Wenn der Tod dazwischenkommt - Inga Krauss - E-Book

Wenn der Tod dazwischenkommt E-Book

Inga Krauss

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Beschreibung

Mit Empfehlung von Bestsellerautorin Hera Lind: "Unfassbar spannend, sachlich kompetent, informativ, außergewöhnlich und feministisch. Ich habe das Buch gelesen bis mir die Augen brannten!". Gefördert durch die Stiftung Alltagsheld:innen - Wir wollen das Leben von Alleinerziehenden besser machen. Von außen betrachtet hat Inga Krauss das perfekte Leben: Einen liebevollen Ehemann, beide mit gutem Job im eigenen Familienunternehmen, ein Traumhaus und zwei kleine süße Kinder. Doch dann kommt die unerwartete Diagnose für ihren Partner: Darmkrebs im Endstadium - und das mit erst 44 Jahren. Ingas Leben ändert sich von einem Moment auf den anderen komplett. In "Wenn der Tod dazwischenkommt", dem zweiten Teil der Buchreihe "Allein mit Kind", erzählt die verwitwete Mutter zweier Kinder ihre berührende Geschichte. Inga beschreibt ihr Leben in einer diffizilen Patchwork-Konstellation, denn ihr Ehemann hatte drei Kinder mit in die Ehe gebracht. Und es geht um den Tod mit einem prekären Erbe und dessen vielen drastischen Folgen, auch aufgrund der zwischenzeitlichen Insolvenz des Familienunternehmens. Die Autorin schreibt anschaulich und sehr bewegend, warum es so schwer ist, den Tod mit ins Leben zu nehmen und gleichzeitig Mutter und Stiefmutter zu sein. Sie verschweigt auch nicht die dramatischen persönlichen Konsequenzen, die eine solch anspruchsvolle Lebenssituation mit sich bringt. Denn über die Jahre wurde Inga Krauss gesamtes bisheriges Familiensystem Stück für Stück zerstört. Von einer todbringenden Diagnose, dem dahinschleichenden, stets verleugneten Tod ihres Ehepartners und einem schlecht geplanten Erbe. Das Buch rüttelt auf und gibt viele praktische Tipps für die eigene Lebens- und Familienplanung und das nicht nur für bereits Verwitwete. Anschaulich erklärt die Autorin, warum für verwitwete Alleinerziehende manchmal nicht die Witwenrente, sondern die Erziehungsrente die bessere Wahl sein kann und was an den Hinterbliebenenrenten in Wahrheit ungerecht ist. Ein top aktuelles, hoch spannendes und dringend nötiges Buch.

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Seitenzahl: 331

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Für meine Kinder

Mögen sie sich trotz aller Geschehnisse behütet fühlen und meiner Liebe bewusst sein.

Eine fast wahre Geschichte.

Aus Rücksicht auf noch lebende Personen sind Teile dieser Geschichte verfremdet.

Kapitelübersicht

Vorwort

Einleitung

Phase 1

Das Leben mit der todbringenden Gewissheit. Von der Diagnose bis zum Tod

1. ÜBER MICH

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt – Vom Ehe-Traum zur alleinerziehenden Witwe

2. TRENNUNG AUF RATEN

Wenn die todbringende Krankheit einzieht – Die böse Stiefmutter – „Die Firma geht sonst pleite“

3. UMGANG MIT DEM TOD

Das Familienleben ohne belastbaren Partner – Burnout und Krebswerte – familiäre Finanzen und Schuldenbereinigung der Firma – Traumjob, Familienurlaub und Hospiz

4. ABSCHIED FÜR IMMER

„Der Papa ist jetzt im Hospiz, wann kommt er da denn wieder raus?“

5. VORSORGEVOLLMACHT, PATIENTENVERFÜGUNG, FINANZIELLE AUFTEILUNG UND TESTAMENT

Mit ungleichen finanziellen Verhältnissen einer Patchworkfamilie zu (k)einem Testament

Phase 2

Wenn du glaubst, du hast das Schlimmste hinter dir, dann kommt das Erbe einer Patchwork-Familie

6. ERBSCHAFT

Vertragt ihr euch noch oder habt ihr schon gemeinsam geerbt?

7. UNSER LEBEN NACH SEINEM TOD

Trauer und Hoffnung – Wenn aus Vertrauen Verachtung wird

8. KOMMUNIKATION

Angriff ist (nicht) die beste Verteidigung!

9. NETZWERK

Leute, die hinter deinem Rücken über dich reden, sind genau da, wo sie hingehören: hinter dir. Lass sie stehen und geh weiter.

