Skábma - Das Nanobot-Experiment - Jacqueline Montemurri - E-Book

Skábma - Das Nanobot-Experiment E-Book

Jacqueline Montemurri

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Beschreibung

Der Klimawandel hat den Norden Europas entvölkert. In Jokkmokk, einer der wenigen bewohnten Enklaven, soll die Stockholmer Kommissarin Selma Fredriksson einen Mord aufklären. Der samische Polizist Aslak Järvi unterstützt sie dabei, ohne zu ahnen, dass Selma ganz andere Ziele verfolgt. In der kargen Tundra des Sarek kommen die Beiden einem Verbrecher auf die Spur, der mittels Nanotechnologie das Handeln von Menschen kontrollieren will. Sie wissen nicht, dass Selma längst mit den Nanobots infiziert ist, bis sie in der menschenleeren Weite ihre Waffe gegen Aslak richtet ... "Diese Art Romane versuche ich auch immer zu schreiben." - Andreas Eschbach -

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Skábma

Das Nanobot-Experiment

Jacqueline Montemurri

Prolog

Gidágiesse

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

Giesse

14.

15.

16.

17.

18.

19.

Tjaktjagiesse

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Tjaktja

27.

28.

29.

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

Tjaktjadálvve

41.

42.

43.

44.

45.

46.

47.

48.

49.

50.

51.

52.

53.

54.

55.

56.

57.

58.

59.

Dálvve

60.

61.

62.

63.

64.

65.

66.

Gidádálvve

67.

68.

69.

70.

Gidá

71.

72.

73.

74.

75.

Nachwort und Danksagung

Über die Autorin

Planet Neun

Störfall

Der verbotene Planet

Der Koloss aus dem Orbit

Das Geheimnis des Lamassu

Der Herrscher der Tiefe

Impressum

Ein Vogel, der fliegt, findet immer etwas,

einer, der im Nest hockt, findet dagegen nichts.

(Altes sámisches Sprichwort)

Prolog

Drei Düsenjets mit sechs Begleitdrohnen rasten in Dreiecksformation unter den rosa Wolken der Abenddämmerung hindurch über den alten Mann hinweg. Er folgte ihrer Bahn mit den Augen. Die metallischen Leiber blitzten in einem Lichtstrahl der schon nahe dem Horizont stehenden Sonne auf. Das vorderste Flugzeug vollführte ein Rollmanöver, flog eine Zeit lang in Rückenlage und brachte sich zurück in Position. Allmählich verhallte der Donner der Triebwerke im breiten Tal des Rapaätno. Wie eine wärmende Decke legte sich die Stille über die Tundra des Sarek – der riesigen kargen Gebirgslandschaft im Norden Schwedens. Nur das Rauschen des nahen Flusses klang wie melodische Hintergrundmusik.

Ein Elch stakste durch den Sumpf am Ufer. Er senkte den Kopf, um in den wassergetränkten Wiesen zu weiden. Manchmal verschwand sein ganzes Haupt unter der Oberfläche eines Tümpels. Sein prächtiges Schaufelgeweih zeigte, dass er auf dem Höhepunkt seines Lebens stand. Der alte Mann stützte sich auf einen Stock und sah dem Tier lächelnd zu. Unter seiner blauen Mütze mit roter Borte lugten ein paar graue Haare hervor. Seine Augen glänzten aus einem zerfurchten Gesicht. Es zeugte von einem harten Leben in einer kargen Landschaft. Sonne und Wind sowie Freude und Sorgen hatten ihre Spuren auf ihm hinterlassen, so wie Wasser und Eis in die Findlinge der Umgebung Risse, Furchen und Falten gegraben hatten. Genauso wie jene Steinblöcke war er ein Relikt aus vergangenen Tagen, einer der wenigen, die an der alten Lebensweise festhielten. Er empfand sich als Nåjde, als Mittler zur Geisterwelt. Hier an diesem Stein, seinem Seid, seinem Heiligtum, konnte er mit den Geistern sprechen. Dafür legte er eine Rindenschale gefüllt mit Moltebeeren in eine vom Regen geformte Höhlung und lauschte der Natur, dem Wind, der durch die niedrige Vegetation pfiff.

Und dann hörte er noch etwas anderes. Ein fernes Dröhnen kündigte Unheil an. Am Horizont gewahrte er einen schwarzen Schatten; erst klein und unwirklich, doch bald kam er geräuschvoll näher. Es war ein Helikopter, der im Tiefflug über die sumpfige Ebene des Flusstals heranflog, niedriger als die schneebedeckten Gipfel ringsum. Der Alte zog es vor, sich hinter den mächtigen Felsblöcken zu verbergen und aus dem Versteck heraus zu beobachten.

Wie ein Raubvogel auf der Suche nach Beute kreiste der Hubschrauber über der sumpfigen Landschaft. Und endlich schien er sein Opfer ausgemacht zu haben. Zielstrebig kam er näher. Der Elch blickte der schwarzen stählernen Libelle nervös entgegen. Seine Flanken erzitterten und er sprang ein Stück zur Seite. Dann blieb er stehen und sah der Gefahr ins Auge.

Plötzlich krachte es wie der Donnerschlag eines Novembergewitters. Das Tier zuckte zusammen und ergriff mit weit ausholenden Läufen die Flucht. Der Stahlvogel folgte in Jagdgier. Der Elch blickte sich nicht mehr um, sondern hetzte in wilder Panik davon, dem Tal nach Nordwesten folgend. Seine Hufe versanken immer wieder in den Sumpftümpeln. Es kostete ihn viel Kraft, sich daraus freizukämpfen.

Der zweiblättrige Rotor schnitt einen transparenten Kreis in die Luft und verursachte ein pulsierendes Wummern. Um dem Tier den Weg abzuschneiden, flog der Helikopter eine Schleife. Dabei neigte er sich zur Seite und beschrieb einen Bogen um eine unsichtbare Achse.

Ein dunkles Etwas fiel aus der offenen Seitentür und landete unsanft auf dem Tundraboden. Der alte Mann zog den Kopf erschrocken hinter den Felsblock zurück. Hatte er gerade einen menschlich klingenden Schrei gehört? Das Dröhnen der Triebwerke und Rotoren schallte übermächtig und konnte ihm diesen auch bloß vorgegaukelt haben. Verunsichert presste er sich gegen den nach Moos riechenden Findling. Ängstlich lugte er um den Stein und riskierte einen Blick auf das Geschehen.

Der schwarze Hubschrauber ließ gerade von dem Elch ab und umkreiste eine Stelle am Ufer eines Seitenarms des großen Flusses. Es war eine bauchige alte Maschine aus einer Zeit, wo Liebe und Tod, Blumenketten und Sturmgewehre Hand in Hand zum Klang von E-Gitarren und Napalmbomben tanzten. Das war lange her, vor einem Dreivierteljahrhundert, als er noch ein kleines Kind gewesen war. Der Huey ging herunter und hielt sich im Schwebeflug knapp einen Meter über dem Boden. Jemand sprang heraus und untersuchte etwas. Dann wurde die Person zurück in das Fluggerät gezogen.

Der Alte hinter dem Findling beobachtete, wie die Maschine steil nach oben stieg und gen Süden aus seinem Blickfeld verschwand. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals. Von dem Elch fehlte nun jede Spur. Stille senkte sich wieder über das Flusstal. Ein paar Vögel stritten sich im Gestrüpp und die letzten Mücken des Jahres summten um seinen Kopf.

Vorsichtig stapfte er Richtung Ufer. Seine traditionellen Schuhe aus Rentierfell mit den hochgebogenen Spitzen hinterließen kaum Spuren im weichen Grund. Er blieb vor der blutüberströmten Leiche stehen und zog mit zitternden Fingern sein antiquiertes Mobiltelefon aus der Jacke. Das Gerät konnte keine Verbindung zu einem Netz herstellen. Also machte er sich auf den Rückweg. Am westlichen Horizont ging der Vollmond hinter eisigen Graten auf. Er wirkte unnatürlich groß und seine Krater traten deutlich sichtbar hervor.

Gidágiesse

Frühlingssommer

Im Juni schmilzt der Schnee endlich

und der Sommer hält langsam Einzug in

Sápmi – dem Land der Sámi.

Die Siida – die Sippe – bricht zu den Sommerweiden auf,

da nun die jungen Rentiere Schritt halten können.

Mückenschwärme umschwirren den Treck,

der aus Menschen und Rens besteht.

Die Kolonne verlässt die Tundra

und sucht sich ihren Weg durch Schluchten und Furten

sowie über Pässe durch das Gebirge in die Hochebenen.

1.

Einige Tage vorher und mehrere hundert Kilometer südlich in Stockholm machte sich ein mikroskopisch kleines Objekt auf den Weg von einer Injektionsnadel durch die Armvene in den Blutkreislauf eines jungen Mannes. Es hatte die Form eines Spinnentieres, allerdings im Gegensatz dazu nur sechs beinartige Fortsätze. Der Körper war rund und ein wenig länglich – fast wie ein gestauchter Torpedo. Trotz seiner Winzigkeit war es mit Technik vollgestopft, die ihm eine autonome Energieversorgung durch die Umgebungswärme in seinem Wirtskörper ermöglichte, ebenso wie Fortbewegung, Andockmanöver und weitere Handlungen. Es konnte Signale empfangen und diese in Aktionen umsetzen.

