchstens gesünder. Auf keinen Fall …
Oh nein …
Jetzt weinte auch Dad.
Dad weinte sonst nie. Ich konnte an einer Hand abzählen, wie oft ich ihn eine Träne hatte vergießen sehen.
»Eleanor …« Er nannte mich nur dann Eleanor, wenn er es ernst meinte, und mein Vater meinte so gut wie niemals etwas ernst. Er schniefte und schloss die Augen. »Das ist für uns alle schwer. Wir wollten es dir gleich sagen, nachdem wir es erfahren hatten, aber wir wussten nicht wie. Und außerdem gab es noch weitere Tests, und …«
»Wie schlimm?«, fragte ich.
Die beiden antworteten mir mit ihrem Schweigen.
Das war nicht gut.
Mein Herz fühlte sich an, als würde es mir jemand Stück für Stück aus der Brust reißen.
Mom drückte die Hand auf den Mund, während noch immer Tränen über ihr Gesicht liefen.
Dad sprach weiter. Und wieder nannte er mich bei meinem vollen Namen. »Eleanor … bitte versteh doch. Wir müssen alle zusammenhalten, um das hier zu überstehen.«
»Wir werden kämpfen«, versprach meine Mutter. Ihre Stimme klang zittrig und angstvoll und unsicher und gebrochen. »Wir werden ihn bekämpfen, Ellie, ich schwöre es. Du, dein Vater und ich. Wir werden kämpfen.«
Ich bekam keine Luft mehr. Ich wollte davonlaufen. Ich wollte aufstehen und aus dem Zimmer stürmen, aus dem Haus, aus dieser Wirklichkeit. Doch ich sah, wie meine Mutter mir in die Augen blickte. Wie sehr sie litt. Wie jede Faser ihres Körpers vor Angst und Schmerz bebte.
Ich konnte sie nicht allein lassen.
Nicht so.
Ich lehnte mich zu ihr rüber und schlang die Arme um sie. Vergrub mich in ihr, legte den Kopf an ihre Brust und hörte, wie ihr Herz raste. »Es tut mir so leid«, flüsterte ich, und die Traurigkeit überwältigte mich. Ich hatte keine Ahnung, was ich noch tun konnte, und so hielt ich sie noch fester und sagte immer wieder: »Es tut mir so leid. Es tut mir so leid. Es tut mir so leid.«
Sie zog mich an sich und hielt mich, als wollte sie mich niemals wieder loslassen. Und dann legte auch Dad die Arme um uns beide, und wir hielten uns fest, als ginge es um unser Leben.
Unsere Tränen flossen gemeinsam, und wir blieben lange so sitzen.
Und als der Schmerz nicht nachließ, legte Mom die Lippen an meine Stirn und sagte leise die Worte, die mich nur noch mehr zum Weinen brachten: »Es tut mir so leid, Ellie.«
Doch alles würde gut werden, denn wir würden gegen den Krebs kämpfen.
Wir würden ihn gemeinsam bekämpfen.
Und wir würden gewinnen.
21. Juni 2003
Alles, was ich über das Leben wusste, hatte ich von Harry Potter gelernt.
Ich nannte ihn den besten Lehrer in allen Lebenslagen und schwor, dass er mir schon unzählige Male das Leben gerettet hatte. Jedes Mal, wenn mich etwas belastete, schrieb ich Zaubersprüche, um Menschen in Ratten, Schnecken oder Kröten zu verwandeln.
Man muss wohl kaum erwähnen, dass meine sozialen Kompetenzen dürftig waren. Aber das war nicht schlimm, denn ich war wirklich gut darin, andere Menschen zu meiden – jedenfalls so lange, bis ich gezwungen war, mit ihnen zu interagieren.
»Du hast Raus-aus-deinem-Zimmer-Arrest.« Mom stand im Türrahmen und rieb sich mit den Handballen über das Gesicht. Ihre braunen Haare waren zu einem unordentlichen Knoten hochgebunden, und die Malerschürze, die sie sich um die Taille geschlungen hatte, verbarg ihr pinkfarbenes Pink-Floyd-T-Shirt. Ihre neongrünen Chucks waren voller Farbe, und das dicke pinkfarbene Gestell ihrer Brille saß oben auf ihrem Kopf, als sie mir ein strahlendes Lächeln schenkte.
Sie hatte den ganzen Tag in der Garage gemalt, denn an den Wochenenden konnte sie sich ganz ihrer Liebe zur Kunst widmen. In der Woche war sie die immer freundliche Nanny, die die Kinder vor einem Leben in Langeweile bewahrte. Aber an den Wochenenden konnte sie sie selbst sein.
Ihre Krebsdiagnose war zwei Monate her, und ich liebte es, wenn sie malte. Solange sie malte, hatte ich das Gefühl, alles sei gut. Solange sie noch sie selbst war, war jeder Tag leichter.
Und an den meisten Tagen war sie sie selbst. Manchmal war sie müde, aber sie war noch immer Mom. Sie legte sich nur häufiger hin, um sich auszuruhen.
Ich verengte die Augen und blickte von meinem Buch auf. »Du kannst niemandem Raus-aus-deinem-Zimmer-Arrest geben.«
»Doch, das kann ich. Dein Vater und ich haben darüber gesprochen, und wir verbieten dir, dich in diesen vier Wänden aufzuhalten. Du hast Sommerferien! Du solltest dich mit deinen Freunden treffen.«
Mein Blick wanderte von ihr zu meinem Buch und wieder zurück. »Was genau denkst du tue ich gerade?« Ich liebte meine Mutter. Sie war die beste Mutter der Welt, aber an diesem Nachmittag war sie wirklich rücksichtslos. Es war schließlich nicht irgendein Sommertag. Heute war der 21. Juni 2003, der Tag, auf den ich seit drei Jahren wartete.
Drei. Lange. Schmerzvolle. Jahre.
Und sie benahm sich tatsächlich, als wüsste sie nicht, dass heute Harry Potter und der Orden des Phönix in die Buchläden gekommen war. Der Umstand, dass sie überhaupt die Nerven hatte, über irgendetwas anderes als über Harry, Ron und Hermione zu sprechen, war unfassbar.
»Eleanor, es sind Sommerferien, und du hast noch kein einziges Mal dein Zimmer verlassen.«
»Aber nur, weil ich die ersten vier Harry-Potter-Bände nochmal lesen musste, um mich auf das hier vorzubereiten.« Das hätte sie aber auch wirklich verstehen können. Es war in etwa so, als hätte Grandma meine Mom früher, wenn ein neues Black-Sabbath-Album rausgekommen war, Milch kaufen geschickt, statt sie Musik hören zu lassen.
Total uncool.
Black Sabbath > Milch.
Harry Potter > Sozialleben.
»Shay sagt, heute Abend steigt eine Party«, erklärte Mom und setzte sich auf mein Bett. »Es gibt bestimmt Gras und Alkohol«, witzelte sie und stieß mich mit dem Ellbogen an.
»Toll«, spöttelte ich. »Wie könnte ich mir das entgehen lassen?«
»Okay, ich weiß ja, dass du nicht so ein Partylöwe bist, wie ich es früher mal war, aber ich finde, jede Sechzehnjährige sollte wenigstens einmal im Leben auf einer richtigen Teenager-Party ohne Erwachsene gewesen sein.«
»Wieso sollte ich das wollen? Wieso solltest du wollen, dass ich da hingehe?«
»Weil wir seit Anfang der Sommerferien keinen Sex mehr hatten«, mischte Dad sich trocken in unser Gespräch ein.
»Dad«, stöhnte ich und hielt mir die Ohren zu. »Hör auf damit!«
Er kam herein, setzte sich hinter Mom aufs Bett und legte die Arme um sie. »Ach, komm schon, Ellie. Wir alle wissen, dass Geschlechtsverkehr ein wundervoller natürlicher Akt ist, und wir alle sollten uns darüber freuen, wenn er in respektvollem beiderseitigem Einverständnis stattfindet.«
»Oh mein Gott, bitte hör auf, so zu reden. Ich meine es ernst. Hör auf.« Ich drückte die Handballen noch fester auf die Ohren, woraufhin beide lachten.
»Hey, er will dich doch nur ärgern. Eigentlich hatten wir uns einen Horror-Filme-Abend erhofft, und ich weiß doch, wie sehr du solche Filme hasst«, sagte Mom, und ich war ihr dankbar für die Warnung.
