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In vierzehn Kurzgeschichten und Erzählungen begeben wir uns auf eine phantastische Reise in die Universen Jules Vernes und Karl Mays und noch weiter hinaus in die Fantasie, in Wüsten, Wälder und hoch in die Lüfte zu Fabelwesen wie Drachen, Einhörnern, Vampiren, unheimlichen Schatten bis tief hinein in die verborgene Welt des Mikrokosmos. Enthaltene Stories: Wenn der Schuss am Kilimandscharo erfolgreich gewesen wäre, Durchs wilde Ernstthal, Das Vermächtnis des Kara, Der Drache im Elburs, Die Halle der Aufzeichnungen, Das verbotene Getränk, Die Hexe vom Eichenhain, Legende, Das Frühstücksei, Die Anmut des Bösen, Die Umarmung des Schatten, Die Galerie des Herrn Mevis Tofeles, Spiegelreflex, Reise in den Kosmos
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Seitenzahl: 185
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Vorwort
Wenn der Schuss am Kilimandscharo erfolgreich gewesen wäre…
Durchs wilde Ernstthal
Das Vermächtnis des Kara
Der Drache im Elburs
Die Halle der Aufzeichnungen
Das verbotene Getränk
Die Hexe vom Eichenhain
Legende
Das Frühstücksei
Die Anmut des Bösen
Die Umarmung des Schatten
Die Galerie des Herrn Mevis Tofeles
Spiegelreflex
Reise in den Kosmos
Die Fantasie kennt keine Grenzen. Vierzehn phantastische Kurzgeschichten entführen in unterschiedliche Universen, die unserem gar nicht so unähnlich sind. Manchmal ist der Unterschied nur ein Hauch von Magie oder die Möglichkeit, etwas ungeschehen machen zu können. In anderen jedoch begegnen wir phantastischen Wesen wie Drachen, Einhörnern, Vampiren oder unheimlichen Schatten. Die Geschichten führen uns quer über den Erdball von den Wäldern Sachsens, durch die Wüsten des Orients, hinauf in die Lüfte über dem tosenden Ozean bis tief in den Mikrokosmos in eine unbekannte Welt voller Abenteuer.
Lass dich überraschen.
Ich wünsche viel Spaß beim Lesen.
Die Geschichte wurde 2020 für die Phantastische Miniatur Jules 2020 geschrieben und ist eine etwas andere Version Jules Vernes Story Der Schuss am Kilimandscharo.
Die Phantastischen Miniaturen sind kleine Kurzgeschichtenbände, herausgegeben von Thomas LeBlanc, deren einzelne Geschichten jeweils aus ca. 750 Wörtern bestehen.
Sie erscheinen mehrmals im Jahr zu immer wieder neuen, verrückten Themen und können über die Phantastische Bibliothek Wetzlar bezogen werden.
Sansibar, 23. September, 7 Uhr 25 Minuten morgens.
»An den Staatsminister John S. Wright.
Schuss gestern Nacht genau um zwölf Uhr
abgefeuert aus dem in den südlichen Ausläufer des
Kilimandscharo angelegten Rohre. Projektil mit
entsetzlichem Pfeifen vorübergejagt. Furchtbare
Detonation. Provinz durch Windhose zerstört.
Meer aufgewühlt bis zum Kanal von Mosambik.
Zahlreiche Schiffe gescheitert und an die Küste
geworfen. Flecken und Dörfer vernichtet.
Sonst geht alles gut.
Richard W. Trust.«
(Aus Der Schuss am Kilimandscharo oder Kein Durcheinander von Jules Verne, 1889)
»Seht Ihr? Meine Berechnungen waren korrekt. Nur dauerte es gewisse Zeit, bis sich die Masse der Erde in die richtige Richtung bewegte, damit sich die Erdachse senkrecht stellt.« J.T. Maston blickte stolz in das tosende Wasser unter sich. Die Wogen brachen sich an Küsten, die vor wenigen Tagen noch Binnenland gewesen waren. Der heftige Wind und die bebende Erde bäumten gewaltige Wellen auf.
»Ja, leider. Die Welt versinkt im Chaos und Ihr, Mister Maston, seid dafür verantwortlich«, antwortete der ehemalige Kriegsreporter Gedeon Spilett. Kopfschüttelnd und betrübt blickte er hinab. Seine Hand auf dem Rand des Korbes ballte sich zur Faust.