Zunächst folgte es jedoch dem Blutstrom. Rote Blutkörperchen zogen wie große, mittig eingedrückte Tellerlinsen an ihm vorbei. Zwei kugelartige weiße Zellen mit unzähligen kleinen wurmartigen Fortsätzen kamen zielstrebig näher, umkreisten das fremde Objekt und versuchten offenbar, seine Struktur zu analysieren. Bei ihnen handelte es sich um Lymphozyten – weiße Blutzellen –, die Verteidigungsarmee des Körpers. Unbekannte Eindringlinge wie Fremdstoffe, Bakterien, Viren, Tumorzellen vernichteten sie erbarmungslos. Doch das Verteidigungssystem konnte durchbrochen werden. Durch die Ummantelung mit Lipoprotein wurde es nicht als fremd erkannt. Schließlich entschieden die Lymphozyten, dass es eine körpereigene Zelle war, und verschwanden wieder im Fluss der roten Blutkörperchen. Wie ein Wolf im Schafspelz setzte der Eindringling unbeirrt seinen Weg fort.

Und so gelang es der winzigen Apparatur sogar, die Blut-Hirn-Schranke zu überwinden. Die Kapillaren im Gehirn waren zwar so aufgebaut, dass Zellen ab einer bestimmten Größe sie nicht durchdringen konnten, doch der Tarnkappenmechanismus des Objekts, gepaart mit seinen geringen Abmessungen, machte diese Barriere unwirksam. Es folgte dem Weg des limbischen Systems bis zur Amygdala, dem Ausgangspunkt bestimmter Gefühle wie Wut und Aggression. Dort dockte es an einer Zelle an und wartete auf seinen Einsatz. Es blieb nicht allein. Viele weitere identische Objekte reihten sich an und nahmen in unmittelbarer Nähe ihre Plätze ein. Es waren Nanobots, winzige Roboter, die jeden Befehl ausführten, der ihnen einprogrammiert worden war.

Der Nanobot BOT_XrV-N konnte weder sehen noch hören. Doch hätte er hören können, wäre er Zeuge folgenden Gesprächs geworden:

»Rodebrand«, schallte die Stimme seines Wirtskörpers. »Ihre Aufputschdroge verursacht Kopfschmerzen.«

»Das geht vorüber, Nils. Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wissen ja: Es ist ein unbedenklicher Test eines harmlosen Mittels.«

»Harmlos – das rate ich Ihnen auch.«

»Keine Panik. Denken Sie einfach daran, dass ich Ihnen im Gegenzug bei Ihren Aktivitäten behilflich sein werde.«

BOT_XrV-N empfing ein Signal. Sofort begann er, elektrische Impulse an die Zelle zu senden, an der er angedockt hatte. Die Zelle registrierte diese Reize und interpretierte sie im Zusammenhang mit den Informationen aus Seh- und Hörnerv als Gefahr. Nun musste sie sich zwischen den Reaktionen Panik oder Wut entscheiden. Dabei griff sie auf erlernte und erlebte Strukturen in der Vergangenheit zurück und entschloss sich schließlich für Letzteres. Nachdem sie diese Nachricht weitergegeben hatte, schüttete das Nebennierenmark in Bruchteilen von Sekunden Adrenalin aus.

»Ich hoffe, dass ich keinen Hirntumor bekomme. Sonst werden Sie das auch nicht überleben!«

»Da kann ich Sie beruhigen, Nils. Ganz im Gegenteil. Das Zeug schützt Sie sogar davor.«

»Ich trau Ihnen nicht, Rodebrand!«

»Nicht so misstrauisch.«

»Was soll das Begrapschen?«

»Nur ein Haar.«

»Was?«

»Sie hatten ein Haar auf der Schulter. Man sollte seine Haare nicht irgendwo unkontrolliert liegen lassen.«

»Sie sind ein Spinner. Wie ich schon sagte, ich trau Ihnen nicht.« Papier raschelte.

»Das ist okay, Nils ... Kennen Sie diese Frau hier?«

Ein Knall schallte durch den Raum. Der biologische Wirt des torpedoförmigen Nanobots BOT_XrV-N hatte mit der Faust auf die Tischplatte geschlagen.

»Sicher kenne ich das Schwein! Das ist Malmberget. Sie verschandelt mit ihrer Bergbau- und Energiepolitik unser Land. Mein Volk wird immer mehr unterdrückt und seiner natürlichen Lebensgrundlage beraubt. Ich ...«

»Da haben Sie recht. Jemand sollte ihr das Handwerk legen.«

»Allerdings! Wenn ich sie in die Finger bekommen könnte, dann ...«

»Vielleicht wüsste ich da eine Möglichkeit ... Wir treffen uns morgen Abend im Den Gyldene Freden. Dann besprechen wir alles Weitere.«

»Ich werde da sein, Rodebrand.«

»Wissen Sie, wo es ist?«

»Ja sicher, ich kenne mich aus in Stockholm.«

2.

Aslak Järvi lehnte den Kopf an die Scheibe des Flugzeugs. Das Vibrieren der Maschine, das sich auf seinen Körper übertrug, machte ihn schläfrig. Sein Blick glitt hinaus auf die Tundra und das schroffe Gebirge des Sarek, das sich kurz ins Fenster schob – irgendwie schief. So fühlte er sich auch gerade – seltsam in Schräglage.

Eyvind war vor einigen Tagen in einer Internetzeitung auf ein Phantombild einer Fahndung bezüglich eines Überfalls auf ein Schmuckgeschäft gestoßen. »Ich finde, das sieht ihm verdammt ähnlich«, hatte er gesagt und auf das Foto auf seinem Smartcom getippt.

Aslak hatte es nur flüchtig aus dem Augenwinkel heraus betrachtet. Denn eigentlich wollte er nichts von ihm sehen und nichts von ihm wissen. Ja, sicher, Nils war sein Bruder – besser gesagt Halbbruder. Doch er selbst gehörte der örtlichen Polizei an und hatte wenig Lust, seinen eigenen Bruder verhaften zu müssen. Es beruhigte ihn, dass sich Nils viel lieber in Stockholm oder Göteborg aufhielt als hier in Lappland. Das war weit genug entfernt, damit es zwischen ihnen beiden nicht zu folgenschweren Konflikten kommen konnte. Aber sein Onkel Eyvind war auf die Idee gekommen, dass er, Aslak, in der Position sei, seinen Bruder wieder auf den richtigen Weg zu bringen, weg von den kriminellen Machenschaften, auf die er sich eingelassen hatte, weil er glaubte, für ein freies Sápmi – ein freies Lappland – kämpfen zu müssen.

»Was genau erwartest du jetzt von mir, Eyvind?«

»Du bist sein Bruder und ich bin fast so etwas wie euer Vater. Wir müssen ihn da rausholen«, hatte sein Onkel gefordert.

Aslak hatte die Verzweiflung in Eyvinds Blick gesehen, doch er konnte das nicht einordnen. »Wo raus?«

»Keine Ahnung. Aus diesen kriminellen Kreisen eben!«

»Wie genau soll ich das anstellen?« Er hatte den Mann vor sich fragend angeblickt. Im Gegensatz zu seinen Geschwistern Nils und Irja unterstützte Eyvind ihn stets. Er hatte ihm viel zu verdanken. Zum Beispiel, dass er jetzt Polizist war, denn Eyvind hatte ihm diese Ausbildung ermöglicht. Auf sámischem Boden hatte es in historischen Zeiten nie so etwas wie Polizei oder Militär gegeben. Derartige Organisationen hatten die Länder eingeführt, die sich nach Norden ausgebreitet hatten, also Norwegen, Schweden, Finnland und Russland, und Sápmi somit zerteilten. Deshalb war sein Berufswunsch sehr ungewöhnlich gewesen.

»Ich weiß doch gar nicht, wo er ist«, war seine fast trotzige Antwort gewesen.

»Ich denke, er ist in Stockholm. Als Polizist hast du doch genug Möglichkeiten, ihn zu finden.«

»Du träumst. Wenn ich Nils mit meinen Fahndungsmöglichkeiten suchen würde, dann hätte er schnell Ärger am Hals. Willst du, dass ich meinen eigenen Bruder ins Gefängnis stecken muss?«

»Das will ich ja gerade verhindern. Du hast Möglichkeiten. Du kannst hier was löschen, da was verschwinden lassen.«

Aslak runzelte die Stirn, schob den Kaffeebecher mit dem roten Elch drauf von sich weg und stand auf. Eyvind stellte sich das so einfach vor. Nils war ein erwachsener Mann und musste selbst das Richtige vom Falschen unterscheiden können. Außerdem hatten sie sich nie so nah gestanden, wie sein Onkel Eyvind sich das für die zwei Brüder gewünscht hätte. Nils und seine Schwester Irja hatten ihm seit Mutters Tod das Leben zur Hölle gemacht. Sein Verstand sagte ihm, dass ihn keinerlei Schuld traf. Er war schließlich damals ein kleines Kind gewesen, hatte keine Ahnung von der Welt und den Problemen der Mutter gehabt. Doch für die beiden älteren Halbgeschwister war nur er greifbar gewesen, als sie sich das Leben genommen hatte. Also übertrugen sie ihm die Schuld. Er war schuld, nur durch seine bloße Existenz.

So grübelte er in dem kleinen, nicht sehr vertrauenerweckenden Flugzeug von Jokkmokk – auf Sámisch Dálvvadis genannt – nach Stockholm vor sich hin. Als er die Stadt von oben sah, kamen Zweifel in ihm auf, ob er das Richtige tat und ob er das Richtige getan hatte. Der zunehmende Mond glitzerte im Wasser des Mälaren. Aslak wünschte sich, dass es das Wasser des Rapaätno wäre.

Nach der Landung mietete er sich einen Wagen, einen riesigen Koloss, fast ein Kleintransporter. In der Stadt fanden gerade zu viele Kongresse statt, sodass er keine Auswahl hatte. Ziellos fuhr er durch die Straßen. Er hatte auf manuelle Bedienung gestellt, um ein Gefühl der Kontrolle zu erzeugen. Die Frauenstimme des Navigationssystems wies ihn zum x-ten Mal darauf hin: Bei der nächsten Möglichkeit bitte wenden!