Einmal, als Kind, war ich ins Wohnzimmer gekommen, als meine Eltern sich gerade Chucky – die Mörderpuppe anschauten, woraufhin ich wochenlang davon überzeugt gewesen war, dass meine Puppen es auf mein Leben abgesehen hatten. Ich hatte mich beeilt, jedes einzelne Stofftier loszuwerden, das ich besaß. Irgendwie wird einem erst bewusst, wie gruselig Cabbage Patch Kids aussehen, wenn man sie sich mit einem Schlachtermesser in der Hand vorstellt.
Und ich will gar nicht erst davon anfangen, wie es war, als Dad dachte, ich wäre alt genug, um The Shining zu sehen.
Spoilerwarnung: Ich war es nicht.
Seitdem sah ich bei solchen Gelegenheiten zu, dass ich zu Shay kam.
»Au Mann, warum ausgerechnet heute?«, fragte ich. »Habt ihr das nicht erst letztes Jahr gemacht?«
Dad grinste. »Ist schon witzig. Du kannst dir das Erscheinungsdatum von Büchern merken, aber nicht den Hochzeitstag deiner Eltern.«
»Du würdest es verstehen, wenn du diese Bücher jemals gelesen hättest, Dad.«
»Sie stehen immerhin auf meiner Leseliste«, scherzte Dad. Aber das sagte er schon, seit der erste Band von Harry Potter rausgekommen war.
»Ich sag ja nur, dass es schön wäre, wenn dein Vater und ich das Haus heute Abend für uns hätten. Du weißt, wie schwierig es für uns ist, ein wenig Zeit für uns zu haben, um … du weißt schon«, sagte Mom.
»Sex zu haben«, ergänzte Dad, um alle Zweifel auszuräumen. »Ganz ehrlich, du kannst gerne hierbleiben, aber du weißt, wie dünn die Wände sind. Wenn du also nach den Schreien im Film auch noch deine Mutter schreien hören willst …«
»Hilfe … Ich wünschte, du würdest endlich zu reden aufhören.«
Es war das Hobby meiner Eltern, dafür zu sorgen, dass ich mich unbehaglich fühlte. Und sie waren auch noch unglaublich gut darin. Es machte ihnen grässlichen Spaß, mich leiden zu sehen.
Dad konnte einfach nicht aufhören, mich zu quälen. »Wenn du willst, kannst du dir auch einfach Ohropax in die Ohren stecken, wenn wir …«
Ich sprang von meinem Bett auf und rief: »Okay! Okay! Ihr habt gewonnen. Ich werde mit Shay auf diese Party gehen.«
Sie lächelten zufrieden.
»Trotzdem finde ich es ziemlich unhöflich von euch, mich mit diesem Gerede über Sex zu quälen, nur damit ihr euren Willen bekommt.«
»Oh Schatz.« Mom lächelte und legte den Kopf auf Dads Schulter, während er sie noch fester in seine Arme zog. Sie liebten sich so sehr. »Das Lustigste für Eltern ist es, die eigenen Kinder zu quälen. Vergiss das nicht.«
»Ich werde es mir merken. Ich bin um zehn wieder zurück, also seht zu, dass ihr bis dahin fertig seid.«
»Okay, aber mach heute Abend ruhig Mitternacht draus! Du bist jung! Und jetzt geh, sei frei! Tob dich aus!«, rief Dad. »Und hab ein Auge auf Shay, ja?«
»Werde ich.«
»Oh, brauchst du Kondome?«, fragte Mom, und ich wand mich vor Unbehagen, während sie jede Sekunde genoss.
»Nein, geliebte Mama. Alles gut.«
»Alles gut?«, fragte Shay, als wir am Abend vor dem Haus irgendeines Teenagers standen. Sie schaute in ihren Taschenspiegel und trug noch ein Pfund Lipgloss auf. Meine Cousine war wunderschön – und damit meine ich die Art Schönheit, die bei einem High-School-Kid einfach nicht fair zu sein schien –, und sie war immer schon so schön gewesen. Meine Tante Camila war eine umwerfende Hispana, und Shay kam mehr nach ihr als nach meinem Onkel Kurt, was ein Segen war, denn Kurt war ein Arschloch. Je schwächer die Verbindung zu ihrem Vater, desto besser.
Und sie hatte das Aussehen ihrer Mutter geerbt, oh ja. Ich hätte schwören können, dass Shay am Tag ihrer Geburt auf einem roten Teppich herausgerollt war und auf die Fragen der Paparazzi nach ihrem Outfit geantwortet hatte: »Body von JCPenny.«
Ihr Haar war so schwarz wie das von Schneewittchen, und ihre Augen dunkelschokoladenbraun mit Wimpern, von denen andere Mädchen nur träumen konnten. Sie hatte Kurven an den Stellen, an denen ich nur platte Reifen vorweisen konnte, aber das Allerbeste an Shay war, dass sie sich kein bisschen auf ihre Schönheit einbildete. Sie gehörte zu den bodenständigsten und witzigsten Menschen, die es gab, und war, dank ihres Arschlochs von Vater, zudem eine überzeugte Feministin.
Wir redeten eigentlich nicht viel über Kurt, denn Shays Eltern hatten sich getrennt, und ich hielt es so für das Beste. Wenn Shay ihren Vater mal erwähnte, dann nannte sie ihn nur einen ›Shitty Shithead‹, der ihr und ihrer Mutter das Leben schwergemacht hatte.
Dad bezeichnete Kurt immer noch als seinen Bruder, auch wenn er nicht besonders stolz darauf war. So wie Mufasa Scar nicht verleugnete, obwohl er genau wusste, dass sein Bruder ein hinterhältiges Arschloch war.
Aber wer weiß, vielleicht wären die Dinge anders gelaufen, wenn Mufasa Scar auf seine Schwarze Liste gesetzt hätte.
Hakuna matata, schätze ich mal.
Shay bezeichnete sich selbst zwar nicht ausdrücklich als Männerhasserin, nannte sich aber gerne einen Frauen-Fan.
Und genau das liebte ich an ihr, denn in unserem Alter machten die meisten Mädchen sich gegenseitig nieder, um an die Jungs ranzukommen. Was für eine Energieverschwendung, als hätte die High School sie ihr gesamtes Spice-Girl-Training aus der Grundschule vergessen lassen.
Shay stand kerzengerade in ihren High Heels, und, lieber Himmel, dieses Mädchen konnte High Heels tragen.
Mir taten die Waden schon weh, wenn ich mir nur vorstellte, ich müsste so etwas anziehen.
»Ja, alles in Ordnung«, sagte ich und blickte auf meine gelbe Wolljacke mit den Libellen hinunter, die Mom für mich gehäkelt hatte. Darunter trug ich ein altes Metallica-T-Shirt, das ich meinem Dad gemopst hatte, weil er es seit 1988 nicht mehr über den Bauch bekam. Meine liebste Ripped Jeans und gelbe Chucks vervollständigten mein Outfit.
Mein kakaobraunes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, und das Einzige, das in meinem Gesicht entfernt an Make-up erinnerte, waren die mikroskopischen Reste der Seife, mit der ich es am Morgen gewaschen hatte. Zumindest glänzte meine Zahnspange frisch geschrubbt.
Ich hätte einen Push-up-BH anziehen sollen. Nicht, dass es viel geholfen hätte. Push-ups funktionierten nur, wenn es auch etwas gab, das man pushen konnte.
Ich zählte jetzt schon die Stunden, bis diese Party endlich vorüber war, während eine handgewebte Tasche – ebenfalls von Mom – lustlos von meiner Schulter baumelte.
»Da sind hauptsächlich die Jungs aus dem Basketballteam und deren Freunde«, erklärte Shay, als ob das meine Einstellung zu der Party irgendwie beeinflussen würde, die ich zu hassen längst beschlossen hatte.
»Okay.«
»Es gibt auch ein paar nette Leute«, sagte sie. »Nicht alle sind blöd.«
»Klingt ja vielversprechend.«
»Okay, los geht’s.« Shay öffnete die Tür und trat in ein Haus voller Menschen, von denen ich mir wünschte, sie nicht sehen zu müssen. Meine Schulkameraden außerhalb der Schule zu treffen, fühlte sich an wie eine grausame Strafe. Ich hatte während des Schuljahres mehr als genug von ihnen gesehen, und das Letzte, was ich jetzt brauchte, war hier wie in einer Sardinendose mit ihnen zusammengequetscht zu werden.