10. FREUNDSCHAFT

Um den vollen Wert des Glücks zu erkennen, braucht man jemanden, mit dem man es teilen kann.

11. GEBURTSTAGE & FAMILIENFESTE

Ich heirate eine Familie – und geblieben ist mir nur der Nikolaus!

12. WEIHNACHTEN

Ein Fest der Familie – doch was tun, wenn es keine Familie gibt?

13. URLAUB UND FERIENZEIT

#careabeitteilenabermitwem?

Phase 3

„Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut ist, ist es noch nicht das Ende.“

Oscar Wilde

14. DIE HINTERBLIEBENENRENTEN UND ANDERE FINANZEN

Witwenrente, Erziehungsrente, Halbwaisenrente und Unterhaltsvorschuss – heute bin ich finanziell frei und unabhängig!

15. AUSZEIT – RAUM FÜR MICH

Jede Stimme, die dich vorwurfsvoll und herablassend behandelt und dir das Gefühl gibt, nicht in Ordnung zu sein, ist nicht dein Freund.

16. BEZIEHUNG ZUM KIND

Meine Kinder sind erwünscht. Ich bin erwünscht. Es ist schön, dass wir da sind.

17. MEIN NEUES ICH

Träume nicht dein Leben, sondern lebe deinen Traum.

18. MEINE ARBEIT FÜR DICH

Wir sind nur einen Wimpernschlag, einen Minutenschlaf oder eine unerwünschte Diagnose vom Verwitwet-Sein entfernt. Es kann jede(n) treffen.

Nachwort und Danksagung

Literaturverzeichnis

Vorwort

Ich sollte dieses Buch eigentlich „nur“ Korrektur lesen, aber Ingas Geschichte und ihr Weg von dem verliebten „Mädchen“ zu einer mit beiden Beinen im Leben stehenden Frau hat mich gefangen, teilweise sogar getriggert und mich viele Gemeinsamkeiten erkennen lassen. Unsere Startpunkte zu Beginn der desillusionierenden Reise waren sehr unterschiedlich und obwohl unsere Wege durch die in beiden Fällen todbringende Krankheit anders verliefen, so war die Landung im Leben doch sehr ähnlich: Die finanzielle Abhängigkeit vom Ehemann während der Krankheit und über den Tod hinaus in Form der Hinterbliebenenrente – und der Unmut über die bestehenden Regelungen bei den Hinterbliebenenrenten – ist eine Gemeinsamkeit. Es ist die Gemeinsamkeit und die Leidenschaft, die ich mit Inga teile.

Inga schreibt eindrucksvoll über die Existenzängste, die sie mehr oder weniger intensiv bis heute begleiten. Sie schreibt über die Zerrissenheit zwischen dem eigenen Überlebenswillen und dem Willen, den todkranken Ehemann und damit die gemeinsamen sowie ihre eigenen Träume nicht einfach so aufzugeben. Es wird klar beschrieben, dass das Loslassen von großen Lebensträumen und vielen Menschen ein sehr kraftaufwändiger Lernprozess ist, der mit dem nachfolgenden Zitat aus ihrem Buch gut beschrieben wird: „Leute, die hinter deinem Rücken über dich reden, sind genau da, wo sie hingehören: hinter dir. Lass sie stehen und geh weiter.“

Aber nicht nur die emotionale Ebene des Sterbeprozesses wird in diesem Buch thematisiert, sondern auch der alltägliche Kampf um den bisherigen Lebensstandard. Die bestehenden Gesetze und Regelungen der Hinterbliebenenrente schränken ein, behindern und sind wie Bleikugeln an den Beinen. Über die umfangreichen Auswirkungen wird allerdings im Vorfeld gerne geschwiegen, denn der Tod ist ebenso ein Tabu-Thema wie die Finanzen. In diesem Buch wird sehr gut geschildert, wie hart der Kampf der neuen Brotverdienerin ist, die Rest-Familie in einen normalen Alltag zu führen, obwohl das Nicht-Normale über viele Jahre der „normale“ Alltag war.

Dieses Buch ist eine gelungene Geschichte einer jungen Frau, die mit der Diagnose des Ehemannes „unheilbarer Darmkrebs mit Lebermetastasen“ zu Beginn der Familienplanung anfängt und – vermutlich entgegen der Erwartung vieler Menschen – nicht in der Glorifizierung des Verstorbenen und in der Dankbarkeit über die Witwenrente endet. Es ist eine Geschichte, die aufzeigt, wie wichtig es ist, dass trotz großer Verliebtheit über eine gleichwertige Absicherung innerhalb der Familie gesprochen werden muss und räumt mit dem Bild der Witwe, die entweder alt und reich oder alt und verarmt ist, auf.