Bedrohliche Wolken türmten sich über dem Gefährt der Aeronauten. Der Ingenieur Cyrus Smith zog an einer Leine. Gas entwich der Hülle des Ballons, wodurch das Luftgefährt ein wenig an Höhe verlor und den Abstand zu den stürmischen Luftschichten vergrößerte, aber jenen zur tosenden See verringerte. Unter ihnen tobte der New Atlantik, der seit der Abschmelze der Polkappen einen beträchtlichen Teil der einstigen Landmassen verschlungen hatte. Teile Afrikas mussten dort irgendwo gewesen sein, bevor J.T. Maston mit seinem absurden Plan, die Erdachse zu verlagern, die Polkappen zum Schmelzen brachte, um an die Kohlevorräte unter dem Eis zu gelangen.
»Ihr müsst das rückgängig machen!« Spilett packte Maston vorn am Hemd.
»Nicht so hitzig, Mister Spilett. Was regt Ihr Euch so auf? Das ist Wissenschaft! Das ist Fortschritt!«
Cyrus Smith drehte sich zu den Beiden um. »Wollt Ihr Fortschritt um jeden Preis?«
»Gerade Ihr als Ingenieur müsstet das doch verstehen, Mister Smith.«
»Wer soll sich an Eurem Fortschritt erfreuen, wer an Euren technischen Errungenschaften?« Smith wies anklagend mit ausgestrecktem Arm in die Ferne. »Es wird niemand mehr da sein.« Der Sturm packte sich die Worte und riss sie mit sich in den wütenden Äther.
»Ihr übertreibt. Nicht jeder Teil der Welt wird von den Katastrophen heimgesucht.« J.T. Maston grinste.
»Amerika bleibt weitestgehend verschont.«
»Was wollt Ihr damit sagen? Die Welt ist unwichtig? Amerika first?« Gedeon Spilett schüttelte ungläubig den Kopf.
»Amerika first. Das habt Ihr schön gesagt.« Maston lachte.
Spiletts Herz tobte, ebenso unter ihnen das Meer, über ihnen fegten stetig verändernde Wolkenformationen dahin. Nirgends war Land zu sehen. Blitze zuckten aus dem Cumulo-Nimbus, einem dunkel drohenden Wolkenberge voraus. Die drei hielten jedoch Ausschau nach einem anderen Berg, jenem Gipfel an dessen Fuß Präsident Barbicane des Gun-Clubs und Capitän Nicholl die von J.T. Maston konstruierte Kanone erbaut und abgeschossen hatten, um die Erdachse zu verschieben.
»Sie müssen Ihr Werk rückgängig machen! Nur aus diesem Grund haben wir Sie aus Baltimore entführt und dem Lynchmob entrissen, Maston!«
»Dafür habt Ihr meinen Dank, Mister Spilett. Doch wüsste ich nicht, wie ich die Erde wieder in ihre Ausgangssituation zurückdrehen sollte.«
»Sind wir erst am Ziel, wird Ihnen schon etwas einfallen.«
»Da! Der Kilimandscharo«, rief Smith und unterbrach das Gespräch der beiden Kontrahenten.
In der Ferne zwischen den finsteren Wolkenfetzen gewahrten sie tatsächlich die Silhouette eines einsamen Berges. Der Kegel war oben abgeflacht, doch nicht, wie einst, mit Schnee bedeckt.
»Sie könnten die Kanone in entgegengesetzte Richtung abfeuern«, schlug Smith vor und hantierte mit der Einstellung des Brenners, um den Ballon in der richtigen Höhe zu halten. Der Wind nahm zu, die Luftwirbel ließen die Gondel schwanken.
»Das ist unmöglich«, konterte Maston. »Woher soll ich ein neues Projektil nehmen und den nötigen Explosivstoff Meli-Melonit?«
»Ihr habt es einmal geschafft, also schafft Ihr es auch ein zweites Mal.« Smith blickte Maston grimmig an.
Der Ballon wurde von einer Böe erfasst und in Schräglage versetzt. Die drei Luftreiseenden stürzten auf den Boden des Korbes. Sie krallten sich fest, während ihr Gefährt als Spielball der aufgebrachten Atmosphäre durch den Äther schlingerte.