Die hohen Häuser, der Verkehr, die vielen Menschen erdrückten ihn. Er fühlte sich unwohl, öffnete das Fenster und rang nach Luft. Er wollte zurück in die Tundra, denn er brauchte das weite Land. Als er die Centralbron überquerte, stieg eine kühle Brise vom Wasser herauf. Hier mischten sich Mälaren und Ostsee. Die gusseiserne Turmspitze der Riddarholmskyrkan ragte wie eine durchbrochene Lanze in den wolkenverhangenen Himmel. Drohend.

Er bog links nach Gamla Stan ab, parkte neben einem Parkverbotsschild und ging zu Fuß weiter durch die Gassen der historischen Altstadt. Es war nicht seine Welt. Obwohl er einige Zeit in Göteborg gelebt hatte, konnte er sich mit den Großstädten nicht anfreunden. Auch dort hatte er sich nicht heimisch gefühlt. Es war nur aus der Notwendigkeit heraus gewesen, die Polizeiakademie zu absolvieren.

Seine Schritte lenkten ihn durch die schmalen Straßen, als ob er schon einmal hier gewesen wäre. Dann stand er vor einem alten Haus. Es wirkte ein wenig schief und eingeengt, als ob die Nachbarhäuser es zusammendrücken wollten. Der rote Putz blätterte an vielen Stellen ab. Durch die Fenster fiel keinerlei Licht auf das Pflaster. Es schien unbewohnt zu sein. Die Adresse hatte er über suspekte Umwege in Erfahrung gebracht und er war sich nicht sicher, ob sie wirklich stimmte.

Unschlüssig stand Aslak deshalb in einem dunklen Hauseingang auf der anderen Straßenseite. Eine kleine Überwachungsdrohne schwebte durch die Straße und er drückte sich tiefer in den Schatten des Eingangs. Solches Equipment hatten sie im Norden nicht. Er fühlte sich plötzlich nicht mehr wie ein Polizist, sondern wie ein Verbrecher. Mit einem Mal kam er sich hier fehl am Platz vor. Was genau wollte er?

Unvermittelt öffnete sich die Tür des observierten Hauses und ein Mann schlüpfte heraus. Er blickte sich nach allen Seiten um, zog die Baseballkappe tiefer ins Gesicht und schritt langsam und ohne Hast Richtung Slussen Kajen davon.

Aslak kontrollierte den Sitz der Dienstwaffe in seinem Schulterholster, während er dem jungen Mann hinterherblickte. Ja, das war Nils. Doch was ging ihn das Leben seines Bruders an? Er war sich nun sicher, dass er hier nichts verloren hatte, drehte um und ging zum Auto zurück.

3.

Das Restaurant Den Gyldene Freden lag nördlich des Slussen Kajen in Stockholms Altstadt Gamla Stan. Staffan Rodebrand saß mit dem Rücken zur Wand, sodass er den Eingang im Blick hatte. Er mochte die antiken Möbel gepaart mit modernen Accessoires, das gesamte Ambiente dieses altehrwürdigen mehrstöckigen Restaurants, das in den letzten Jahren zu einem edlen Geheimtipp avanciert war. Kristallene Lüster hingen von der Holzdecke und Rodebrands Blick blieb einen Moment an den funkelnden Glastropfen der Beleuchtung hängen, wanderte weiter über ein Sideboard mit unzähligen Flaschen und kam auf seinem Tisch zum Halten. Eine Flasche Wein stand geöffnet auf der weißen Decke, die das dunkle Holz des Tisches zierte. Im Glas daneben verströmte die rote Flüssigkeit ihr Bouquet, eine Mischung aus den Aromen dunkler Früchte und Karamell, wie sie typisch für den Merlot war. Endlich erkannte er seinen erwarteten Besucher in der Eingangstür. Er verharrte am Platz, bis der junge Mann ihn entdeckt hatte, und nickte ihm dann freundlich zu.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Dr. Asmusen«, sagte Rodebrand, als sein Gast den Tisch erreicht hatte.

»Nein, ich bedanke mich bei Ihnen für die Einladung«, antwortete der Jüngere und strich sich mit der Hand nervös durch sein dunkelbraunes Haar.

»Keine Ursache. Schließlich sind Sie mein Lebensretter. Irgendwie möchte ich mich dafür revanchieren.«

Rodebrand half Sören Asmusen aus dem Mantel und bot ihm einen Stuhl an. Der junge Mann setzte sich und lächelte verlegen. »Es hätte auch schief gehen können, denn die Technologie ist noch nicht ausgereift. Doch Ihre freiwillige Teilnahme an den Experimenten hat uns ein ganzes Stück weitergebracht.«

»Das freut mich zu hören. Es ist schon ein kleines Wunder, dass ich mich von meinem Hirntumor als komplett geheilt betrachten kann. Normalerweise wäre ich mit meiner Diagnose Glioblastom schon unter der Erde.« Rodebrand füllte etwas von dem Merlot in ein Glas und reichte es Asmusen. Dann prostete er ihm mit seinem eigenen Glas zu, trank einen Schluck und blickte den jungen Mann ernst an. »Sagen Sie, Dr. Asmusen: Nachdem Sie mir in den letzten Monaten so viel Einblick in Ihre Arbeit gewährt haben, könnten Sie sich vielleicht vorstellen, Ihr Wissen lukrativer anzubringen?«

»Wie meinen Sie das?«

Rodebrand lächelte und strich sich mit der Hand über das zurückgekämmte, für sein Alter nur leicht graumelierte Haar. Die geschwungenen Brauen über den dunklen Augen gaben ihm ein selbstbewusstes Aussehen. Doch gleichzeitig wirkte er arrogant und für sein Gegenüber zunehmend furchteinflößender. »Um es auf den Punkt zu bringen: Ich biete Ihnen ein sechsstelliges Jahresgehalt und Sie besorgen mir alle Daten Ihres Projekts. In meinem Unternehmen können Sie dann Ihre Forschungen ohne finanzielle Einschränkungen fortsetzen. Ich hätte da auch schon Testpersonen.«

»Aber das geht nicht!« Asmusen sprang empört auf. »Das wäre Industriespionage!«

Rodebrand blickte seinem Gegenüber forschend in die Augen. »Keine Angst. Die Spionage ist schon durch andere geschehen. Ich brauche Sie mit Ihren Erfahrungen und Ihrem Wissen, um mein Projekt erfolgreich zu machen. Denn im Moment sind wir, ehrlich gesagt, von Misserfolgen geplagt. Unsere Experimente schlagen stets fehl.«

»Sind Sie verrückt?«

»Schreien Sie nicht. Setzen Sie sich wieder hin!« Rodebrands Stimme war leise, doch sein Ton scharf.

Asmusen sah sich verstohlen um und setzte sich unschlüssig. Sein Gegenüber ergriff seine Hände. Rodebrands Tonfall bekam nun eine ungewöhnlich väterliche Färbung. »In vier Tagen fliege ich nach Lappland. Dort habe ich einige Experimente am Laufen. Begleiten Sie mich und sagen Sie mir Ihre Meinung. Bei mir bekommen Sie das, was Sie tatsächlich verdienen, und kein bloßes Angestelltengehalt. Motive wie Ehre oder für die Menschheit sind wirklich überholt.«

»Wie können Sie so etwas vorschlagen?«

Rodebrand bemerkte Asmusens Verunsicherung. »Eine Million pro Jahr. Mein letztes Angebot!«

Der junge Mann stierte mit verbissenem Gesicht in Rodebrands Augen. An der Bewegung seiner Wangenmuskulatur konnte man erahnen, dass er nervös die Zähne aufeinander mahlen ließ.

Rodebrand sah auf die Uhr und lächelte wieder. »Überlegen Sie es sich. Ich habe jetzt keine Zeit mehr, da ich noch einen anderen Gast erwarte. Ich melde mich morgen bei Ihnen und wünsche dann eine Antwort.« Er stand auf und blickte Asmusen auffordernd an.

Dieser erhob sich unsicher und knöpfte nervös sein Jackett zu. Zum Abschied gaben sie sich die Hände. Dabei zog Rodebrand Dr. Asmusen nah an sich heran und raunte ihm ins Ohr: »Sehen Sie sich morgen auf jeden Fall die Nachrichten an!«

Als Asmusen mit unsicherem Gang das Lokal verließ, trat ein junger Mann ein, die Baseballkappe tief ins Gesicht gezogen. Er trug Jeans und eine schwarze Jacke, keinen Anzug wie die meisten Gäste hier. Sein Äußeres passte nicht hierher, in das exklusive Ambiente dieses Restaurants, bemerkte Rodebrand lächelnd. Zielstrebig kam der junge Mann auf ihn zu. Rodebrand erhob sich und begrüßte ihn mit überschwänglichem Händeschütteln und einem freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.

»Nils!«

4.

Die Tiefgarage lag im Halbdunkel. Einige provisorisch angebrachte Leuchtstoffröhren ersetzten die defekte Sicherheitsbeleuchtung mehr schlecht als recht. Die kleine Röhre über der Aufzugstür flackerte. Der Mann ließ den Blick über den grauen Beton des Bodens, der Wände, Decken und Pfeiler gleiten. Eine Kamera konnte er, wie schon vor zwei Wochen, nicht erkennen. Im Bereich zu seiner Linken türmten sich jetzt jedoch Müll und Schutt, der mit blau-weißen Plastikbändern umgrenzt war. Die Renovierungsarbeiten kamen schleppender voran als geplant, hatten die Medien kürzlich berichtet.

Es standen nur zwei Autos zwischen den Säulen auf dieser Ebene: eine schwarze Limousine mit Panzerglas und kugelsicherer Karosserie sowie ein kleiner weißer Lieferwagen eines Pizzaservice.