„Frauen, die nichts fordern, werden beim Wort genommen – sie bekommen nichts.“ (Simone de Beauvoir)

Liebe Inga, dein Buch steckt voller Forderungen: Forderungen nach mehr Transparenz, mehr Aufklärung und mehr Anerkennung! Sei weiterhin laut!

Deine Freundin Birgit Reimann

Wegbegleiterin und Moderatorin der Facebook-Gruppe

Gerechte Hinterbliebenenrente

Einleitung

In der Summe haben mich meine letzten zehn Lebensjahre zu einem unglücklichen Menschen gemacht. Grundsätzlich mag ich keine Hochglanzmagazine, die dauernd nur glückliche und perfekte Menschen, Häuser oder Mahlzeiten zeigen. Ich halte Abstand von Menschen, denen es immer „super“ geht. Ganz schlimm empfand ich während der Schwangerschaft die Berichte über ausschließlich glückliche Schwangere, denn ich war eine derjenigen Frauen, die sämtliche Schwangerschafts-Wehwehchen anzog. Ich rede lieber über Probleme, als mit „Mein Haus, mein Pferd, mein Auto“ zu prahlen und meine letzten zehn Jahre waren geprägt von gravierenden Problemen. Nein, das waren keine Probleme mehr, das waren echte Katastrophen, die mir mehr als einmal den Boden unter den Füßen weggezogen haben. Von einem Familienglück waren wir ganz weit entfernt. Finanzielle Sorgen, Krankheit und Tod belasteten unser Leben, aber auch eine ungewöhnliche Patchwork-Situation, ein kompliziertes Erbe und später das Leben als alleinerziehende Witwe.

Als mir Silke Wildners Facebook-Auftritt „Gut alleinerziehend – Hilfe für Alleinerziehende“ zum ersten Mal vorgeschlagen wurde, dachte ich mir: „Ach herrje, schon wieder so eine, bei der alles prima ist und alles super funktioniert.“ Gut und alleinerziehend ist ja schon ein Widerspruch in sich, fand ich. Mein Mann war kurz zuvor gestorben und bei mir funktionierte gerade rein gar nichts, schon gar nicht das Alleinerziehendsein. Fast täglich habe ich meine Kinder angeschrien – wie um Himmels Willen sollte alleinerziehend gut sein?

Erst etwa fünf Jahre später lud Silke zu einer Onlineveranstaltung zur Monetarisierung einer eigenen Webseite ein, zu der ich mich anmeldete. Ich führte meine Facebook-Gruppe „Gerechte HinterbliebenenRente“ seit gut fünf Jahren, war seit ein paar Wochen verstärkt bei Instagram aktiv, aber eine Webseite hatte ich noch nicht. Silkes Posts verfolgte ich bei Facebook eher oberflächlich, ich war bis dahin auch tatsächlich weder auf ihrer Webseite noch in eine ihrer Facebook-Gruppen gewesen. Eigentlich ist das ja auch klar: Verwitwete mit Kindern zählen zwar irgendwie als alleinerziehend, gehören aber dennoch nicht dazu. Warum ist das so?

Wenn ich von der „klassischen“ Alleinerziehenden spreche, meine ich damit aus Vereinfachungsgründen salopp gesagt alle nichtverwitweten Alleinerziehenden. Die Hauptlast von „klassischen“ Alleinerziehenden scheinen die Themen Umgang und Unterhalt zu sein. Beide Themen laufen wie eine Art Dauerschleife im restlichen Leben mit, mehr oder weniger gut geregelt, mehr oder weniger belastend für alle Beteiligten. Die entsprechenden Pendants der verwitweten Alleinerziehenden sind überaschenderweise ebenfalls die Themen Umgang und Unterhalt – und wie bei den „klassischen“ Alleinerziehenden ziehen sich beide Themen meist ebenfalls mehr oder weniger belastend durch das restliche Leben. Das Thema Umgang ist schnell erklärt: den gibt es schlicht nicht. Das andere Elternteil ist unwiderruflich tot und weder für ein paar Stunden oder einen Tag im Jahr zu haben noch für jedes zweite Wochenende und schon gar nicht für die Hälfte der Ferien. Das Thema Unterhalt ist bei Hinterbliebenen der Empfang der Unterhaltsersatzleistung Hinterbliebenenrente und die damit verbundenen Regelungen zur Anrechnung von Einkommen sowie die nachgelagerte Versteuerung. Die gesellschaftliche Gruppe der verwitweten Alleinerziehenden ist mit etwa 500.000 Betroffenen1 nur eben erheblich kleiner als die „normale“ Gruppe der Alleinerziehenden, weswegen unsere Themen nicht so bekannt sind. Verwitwete Alleinerziehende leben unter vollkommen anderen Bedingungen als „klassische“ Alleinerziehende, weswegen ich beispielsweise fast drei Jahre gebraucht habe, um mich „alleinerziehend“ zu fühlen.