Meine Vorstellung von einer Party war eher, mit meinen Eltern im Schlafanzug ein paar Wiederholungen von Whose Line Is It Anyway zu gucken und dabei Unmengen an Popcorn und fettigen Cheeseburgern zu verdrücken. Mom aß natürlich einen Vegan-Burger. Sie hatte vor Jahren mal eine Dokumentation darüber gesehen, wie die Tiere behandelt wurden, die wir aßen, und das hatte ihr Leben komplett verändert.
Dad hatte die Dokumentation ebenfalls gesehen, aber er aß sein Steak immer noch medium.
»Ich hole dir eine Cola«, sagte Shay.
»Trinkst du heute Abend?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich trinke nicht mehr, seit das mit Landon passiert ist. Ich bleib lieber nüchtern, als betrunken wieder mit ihm rumzumachen.«
»Guter Plan. Aber falls du dich doch betrinkst, werde ich dafür sorgen, dass du mit dem Arsch nicht wieder rumknutschst.«
»Siehst du, deshalb bist du meine Lieblingscousine.«
»Ich bin deine einzige Cousine. Schau mal, ob du ein bisschen Eis für die Cola findest, ja? Ich werde inzwischen irgendwo …«
»… in einer Ecke stehen.« Sie grinste. »Ich wette fünf Dollar, dass ich dich mit einem Buch in der Hand in irgendeinem Winkel finde.«
»Du klingst, als würdest du mich schon mein Leben lang kennen.«
Sie lachte und eilte davon – was allerdings nicht ganz einfach war. Jedes Mal, wenn Shay einen Raum betrat, gierten alle Anwesenden nach ihrer Aufmerksamkeit – und sie war so liebenswürdig, sich für jeden Zeit zu nehmen.
Ich wäre einfach achtlos weitergegangen.
Also würde es eine Weile dauern, bis ich meine Cola bekam, aber ich hatte Glück und fand eine hübsche Nische unter der Treppe – eine Leseecke, die Harry Potter Ehre gemacht hätte.
Ich verstopfte mir die Ohren mit Kopfhörern – nicht weil ich irgendetwas hören wollte, sondern weil die Leute einen in der Regel in Ruhe ließen, wenn man Kopfhörer aufhatte. So machte man es, wenn man introvertiert war: Man tut so, als wäre man schwer beschäftigt, um menschliche Interaktion zu vermeiden. Gleich zwei Aktivitäten auf einmal vorzutäuschen war dementsprechend noch besser.
Ein Buch allein reichte nicht aus, damit die Leute einen ignorierten, aber ein Buch plus Kopfhörer? Da konnte man genauso gut ein Gespenst sein.
Es war so schwierig, ein introvertierter Mensch in einer extrovertierten Welt zu sein, in der von einem erwartet wurde, an Partys, Schul-AGs und Spirit Weeks teilzunehmen und mit Leuten abzuhängen, die einen nicht interessierten, nur damit man sagen konnte, dass man sein Leben »voll ausschöpft«.
Die gegenwärtige Gesellschaft war eine Katastrophe für introvertierte Menschen, aber ich war mir sicher, dass die Zeiten sich schon bald ändern würden. Ich konnte den Tag kaum erwarten, an dem die Medien endlich erklärten, zu Hause zu bleiben sei jetzt der neueste Trend, und sich mit Leuten abzugeben, die man hasste, absolut out. Wie würde der introvertierte Teil der Bevölkerung darüber jubeln!
Still … allein … mit einer guten Tasse Kaffee, einem spannenden Buch und seinen treuen Katzen.
Ich machte es mir im Schneidersitz auf dem Boden gemütlich und lehnte den Rücken gegen die Wand. Je tiefer ich mich in meine Ecke verzog, desto weniger Leute würden mich bemerken. Macht nur weiter, ihr Muggel. Ich bin gar nicht da. Ich bin bloß ein Teil der Wand.
Ich griff in meine Tasche, zog mein Buch heraus und versank wieder in der Welt der Magie. Es dauerte ein paar Minuten, bis ich die Geräusche um mich herum ausblenden konnte, aber J. K. Rowling zog mich mit jedem einzelnen Wort in ihren Bann.
Eigentlich ging es auf der Party ziemlich gesittet zu. Ein paar Leute tranken Alkohol, aber die meisten schienen sich lieber um die Auswahl der Musik zu kümmern oder schlecht zu tanzen. Zwei Jungs unterhielten sich in meiner unmittelbaren Nähe über ihr Basketballtraining und die Spielergebnisse.
Ich hatte damit gerechnet, mehr Leute knutschen zu sehen – wobei die meisten meiner Vorurteile über diese Partys zugegebenermaßen aus Fernsehsendungen und überzogenen romantischen Komödien stammten.
Es schien gar nicht so ungewöhnlich zu sein, dass ein Mädchen hier saß und las. So seltsam es war, irgendwie passte ich dort hinein.
Erst als ich hörte, wie sich zwei Jungs flüsternd über Shay unterhielten, blickte ich von meinem Buch auf. Aber sie redeten nicht nur über Shay, sondern auch über mich.
Mich.
Das war nicht normal. All die Jahre in der Schule war es mir gelungen, möglichst unter dem Radar zu fliegen und in Ruhe gelassen zu werden. Ich war mir fast sicher, dass mich kaum jemand überhaupt kannte, es sei denn als das Mädchen mit den seltsamen Klamotten, mit dem Shay jeden Tag beim Mittagessen zusammensaß.
»Alter, Zahnspange ist hier«, zischte einer der beiden über die schlechte Musik hinweg.
»Ihr müsst sie nicht immer so nennen«, stöhnte der andere.
»Ich denke, wir müssen. Hast du mal ihren Mund gesehen? Sie ist Shays Cousine, richtig?«
»Ja. Eleanor«, antwortete der andere.
Hm …
Er hatte meinen richtigen Namen benutzt. Die meisten nannten mich nur ›Zahnspange‹ oder ›Shays Cousine‹.
Seltsam.
»Geh und schleim dich ein bisschen bei ihr ein, damit sie dich leiden kann und Shay sieht, dass ich mit ihrer Familie klarkomme. Dann kommen wir garantiert wieder zusammen.«
Mein Blick wanderte möglichst unauffällig zu den beiden Jungs hinüber und dann wieder zurück zu meinem Buch.
Natürlich war es Landon Harrison, der das Herz meiner Cousine erobern wollte – oder vielmehr ihren Slip.
Die beiden hatten im vergangenen Jahr die Hauptrollen im Schultheaterstück gespielt und waren dann während der Tech Week zusammengekommen, als Shay sich ein wenig betrunken hatte. Danach hatte sie den Anfängerfehler einer Schauspielerin gemacht und sich in den Charakter verliebt, den Landon gespielt hatte.
Aber Landon war eindeutig nicht Mr Darcy.
Sie waren genau eine Woche zusammen, als er sie am Abend der Premiere mit einer anderen betrogen hatte. Doch kaum hatte sie Schluss gemacht, machte er es sich zur Aufgabe, sie zurückzuerobern, vermutlich weil er es einfach nicht ertragen konnte, dass ein Mädchen nicht auf ihn und seine seltsame Auffassung von einer Beziehung stand.
Schade nur, dass Shay zu stark war, um sich von ihm um den Finger wickeln zu lassen. Sie ignorierte ihn einfach – es sei denn, es war Wodka im Spiel.
»Solltest du dann nicht mit ihr reden?«, fragte der andere.
Ich blickte unauffällig zu ihm hoch. Greyson East war einer der besten Schüler in unserem Jahrgang. Wie Shay wurde er von allen gemocht.
Greyson war furchtbar attraktiv, immer gut angezogen und ein begnadeter Basketballspieler, der jedes Mädchen auf der Welt haben konnte. Wenn ich an beliebte Kids auf der High School dachte, war Greyson jedes Mal derjenige, der mir sofort in den Sinn kam. Ich meine, sein Gesicht prangte auf der Homepage unserer Schule. Er war unter uns Schülern mehr oder weniger eine Berühmtheit.