Smith zog sich hoch und spähte über den Rand.
»Land! Ich sehe Land! Der Kilimandscharo ist nicht mehr fern.«
Auch J.T. Maston stützte sich empor, um das Land zu erblicken. Es war von Verwüstung geprägt – jene Verheerungen, die von dem Projektil stammten. Das Kanonenrohr im Berg war verschüttet, jedwede Siedlung zerstört, keine Menschenseele zu sehen.
»Es ist nichts zu retten!«, rief Maston und beugte sich ausschauhaltend über den Rand des Korbes.
… nichts zu retten … nichts zu retten … Der Gott jener verwüsteten Welt hielt inne. Seine Feder blieb mitten im Wort stehen. Ein Tintenklecks breitete sich über dem Papier aus und verschlang die letzten Wörter.
Das darf nicht sein, dachte er und blickte vom Schreibtisch auf. So kann ich die Geschichte nicht enden lassen. Sollten Wissenschaft und Technik die Zerstörer der Welt sein – oder die Neugier des Menschen? Nun, wahrscheinlich war es die Gier des Menschen, welche unseren Globus irgendwann zugrunde richtet. Aber Geschichten sind Geschichten und ich kann auf diese Einfluss nehmen, mehr als auf das Geschick in der realen Welt. Womöglich kann ich gerade durch meine Geschichten Einfluss auf den Lauf der Dinge nehme und den Menschen den Spiegel vorhalten.
Monsieur blickte durch das Fenster über die Dächer von Amiens. Der Mensch ist nicht unfehlbar, sinnierte er, und sein Tun ebenso wenig. Eine Ablenkung hier und ein Zahlendreher dort und schon stellt sich die Katastrophe ein … das Durcheinander … oder eben Kein Durcheinander.
Er knüllte zwei Zettel in der Hand zusammen und warf sie unter den Schreibtisch. Die Katastrophe kullerte als Papierkugel über die Dielen des Stadthauses. Gedeon Spilett und Cyrus Smith verließen unerkanntden Schauplatz. Die Feder nahm ihre Bewegung wieder auf.
Jawohl, es ging alles gut,weil sich nichts
geändert hatte im Zustande der Dinge,
abgesehen von den in Wamasai angerichteten
Verheerungen, welche aufs Kerbholz jener
künstlichen Windhose gehörten, und von den
vielfachen Schiffbrüchen infolge der
gewaltsamen Verschiebungen der Luftschicht.
(Aus Der Schuss am Kilimandscharo oder Kein Durcheinander von Jules Verne, 1889)
Diese Geschichte erschien 2018 in der Anthologie Auf phantastischen Pfaden, Die den Auftakt der Historische-Fantasy-Reihe Karl Mays magischer Orient bildet.
Ich stamme selbst aus der Gegend von Karl Mays Geburtsstadt Hohenstein-Ernstthal.
In der hier erwähnten Karl-May-Höhle war ich natürlich auch schon.
Die Mai-Sonne schien warm auf mich herab. Ich mäßigte meinen Lauf, denn meine Beine wurden mir schwer und meine Lungen brannten. Der Anstieg zum Oberwald hatte mich doch sehr angestrengt und mein Puls raste. Das Herz klopfte mir bis in den Hals. Hatte ich die Häscher der Justiz abhängen können? Ich lauschte. Es war kein verdächtiges Geräusch zu vernehmen, kein Knacken von Zweigen unter schwerem Tritt, kein rollendes Gestein losgetreten von Polizeistiefeln. Gedämpftes Geläut der Ernstthaler Glocke war zu hören – unten aus dem Tal. Doch die Bäume ringsum verwehrten mir den Blick auf den Ort meiner Kindheit. Ich schüttelte die Erinnerungen ab, die mich zu übermächtigen versuchten. Nach kurzem Verschnaufen rückte ich den Rucksack zurecht und trat in den stillen und geheimnisvollen Wald ein.