Es gibt heute gut 5,2 Millionen Empfänger von Hinterbliebenenrenten, davon sind etwa 1,2 Millionen Betroffene noch im erwerbsfähigen Alter, also unter 69 Jahren2. Nur 395.000 Mütter und 92.000 Väter sind verwitwet, das sind etwa 15,1% bzw. 3,5% der alleinerziehenden Elternteile insgesamt3. Auf die Mehrheit der verwitweten Alleinerziehenden, deren Partner*in gesetzlich versichert war, wird das sogenannte „Neue Recht“ der Hinterbliebenenrenten aus der Rentenreform von 2002 (!) angewandt. Beim Neuen Recht wurde die Witwenrente von 60% auf 55% gekürzt, der sogenannte Abschlag von bis zu 10,8% für alle, die (grob) vor dem 62. Geburtstag sterben, eingeführt und die Einkommensanrechnung ausgeweitet, so dass so gut wie kein legal erworbenes Einkommen mehr anrechnungsfrei ist. Krankheit und Tod kommen immer schneller als gedacht und sind immer unerwünscht – es ist nur ein Sekundenschlaf im Auto oder ein paar Herzschläge weniger, die eine(n) Betroffene(n) von einer bisher funktionierenden Familie trennt. Diese Rentenreform war für „Szenarien in 40 Jahren“ gedacht, also ab 2042. Heute, nur gut 20 Jahre nach der Reform, trifft das Neue Recht mitunter genau die vulnerabelste gesellschaftliche Gruppe: die Alleinerziehenden.

Von verwitweten Alleinerziehenden spricht in unserer Gesellschaft fast niemand. Hier treffen zwei Tabu-Themen aufeinander: Tod und Finanzen. Oft genug machen mich die Lebensumstände von verwitweten Alleinerziehenden so wütend, dass ich schreien möchte. Dieses Buch soll das ändern, denn wir sind viele. Und wir leben anders.

Dennoch erzählt dieses Buch meine Geschichte – abseits eines jeden Hochglanzmagazins und ganz nah an der Realität, die so nie geplant war. Auf allen Kanälen lasse ich dich hinter die Kulissen schauen. Du erfährst klare Worte über Geld, Ehe, Abschied, Tod, Testament, Erbe, Trauer, Erschöpfung, Stiefkinder, Patchwork, Witwenrente, Erziehungsrente, Einsamkeit, Glück und – mein Leben eben.

Eines ist mir dabei ganz wichtig: In meiner Geschichte kommt mein Mann nicht immer so gut weg, denn viele Entscheidungen und fast alle unserer „Katastrophen“ kamen durch ihn in unser Leben. Nicht alles konnte ich bisher verzeihen. Ich kann unsere Geschichte jedoch nicht ohne ihn schreiben. Er ist bekanntlich inzwischen tot und kann sich nicht mehr wehren. Ich möchte mit diesem Buch keinesfalls sein Antlitz beschädigen. Mein Mann war ein hochintelligenter, gutherziger und warmer Mensch mit vielen Stärken. Er war hochgradig diplomatisch und ein von Herzen überzeugter Optimist. Dafür habe ich ihn geliebt und geheiratet. Wir hatten nur einfach keine gute Zeit miteinander und wir konnten es nicht retten. Durch seinen Tod ist eine Wendung zum Guten für uns als Paar und als Eltern unwiderruflich verloren gegangen.

In diesem Buch geht es um mein Leben, um meine Geschichte und auch um meine Finanzen. Meine Geschichte ist so vielseitig und so katastrophenreich und so anders als geplant, dass sie ein eigenes Buch wert ist. Ehrlich, unverblümt, schonungslos und mit Happy End!