Der Mann öffnete die hintere Schiebetür des Lieferfahrzeugs. Er zerrte eine rote Jacke heraus, auf deren Rückseite das Bild einer verlockenden Pizza prangte. Zügig, aber ohne Hast, zog er sie an und schob die rote Baseballmütze, unter die er seine langen blonden Haare gestopft hatte, tiefer ins Gesicht. Neben ihm raschelte es und er wandte den Kopf in Richtung des Geräusches. Sein Partner übergab ihm einen Stapel Pizzaschachteln. Ein dritter Mann saß wartend auf dem Fahrersitz und kaute an seinen Fingernägeln.

Ein elektronisches Bing kündigte die Ankunft des Aufzugs aus dem Stockholmer Parlamentsgebäude an, das sich aus Stahl und Glas über dieser Garage auftürmte. Die Türflügel glitten zur Seite und fröhliches Lachen drang heraus. Zwei Männer traten in den Lichtkegel, der aus der Tür floss. Ihre gerade noch heiteren Gesichter bekamen einen konzentrierten Ausdruck. Sie hielten jeder die rechte Hand in die Knopfleiste ihrer schwarzen Jacketts gesteckt. Sorgsam blickten sie sich nach sämtlichen Seiten um. Der Pizzabote eilte beladen mit Schachteln auf den Aufzug zu.

»Danke, dass Sie ihn aufgehalten haben.« Er lächelte freundlich und zwängte sich ungeschickt an den Bodyguards vorbei in den Lift.

»Schon gut. Ist ja kein Problem«, antwortete der Jüngere der beiden. Er war ein hochgewachsener Mann mit kurz geschnittenem blondem Haar und blickte den Pizzaboten nachdenklich an, der sich an ihm vorbeizwängte.

»Alles in Ordnung, Frau Malmberget, wir können zum Auto gehen«, erklärte der andere Bodyguard. Auch er trug eine Kurzhaarfrisur, allerdings mit grauen Strähnen an den Schläfen. Einige Falten zierten seine Augenwinkel. Seine Haltung und die präzisen Bewegungsabläufe ließen erkennen, dass er früher einmal beim Militär gewesen war.

Sigrit Malmberget trat aus dem Aufzug. Der Pizzabote erkannte sie sofort, da sie als Mitglied des Parlaments in letzter Zeit von einer starken Medienpräsenz profitierte. Nachdem sie offenbar beim Öffnen der Lifttür angespannt geschwiegen hatte, nahm sie ihr Gespräch nun wieder auf.

»Okay, sagte ich, wenn Sie die Rechnung zahlen«, beendete sie lachend ihre Anekdote.

Ihre Begleitung, eine junge schlanke Dame im grauen Fuchsmantel, kicherte höflich. »Du bist mir ja eine ganz Gerissene«, bemerkte sie grinsend.

Beide beachteten die Bodyguards nicht weiter, da sie offenbar anderes im Kopf hatten. Die ganze Aufmerksamkeit Malmbergets richtete sich auf die jugendliche Blondine an ihrer Seite. Sie schlenderte mit ihr im Arm und ihrem Aktenkoffer in der Hand dem sicheren Fahrzeug entgegen.

Die zwei Herren des Sicherheitsdienstes öffneten die Wagentüren. Das nahm der Pizzabote im Aufzug als Zeichen seines Einsatzes. Er ließ die oberen Kartons fallen, griff in den unteren und zog eine Pistole heraus, die er auf die Personen am Wagen richtete. Fast gleichzeitig sprangen seine Partner aus dem Lieferfahrzeug. Sie hatten sich Masken übergezogen und zielten ebenfalls mit ihren Waffen auf die Menschen an der Limousine.

Der ältere Bodyguard reagierte prompt und zog seine Pistole unter dem Jackett hervor. Doch bevor er abdrücken konnte, trafen ihn zwei Kugeln in die Brust. Sie durchschlugen die Kevlarschichten seiner beschusshemmenden Weste, als wären es nur unbedeutende Stofflagen, und lähmten seine Bewegungen sofort. Er prallte rücklings gegen den Wagen und glotzte seinen Partner ungläubig an, während er an der Karosserie herunterrutschte.

Der jüngere Bodyguard sprang im selben Moment zwischen Sigrit Malmberget und den Schützen. Er schaffte es, eine Kugel abzufeuern. Der Knall hallte in der leeren Tiefgarage mehrfach wider. Das Projektil sauste auf den Pizzaboten zu, zog eine tiefe Furche durch seinen Oberarm, flog fast ungebremst weiter und bohrte sich in die Aluminiumrückwand des Fahrstuhls. Das Geräusch löste die Blondine, die bis jetzt mit offenem Mund neben der geöffneten Wagentür gestanden hatte, aus ihrer Erstarrung. Schreiend und kreischend schob sie Malmberget zur Seite und sprang in das Auto.

Bevor der junge Bodyguard einen zweiten Schuss platzieren konnte, streckten ihn zwei Kugeln der beiden Partner des Pizzaboten nieder. Röchelnd lag er am Boden.

Ungeachtet seiner eigenen Verletzung ging der Pizzabote zielstrebig und mit ausgestrecktem Waffenarm auf die jetzt ungeschützte Abgeordnete zu.

»Was wollen Sie?«, rief Malmberget panisch. Schweißperlen glänzten auf ihrer Stirn.

Die Blondine kreischte: »Komm ins Auto!«

Doch Malmbergets Schuhsohlen schienen mit dem steinharten Betonboden der Tiefgarage verschmolzen zu sein. Der falsche Pizzabote sah ihr an, dass sie genau wusste, dass es aus war.

Panisch riss die Blondine die Wagentür zu. »Ich kann Ihnen Geld geben. Viel Geld.« Malmberget atmete schwer und sah den Pizzaboten verzweifelt an.

Dieser antwortete mit einem kalten Blick totaler Verachtung und richtete die Waffe genau auf den Punkt zwischen Malmbergets Augen.

»Nein!«, flehte sie.

Ein Knall beendete schlagartig ihr Leben.

Einer der Partner des Pizzaboten richtete nun die Pistole auf die Blondine, die sich wie von Sinnen auf der Rückbank wand. Sie hatte es geschafft, auch die andere Wagentür zu schließen und die Zentralverriegelung zu aktivieren.

Der Mann schoss auf die Scheibe. Das Projektil hinterließ eine Menge Risse und einen Krater in der oberen Lage des transparenten Kunststoffverbunds, durchdrang ihn jedoch nicht. Der Pizzabote gab ihm ein Zeichen, von ihr abzulassen, denn er wusste, dass sie keine Chance hatten, sie jetzt zu töten. Er beobachtete, wie die Frau zitternd zwischen die Sitzbänke rutschte.

Ohne Hast hockte sich der falsche Pizzabote neben dem älteren Bodyguard nieder und legte prüfend die Finger an dessen Hals. Als er sich vergewissert hatte, dass der Mann tot war, stand er auf und ging zu dem jüngeren hinüber. Dieser lag nach Luft ringend am Boden. Blut sickerte aus seinem Mundwinkel. Offenbar bewegungsunfähig starrte er seinen Mörder entsetzt an, der einen Moment zu zögern schien. Ihre Blicke saugten sich für einige Sekunden in den Augen des Gegenübers fest. Dann richtete der Pizzabote seine Pistole auf den Kopf des Bodyguards und drückte ab.

5.

Selma Fredriksson schloss die Akte und somit den Fall, den sie gerade bearbeitet hatte. Die achtundzwanzigjährige Kommissarin von EuroPolice war mit sich zufrieden. Wieder hatte sie einen Umweltsünder dingfest machen können und dadurch ihre Aufklärungsrate auf neunzig Prozent gesteigert. Erneut war es eine große Firma gewesen, die ihren Sondermüll illegal nach Sibirien transportiert hatte, um ihn dort in den Weiten der Tundra verschwinden zu lassen und damit Millionen von Entsorgungskosten zu sparen. Diesen Fall hatte Selma, wie fast jeden, komplett vom Schreibtisch aus aufgeklärt. Als Analytikerin konnte sie jedwede Information online beschaffen und auswerten. Sie mochte die Arbeit im Außendienst nicht. In der Regel beschränkten sich ihre Untersuchungen auf die weiten Verzweigungen des Internets. Dort ließen sich schneller und effektiver Verbrechen aufklären, da die Täter durch CodeKarten jedweder Art mehr Spuren im Netz hinterließen als an jedem Tatort. Und selbst die Indizien vom Tatort konnte sie online durch das International Forensic Network analysieren und in den richtigen Zusammenhang bringen.

Als Selma die Akte geschlossen hatte, öffnete sich auf ihrem Desktop ein Fenster ihres Terminkalenders. Es erinnerte sie an die regelmäßige Schießübung, die sie in einigen Tagen zu absolvieren hatte. Sie stöhnte. War das wirklich notwendig? Sie zog die Schreibtischschublade heraus und wühlte darin herum. Ganz hinten fand sie die Dienstpistole. Sie überprüfte kurz die Funktionen. Wenn sie sich nicht erneut vor der Übung drücken konnte, sollte trotzdem nicht jeder gleich bemerken, dass sie das Ding stiefmütterlich behandelte. Es schien alles noch funktionsfähig zu sein. Sie schob die Waffe wieder zurück in die Schublade, stand auf und wollte sich einen Kaffee holen, da winkte sie der Chef ihrer Abteilung in sein Büro und sie betrat das gläserne Office.

Kommissar Karl Schmitt registrierte verwundert, wie Selma Fredriksson sich krümmte, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen verpasst. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand und suchte mit der linken Hand verzweifelt nach Halt.

Johann Erikson sprang hinter seinem Schreibtisch hervor und kam ihr zur Hilfe geeilt.

»Setzen Sie sich erst einmal«, hörte Karl durch die halb geöffnete Bürotür seinen Chef.

Dieser geleitete Selma väterlich zu dem Sessel auf der anderen Seite des Schreibtisches.

»Ist schon wieder gut«, antwortete die Frau.

»Möchten Sie ein Glas Wasser?«, fragte Erikson besorgt.