»Dude, ich kann mit diesem Ding nicht reden. Wenn ich sie nur sehe, krieg ich Plaque. Alles, was sie macht, ist lesen und diese grässlichen Strickjacken anziehen.«
Die Tatsache, dass er mich ein »Ding« genannt hatte, hätte mich vermutlich verletzen müssen, aber es war mir schlicht egal. Er war bloß ein Muggel, der sich wie ein Muggel verhielt. Muggel wussten es eben nicht besser. Manchmal verhielten sie sich wie Idioten.
»Was für eine Verschwendung der Lebenszeit«, spottete Greyson und klang dabei ziemlich gelangweilt.
Beinahe hätte ich über den bissigen Unterton in seiner Stimme gelächelt, aber meine Verachtung vertrieb das Lächeln.
»Tu’s einfach mir zuliebe«, sagte Landon.
»Nein, das werde ich nicht«, erwiderte Greyson. »Lass sie einfach in Ruhe.«
»Ach, komm schon.« Landon gab nicht auf. »Du schuldest mir noch was für Stacey White.«
Greyson seufzte. Er seufzte noch einmal. Und dann kam noch ein langer, lang gezogener Seufzer. »Meinetwegen.«
Oh nein.
Nein, nein, nein, nein …
Ich versuchte mich auf mein Buch zu konzentrieren, aber meine Augen starrten unauffällig auf seine Schuhe, als er näher kam. Natürlich trug er Nikes. Alles an Greyson war eben ein Klischee. Er hätte sie genauso gut als Model für eine Werbekampagne tragen können.
Als seine neuen, nicht mal ansatzweise vom Laufen getragen aussehenden Schuhe vor mir stehenblieben, hob ich widerstrebend den Blick.
Seine Augen sahen auf mich hinunter.
Diese grauen Augen …
Sie waren von einem Grau, wie es höchstens in überzogenen Liebesromanen vorkam, in denen der Held ein bisschen zu perfekt aussah. Niemand hatte wirklich so graue Augen. Ich lebte seit sechzehn Jahren auf dieser Welt, und ich war noch nie einem Jungen mit so grauen Augen begegnet. Hellblau? Sicher. Grün? Ja, manchmal, aber Greysons Augen unterschieden sich von allen anderen, die ich je gesehen hatte. Jetzt verstand ich ihre Anziehungskraft.
Als Adressatin seines grauen Blicks und dieses Lächelns verstand ich, warum die meisten Mädchen in seiner Gegenwart zu einer Pfütze aus Hilflosigkeit zusammenschmolzen.
Oh Gott, mach, dass es aufhört.
Als unsere Blicke sich trafen, hob er die Hand und deutete ein Winken an, wobei er den Mund zu einem schiefen Lächeln verzog, das mich auf der Stelle nervte. Dieses Lächeln mochte bei den Stacey Whites dieser Welt wirken, aber nicht bei mir. Ich starrte wieder auf mein Buch und versuchte ihn zu ignorieren.
Aber die Schuhe blieben, wo sie waren. Dann sah ich aus dem Augenwinkel, wie seine Knie sich beugten, tiefer und tiefer, bis er schließlich vor mir kniete. Er winkte mir erneut zu, mit demselben gezwungenen Lächeln.
»Hey, Eleanor, wie geht’s denn so?«, fragte er beinahe so, als ob wir uns schon immer regelmäßig unterhalten hätten und er bloß wissen wollte, wie es bei mir gerade so läuft.
Ich murmelte etwas vor mich hin.
Er zog eine Augenbraue hoch. »Hast du gerade etwas gesagt?«
Also wirklich, hatte er meine Kopfhörer und mein Buch nicht gesehen? Wusste er nicht, dass heute der 21. Juni 2003 war? Wieso verstand niemand die Notwendigkeit, ein Buch in einem Zug durchzulesen, sobald man es in den Händen hielt?
Manchmal hasste ich diese Welt.
»Ich habe gesagt: Hör auf.« Ich zog die Kopfhörer ab. »Hör auf damit.«
»Womit soll ich aufhören?«
»Damit.« Ich zeigte auf uns beide. »Ich weiß, dass Landon dich hergeschickt hat, um mit mir zu reden, damit er sich an Shay heranmachen kann, aber daraus wird nichts. Ich bin nicht interessiert, ebenso wenig wie Shay.«
»Wie konntest du uns hören, wenn du Kopfhörer aufhattest?«
»Leichte Sache. Ich hatte sie nicht angeschaltet.«
»Warum trägst du dann Kopfhörer?«
OHMEINGOTTKÖNNTESTDUBITTEEINFACHGEHEN?
Es gab nichts Schlimmeres als einen extrovertierten Menschen, der die tiefsten Winkel eines introvertierten Verstandes ergründen wollte.
Ich seufzte schwer. »Hör zu, ich versteh schon – du willst deinem Freund einen Gefallen tun, aber ich will wirklich nur meine Ruhe haben und lesen.«
Greyson fuhr sich mit den Händen durch die Haare wie ein verdammtes Shampoo-Modell. Ich schwöre, er bewegte sich in Zeitlupe, während ein nicht existierender Wind durch seine Haare wehte. »Okay. Aber könnte ich, ähm, mich ein paar Minuten zu dir setzen? Nur damit Landon denkt, ich tue ihm den Gefallen?«
»Ist mir egal, was du machst. Aber mach’s leise.«
Er lächelte, und heilige Krötengrütze, es war schwer, dieses Lächeln nicht zu mögen.
Ich konzentrierte mich erneut auf mein Buch. Hin und wieder sagte er: »Ich rede bloß in deine Richtung, damit Landon denkt, wir haben Freundschaft geschlossen.«
Und ich erwiderte: »Und ich antworte nur, damit du nicht so albern aussiehst, wie du es gerade bist.«
Dann lächelte er jedes Mal, und ich bemerkte dieses Lächeln, konzentrierte mich aber sofort auf mein Buch.
Schließlich kam Shay und hielt mir einen Plastikbecher mit Cola und einem gefrorenen Lolli darin hin. »Eis habe ich nicht gefunden, aber ich habe mir gedacht, ein Lolli hält die Cola auch eine Weile kalt. Außerdem ist es Kirsch, also voilà: Eine Cherry Coke.« Ihr Blick wanderte zu Greyson, und sie hob eine Augenbraue. »Oh, Grey … Hey, was läuft?«
»Oh, nichts. Eleanor und ich lernen uns bloß ein wenig kennen.« Er präsentierte wieder sein Lächeln, und Shay fiel darauf rein wie eine Gazelle im Löwengehege.
»Oh, wie süß! Sie ist der absolut großartigste Mensch, den ich kenne, du wirst es also nicht bereuen. Na, dann lass ich euch beide mal wieder allein.« Shay winkte mir, als würde sie die Panik in meinen Augen gar nicht sehen, die sie anflehten: »Abbruch! Abbruch! Rette mich!« Sie schlenderte davon, um sich wieder unter die Menge zu mischen, und ließ mich in meinen Kokon eingepfercht mit Greyson zurück.
»Wie lange müssen wir das hier noch machen?«, fragte ich ihn.
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. So lange, bis Landon aufhört, mir die Sache mit Stacey White unter die Nase zu reiben.«
»Was hast du mit ihr gemacht?«
Er verengte die Augen und zog eine Braue hoch. »Was meinst du damit, was habe ich mit ihr gemacht?«
»Es klingt bloß so, als wäre irgendwas vorgefallen.«
Er rutschte unbehaglich hin und her und wandte den Blick ab. »Tatsächlich ist es das genaue Gegenteil. Nichts ist passiert. Aber das geht niemanden was an.«
»Offenbar geht es mich etwas an, denn wie’s scheint, ist das der Grund, warum du mich die ganze Zeit anstarrst.«
»Okay, kapiert.« Er schwieg einen Augenblick, dann fragte er: »Warum gibt Shay Landon nicht noch eine Chance?«
»Er hat sie betrogen. Nach einer Woche.«
»Ja, ich weiß, aber …«
Ich klappte mein Buch zu, in nächster Zeit würde ich ohnehin nicht zum Lesen kommen. »Es gibt kein Aber. Ich kapier einfach nicht, wieso ihr Typen immer denkt, dass alle Mädels auf euch stehen, bloß weil ihr so ausseht, wie ihr ausseht. Shay ist nicht blöd. Sie weiß, was ihr zusteht.«
Greyson spielte mit der Zunge in seiner Wange. »Hast du mir gerade durch die Blume gesagt, dass ich gut aussehe?«
»Bild dir bloß nichts darauf ein.«
»Schon passiert.« Er begann mit den Fingern auf seine Oberschenkel zu klopfen. »Also, was machst du so?«
»Ich dachte, wir tun nur so, als würden wir uns unterhalten.«
»Ja, aber das ist langweilig. Also, du liest gerne, hm?« Er wies mit dem Kinn auf mein Buch.