Foto: © Silke Monk, 4Real Photography

Phase 1

Das Leben mit der todbringenden Gewissheit. Von der Diagnose bis zum Tod

1. ÜBER MICH

Erstens kommt es anders und zweitens als man denkt – Vom Ehe-Traum zur alleinerziehenden Witwe

Foto: © Christian Rudnik / BILD

Kennenlernen und Hochzeit

„Dann antworten Sie jetzt bitte mit Ja!“ Freudestrahlend und mit vor Aufregung rotglühenden Wangen saß ich neben meinem zukünftigen Ehemann im kleinen urigen Standesamt mit den schönen Malereien an den ungleich verputzten runden Wänden. Nur wenig Licht und Luft kam durch die kleinen vergitterten Fenster. Der Raum befindet sich über dem Tor vom Marktplatz zum Postplatz in Wangen im Allgäu und ist gerade mal so groß, dass nur etwa 20 Personen darin Platz finden können. Die Hälfte unserer eingeladenen Gäste musste im großen davorliegenden Trauzimmer warten und die Zeremonie durch die nur einen Spalt geöffnete Tür verfolgen.

Welchen großen Schritt würden wir nun wagen? Meine Hand glitt an meinem cremefarbenen Satinbrautkleid den langen bis unter die Brust reichenden Ausschnitt herunter. Die Fingernägel waren genauso perfekt gestylt wie mein Make-up und meine Hochsteckfrisur. Wir würden eine tolle und sehr glückliche Ehe führen, da war ich mir sicher. Hinter mir stand meine Mutter und machte ebenso wie die gerade zwölfjährige Tochter meines Mannes eine auffordernde Bewegung mit den Augen und den Händen. Die drei großen Kinder meines Mannes hatten mich gut akzeptiert, wir würden uns gut verstehen, auch wenn sie alle drei bei ihrer Mutter lebten, was meinem zukünftigen Mann das Herz brach. Er hatte als Manager in der Luftfahrtbranche sowieso viel zu wenig Zeit und war durch seine ständigen Geschäftsreisen dauernd unterwegs. Mich störte das nicht, denn als seine Assistentin unterstützte ich ihn beruflich wo ich nur konnte. So wusste ich auch immer, wo er sich rumtrieb und wann er nach Hause kommen würde, das war sicher ein Vorteil, den seine erste Frau nicht hatte. Mein zukünftiger Mann war ein toller Chef. Er vertraute mir und er schätze mich als Person, er schätze meine Arbeit ungemein und ließ mich das gerne und oft wissen. Eine solche Wertschätzung kannte ich bis dahin in meinem Leben gar nicht, weder privat noch beruflich. Er sah mich – und das liebte ich an ihm. Ich erschrak kurz, als mein Mann meine Hand in seine leicht zittrigen Hände legte. Wir waren nervös, ich sah kleine Schweißperlen auf seiner Stirn. Der braune leicht schimmernden Anzug mit dünnen Streifen passte gut zu seiner dunkelbraunen dichten Haarpracht – er sah sehr attraktiv aus. Mein zukünftiger Ehemann schaute mich liebevoll an und nickte kaum merklich. Die Luft in dem kleinen prall gefüllten Raum wurde schwerer. Er war der Richtige für mich: „Ja, ich will“ sagte ich sicher und unterschrieb die Urkunde zum ersten Mal mit meinem neuen Namen.

Ich lernte meinen Mann in einem Bewerbungsgespräch in einem großen Unternehmenskonzern im Jahr 2006 kennen. Er war der Chef und ich sollte seine Assistentin werden. Schon während dieses ersten Gesprächs dachte ich mir, er sei ein attraktiver Mann. Als ich erfuhr, dass er verheiratet war, beruhigte mich das, denn so waren die Grenzen von Anfang an klar gesetzt. Ich hatte einen Freund und er führte, soweit ich das während unserer Zusammenarbeit mitbekam, eine glückliche Ehe – bis zu dem einen Tag. An diesem Tag konnte ein Blinder mit Krückstock sehen, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Es stellte sich heraus, dass seine Ehe am Vorabend prompt und für ihn vollkommen unerwartet durch seine Frau beendet worden war. Etwa zeitgleich verstarb mein Vater und über die Gemeinsamkeit der Verluste kamen wir uns schlussendlich näher. Er suchte eine neue Frau und ich hatte keinen Freund mehr…

Am 11.07.2009 heiratete ich also meinen eigenen Chef. Wir bekamen zwei gemeinsame Söhne (*2010 und *2012) und mein Mann brachte drei Kinder mit in die Ehe: den älteren Stiefsohn (nennen wir ihn Josua), die Stieftochter (nennen wir sie Elisa) und den jüngeren Stiefsohn (nennen wir ihn Joel). Wir hätten eine tolle Patchworkfamilie im gehobenen Mittelstand werden sollen, aber es kam wirklich alles anders als geplant.