Die Äste der Bäume wölbten sich über mir und die zarten grünen Blätter filterten das Sonnenlicht. Ich lenkte meine Füße in den Hohlweg des Pechgrabens. Die Stimmen der Vögel waren wie Musik in meinen Ohren und mein wildes Herz begann sich zu beruhigen. Eine Amsel saß auf einem Zweig und trällerte ihr Frühlingslied. Weiter entfernt von der Höhe des Kiefernberges her drang das Tock-tock-tock eines Spechtes zu mir herunter. Der Warnruf eines Eichelhähers ließ mich zusammenzucken. Meine Muskeln spannten sich wie die eines Pferdes vor dem Sprung. Mit angehaltenem Atem blickte ich mich um. Doch da war niemand. Mir wurde gewahr, dass ich selbst der Eindringling war, vor dem der Vogel warnte.
»Greenhorn!«, titulierte ich mich selbst und lachte in mich hinein. »Pshaw! Diesmal sollen sie mich nicht erwischen. Ins Arbeitshaus nach Zwickau kehre ich auf keinen Fall zurück.«
Weiter wanderte ich durch das romantische Tal, lauschte dem Gesang der Vögel und dem leisen Plätschern der Wasser des Pechgrabens. Bald vereinten sie sich mit den Wassern des Schindelgrabens. Nun wusste ich, dass das Ziel nicht mehr fern war. Ich setzte zum Sprung an und landete wohlbehalten auf der anderen Seite. Dichtes Buschwerk verdeckte dem unwissenden Wanderer den Blick in den Hohlweg. Ich bahnte mir einen Durchgang und endlich tat sich vor mir der Schlund der Eisenhöhle auf. Furchtlos trat ich in das Dunkel des Berges. Es sollte mein Schutz sein, mein Unterschlupf, bis sich die erregten Gemüter beruhigthatten. Dann würde ich weiter ziehen. Doch vorerst schlug ich hier mein Lager auf.
Wenn auch nur im Geiste meiner Phantasie, so war ich doch ein geübter Westmann, der sich nicht vor den Herausforderungen der Natur fürchtete. Ganz im Gegensatz zu den Herausforderungen eines gutbürgerlichen Lebens, denen ich mich zum wiederholten Male nicht gewachsen sah. Doch sei gewiss, lieber Leser, dass ich auch diese eines Tages meistern werde. Fehlt mir doch einfach nur das Ziel meines Lebens und Zeit. Zeit, meiner Bestimmung zu entsprechen. All das zu Papier zu bringen, was schon lange in mir schlummerte. Doch die Zeit war ein unbarmherziger Sklaventreiber, der die Karawane der Ereignisse durch die Wüste des Lebens trieb. Und so war ich stets damit beschäftigt gewesen, mir Teller und Krug zu füllen, anstatt die leeren Seiten, die ich stets bei mir trug. Dies wollte ich nun ändern.
Aus dem Rucksack kramte ich einige Kerzen. Ich strich das Zündholz über den Stiefelschaft und die winzige Flamme erschuf ein kleines Stück Welt um mich herum. Sobald sie auf den Docht der Kerzen übergesprungen war, hatte sich diese Welt noch ein wenig vergrößert. Einige Baumscheiben nahe der bergmännisch behauenen Felswand boten mir einen geeigneten Platz, um mich niederzulassen. Zuerst prüfte ich meine Vorräte an Zwieback und Speck. Ich wünschte, ich hätte behaupten können, Vorräte an getrocknetem Büffelfleisch bei mir zu tragen. Doch derlei Dinge befanden sich nur in meinem Kopf. Eine Decke aus grauer Wolle ersetzte das gegerbte Bärenfell. Nun fühlte ich mich frei.
Ich zog die Weinflasche aus dem Rucksack und stellte sie neben die Kerze. Dann holte ich den Papierstapel hervor. Das war der Beginn. In Zwickau hatte ich endlich Zeit gefunden, all die Ideen zu den Geschichten aufzuschreiben, die sich in mir breit gemacht hatten. Ich quoll über vor Ideen und musste sie endlich aus mir befreien. Die Liste an Titeln und Sujets auf meinem Repertorium war lang. Doch wo beginnen?