»Nein, ist schon gut.«

Ungeachtet ihrer Antwort ging er zur Glastür, stieß sie noch weiter auf und rief: »Bringt mal jemand ein Glas Wasser?«

Selmas Kolleginnen und Kollegen starrten wie in Trance auf die Szene. Die Stimme des Abteilungsleiters holte Karl als Ersten aus seinem Staunen wieder in das Büro zurück. So hatte er Selma noch nie erlebt. Normalerweise gab sie sich kühl und überlegen, hatte immer alles im Griff. Ihr konnte niemand irgendwas vormachen. In diesem Moment wirkte sie aber ungewohnt verletzlich. Er eilte zum Wasserhahn und brachte einen Ökoplastikbecher in den Raum.

»Ist etwas passiert?«, fragte er wie beiläufig, doch es gelang ihm schlecht, seine Neugier zu verbergen.

Erikson zögerte.

Karl gab Selma den Becher und sie trank ihn in einem Zug leer. Danach wirkte sie, als hätte sie sich wieder im Griff.

»Könnten Sie Selma bitte nach Hause fahren, Karl? Sie hat den Rest der Woche frei«, bat Erikson.

Karl Schmitt nickte. Er war kaum größer als Selma. Seine hohe Stirn, das schüttere dunkelblonde Haar sowie der unübersehbare Bauchansatz ließen ihn nicht besonders anziehend auf Frauen wirken. Obwohl seine Annäherungsversuche von Selma grundsätzlich ignoriert wurden, war es ihm stets ein Bedürfnis, sie in ihrer Arbeit zu entlasten, ihr, wann immer es möglich war, Mittagessen zu besorgen oder unliebsame Auswärtstermine wahrzunehmen. Auch jetzt wollte er ihr beistehen, gerade deshalb, weil er nicht wusste, was sie dermaßen aus der Fassung gebracht hatte.

»Nein!«, wehrte sich die Frau. »Mir geht es gut. Es gibt ein Verbrechen, das aufgeklärt werden muss.«

»Das stimmt. Allerdings nicht von Ihnen«, antwortete Erikson. Selma wollte offenbar etwas erwidern, denn sie öffnete den Mund.

Aber es kamen keine Worte über ihre Lippen. Sie funkelte ihren Chef nur mit augenscheinlich ohnmächtiger Wut an. Dann folgte sie Karl zum Aufzug, der sie in die Tiefgarage bringen würde.

»Ist etwas passiert?«, wiederholte er leise seine Frage.

Sie stand aufrecht neben ihm im Fahrstuhl und hatte wieder ihre Mauer aus Eis um sich errichtet. Mit gestraffter Haltung stierte sie die Wand an und ignorierte ihn, bis sich die Tür des Lifts öffnete.

»Ich möchte nicht nach Hause. Aber wenn der Chef etwas anordnet, geht kein Weg daran vorbei. Also gut, fahren wir.« Sie sagte es herausfordernd, als hätte sie gerade jemandem den Krieg erklärt.

Karl gab Selmas Adresse in das Navigationssystem ein. Der dunkelgrüne Saab steuerte selbständig die Ausfahrt hinauf und stoppte an der Schranke. Als Karl die Code-Karte an den dafür vorgesehenen Scanner hielt, damit sich diese öffnete, beobachtete er im Augenwinkel, wie Selma die Augen zusammenkniff. Offenbar blendete sie das Sonnenlicht, das durch das offene Tor zu ihnen hereinleuchtete. Sie wühlte in ihrer Handtasche und zog schließlich eine Sonnenbrille hervor, die sie eilig aufsetzte.

Vielen Menschen fiel es nicht leicht, ihre Gefühle zu verbergen. Selma dagegen war eine Meisterin darin. Dieses Erbe verdankte sie ihrer Mutter. Immer die Distanz wahren, lautete deren Devise. Jetzt war Selmas Kopf ungewöhnlich leer und sie stierte aus dem Fenster des Autos.

Über den Straßen kreisten heute außerordentlich viele Überwachungsdrohnen. Das war nicht verwunderlich, nach dem, was passiert war. Selma hörte, wie Karl dem System des Wagens ein Kommando gab, sodass das Auto den Blinker nach rechts setzte und sich in den Verkehr in Richtung Süden einfädelte. Sie lebte auf Södermalm, denn wer als jung und modern gelten wollte, bewohnte hier ein schickes, kühles Apartment in einem der vor ein paar Jahren neu errichteten Apartmenthochhäuser. Von dort aus hatte sie einen phantastischen Blick über den Riddarfjärden – einen Ausläufer des Mälaren, des drittgrößten Sees in Schweden. Dahinter erstreckten sich die Stadtteile Kungsholmen und Norrmalm. Genug Wassermassen und Häusermauern, die sie zwischen sich und ihre Kindheitswelt und vor allem zwischen sich und ihre Mutter in Vasastaden bringen konnte. Sie wollte weg vom spießigen Leben ihrer Mutter, weg von diesem gekünstelten Lächeln, den ewigen Partys und von den immer gleichen Gesichtern der Industriebosse Nordeuropas.

»Jetzt links«, lotste Selma ruhig.

Karl schüttelte den Kopf.

Sie warf ihm durch die getönten Gläser ihrer Sonnenbrille einen Blick zu, scharf wie die Speerspitze einer Wikinger-Kriegerin, die nach Vergeltung rief.

Er schien allmählich zu begreifen, was geschehen war. »Arne?«, fragte er zögerlich.

»Ja«, antwortete sie und erstaunte selbst über ihre ruhige Stimme. »Es gab ein Attentat auf die Malmberget.«

»Die Abgeordnete?«, vergewisserte sich Karl, während er sich unnötigerweise auf den Verkehr konzentrierte, obwohl das autonome Fahrsystem des Wagens alles im Griff hatte. »Ich erinnere mich, dass du einmal erwähnt hast, dass er Bodyguard einer Politikerin ist. War das Malmberget?«

»Ja«, flüsterte Selma.

»Ist Arne ...?« Sie nickte.

»Es tut mir leid um deinen Bruder.«

»Er hat sich für sie erschießen lassen. Ich hatte sie nicht einmal gewählt, da mir ihr Programm zum Rohstoffabbau im Norden nicht zusagte.«

Sie schluckte und kämpfte mit den aufsteigenden Gefühlen. Ihr Atem ging schwer. Contenance wahren, mahnte ihr Kopf.

Karl schwieg. Er ließ den Wagen jetzt, wie von ihr gewünscht, nicht nach Hause, sondern Richtung Gamla Stan fahren. Dann reduzierte er die Geschwindigkeit, denn die Einfahrt zur Tiefgarage des Parlamentgebäudes wurde von einer riesigen Menschenmenge versperrt. Ein Polizist in Uniform gab ihm ein Handzeichen und er hielt den Wagen an.

Der Beamte kam zur Fahrertür. Karl ließ die Scheibe herunter und zeigte seinen Ausweis.

»EP«, sagte er zur Bekräftigung.

»Euro-Police?«, wiederholte der Beamte nachdenklich. Er überlegte kurz und entschloss sich, sie passieren zu lassen.

»Wir werden eine Menge Ärger bekommen, Selma.«

Die Frau hörte es kaum. Ihr Blick richtete sich starr auf das Dunkel des Parkdecks. In der Nähe des Aufzuges stand eine Limousine. Daneben arbeiteten Tatortreiniger und Rettungssanitäter an der Beseitigung der Spuren des Verbrechens.

Der Wagen ruckte und Selma zuckte zusammen. Sie wollte aussteigen, doch ihr Körper gehorchte ihr nicht sofort. Als sie endlich neben dem Auto stand, glättete sie mit den Händen das Jackett des bordeauxroten Hosenanzugs und richtete den Kragen ihrer Bluse. Selbst hier im Dunkel behielt sie die Sonnenbrille auf. Die Augen gewöhnten sich viel zu schnell an die Lichtverhältnisse, denn sie konnte beobachten, wie eine Leiche in einen der schwarzen Säcke gelegt wurde. Ein weiterer Leichensack war schon in einen Rettungswagen verladen worden. Das dritte Opfer lag bedeckt hinter der Limousine.

Selma schluckte.

Karl hielt sie am Arm zurück. »Tu es nicht, Selma!«

»Ich ... ich muss ihn sehen«, flüsterte sie.

Sie ging langsam, aber zielstrebig auf den Schauplatz des Attentats zu. Karl folgte ihr.

Die Liebhaberin von Malmberget, eine Agnetha Irgendwas, hatte man mit einem Schock ins Krankenhaus eingeliefert, erfuhr Selma von dem Polizisten am Absperrband. Die Ermittler der eilig zusammengestellten Sondereinheit und die Spurensicherung seien bereits abgezogen. Selbst die allgegenwärtige Presse hatte ihre Arbeit hier schon beendet.

Selmas Knie zitterten, doch sie bemühte sich um einen sicheren Gang, was mit den schmalen hohen Absätzen der schwarzen Pumps in ihrem Gemütszustand nicht einfach war. Eilig schlüpfte sie unter dem Absperrband hindurch. Der Polizeibeamte hielt sie nicht auf. Karl folgte ihr. Vor der bedeckten Leiche blieb sie stehen, blickte hinab und strich sich das rotblonde halblange Haar aus dem Gesicht.

»Machen Sie mal einen Moment Pause«, hörte sie Karl kommandieren.

Die Rettungssanitäter und Tatortreiniger zogen sich ein paar Meter zurück und einige nutzten die Gelegenheit für eine E-Zigarette.

Selma hockte sich nieder. Ihre Finger zitterten kaum merklich, als sie die silbrige Plane von dem toten Körper zog.