Als wir heirateten, hatte jeder von uns seine eigenen Träume über unser zukünftiges Eheleben. In Deutschland sind solche Erwartungen fast immer positiv geprägt, man freut sich auf die gemeinsame Zukunft. Nicht immer werden die Träume und Erwartungen zur Ehe und zum Eheleben gemeinsam besprochen. Vor allem eine konkrete finanzielle Lebensplanung nach der Geburt von Kindern gibt es oft nicht oder nur ansatzweise. Frisch gebackene Eheleute vertrauen auf die Liebe, aber die Ehe ist weit mehr als eine Institution der Liebe: sie begründet „neue Rechte und Pflichten für die Partner […] auf eine Art Vertrag. […] Meist kommt der Ehe die Aufgabe der materiellen Versorgung zu“ sagt Wikipedia4. Von Liebe ist bei Wikipedia kaum die Rede.

In meiner Jugend wollte ich jünger Olympiasiegerin im Dressurreiten werden als Nicole Uphoff, die das mit 21 Jahren schaffte. Von diesem Traum abgesehen hatte ich selten eine klare Vorstellung von meinem Leben. Mein Leben hat sich meistens „irgendwie so ergeben“, fast immer habe ich ohne langfristiges Ziel die aufkommenden Kreuzungen spontan genommen und dabei tatsächlich großartige, aufregende Zeiten erlebt und viel erreicht. Dann kommen plötzlich diese Kreuzungen dazu, die man nicht kennt, von denen nie erzählt wird, die dich nur zwischen Pest und Cholera wählen lassen, mit fiesen Stolperfallen und ohne eine Hand, die dich hält oder gar führt.

Meine eigenen Träume von einem verheirateten Leben waren sicher eigene Kinder, ein großes Haus (und damit unausgesprochen ein gewisser Wohlstand), in dem alle unsere Freunde und die Freunde der Kinder ein- und ausgehen könnten, sowie ein liebender Ehemann und Vater, der hinter mir steht. Ich selbst komme aus einer geschiedenen Familie, meine Mutter las Mitte der 1980er Jahre schon die emanzipatorische Zeitschrift „Emma“ und gab mir als Jugendliche das Buch „Krankheit als Weg“ 14 von Ruediger Dahlke. Meinen Vater habe ich nach der Trennung gemieden und als ich 18 Jahre alt wurde, hat er mich um meinen Kindesunterhalt betrogen. Ich wurde von meiner Mutter so erzogen, dass ein Beruf für eine Frau unabdingbar ist und frau damit jede Karriereleiter erklimmen kann. Ich arbeitete immer schon gerne und hatte die „Alles-istmöglich-Lüge“5 voll verinnerlicht (gleichnamiges Buch von Susanne Garsoffky und Britta Sembach). Eine Vorstellung davon, wie viel Zeit Kinder benötigen oder dass ich dafür bei der Arbeit würde kürzertreten müssen, hatte ich nicht. In meiner Vorstellung sollte eine Ehe mit einer fitfy-fifty-Aufteilung der Hausarbeiten locker und selbstverständlich funktionieren, deswegen brauchte das im Vorfeld nicht besprochen zu werden. Ich nahm nicht wenig imponiert zur Kenntnis, dass mein Mann als Bereichsleiter in einem Großkonzern damals schon ein sechsstelliges Jahresgehalt nach Hause brachte, denn es hat mir trotz aller Unabhängigkeit finanzielle Sicherheit gegeben – es ist eben doch ein Stück weit das „Versorgt-Sein“, was frau triggert. Ich zweifelte keine Sekunde daran, dass sich mein Mann dennoch um unsere gemeinsamen Kinder kümmern würde, denn so hatte er es mir immer zu verstehen gegeben und er hatte schließlich bereits Erfahrung als Vater. Mein Mann konnte seine Scheidung nicht verstehen: „Ich weiß bis heute nicht, was ich falsch gemacht habe“,6 denn laut seinen Aussagen hatte er alles für die Familie aufgegeben und war stets ein liebevoller Vater gewesen. Ich glaubte ihm alles, dennoch blieben alle drei Kinder typischerweise nach der Trennung bei der Mutter – mein Mann musste ja arbeiten. So weit, so normal.