Ich legte den Bleistift und ein Stück jungfräuliches Papier auf den provisorischen Tisch neben der Kerze. Mit etwas Anstrengung drehte ich den Korken aus der Flasche und setzte sie an den Mund. Der Stift zuckte in meiner Hand. Ein weiterer Schluck. Ich starrte auf das Papier. Es war noch immer weiß. Der Schein der Kerzen tanzte auf dem nackten Gestein. Schatten von Kanten und Wölbungen narrten mich mit grinsenden Gesichtern. Das Licht flackerte, die Schatten huschten vor meinem getrübten Bick vorbei wie Raubvögel über den blauen Himmel der Prärie. Der Fels fing an sich zu bewegen, zu verschwimmen. Das Kerzenlicht formte sich zu einem runden Fleck. Ein Mond über dunklem weitem Land. Oder war es Wasser? Es mutete an, als ob der Fels der Höhle die Oberfläche eines Sees sei. Beschienen vom silbernen Mondlicht – ein Silbersee.
Ich sank in mich zusammen.
Jemand rüttelte an meiner Schulter. Langsam kam ich zu mir. Licht fiel durch meine geschlossenen Augenlider. Es musste heller Morgen sein und die Sonne genau durch den Höhleneingang scheinen. Mein Kopf war schwer und ich hörte ein Rauschen und Brausen, wievon einem Mühlbach. Wieder rüttelte jemand an meiner Schulter. Die Augen waren mir ebenfalls schwer und es gelang mir nicht sie zu öffnen. Ich befürchtete, dass es die Polizei sein konnte, die mich nun doch gestellt hatte. Ich vernahm ein Schnauben. Das Schnauben eines Pferdes – eines Polizeipferdes? Eine frische Brise wehte in die Höhle. Sie roch nach Gras und Pferd. Mir wurde gewahr, dass das Rauschen nicht von einem Mühlbach kam, sondern in meinem Kopf wohnte. Es musste die Folge des Weingenusses sein.
Nun, dachte ich resigniert, dann soll es so sein. Eine weitere Verhaftung.
Endlich fand ich die Kraft meine Augen zu öffnen. Ein Gesicht war über mich gebeugt. Edle Züge, fein geschnitten, bronzene Haut, dunkle Augen und langes schwarzes Haar.
»Mein Bruder«, sprach mich der Wilde an. »Weilst du wieder im Land der Lebenden? Ich hatte schon befürchtet, dass diese Bleichgesichter dich in die ewigen Jagdgründe zu Manitu befördert haben.«
Blinzelnd blickte ich mich um. Wo war ich?
Die Höhle war verschwunden. Ich lag im goldglänzenden Gras der Great Plains. Das konnte nicht sein! Wie sollte ich hierhergekommen sein?
Ungläubig blickte ich den Indianer an. Er lächelte. Ich erkannte ihn. Denn schon seit langem geisterte er in meinem Kopf herum, und er war mir so vertraut. Eigentlich sollte er ein Trugbild sein, ein Gespinst meiner Phantasie. Doch nun stand er vor mir, ganz lebendig.
»Winnetou, mein Bruder ...«, stammelte ich.
»Die Kugel ist an deiner Schläfe entlanggefahren und hat eine nicht sehr tiefe Wunde gerissen. Aber du scheinst noch verwirrt, Charlie«, fuhr mein Blutsbruder fort.
Ich fasste mir an den Kopf und spürte warmes Blut an meiner Hand. Dies konnte kein Traum sein.
»Das Greenhorn lebt, wenn ich mich nicht irre. Hihihi«, hörte ich plötzlich eine weitere Stimme. Ich wendete umständlich den Kopf. Auf einem Maultier sitzend blickte ein Mann mit wirrem Bart und Biberschwanzmütze aus winzigen klugen Augen auf mich herab. Seine Nase war gewaltig. Ein übergroßer flickenbesetzter Jagdrock verhüllte den Rest der Gestalt und ließ nur ein paar ausgefranzte Leggins herausschauen über die ein paar zu groß geratene Stiefel gestülpt waren. Ich erkannte ihn sofort. Es war mein treuer Gefährte Sam Hawkens, zu Fleisch und Blut geworden, wie Winnetou.
»Wollt Ihr den ganzen Tag verschlafen, Old Shatterhand? Oder wollen wir nun endlich diesen Santer verfolgen? Wir müssen vor ihm am Nugget-Tsil ankommen, wenn ich mich nicht irre. Hihihi«, setzte er mir weiter zu.