»Gut beobachtet, Captain Offensichtlich«, erwiderte ich.
Er lachte. »Du bist ganz schön bissig.«
»Das habe ich von meiner Mutter.«
»Gefällt mir.«
Meine Wangen wurden heiß, und ich hasste es. Dieser Typ war total süß, ohne sich auch nur im Geringsten anstrengen zu müssen, und mein Körper reagierte auch noch darauf, obwohl mein Verstand gelernt hatte, ihn nicht zu mögen. Ich hatte das vergangene Schuljahr damit verbracht, Typen wie Greyson zu beobachten, und wie die Mädchen in ihren Händen zu Pudding wurden, ohne vorher eine einzige Hirnzelle einzuschalten.
Mein Hirn wollte niemals so enden, aber meinem Herzen war es ganz offensichtlich egal, was mein Kopf wollte.
Ich sah zur Seite, denn mein Herz raste, als unsere Blicke sich trafen.
»Ich habe Harry Potter nie gelesen«, sagte er, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Mitleid mit Greyson East. Was für ein trauriges, trauriges Leben.
»Das ist vermutlich auch ganz gut so«, erklärte ich ihm. »Denn sonst hätte ich möglicherweise irgendeine dumme, unrealistische Schwärmerei für dich entwickelt, die absolut gegen meine Prinzipien verstößt.«
»Du bist bissig und ziemlich geradeheraus.«
»Das habe ich wiederum von meinem Vater.«
Er lächelte.
Was mir gefiel.
Wie auch immer.
»Also, Bücher und Libellen?«, fragte er.
Ich zog eine Augenbraue hoch. »Woher weißt du das mit den Libellen?«
»Na ja, du hast welche auf deiner Jacke und an deinen Haarspangen.«
Oh, richtig. Ich hätte viel Geld darauf verwettet, dass ich auf dieser Party das einzige Mädchen mit Libellenhaarspangen war.
»Das ist so eine Sache zwischen mir und meiner Mutter.«
»Die Libellen?«
»Ja.«
»Das ist seltsam.«
»Ich bin ein seltsames Mädchen.«
Er verengte die Augen zu Schlitzen, als wollte er meine DNA mit seinem Blick scannen.
»Was?«, fragte ich, und mein Magen machte einen Hüpfer.
»Nichts. Ich … ich könnte schwören, dass ich dich von irgendwoher kenne.«
»Wir gehen zusammen zur Schule«, bemerkte ich trocken.
»Nein, ja, ich weiß, aber …« Er verstummte und schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Du warst vermutlich nicht auf Claire Wades Party, oder?«
»Großes Nein.«
»Kent Feds?«
Ich sah ihn mit leerem Blick an.
»Okay. Aber es ist seltsam, ich bin mir sicher …« Bevor er seinen Satz beenden konnte, kam Landon angerannt.
»Mission abgebrochen, Alter. Shay ist so eine Bitch«, schnaubte er. Offensichtlich hatte meine Cousine seinem Ego einen kräftigen Stoß versetzt.
»Nenn meine Cousine noch einmal Bitch, und ich zeige dir, wer hier die Bitch ist«, fuhr ich ihn an.
Landon warf mir einen Blick zu und verdrehte die Augen. »Ja, ja, wie auch immer, Zahnspange.«
»Sei nicht so ein Arschloch, Landon«, sagte Greyson. »Und sie hat recht – Shay hat dir nichts getan. Du bist es, der sie betrogen hat. Bloß weil sie dich nicht zurückwill, ist sie noch lange keine Bitch.«
Moment. Was?
Hat Greyson East gerade Shay und mich verteidigt?
Oh-kay.
Wie es aussieht, werde ich wohl doch eines Tages die Mutter seiner Kinder sein.
Diese dummen Schmetterlinge in meinem Bauch wollten sich einfach nicht wieder beruhigen, und so kann man sich vorstellen, wie erleichtert ich war, als Greyson sich endlich erhob. Da ich ziemlich blasse Haut hatte, war es nicht zu übersehen, wenn ich rot wurde. Dann verwandelte ich mich in die reifste Tomate, die die Menschheit je gesehen hatte, aber das musste er ja nicht unbedingt mitkriegen.
»Egal, Mann. Lass uns gehen«, sagte Landon und sah durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da. Was mich nicht weiter störte. Ich machte es bei ihm nicht anders.
»Wir sehen uns, Eleanor.« Greyson winkte mir zum Abschied zu. »Viel Spaß noch bei deinem Buch.«
Ich flüsterte ein leises »Tschüss«, bevor ich mich wieder Harry Potter zuwandte, doch neben Ron Weasley geisterte immer wieder Greyson durch meine Gedanken.
Wenig später tauchte Shay wieder auf, und wir machten uns auf den Heimweg. »Greyson und du, ihr scheint euch nett unterhalten zu haben«, bemerkte sie.
Ich zuckte mit den Schultern. »Es war okay.«
»Er ist echt nett, Ellie. Nicht wie Landon. Greyson ist echt.«
Sie sagte es, als wollte sie den Schmetterlingen in meinem Bauch erlauben, munter weiterzuflattern, während ich ihnen am liebsten die Flügel ausgerissen hätte.
Ich zuckte erneut mit den Schultern. »Er ist ganz okay.«
»Ganz okay?«, spöttelte sie und knuffte meinen Arm. Vermutlich hatte sie meine glühenden Wangen bemerkt.
»Ja.«
Ganz okay.
Shay übernachtete bei mir, und als wir das Haus betraten, lief der Fernseher im Wohnzimmer. Irgendein Horrorfilm. Ich lief hin, griff nach der Fernbedienung und schaltete ihn aus. Und da lagen sie, eingeschlafen auf der Couch. Dad hatte sich lang ausgestreckt, und Mom schmiegte sich in seine Arme.
»Sollen wir sie wecken?«, fragte Shay.
Ich deckte sie zu. »Nein. Irgendwann gehen sie selbst ins Bett.«
Es war ein ganz gewöhnlicher Anblick – meine Mutter in den Armen meines Dads, nachdem sie vor dem Fernseher eingeschlafen waren. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, lächelte mein Vater, passte seine Armhaltung ihrer Lage an und machte es sich wieder bequem. Noch nie hatte ich zwei Menschen gesehen, die so selbstverständlich eine Einheit bildeten. Ohne meine Eltern hätte ich die Vorstellung von Seelenverwandten für ein Märchen gehalten.
»Ich sag ja bloß, dass ich’s nicht kapier. Ich sehe echt gut aus, sie sieht echt gut aus! Ich kapier einfach nicht, warum sie nicht mit mir zusammen sein will«, sagte Landon und wedelte dabei mit den Armen wie ein Irrer, während wir von der Party nach Hause gingen. »Ich meine, wir sind so ziemlich der Nick Lachey und die Jessica Simpson von Raine, Illinois. Wir sind füreinander bestimmt!«
Er sagte es mit einer solchen Überzeugung, dass ich kaum mit Sicherheit sagen konnte, ob er es scherzhaft meinte oder nicht.
Ehrlich gesagt, wäre er bei Shay sehr viel erfolgreicher gewesen, wenn er schon so verrückt nach ihr gewesen wäre, als er noch mit ihr zusammen war. Er hatte sich sprichwörtlich selbst in den Arsch getreten, indem er sich so verhalten hatte wie ein Arsch.
»Ich denke, du solltest dich von dem Gedanken verabschieden, Mann. Shay ist offensichtlich nicht an dir interessiert.«
»Sie weiß bloß nicht, dass sie interessiert ist. Du wirst schon sehen. Ihr werdet alle schon noch sehen!«
Ich verdrehte die Augen und ließ ihn reden. Es machte keinen Sinn, vernünftig mit jemandem reden zu wollen, der so besoffen war wie er im Augenblick.