Für mich war klar, dass ich mit den großen Kindern nur als Freundin des Vaters zu tun zu haben werde (sozusagen als „Good-Guy“), nicht aber als vermeintliche Erziehungsberechtigte (als „Bad-Guy“). Schon schnell stellte sich heraus, dass mein Mann vor lauter Arbeit die vereinbarten Termine mit den Kindern vergaß und ich wie selbstverständlich mehr in die organisatorischen Fragen sowie in die Haushaltsaufgaben für die Kinder verwickelt wurde, ohne dass ich jemals offiziell danach gefragt wurde. Anfangs übernahm ich das im Sinne einer gegenseitigen Unterstützung alles gerne, später musste ich mir von ihm vorwerfen lassen, ich hätte ja vorher gewusst, dass ich einen Manager mit drei Kindern geheiratet hatte. Als wenn eine Hochzeit gleich sämtliche kostenlose Care-Arbeit für Kinder aus einer vorangegangenen Ehe einschließen würde.

Mit der Hochzeit nahm ich den Namen meines Mannes an und musste 50 € für die Änderung meiner Ausweise bezahlen, während meinen Mann keine Kosten trafen. Auch hätte mich die Lohnsteuerklasse 5 mit unseren getrennten Konten mehrere hundert Euro Gehalt gekostet, so dass wir uns nach einiger Diskussion und dem Unbehagen meines Mannes vorläufig für 4 und 4 entschieden. Mein Mann sagte immer, das gleiche sich am Ende des Jahres wieder aus, aber zu diesem Zeitpunkt verstand ich davon leider nur Bahnhof. Die wichtigen Dinge im Leben lernt man eben nicht in der Schule, dafür aber viel später durch das Leben selbst.

Effizienz als Persönlichkeitsmerkmal

Mein Gehirn arbeitet in logistischen Prozessen. Alle meine Handlungen müssen effektiv sein, so will es mein Gesetz. Meine Handlungen müssen einen Sinn haben, sie müssen auf ein Ziel ausgerichtet sein. Das widerspricht dem Freizeitgedanken oder einem einfachen Abhängen und Chillen. Wenn ich mich ausruhe, dann muss selbst das effizient sein.

Mein Gehirn überprüft zu jeder Zeit alle meine Handlungen auf Effizienz und schlägt dabei ständig logistische Verbesserungen vor. Einfach ausgedrückt: wenn du die Treppe runter gehst, kannst du auch noch die Wäsche mitnehmen. Natürlich spielt mein Gehirn laufend viel kompliziertere Zusammensetzungen von Arbeitsprozessen durch. Nicht umsonst habe ich in den letzten Jahren so viel geschafft und konnte nebenbei trotzdem überleben und für die Kinder da sein. In meiner heutigen Arbeitsstelle bekam ich dafür sogar den Spitznamen Effizienz-Inga, oder kurz Effinga.

Diese Effizienz ist sicher eine meiner absoluten Stärken, ich brauche und ich liebe sie – allerdings verhindert auch sie oft genug Frei-Zeit – und damit Spaß am Sein.

Nach der Hochzeit

Jedenfalls zogen wir als Ehepaar Anfang Januar 2010 von Wangen im Allgäu in den Speckgürtel von Berlin, um die mittelständische Firma meines Schwiegervaters zu übernehmen. Wir hatten keine Ahnung davon, dass die Banken uns bereits Mitte Januar – also gut zwei Wochen nach unserem Umzug! – sagen würden, dass die Firma eigentlich pleite sei. Es hieß immer: „Schulden? Welche Schulden? Die Firma hat keine Schulden!“, was ja schon per se auf keine Firma in Deutschland zutrifft. Mein Mann schreibt dazu: „Die Banken haben mir gesagt, dass sie den Hahn für die [Firma] abgedreht hätten, wenn nicht ich vor ihnen sitzen würde und ins Unternehmen eingestiegen wäre. […] Es wurde uns nicht im Geringsten etwas von der finanziellen Lage der Firma erzählt. […] Aber, dass die Firma finanziell so katastrophal dran steht, wurde uns verschwiegen.“7 Weiter schreibt er: „Wäre ich nicht auf die bisherigen Forderungen der Banken eingegangen, dann hätten die Banken die Tilgungen und die Überziehung fällig gestellt.“8 und: „Wenn die Banken uns fällig stellen (was sie jederzeit machen können), bin ich gesetzlich verpflichtet, innerhalb von 3 Wochen Insolvenz anzumelden, es sei denn irgendjemand kann das Geld innerhalb dieser 3 Wochen beschaffen.“9 Der Firma wurde mit meinem Mann als neuen jungen Geschäftsführer und einer sogenannten positiven Fortführungsprognose noch eine Chance gegeben. Dafür musste mein Mann allerdings das Eigenkapital der Firma erhöhen und lieh sich seinen einzuzahlenden Anteil von 45.000 € von seinem Vater.10