Ich ließ mich in das Spiel ein. Denn was hatte ich für eine Wahl? Sollte es ein Traum sein, konnte mir nichts Böses widerfahren. Waren diese Figuren tatsächlich echt, so musste auch ich echt sein – Old Shatterhand.
Winnetou streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff sie beherzt und er zog mich auf die Beine. Dann bestieg mein Bruder seinen Hengst Iltschi und ich meinen treuen Hatatitla. Auf ins Abenteuer!
Wir folgten der Fährte der Banditen durch die Prärie. Die Hufe ihrer Pferde hatten einen verräterischen Pfad hinterlassen. Selbst für ein Greenhorn, das noch unerfahren im Spurenlesen war, hätte die Verfolgung der Fährte keine Herausforderung dargestellt.
So kamen wir dem Höhenzug näher, der das Gold der Apachen barg. Und noch etwas war hiermit verbunden. Ich sah es in Winnetous Gesicht und spürte es in meinem Herzen. Wir kehrten an den Ort zurück, an dem Winnetous Vater Intschu tschuna und seine Schwester Nscho-tschi einst den Tod fanden. Ihr Mörder kehrte an den Ort des Verbrechens zurück und wir waren ihm auf den Fersen. Winnetou würde endlich Rache nehmen können, wie er sie der sterbenden Nscho-tschi versprochene hatte. Diese Gedanken verwirrten mich, denn ich grübelte über Dinge, als wären sie bereits geschehen, obwohl ich sie noch nicht zu Papier gebracht hatte. In diesem Universum jedoch gehörten sie schon der Vergangenheit an.
Ein Zweig peitschte mir ins Gesicht, als wir durch den Wald ritten und riss mich aus den Grübeleien. Zu beiden Seiten des Weges erhoben sich bewaldete Höhen. Sie rückten allmählich enger zusammen, bis sie eine Schlucht bildeten, in die sich nur wenig Tageslicht verirrte. Der Boden war mit Geröll bedeckt. Die Hufe der Pferde hatten Mühe, den rechten Halt zu finden. Doch wir konnten keine Rücksicht darauf nehmen. Diesmal sollte der Mörder uns nicht entkommen. Der Mörder des Mädchens, dass meine Frau hatte werden wollen und dafür in den Tod gegangen war.
Ein Stöhnen entfuhr meiner Brust bei diesem Gedanken. Winnetou musste es wohl vernommen haben, ließ sich jedoch nichts anmerken. Auch ihm war das Herz schwer. Das konnte ich an seinem Gesicht und seiner Haltung erkennen. Seine Miene wirkte nicht nur ernst, wie gewöhnlich, sondern regelrecht versteinert. Seine Haltung mag für einen Fremden aufrecht und stolz wirken. Doch ich sah sehr wohl, dass er bedrückt war. Selbst der Wald schien den Atem anzuhalten, denn es war kein Vogel zu vernehmen.
Jedoch hörte ich Hufschlag. Als wir die Anhöhe erreicht hatten, fanden unsere Reittiere wieder sicheren Tritt im Gras des lichten Waldes. Wir trieben sie an und jagten zwischen den Stämmen hindurch.
Endlich wurden wir vor uns der Flüchtigen gewahr. Sie preschten zielstrebig auf eine Höhle zu, deren Eingang uns drohend entgegen gähnte. Furchtlos ritt ich ihnen hinterher und setzte mich an die Spitze unseres kleinen Trupps.
»Mein Bruder«, rief Winnetou mir nach, »halte ein!«
Ich zügelte sofort meinen Rappen und hielt an. Die Hufschläge der Pferde von Santer und seinen Kumpanen hallte im Bergesinnern wider.
Mein Blutsbruder war dicht an mich heran geritten und hatte die Hand auf meine Schulter gelegt. »Charlie, reite du ihnen hinterher. Sam Hawkens und Winnetou werden ihnen auf der anderen Seite auflauern.«
»Du kennst den Weg zum Ausgang?«
»Ja, mein Bruder.«
»Vortrefflich. So sitzen sie in der Falle.«
Winnetou nickte mir bejahend zu, deutete Sam an, ihm zu folgen und trieb sein Pferd zum Galopp an. Sam guckte etwas verdutzt, folgte dann aber dem roten Häuptling.