Für einen Moment verschwamm alles vor ihren Augen zu einer schwarzen Masse. Nur Karls Hand, die sich in diesem Augenblick auf ihre Schulter legte, verhinderte, dass sie den Boden unter den Füßen verlor. Es war Arne. Natürlich war er nicht die erste Leiche, die sie in ihrem Leben zu Gesicht bekam. Doch er war die erste Leiche, die sie als lebendigen Menschen gekannt hatte, den sie geliebt hatte, weil er ihr Bruder war. Sie schloss die Augen und wartete, bis der Schwindel verflog, dann nahm sie die Sonnenbrille ab.

Arne lag auf dem Rücken, Arme und Beine leicht vom Körper abgespreizt. Sein Kopf war ein wenig zur rechten Seite geneigt und seine toten Augen blickten sie starr an. In ihnen hatte sich ein erschrockener Ausdruck konserviert. Er erinnerte sie an damals, als er gerade erst eingeschult worden war und zu seinem ersten Schultag vom Vater ein Fahrrad geschenkt bekommen hatte. Er war sehr stolz darauf, wie viele Kinder, die ihr erstes Rad bekamen. Doch dann war er mit Freunden unterwegs. Sie spielten Verfolgungsjagd. Arne war der Gejagte. Er fuhr mit dem Rad durch enge Gassen und schließlich eine Treppe hinunter. Das Rad kippte vornüber und er überschlug sich. Die Knie bluteten und auch der Kopf hatte einiges abbekommen. Mit aufgeschlagenen Knien und dem kaputten Rad humpelte er die Einfahrt zum Haus hoch. Aber er weinte nicht. Selma war dreizehn gewesen und hatte sich Sorgen gemacht, als wäre sie seine Mutter. Nur in Arnes Augen konnte Selma den Schreck sehen, der ihn erfasst hatte.

Wie jetzt auch. Dieses Mal allerdings nutzten kein Pflaster und keine Streicheleinheiten etwas, um den Schock zu verjagen. Selma strich ihm liebevoll über das Gesicht und drückte ihm die Lider zu. Damit verschloss sie gleichzeitig ihre Gefühle wieder tief in ihr Inneres. Sie betrachtete jetzt als Kommissarin die Leiche eines Bodyguards.

Zwischen seinen Augen prangte ein Loch. Blut war kaum aus der Einschusswunde getreten. Nur an seinem rechten Mundwinkel registrierte sie einen schmalen roten Strom, der getrocknet war.

»Der Schuss in den Kopf hat ihn auf der Stelle getötet«, flüsterte sie, in dem Versuch den Tathergang in Gedanken zu rekonstruieren. »Doch um ihn aus so kurzer Distanz zu töten, müssen sie ihn vorher kampfunfähig gemacht haben.«

Sie untersuchte den Körper. Die Jacke des schwarzen Anzugs wies zwei Einschusslöcher in der Brustgegend auf. Unter seinem Körper hatte sich eine Blutlache gebildet. Selma öffnete das Jackett und sah, dass er eine beschusshemmende Weste der Klasse zwei trug. Die Projektile waren trotzdem glatt hindurchgegangen.

»Sie waren gut ausgerüstet. Hochgeschwindigkeitswaffen«, murmelte sie. »Schieß einen Strohhalm schnell genug ab und du kannst eine Stahlplatte damit durchdringen.«

»Woher haben die nur immer wieder die modernsten Waffen? Selbst unsere Polizei ist nicht so gut ausgestattet wie diese Terroristen«, entgegnete Karl kopfschüttelnd.

Selma zuckte mit den Schultern. »Da, wo das Geld fließt, gibt es auch die modernste Technik.« Die junge Frau zog die Plane wieder über die Leiche und setzte die Sonnenbrille auf. »Bring mich nach Hause, Karl.« Der Mann legte einen Arm um ihre Schulter und geleitete sie zum Wagen. In der Nähe des Aufzuges blieb sie stehen, weil ein Fleck auf dem Boden ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie kniete sich hin, um ihn

genauer zu begutachten. Es war ein Blutfleck.

»Einen haben sie erwischt. Den kriegen wir, wenn er sich an einen Arzt oder ein Krankenhaus wendet. Vielleicht sogar durch die DNA-Analyse.«

»Krankenhaus? So blöd wird der nicht sein«, erwiderte Karl.

»Nein, wahrscheinlich nicht. Aber ich kriege die Schweine trotzdem.«

»Selma!« Karl klang wie ihrer Mutter, die sie zurechtwies.

»Entschuldige. Ich habe mich vergessen.«

»Ist schon gut. Ruh dich erst einmal aus.«

Ja, sie musste sich ausruhen. Sie fühlte sich müde und empfand plötzlich die ganze Welt und vor allem ihr eigenes Leben als banal und sinnlos. Auf einmal erkannte sie in Karls Augen einen Ausdruck des Erschreckens, der ihr mitteilte, dass hinter ihr jemand stand, der sie besser nicht hier angetroffen hätte. Sie drehte sich um und blickte in ein grinsendes Gesicht. Es war von braunem kurzem Haar umrahmt mit einer auffälligen silberweißen Strähne darin, als wäre es einst vom Blitz getroffen worden.

»Kommissarin Fredriksson, was haben Sie denn hier verloren? Wurden Sie mit dem Fall betraut?«

»Stenson«, antwortete sie mit gespielter Gelassenheit. »Der Schatten der TB. Nein, ist nicht mein Fall. Ihrer?«

Der Kopf der Terrorbekämpfung grinste sie verschlagen an und Selma wäre am liebsten im Boden versunken. Ein weiterer Mann, kaum größer als sie selbst, rotblondes Haar, Dreitagebart und helle Haut mit zahlreichen Sommersprossen, erregte ihre Aufmerksamkeit. Und das nicht durch auffälliges Verhalten, sondern durch seine gekonnt neutrale Miene, mit der er sie musterte.

Sicher einer von Stensons Killern, vermutete sie. Die Abteilung für Terrorbekämpfung hatte in den letzten Jahren einige dubiose Unterabteilungen entwickelt, seit sie nicht mehr Teil der Säpo, sondern der neu entstandenen Euro-Police geworden war, die Methoden einsetzte, bei denen die Grenze zwischen den Terroristen und denen, die sie bekämpften, nicht mehr klar zu trennen war.

Überrascht beobachtete sie, wie der vermeintliche Killer Karl umarmte. Die beiden traten ein Stück zur Seite, um sich zu unterhalten.

Selma bemerkte, dass sie automatisch Stenson anlächelte. »Gibt es schon irgendeinen Verdacht?«, fragte sie freundlich.

»Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, Fredriksson.« Stenson blickte zu Boden und stieß Arnes Leiche, die mit der Plane bedeckt war, mit dem Fuß an. »Bedeutet er Ihnen etwas?«

»Ich denke nicht, dass Sie das etwas angeht, Stenson«, erwiderte sie kühl.

Der Typ im Hintergrund hatte sein Gespräch mit Karl beendet und grinste bei ihrer schnippischen Bemerkung.

Stenson lachte kurz auf. »Ich weiß, dass er Ihr Bruder ist. Also lassen wir die Spielchen. Wir vermuten, dass der Bieggavirro dahintersteckt. Aber noch wissen wir nicht, wer hinter dieser Organisation steckt.«

Selma antwortete nicht.

»Wer war das?«, fragte Selma Karl, als sie wieder im Auto saßen.

»Ein Freund.«

»Du bist mit einem von Stensons Killern befreundet?«

Karl sah sie verdutzt an. »Lundquist ist kein Killer. Nicht so, wie du dir das vorstellst. Er ist ein Spezialagent und Captain des Sonderkommandos. Er führt ungewöhnliche Aufträge durch, gewiss, aber er ist ein anständiger Kerl.«

»Und er arbeitet bei der TB mit Stenson?«

»Momentan ja. Aber nur im Malmberget-Fall. Mehr konnte er mir nicht mitteilen. Geheimkram.

6.

Das Signal der Telefonzentrale ertönte. Birga saß vor dem Computer und tippte auf ein Symbol des Touchscreens: »Polizeirevier Jokkmokk, Birga Ambjörnsen, guten Abend.«

»Hören Sie? Im Supermarkt habe ich komische Geräusche gehört. Können Sie mal nachsehen? Ich glaube, da ist jemand eingebrochen.« Schnelle Atemzüge begleiteten die flüsternde Stimme.

»Wie ist Ihr Name und von wo aus rufen Sie an?«

»Es ist der Supermarkt in der Storgatan Ecke Östretorggatan.«

»Hallo? Wer sind Sie?« Birga schüttelte den Kopf. »Verbindung abgebrochen.«

»Was hat er gesagt?« Aslak Järvi hatte seiner Polizeibeamtin Birga Ambjörnsen mit einem Ohr zugehört. Das Gespräch weckte sein Interesse. Birga hatte gerade ihre Ausbildung in Luleå beendet und sich nach Jokkmokk versetzen lassen. Ihr Freund Sven Porjus wollte sie in seiner Nähe wissen. In der Provinz war nicht viel los und das Leben vollzog sich gelassener und stressfreier als in den Großstädten. Es wurden kaum Gewalttaten im Gemeindebezirk Jokkmokk verübt, denn der bestand zum größten Teil aus Sümpfen und Wäldern mit wenigen Siedlungen und einigen verlassenen Ortschaften. Doch auch hier hielt die Kriminalität mehr und mehr Einzug.

Fast sechzig Prozent der Einwohner Jokkmokks waren in den letzten zwanzig Jahren abgewandert und in die größeren Städte gezogen, wo sie sich mehr Chancen für die Zukunft erhofften – vor allem Arbeitsplätze. Meist blieben die Alten. Die wenigen Jugendlichen, die nicht in die Großstädte abwanderten, vertrieben sich die Zeit mit Alkohol und Drogen. Besonders jetzt im Herbst, wenn der Tourismus abebbte und es kaum noch Verdienstmöglichkeiten gab, stellte dies ein großes Problem dar, das sich durch den langen Winter zog.