»Jedenfalls sorry, dass ich dich gezwungen habe, mit ihrer abgedrehten Cousine zu reden«, sagte er und fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Sie ist gar nicht so abgedreht.«
»Sie trägt jeden Tag Strickjacken und hat die Nase ständig in irgendeinem Buch. Abgedreht.«
»Bloß weil jemand anders ist, ist er noch lange nicht abgedreht«, verteidigte ich sie. Sicher, sie hatte ihre Macken, aber Landon auch. Er biss auf seine Gabel und zog sie dann mit einem grässlichen Geräusch wieder aus dem Mund. Er konnte sich keinen Film ansehen, ohne zu rufen: »Warte. Spul noch mal zurück. Das hab ich nicht mitbekommen.« Und er kam einfach nicht über Shay hinweg, weil sie sein Selbstwertgefühl verletzt hatte.
Sicher, Eleanor besaß ziemlich viele Wolljacken, aber zumindest war sie kein Arschloch.
»Okay, okay. Anscheinend hast du eine neue Freundin gefunden«, sagte Landon und warf die Hände in die Luft. »Ich halte sie trotzdem für eine abgedrehte Einzelgängerin, aber was soll’s.«
In gewisser Hinsicht war Eleanor vermutlich eine Einzelgängerin. Sie war extrem gut darin, andere Menschen zu meiden, von Shay mal abgesehen.
Manchmal wünschte ich mir, mehr so zu sein wie sie.
Es schien mir weniger kompliziert.
Landon wohnte ganz in meiner Nähe, und als wir bei mir ankamen, verstummte sogar er, als er das Getöse im Haus hörte.
Mom und Dad waren da.
Es war immer eine Freude, das zu erleben.
Landon schob die Hände in die Taschen und schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln. »Du kannst bei mir pennen, wenn du willst.«
Ich schüttelte den Kopf. »Schon okay. Ich sehe einfach zu, dass ich schnell in mein Zimmer komme. Mein Dad findet schon einen Grund, um wieder abzuhauen.«
»Sicher?«
»Ja. Nacht.«
Landon kratzte sich den Nacken, zögerte und machte sich dann doch auf den Weg. »Okay. Nacht, Greyson.« Er blieb stehen und drehte sich noch einmal zu mir um. »Ich lass das Fenster unten im Gästezimmer offen, falls du es heute Nacht doch brauchen solltest, okay?«
Auch wenn er manchmal ein Arschloch sein konnte, war er doch ein verdammt guter bester Freund.
»Danke, Landon.«
»Ja. Nacht.«
Ich stieg die Stufen zur Haustür hinauf, aber ich ging nicht rein, denn ich wusste, dass nichts Gutes dabei herauskommen würde, wenn ich jetzt dieses Haus betrat.
Meine Eltern befanden sich mal wieder mitten in einem Schreiwettkampf.
Das war nichts Neues. Immer, wenn beide zu Hause waren, stritten sie sich. Mom hatte vermutlich zu viel Wein getrunken und stauchte Dad zusammen, und Dad hatte vermutlich zu viel Whiskey getrunken und sagte ihr, sie sollte den Rand halten.
Trotzdem war ich mir ziemlich sicher, dass das, worum auch immer es ging, Dads Schuld war. Er war ziemlich gut darin, Mist zu bauen und es dann so aussehen zu lassen, als hätte Mom es verbockt. Ich kannte keinen Menschen, der andere Menschen so mit Psychoterror überziehen konnte wie mein Vater. Mr Handers hatte uns letztes Jahr den Begriff dafür beigebracht – Gaslighting –, und es beschrieb meinen Vater auf den Punkt.
Er war ein genialer Manipulator, bei der Arbeit ebenso wie zu Hause, und unglaublich gut darin, meine Mutter glauben zu lassen, sie wäre vollkommen verrückt. Wenn sie Parfüm an seinen Klamotten roch, behauptete er, es sei ihres. Wenn sie Lippenstift auf seinen Hemden fand, überzeugte er sie davon, dass sie selbst ihn dort hinterlassen hatte. Und wenn er ihr sagte, der Himmel sei grün, misstraute sie ihren eigenen Augen.
Einmal hatte er sie sogar gezwungen, sich im Krankenhaus auf ihre psychische Gesundheit untersuchen zu lassen.
Aber die Tests bewiesen, dass sie absolut gesund war. Sie hatte einfach ein Arschloch geheiratet.
Wenn Mom ausrastete, blieb Dad ganz ruhig, was nur ein weiteres Psychospielchen von ihm war, damit es aussah, als wäre sie die Verrückte, während in Wahrheit er es war, der sie ins Irrenhaus trieb. Manchmal vermutete ich, dass er die Telefonnummern von anderen Frauen absichtlich irgendwo liegen ließ, wo sie sie finden musste. Zugetraut hätte ich es ihm jedenfalls.
Als ich noch jünger gewesen war, hatte er versucht, mich auf seine Seite zu ziehen – mich zu benutzen, um Mom den Rest zu geben. Aber darauf hatte ich mich nie eingelassen. Ich hatte immer gewusst, dass Moms einziger Fehler gewesen war, sich in ein Monster zu verlieben.
Mein Vater war ein Lügner, ein Betrüger und ein vollkommen kaputter Mann.
Aber meine Mom hatte noch einen weiteren Fehler gemacht: Sie hatte ihn nicht verlassen.
Ich hatte es nie verstanden.
Ich hatte keine Ahnung, ob es daran lag, dass sie ihn noch liebte, oder vielmehr an dem komfortablen Leben, das er uns ermöglichte. Aber egal, es war nicht gesund. Mein Dad war vermutlich auch der Grund, warum meine Mom so gut wie nie zu Hause war. Vielleicht gab es ihr Trost, sich auf Dads Kosten die Welt anzusehen. Vielleicht gab Dads Geld auszugeben ihr das Gefühl, irgendetwas zu gewinnen.
»Ich weiß, dass du was mit ihr hast, Greg!«, brüllte Mom, als ich mich auf die oberste Stufe der Verandatreppe setzte, und ich presste die Hände auf die Ohren, um möglichst nichts davon hören zu müssen.
Ich wünschte, mein Großvater wäre noch da. Normalerweise vermied ich es, daran zu denken, dass er nicht mehr da war, weil der Gedanke mich wahnsinnig machte, aber in manchen Nächten wünschte ich mir, ich könnte zu seinem Haus laufen, mir mit ihm alte Kung-Fu-Filme anschauen und Unmengen Popcorn in mich hineinstopfen.
Das Beste an meinem Großvater war die Tatsache, dass er so ganz anders gewesen war als mein Vater.
Er war ein durch und durch guter Mensch, und die Welt war so viel ätzender geworden, seit er nicht mehr da war.
Es war mittlerweile ein paar Wochen her, dass ich ihn verloren hatte, und wenn ich ehrlich war, hatte ich keine Ahnung, wie ich jemals aufhören sollte, ihn zu vermissen.
Der Vertrauenslehrer an unserer Schule hatte mir gesagt, dass es mit der Zeit einfacher werden würde, mit dem Verlust umzugehen, aber das stimmte nicht. Es wurde nicht einfacher; ich wurde nur immer einsamer.
Ich warf einen Blick über die Schulter und sah durch das Fenster. Im Wohnzimmer schepperte es. Mom hatte mit der Weinflasche auf Dads Kopf gezielt, aber nicht getroffen – sie traf nie.
Unsere Haushaltshilfe würde viel Spaß damit haben, mal wieder den Rotwein aus dem Teppich zu bekommen.
»Geh einfach, Greg! Verschwinde!«, brüllte sie. »Geh zu deiner Hure!«
Und wie immer stürmte Dad aus dem Haus.
Ich glaube, für ihn funktionierte es am besten, wenn sie ihm sagte, er solle verschwinden, denn dann war er frei, zu der Frau zu fahren, mit der er gerade hinter Moms Rücken herummachte.
Als er mich auf der Treppe sitzen sah, blieb er stehen. »Greyson. Was machst du denn hier draußen?« Er zog eine Zigarette aus der Packung und zündete sie an.