So stand ich allein vor dem gähnenden Schlund des Berges. Ich lauschte. Die Hufschläge waren verklungen. Entweder waren die Banditen außer Hörweite geraten oder stehen geblieben, um uns einen Hinterhalt zu legen. Ich hatte keine Zeit, mir darüber Sorgen zu machen, sondern trieb Hatatitla vorwärts. Das Pferd bäumte sich auf. Zum ersten Mal wollte es mir nicht gehorchen. Witterte es Gefahr? Ich drückte meine Absätze fester in seine Flanken. Das Tier schnaubte nervös, ging aber vorwärts. So traten wir in die Dunkelheit des Berges ein.
Das Licht, welches durch den Eingang drang, wurde schnell schwächer, je weiter ich ins Innere vordrang. Und dann umgab mich undurchdringliche Dunkelheit. Wie sollte ich den Weg finden? Es dauerte eine geraume Zeit, bis sich schließlich meine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Hatatila war in langsamem Schritt wietergegangen. Anscheinend hatte er eine bessere Sehkraft als ich, oder er orientierte sich an etwas anderem. Ich jedenfalls erblickte nun ein Flimmern und Glimmern im Fels. Es umgab mich wie ein gewaltiger Schwarm Glühwürmchen. Bei näherem Betrachten begriff ich, dass es die Goldadern waren, die in dem Dunkel leuchteten. Fast so, als wolle der Berg selbst mir den Weg weisen.
Auf einmal krachte es, dass ich meinte, der gesamte Fels würde auf mich hernieder stürzen. Ich ließ mich von meinem Pferd fallen und rollte mich in eine Felsnische. Vorsichtig lugte ich nach vorn. Etwa zwanzig Schritte voraus sah ich einen Pistolenlauf funkeln. Da hockten also diese Banditen, um uns aufzulauern.
»Santer!«, rief ich. »Wenn Ihr nicht den gesamten Berg zum Einsturz bringen wollt, solltet Ihr aufhören zu schießen.«
Ein verächtliches Lachen war die Antwort. Es hallte von den Wänden wider, als käme es aus hundert Kehlen. »Was ist? Hat Old Shatterhand Angst. Ist er zu Old Schlotterhemd geworden?«
Diese Beleidigung hätte mich wütend machen sollen, doch ich schluckte meinen Zorn hinunter und versuchte einen Plan zu schmieden, diese Banditen dingfest zu machen. Ich wusste nicht, wie lang die Höhle war und ob meine zwei Freunde das andere Ende schon erreicht hatten. Auf jeden Fall durfte ich diese Bande nicht entkommen lassen. Also schwang ich mich wieder auf Hatatitla, fasste den Bärentöter am Lauf und schwang ihn wie eine Keule. Ich preschte auf die vier Banditen los, die verdutzt über meinen plötzlichen Angriff, reglos dastanden. Zwei der Gauner konnte ich mit dem Kolben niederstrecken. Der Dritte hastete in eine Felsspalte, wohin ich ihm nicht zu folgen vermochte. Santer, der Mörder, war jedoch auf sein Pferd gesprungen und versuchte erneut zu fliehen. Doch ich holte ihn ein, spannte meine Muskeln und sprang ihn von hinten an. Dabei riss ich ihn vom Pferd und wir stürzten auf den Höhlenboden. Mein Kopf krachte unglücklich auf einen Felsvorsprung und ich verlor das Bewusstsein.
Ein Schrei des Entsetzens ließ mich wieder zu mir kommen. Ich spürte Santers Körper unter mir. Er wand sichwie von Sinnen und wollte sich von meinem Körper, der ihn an den Boden fesselte, befreien. Er rutschte in spürbarer Panik unter mir hindurch. Im letzten Moment konnte ich noch seine Füße greifen und ihn an der Flucht hindern.
»Lass mich los, du Teufel!«, brüllte er. »Was für eine Zauberei ist das?« Seine Stimme überschlug sich.
Zauberei?, dachte ich. Was konnte dieser Mörder meinen? Ich blickte mich um und erstarrte. Die Höhle, in der wir uns befanden, war nicht mehr die im Nugget-Tsil. Wir befanden uns wieder in der Eisenhöhle nahe Ernstthal. Ein kalter Schauer glitt mir über den Rücken.