»Wahrscheinlich ein Einbruch im Supermarkt. Der Anruf war, wie fast immer, anonym. Keiner will etwas mit der Polizei zu tun haben, doch wenn sie Hilfe brauchen, sind wir gut genug«, entgegnete Birga verärgert. Ihr blonder Pferdeschwanz schwang neckisch bei jeder Kopfbewegung hin und her.

»Das ist unser Job«, antwortete Aslak lakonisch.

»Soll ich den Anruf zurückverfolgen?«

»Nein, das bringt nichts. Die streiten das sowieso ab.« Birga nickte nur, denn sie kannte das schon.

»Okay, wir werden uns die Sache mal ansehen. Birga kommt mit mir.

Sven, du machst für heute Schluss.«

»Aber kann ich ...«, wollte Sven protestieren.

»Das nächste Mal, Sven. Du gehst nach Hause, denn du hast diese Nacht Bereitschaftsdienst«, schnitt ihm Aslak das Wort ab.

»Bring sie mir heil wieder«, konnte sich Sven nicht verkneifen, während er einen Stahlschrank öffnete.

Aslak lächelte nur zur Antwort. Er ging in sein Büro, das durch eine Glastür vom restlichen Raum abgetrennt wurde, und zu seinem Schreibtisch. Die Dielenbretter des Holzhauses knarrten unter seinen Füßen. Aus der oberen Schublade entnahm er die Dienstpistole und legte den Schultergurt um. Extra für diesen Einsatz holte er die dunkelblaue Jacke der Uniform aus dem Schrank, zog sie über und verbarg die Waffe darunter. Ansonsten nahmen sie es im abgelegenen Norden nicht so genau mit dem Tragen der Dienstkleidung. Auf dem Ärmel prangte ein Kreis aus siebenundzwanzig goldenen Sternen und in der Mitte ein weißes S für Schweden. Darunter stand »Polizei« in der Landessprache und zusätzlich auf Englisch, wie es inzwischen europaweit für alle Polizeiuniformen üblich war.

Sven holte eine Schutzweste aus dem Schrank und warf sie Birga zu. Sie fing sie auf und glotzte ihn ungläubig an. »Was soll das? Wir fahren doch nicht zu einem Banküberfall.«

»Keine Widerrede! Zieh sie an!«

»Er hat recht, sicher ist sicher«, mischte sich Aslak ein und zog sein Konstrukt aus Jacke und Schultergurt wieder aus, um ebenfalls eine beschusshemmende Weste anzulegen. Schließlich wollte er mit gutem Beispiel vorangehen, auch wenn diese im Notfall nicht ausreichen würde. Das wusste er nicht erst seit dem Malmberget-Attentat. An jeder Ecke wurde gespart.

Die Polizistin legte widerwillig die Weste an. Aslak nickte ihr auffordernd zu. »Du fährst.«

Sie gingen zum Parkplatz, auf dem zwei Fahrzeuge bereitstanden. Birga berührte mit der Hand den Türgriff und der Bordcomputer registrierte ihre Daten, die in dem reiskorngroßen Chip unter der Haut zwischen Zeigefinger und Daumen gespeichert waren. Über das Lenkrad scannte das System Birgas Daumenabdruck. Aslak setzte sich auf den Beifahrersitz, gurtete sich an und der Motor startete automatisch. Damit endete die Modernität, denn autonome Fahrzeuge waren für die Polizei im Norden nicht im Budget vorgesehen. Aslak bedauerte, dass sie nicht einmal eine dieser Drohnen besaßen, die er in Stockholm gesehen hatte. Mit diesen könnten sie sich solche Fahrten sparen und die Lage zunächst über die Kamera des kleinen Flugobjekts beurteilen.

Die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont und die Dämmerung kroch durch die menschenleeren Straßen. Die meisten Einwohner fuhren um diese Tageszeit Richtung Kvikkjokk, denn auf dem Festplatz kurz vor dem Abzweig nach Gräsvikken begannen die Vorbereitungen zur Rentierscheide. Das war der letzte große Höhepunkt der Tourismusindustrie, bevor diese Gegend wieder bis nächsten Sommer eingemottet wurde. Der Sámi-Markt, der früher immer im Februar stattgefunden hatte, fand nun seit Jahren im Mai statt. Denn die wenigen Touristen, die es in den Norden und nicht auf eine der künstlichen tropischen Inseln zog, mochten lieber in einer wärmeren Jahreszeit kommen. Wenn jemand im Winterurlaub Schnee bevorzugte und sich das leisten konnte, dann auf irgendwelchen Pisten der wenigen verbliebenen Gletscher in den Alpen und nicht hier in Lappland.

Die Vorbereitungen zur Rentierscheide waren zudem jedes Mal Anlass, das Fest im Vorfeld gründlich zu begießen. Morgen würden einige Aktionen für die verbliebenen Touristen stattfinden, wie Rentiere mit dem Lasso einfangen und Bullen aussortieren. Am Samstag flogen die letzten Flugzeuge in den Süden und die meisten Abenteuerhungrigen verschwanden aus der Gegend.

»Wie war dein Urlaub?«, fragte Birga und riss Aslak damit aus seinen Gedanken.

»Ein Wochenende in Stockholm nennst du Urlaub?«

Birga lachte, doch dann fragte sie ernst: »Hast du etwas von dem Attentat auf Malmberget mitbekommen?«

»Nein, nur in den Medien.«

»Was meinst du, was es mit dem Attentat auf sich hat?«

»Keine Ahnung«, murmelte Aslak.

»Sie verdächtigen eine sámische Terrororganisation.«

Aslak lachte kurz auf. »Ja, wenn sie keinen finden, waren wir es.« Er knurrte missmutig. »Terrororganisation? So ein Quatsch ... Pass auf!«

Birga riss das Lenkrad nach links und trat auf die Bremse. Der Wagen rumpelte über etwas hinweg, dann blieb er stehen. Es war still. Die Scheinwerfer malten zwei gelblich weiße Kegel in die Nacht und trafen auf eine einige Meter entfernte Hauswand. Die Wischblätter quietschten über die trockene Scheibe. Aslak bemerkte, dass Birga zitterte.

»Ich habe jemanden überfahren«, stotterte sie. Ihre Hände krampften sich am Lenkrad fest.

Beruhigend legte er seine Hand auf ihren Unterarm und öffnete die Wagentür. Er zog die Taschenlampe aus der Ablage der Tür und leuchtete unter das Auto. Nach einer Weile stand er auf und blickte ins Wageninnere.

»Nur ein Kaninchen.«

»Ich dachte, es wäre was Größeres.« Birga atmete erleichtert auf.

Auch Aslak war froh, vor allem darüber, dass das Thema Stockholm damit vom Tisch war.

»Ich habe den Antrag zur Reparatur des Kollisionswarnsystems schon dreimal gestellt. Zurzeit ist kein Geld dafür da. Fahren wir weiter«, sagte er missmutig und stieg wieder ein.

Birga lenkte den Wagen aus der Handverkargatan in die Asgatan. Rechts strahlte die achteckige Kirche Gamla Kyrka hell erleuchtet. Der Glockenturm stand separat, damit durch die Schwingungen der Glocken die Holzkonstruktion der Kirche keinen Schaden nahm. 2035 war sie frisch restauriert worden. Doch Regen, Sonne und Schnee hatten sie schon wieder altern lassen. Im 17. Jahrhundert war die Kirche erbaut worden und hatte sich zu einem regen Handelsplatz entwickelt. Lange bevor sie 1972 abbrannte und 1975 wieder aufgebaut wurde, lagerten die Bewohner der Umgebung die Toten des Winters in den Holzmauern ein, bis im Frühjahr der Boden auftaute und sie bestattet werden konnten. Durch das Tauen des Permafrostes starb diese Tradition in den letzten Jahren aus. Trotzdem versuchten die Familien, die hier noch wohnten, in der dunklen Jahreszeit das Zusammentreffen der Siidas zu feiern. Jokkmokk – Dálvvadis – war schon immer ein Wintertreffpunkt der Sámi gewesen.

Birga schaltete beim Einbiegen in die Östratorggatan die Scheinwerfer aus. Der Supermarkt lag dunkel vor ihnen. Nur über dem Seiteneingang flackerte eine antik wirkende Leuchtreklame in einem bunten Glaskasten mit der Aufschrift Livsmedelsaffären.

»Bleib hier und warte. Ich sehe mir die Sache mal an«, ordnete Aslak an. »Und hör auf zu zittern. Es war nur ein Kaninchen und kein Mensch. Das kann jedem mal passieren!«

»Wieso bekommen wir nicht eins dieser supermodernen Polizeiautos, wo man nicht mehr selbst steuern muss? Alles ginge automatisch.«

Aslak zog die Augenbrauen zusammen. »Wo bleibt denn da der Spaß?« Er stieg aus.

»Sei bloß vorsichtig. Erst letzte Woche wurden zwei Polizisten in Östersund angeschossen.«

»Ich passe schon auf mich auf.«

Aslak näherte sich wachsam der Hausecke zum Haupteingang. Er blickte um das Gebäude herum, konnte aber nichts Verdächtiges erkennen oder hören. Es wäre nicht das erste Mal, dass sich jemand einen Scherz erlaubte und sie umsonst ausrückten. Beim näheren Betrachten der gläsernen Eingangstür fiel ihm allerdings auf, dass eine Seite zerbrochen war. Von drinnen hörte er nun ein gedämpftes Poltern. Er öffnete die Jacke und löste den Halteriemen seiner Waffe, ließ sie jedoch im Halfter stecken. Vorsichtig kroch er durch das Loch in der Glasscheibe und versuchte, möglichst wenig Lärm zu erzeugen. Aber unter seinen Schritten zerbrachen zahlreiche Splitter, sodass es ihm nicht gelang. Der Boden zwischen den Regalen im Laden war mit veganem Burgerpulver, verschiedenen Mehlsorten, Hülsenfrüchten und aufgeplatzten Packungen Nudeln übersät. Aslak bahnte sich einen Weg an den Regalwänden entlang. Wieder krachte etwas im hinteren Bereich des dunklen Raumes. Er lugte um die Ecke der Stellage, auf der die Dosensuppen standen.