Dir aus dem Weg gehen.
»Bin grad nach Hause gekommen. Ich war mit Landon unterwegs.«
»Deine Mutter spielt mal wieder verrückt. Würde zu gern wissen, ob sie ihre Tabletten genommen hat.«
Ich sagte nichts, denn jedes Mal, wenn er sie verrückt nannte, wollte ich ihm ins Gesicht schlagen.
Dad kniff die Augen zusammen und nickte mir zu. »Hab gehört, Landon macht ein Praktikum in der Kanzlei seines Vaters.«
»Ja.« Ich wusste, worauf dieses Gespräch hinauslief.
»Und wann kommst du runter zu EastHouse, um was zu lernen, hm? Ich kann den Laden nicht ewig führen, und es wird langsam Zeit, dass du die Grundlagen kennenlernst. Je früher du es lernst, desto früher kannst du den Laden übernehmen.«
Da waren wir wieder.
Mein Vater war fest entschlossen, mich bei EastHouse Whiskey unterzubringen, denn er war davon überzeugt, dass ich die Firma eines Tages übernehmen würde. Mein Großvater hatte EastHouse gegründet und das Geschäft mit Herz und Seele bis zu seiner Pensionierung geführt. Und mein Vater war in seine Fußstapfen getreten.
Es war ein Familienunternehmen, und ich hatte auch vor, es eines Tages zu übernehmen, meinem Großvater zuliebe.
Aber nicht allzu bald.
»Bist du taub, Junge? Spreche ich kein Englisch?«, blaffte mein Vater.
Ich stand auf und schob die Hände in die Taschen. »Ich glaube, ich bin einfach noch nicht so weit.«
»Nicht so weit? Du bist sechzehn Jahre alt und hast keine Zeit zu verplempern. Wenn du dir einbildest, Basketball wäre deine Fahrkarte ins Leben, dann irrst du dich gewaltig. Du hast nicht das Zeug, um es mit Basketball allein zu schaffen.«
Drei Dinge:
1. Ich war siebzehn, nicht sechzehn.
2. Ich hatte nicht vor, ein Basketballstar zu werden.
3. Fuck off, Dad.
Ich fasste mir mit zwei Fingern an die Nasenwurzel und ging an ihm vorbei ins Haus. Er brüllte hinter mir her, dass wir noch nicht fertig wären und ein anderes Mal über mein Praktikum sprechen würden, aber er war eh nie lange genug zu Hause, um mich ernsthaft zur Brust zu nehmen.
Als ich ins Haus trat, war Mom gerade dabei, die Scherben der Weinflasche aufzusammeln.
»Mom, warte, lass mich das machen, bevor du dich schneidest«, sagte ich, als ich sah, wie sie betrunken hin und her schwankte.
»Lass mich«, sagte sie und stieß meinen Arm weg. Sie blickte mit verschmierten Wangen zu mir hoch und runzelte die Stirn. Sie legte ihre vom Rotwein nasse Hand an meine Wange und öffnete den Mund, um etwas zu sagen. »Du siehst genauso aus wie dein Vater. Weißt du, wie wütend mich das macht? Eure Ähnlichkeit lässt mich dich fast so sehr hassen wie ihn.«
»Du bist betrunken«, sagte ich. Sie sah nicht einmal mehr aus wie sie selbst. Ihr Blick war wirr, und ihr Haar vollkommen zerzaust. »Komm, ich bringe dich ins Bett.«
»Nein!« Sie zog ihre Hand zurück und schlug mir ins Gesicht, während sie zischte: »Fick dich, Greg.«
Ich schloss die Augen. Meine Wangen brannten. Meiner Mom traten Tränen in die Augen, und sie schlug die Hände vor den Mund. »Oh mein Gott. Es tut mir so leid, Greyson. Es tut mir so leid.« Sie schluchzte in ihre Hände und bebte am ganzen Körper. »Ich kann das nicht mehr. Ich kann einfach nicht mehr.«
Ich legte einen Arm um sie, denn ich war mir sicher, dass es außer mir niemanden gab, der sie mal in den Arm nahm. »Schon gut, Mom. Du bist einfach müde. Geh ins Bett, okay? Alles ist gut.«
Ich sammelte die größten Scherben zusammen und warf sie in den Mülleimer, während sie Richtung Schlafzimmer torkelte. Wenn ich am nächsten Morgen aufwachte, war sie vermutlich schon weg, auf dem Weg zum Flughafen und in ein neues Abenteuer. Doch wir würden uns wiedersehen, wenn sie ihren monatlichen Streit mit Dad und eine Flasche Wein zum Zertrümmern brauchte.
Ich ging ins Badezimmer, um mir den Wein von den Händen und aus dem Gesicht zu waschen, und als ich in den Spiegel blickte, hasste ich, was ich dort sah.
Es stimmte, ich sah wirklich aus wie mein Vater, und in gewisser Hinsicht hasste auch ich mich dafür.
Als ich im Bett lag, versuchte ich die Gedanken an meine Eltern zu vertreiben, doch als mir das endlich gelang, kam mir mein Großvater in den Sinn, und das machte mich nur noch trauriger.
Und so dachte ich an Eleanor Gable.
Das Mädchen, das auf Partys hockte und Bücher las und Libellen liebte.
Diese Gedanken wogen nicht so schwer wie alle anderen.
Also ließ ich sie zu.
Seit der Party waren zwei Tage vergangen, und ich hatte es immer noch nicht geschafft, Harry Potter und der Orden des Phönix zu Ende zu lesen. Ich konnte mich einfach nicht konzentrieren. Und ich bekam Greyson nicht aus dem Kopf.
Es war noch nicht mal sein Aussehen oder was er gesagt hatte. Es waren die kleinen Dinge.
Ich redete nicht viel mit anderen Menschen, aber das bedeutete nicht, dass ich sie nicht bemerkte.
Ich bemerkte, dass manche Dinge ihm ein unbehagliches Gefühl gaben, dass er immerzu mit den Fingern auf seinen Oberschenkeln trommelte und niemals stillstand.
Dass er nach roten Weingummischnüren roch.
An ihn zu denken war wie ein schlechter Tagtraum, aus dem ich nicht erwachen konnte. Und ein Teil von mir fragte sich, ob er wohl auch an mich dachte.
Für mich war das eine völlig neue Vorstellung.
Ich verliebte mich grundsätzlich nicht, es sei denn in fiktive Figuren. Jungs in meinem Alter erschienen mir idiotisch und oberflächlich. Und alles, was mit der Schule zu tun hatte, war total abgedroschen.
Es erschien mir falsch und gekünstelt. Immer drehte es sich um so oberflächliches Zeug wie gut auszusehen, beliebt zu sein, wie viel Geld deine Eltern verdienten. Ich wollte das nicht.
Bis Greyson mit seinem dummen Lächeln aufgetaucht war. Jetzt war ich selbst eins dieser Mädchen, das ständig an ihn denken musste, obwohl sie das nicht tun sollte, und deutlich zu viele Artikel darüber las, wie es ist, wenn man sich verliebt.
»Hey, Snickers.« Dad schaute in mein Zimmer und drehte einen Bleistift zwischen den Fingern.
»Was?! Nichts. Moment. Hm?«, schnaubte ich eilig und beeilte mich, den Browser auf meinem Bildschirm zu schließen. Ich atmete konzentriert ein und aus und versuchte, meine Nervosität zu verbergen. »Hi Dad«, sagte ich mit einem Schwall ausgeatmeter Luft und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln.
Er zog fragend eine Augenbraue hoch. »Was versteckst du da?«
»Nichts. Was kann ich für dich tun? Was gibt’s?«
Er rieb sich mit der Hand über den Bauch und verengte die Augen. Er hatte eine ziemliche Plauze, die er nach der Ursache ihrer Existenz »Doritos« nannte. Mom war Veganerin und versuchte immer wieder, ihn ebenfalls dazu zu bringen, aber er weigerte sich, seinen geliebten Bacon aufzugeben – was ich durchaus nachvollziehen konnte.
In der Regel gelang es Mom ganz gut, Dads Ernährung unter Kontrolle zu halten. Er hatte kurz vor einer Diabetes gestanden, bevor sie ihn dazu gebracht hatte, ihrem Essensplan wenigstens annähernd zu folgen. Sie hatte ihm erklärt, dass es sie glücklich machen würde, wenn er beim Abendessen ein wenig Salat aß, also tat er es, denn sie glücklich zu machen war seine Lieblingsbeschäftigung.