Vor dem Kühlregal saßen zwei Jugendliche im Schein einer auf dem Boden liegenden Taschenlampe. Um sie herum lagen jede Menge leerer Bierdosen verstreut. Einer der beiden hielt eine Schnapsflasche in der Hand. Seit das staatliche Monopol über den Alkoholverkauf aufgehoben worden war und nun nicht nur in Systembolarget-Geschäften, sondern auch in lizenzierten Supermärkten Spirituosen, Weine und Starkbier verkauft werden durften, stieg die Zahl der Delikte unter Alkoholeinfluss sprunghaft an. Besonders die jungen Leute in der Provinz, die ziel- und arbeitslos in den Tag hineinlebten, verfielen mehr und mehr dieser Sucht. Alkohol war immer noch billiger als die Designer-Drogen aus den Großstädten des Südens.

»Gib mir noch so einen Pudding«, lallte einer der beiden Einbrecher. Der andere stand schwankend auf. Er trug eine Baseballkappe und begann im Kühlregal zu wühlen. Dann warf er seinem Kumpel eine rundliche Packung zu. Dieser konnte sie allerdings nicht fangen und sie zerplatzte auf dem Fußboden. Der Inhalt spritzte über die Kleidung der Jugendlichen.

»Ih, was für eine Schweinerei«, lallte der Werfer und begann zu lachen. Der Stimme nach war der Werfer eine Werferin.

Aslak trat entschlossen hinter dem Regal hervor. »Polizei! Bleiben Sie einfach stehen. Dann können wir die Sache in Ruhe beenden.«

Das Mädchen drehte sich erschrocken zu ihm um. »Verdammte Scheiße!«

Sie riss erneut etwas aus dem Kühlregal und warf es in seine Richtung. Aslak duckte sich und die Verpackung verspritzte ihren Inhalt über ein Plakat an der Wand. Die Werferin zeigte trotz ihres augenscheinlich hohen Alkoholkonsums eine schnelle Reaktionsfähigkeit. Sie drehte sich um und spurtete zwischen die Regale. Aslak folgte ihr mit den Augen und überlegte, ob er ihr nachrennen oder sich erst einmal um den Jungen am Boden kümmern sollte. Er entschied sich für Letzteres und hockte sich vor ihm nieder. Der Junge war schon im Halbschlaf. Aslak untersuchte ihn vorsichtig nach Waffen, fand aber nichts.

»Du bleibst hier sitzen, dann passiert dir nichts! Ist das klar?«, schrie er den Jungen an. Kurz überlegte er, ob er ihm Handschellen anlegen sollte.

Schmale blaue Augen glotzten ihn unterwürfig an. Der Junge nickte wie in Trance und schien zu betrunken und zu erschrocken, um sich noch von der Stelle zu rühren. Also ließ Aslak die Handschellen am Gürtel hängen.

In diesem Moment kam Birga zwischen den Regalen hervor und zielte mit der Dienstpistole auf den Jungen.

»Bring ihn ins Auto. Ich verfolge die andere.« Birga nickte.

Schnell nahm Aslak die Verfolgung der Einbrecherin auf. Das Mädchen war mittlerweile auf der Straße angelangt. Als Aslak sie erblickte, schwankte sie und hielt sich für einen Moment an einer Laterne fest. Dann verschwand sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite im Schatten der Gebäude. Der Vollmond lugte groß und rund durch ein Wolkenloch und beleuchtete geparkte Autos, während enge Gassen in Dunkelheit versanken.

»Bleib stehen, du Idiotin!«, rief Aslak hinter dem Mädchen her, sprintete über die Straße und tauchte in den Schatten der Gebäude ein. Weit konnte sie in ihrem Zustand noch nicht gekommen sein. Aus einer schmalen Gasse zwischen zwei Häusern hörte er ein Poltern und Krachen wie von einer umstürzenden Mülltonne. Er folgte dem Geräusch und landete in einer Sackgasse. Der Müll stank ekelerregend und Aslak beeilte sich, an der umgeworfenen Tonne vorbeizukommen. Von dem Mädchen fehlte jede Spur. Er wollte schon wieder kehrtmachen, als ein Schatten aus einem Hauseingang hechtete und etwas gegen seinen Kopf krachte. Er stürzte zu Boden. Das Mädchen sprang über ihn hinweg in Richtung Straße, doch Aslak konnte sie am Bein packen und brachte sie zu Fall.

»Verfluchter Bulle!«, schrie sie und trat mit den Füßen nach ihm.

Er wich dem Tritt gekonnt aus und packte ihre Arme. »Halt still! Willst du es noch schlimmer machen?«

Das Mädchen keuchte wütend, gab aber auf, sich zu wehren. Diesmal benutzte Aslak die Handschellen. Er zerrte sie auf die Beine und schob sie in Richtung der Straße, wo sein Dienstwagen stand.

»Was habt ihr euch nur dabei gedacht, in den Laden einzubrechen?

Das bringt euch mindestens fünf Monate in einer Erzmine ein.«

»Ist mir scheißegal«, brüllte sie. »Scheiß-Bulle! Findest es wohl geil, deine eigenen Landsleute zu verhaften? Ach nein, tut mir leid, du bist ja keiner von uns. Hårtte!« Das Mädchen blickte Aslak verächtlich in die Augen.

Aslak versuchte, sich von dem Schimpfwort nicht beeindrucken zu lassen. »Ich bin ein Hund, ja?«, fragte er mit gespieltem Erstaunen.

»Sámásta gus?«

»Hä?« Die Augen des Mädchens blickten ihn entgeistert an.

»Ich fragte, ob du Sámisch sprichst?«, übersetzte er. Diese Sprache war nicht mehr sehr verbreitet unter den jungen Leuten. Er selbst beherrschte es auch nicht perfekt. Sein Großvater hatte irgendwann angefangen, nur noch Sámisch zu sprechen, und somit war ihm nichts anderes übriggeblieben, als es zu lernen. Die Einbrecherin allerdings senkte verlegen den Blick und schüttelte den Kopf.

7.

Das kleine Objekt an der Zellwand der Amygdala hatte in den Standby-Modus gewechselt. In den letzten Stunden war es in Aktion gewesen, hatte Funksignale empfangen, ausgewertet und Befehle befolgt.

Als Ergebnis geriet sein Wirt in einen Zustand wilder Aggressivität.

Die Außenwelt war für BOT_XrV-N kein Begriff und selbst sein Wirt interessierte ihn nicht. Nur die Signale, die er empfing, erweckten ihn zum Leben und ließen ihn agieren, ohne dass er den Sinn hinterfragte.

Sein Wirt hieß Nils Järvi und hatte auch ohne die Existenz des Nanobots ein hohes Aggressionspotential. Doch BOT_XrV-N schaffte es für kurze Zeit, selbst den letzten Rest von Gewissen und Empathie in Nils auszuschalten. Nun jedoch saß der junge Mann in einem Restaurant in Stockholm. Seine Gedanken kreisten um das, was geschehen war. Er fühlte sich, als hätte er einen Kater nach einer durchsoffenen Nacht. Seine Hände zitterten.

Er hatte getötet. Er und seine Freunde, die eigentlich nur seine Kampfgenossen waren, statt wirkliche Freunde zu sein, hatten Menschenleben ausgelöscht. Ja, er hasste diese Politikerin, da sie das langsame Ausbluten des Nordens vorantrieb, indem sie Konzessionen für den Abbau von Kupfer und anderen Rohstoffen an Firmen in aller Welt verkaufte. Sie zerstörte die Umwelt, die Weidegründe der Rentiere, die Lebensgrundlage der Sámi. Aber änderte das, was er getan hatte, etwas an den politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen? Er empfand sich als Marionette seiner eigenen Gedanken und Gefühle, als wären sie nicht von ihm. Irgendetwas musste Rodebrand mit ihm gemacht haben, das wurde ihm nun klar. Und es waren nicht nur die Waffen, die er besorgt hatte, die Code-Karten, die Terminpläne Malmbergets und das nichtregistrierte Auto. Es war mehr. Vielleicht wirkte sein harmloses Medikament ganz anders, als er ihm erzählt hatte. Es trieb ihn zur Höchstform an, zu Wut und zu einer Brutalität, vor der er sich in diesem Augenblick selbst fürchtete.

Jetzt tat er nach außen hin, als sei alles in Ordnung, saß in dem kleinen Restaurant in der Nobelgegend Stockholms und stocherte appetitlos in einem Nudelgericht herum. Das Lokal war nicht sehr voll, denn mittags war nicht die Zeit, um ins Kushi-Tei zu gehen. Rodebrand hatte es als seinen Wunschtreffpunkt gewählt.

In diesem Moment kam er mit zwei seiner Lakaien im Schlepptau herein. Nils atmete seine Nervosität weg und versuchte, nach außen hin cool und überlegen zu wirken.

Rodebrand steuerte zielstrebig auf ihn zu. Der blöde Arsch setzte sich ihm gegenüber und grinste.

»Was soll ich jetzt tun? Ich verstecke mich nun schon seit Tagen.« Er lehnte sich zurück, blickte sein Gegenüber abwartend an und hoffte, dass seine Hände nicht zitterten. »In den Medien wird berichtet, dass sie Blut vom Täter gefunden haben. Mein Blut! Vielleicht sollte ich mich einfach stellen, denn die werden mich sowieso kriegen.«

Im Gegensatz zu ihm trug Rodebrand einen eleganten Anzug und ein Seidenhemd. Das allein musste ein Vermögen gekostet haben.