Ich kicherte immer ein wenig, wenn er Doritos rieb, während er nachdachte, als wäre sein Bauch eine magische Lampe, die alle Antworten parat hatte.
»Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass wir beide heute beim Abendessen allein sind. Deine Mutter fühlt sich nicht so gut.«
Augenblicklich zog sich mein Magen vor Sorge zusammen. »Oh? Ist alles in Ordnung?«
»Sie ist bloß ein wenig müde.« Er lächelte. »Es geht ihr gut, Ellie. Versprochen.«
Ellie, nicht Eleanor, also glaubte ich ihm.
Er kratzte sich am Kinn. »Also, zum Thema Abendessen?«
»Ich kann nicht. Ich muss babysitten.« Seit ein paar Monaten passte ich montags und freitags nach der Schule auf Molly Lane auf. Sie war eine lebhafte Fünfjährige, die nur ein paar Blocks entfernt wohnte und mich ganz schön auf Trab hielt. »Ich sollte mich auch langsam auf den Weg machen.«
»Oh, heute ist ja Montag, richtig.« Er zog die Nase kraus. »Nun, ich fürchte, dann bleiben wohl nur ich, Frasier und Mickey D’s übrig.«
»Weiß Mom das mit McDonald’s?«, fragte ich, denn ich kannte Dads aktuellen Diätplan.
Er zog seine Brieftasche hervor und hielt einen Zwanzig-Dollar-Schein hoch. »Muss sie es wissen?«
»Willst du mich bestechen?«
»Keine Ahnung. Funktioniert es denn?«
Ich ging zu ihm und nahm ihm das Geld aus der Hand. »Ja. Tut es.«
Er legte die Hände um meinen Kopf und gab mir einen Kuss auf die Stirn. »Ich wusste immer, dass du meine Lieblingstochter bist.«
»Ich bin deine einzige Tochter.«
»Von der wir wissen. In den Achtzigern gab es ziemlich viele Rockkonzerte.«
Ich rollte mit den Augen und lachte leise. »Du weißt, dass Mom die Pommes Frites an dir riechen wird. Das tut sie immer.«
»Manche Dinge sind das Risiko wert.« Er gab mir noch einen Kuss auf die Stirn. »Bis später. Grüß Molly und ihre Eltern von mir!«
»Wird gemacht.«
»Hab dich lieb, Snickers.« Er hatte mich nach seinem Lieblings-Schokoriegel benannt, ein wahrer Liebesbeweis.
»Hab dich auch lieb, Dad.«
Als er gegangen war, machte ich mich fertig, um zu Molly zu gehen. Ich nahm immer ein paar von den Büchern mit, die ich in ihrem Alter so geliebt hatte, um sie ihr vor dem Schlafengehen vorzulesen. Molly liebte Bücher fast ebenso sehr wie ich, und in meinem Innersten war ich ein wenig neidisch, weil sie eines Tages die Harry-Potter-Bücher zum ersten Mal lesen würde.
Was hätte ich für das Gefühl gegeben, diese Bücher noch einmal zum ersten Mal lesen zu können.
Raine, Illinois, bestand aus zwei Teilen, die durch eine Brücke verbunden waren – der Ostteil und der Westteil. Ich lebte auf der Westseite, Molly wohnte im Osten, in einer Seitenstraße der Brent Street. Und obwohl es nur ein paar Blocks waren, spürte man, sobald man die kleine Brücke passiert hatte, den Einkommensunterschied der beiden Stadtteile. Meiner Familie ging es gut, aber es ging uns nicht so gut wie denen, die östlich der Brücke lebten.
Alle Häuser in Mollys Block waren ein Vermögen wert. Es waren Villen – gigantische Villen. Raine war insgesamt ein Mittelklassestädtchen, es sei denn, man ging hinüber auf die Ostseite. Hier lebten all die, die in Chicago arbeiteten, aber eher einen vorstädtischen Lebensstil bevorzugten. Mom betreute die Kinder der Familien jenseits der Brücke und verdiente damit gutes Geld. Ich schwöre, selbst die Luft dort roch nach Hundert-Dollar-Scheinen, und abgesehen von Molly gab es für mich keinen Grund, mich jemals auf dieser Seite der Stadt blicken zu lassen.
»Du bist Molly Lanes Babysitter!«, rief eine Stimme, als mein Sneaker gerade die unterste Treppenstufe von Mollys Haus berührte. Rasch drehte ich mich um, um zu sehen, woher die Stimme kam. Auf der anderen Seite der Straße, drei Häuser weiter, stand ein Junge mit einem dummen, wundervollen Lächeln. Greyson winkte.
Rasch blickte ich mich um, weil ich mich überzeugen wollte, dass er tatsächlich mich meinte. Oh Gott, ja, er meinte mich.
Ich rieb mir mit den Händen über den Nacken. »Oh, äh, ja.«
Mehr fiel mir dazu nicht ein. Als er die Stufen vor seinem Haus hinunterlief und auf mich zukam, schlug mein Herz Purzelbäume, schneller und schneller, je näher er mir kam.
Er fuhr sich wieder in Zeitlupe durch die Haare, und mein Herz blieb stehen und raste dann wieder los.
»Passt du schon länger auf sie auf?«, fragte er.
»Ja, seit ein paar Monaten.« Meine Hände waren feucht. Wieso habe ich feuchte Hände? Kann er es mir ansehen? Kann er sehen, dass ich an ihn gedacht habe? Riecht er meine Angst? Oh Gott, schwitze ich etwa auch an den Ellbogen? Ich hatte bisher nicht mal gewusst, dass man an den Ellbogen schwitzen konnte!
»Früher bin ich immer mit ihr in die Kirche gegangen. Sie war das Beste daran, alles andere war so vorhersehbar, und wenn es still war, hat sie immer geschrien: ›Ein Hinweis! Ein Hinweis!‹, wie in ›Blau und Schlau‹, und dann ist sie nach vorne gerannt und hat angefangen zu tanzen.«
Ich kicherte. Das klang absolut nach der Molly, die ich kannte und liebte.
Er schob die Hände in die Taschen seiner Jogginghose und schaukelte auf seinen Nikes vor und zurück. »Aber das ist es nicht, wo ich dich schon gesehen habe. Es ist mir vor ein paar Tagen eingefallen.«
»Oh? Und wo war das?«
»In der Sherman Krebsklinik.« Sein Lächeln schien irgendwie zu verblassen, während mein Herz irgendwie zu weinen anfing. »Ich habe dich da ein paarmal rein- und rausgehen sehen.«
Oh.
Nun, das war jetzt echt seltsam.
Ich fuhr jedes Mal mit meinen Eltern in die Klinik, wenn Mom ihre Chemotherapie bekam. Anfangs, und noch ewig lange danach, hatte Mom nicht gewollt, dass ich mitkam, weil sie Angst hatte, es könnte zu viel für mich sein, aber für mich wäre es schlimmer gewesen, nicht mitzufahren.
Ich schwieg.
»Bist du krank?«, fragte er.
»Nein.«
Er zog die Nase kraus. »Jemand, den du kennst?«
»Ähm, meine Mom. Sie hat Brustkrebs«, flüsterte ich. Doch sobald das Wort »Krebs« über meine Lippen gekommen war, versuchte ich es wieder einzusaugen, denn jedes Mal, wenn ich es aussprach, wollten meine Augen feucht werden.
»Das tut mir so leid, Eleanor«, sagte er, und ich wusste, dass er es auch so meinte, denn seine Augen blickten mich ernst an.
»Danke.« Er sah mich immer noch an, während mein Magen Saltos vollführte. »Ist jemand, den du kennst, krank?«
Diesmal war er es, der sich unübersehbar unbehaglich fühlte.
»Mein Großvater hatte Krebs. Er ist vor ein paar Wochen gestorben.« Greyson Easts Augen taten etwas, von dem ich nicht gewusst hatte, dass sie es überhaupt konnten: Sie wurden traurig.
»Das tut mir so leid, Greyson«, sagte ich und hoffte, er konnte mir vom Gesicht ablesen, dass ich es ernst meinte.