Bevor wir das alles wussten, also noch vor unserem Umzug von Wangen nach Berlin, bewarben wir uns auf ein Grundstück in Wangen und bauten dann im Frühjahr 2012 dort unser Traumhaus, welches genügend Platz für alle unsere Freunde, die Freunde unserer Kinder und die großen Kinder haben würde – alles, wie in meinen Vorstellungen. Nur wenige Monate nach dem Umzug zurück nach Wangen bekam mein Mann die Diagnose bösartiger Darmkrebs mit Lebermetastasen. Die Behandlung sei rein palliativ, also lediglich schmerzlindernd und nicht heilend, so die Ärzte. Unser Traum von einem schönen und ausgeglichenen Familienleben im gehobenen Mittelstand war mit diesem zweiten großen Schock nach der finanziellen Lage der Firma endgültig zerstört, wahrhaben wollten wir es dennoch nicht so recht. Vier Jahre und drei Monate später starb mein Mann mit nur 48 Jahren – unsere gemeinsamen Kinder waren zu seinem Todeszeitpunkt gerade vier und sechs Jahre alt. Unser gesamter Traum vom gemeinsamen Leben war wie Seifenblasen unwiderruflich zerplatzt. Und ein Leben als alleinerziehende Witwe gehörte auf keinen Fall zu einer vorstellbaren Möglichkeit meines eigenen Lebens.

Plötzlich alleinerziehende Witwe

Nach dem Tod musste unser Leben grundlegend finanziell neu organisiert werden. Es gibt in Deutschland keine Stelle, an die sich verwitwete Alleinerziehende wenden können, um ihre finanziellen Fragen umfassend zu klären. Laut sozialpolitik-akutell.de sind immerhin 18,6% der Alleinerziehenden verwitwet, warum gibt es diese Gesellschaftsgruppe in den allgemeinen Diskussionen dann fast gar nicht?11 Meine Witwenrente fiel gering aus, weil bei meinem Mann schon ein Versorgungsausgleich durch die vorangegangene Scheidung stattgefunden hatte, aber auch weil mein Mann in der Firma selbständig tätig war und weil ein Studium die Rente nun mal nicht erhöht – aber wer bedenkt so etwas schon? Ich lernte, dass die Lohnsteuerklassen nur eine geschätzte Vorauszahlung an das Finanzamt sind und sich die Steuerlast dadurch nicht verändert. Ich lernte, dass die Steuerlast in der Splittingtabelle weit geringer ist als in der Grundtabelle. Ich lernte, dass Renten immer brutto ausgezahlt werden und was die nachgelagerte Versteuerung ist. Ich lernte, was das Witwensplitting und das Ehegattensplitting sind und welche gravierend nachteiligen Folgen das Ehegattensplitting meist für Frauen und Mütter haben kann.

Insgesamt dauerte es etwa ein Jahr, bis das Erbe soweit abgewickelt war, dass uns fortan nichts mehr schwerwiegend aus dem finanziellen Gleichgewicht bringen konnte. Es kostete ein weiteres Jahr, um die komplizierte Anrechnung bei den Hinterbliebenenrenten zu verstehen und von der Möglichkeit der Erziehungsrente zu erfahren. Es kostete ein drittes Jahr, um festzustellen, dass ich in meiner Situation ebenfalls alleinerziehend war. In meiner Wahrnehmung lebe ich als Witwe unter vollkommen anderen Bedingungen als die „klassische Alleinerziehende“. Ich habe außerdem gelernt, dass „alleinerziehend“ sehr viel vielfältiger ist, als das Bild der Bürgergeldbeziehenden-Alleinerziehenden, welches üblicherweise in den Medien dargestellt wird. Ich habe gelernt, dass es Frauen in unserer Gesellschaft besonders schwer haben, vor allem Alleinerziehende, und was „gendern“ damit zu tun hat. Ich liebe das Buch „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt“12 von Alexandra Zykunov, weil darin genau steht, welche Ungerechtigkeiten ich während meiner Ehe gefühlt habe, aber wofür ich damals noch keine Worte fand.

Als alleinerziehende Witwe landete ich mit dem Tod meines Partners in einer anderen gesellschaftlichen Schicht, obwohl ich weiterhin dieselbe Ausbildung und Intelligenz hatte wie vor dem Tod meines Mannes. Nicht jeder schafft es, das einst erträumte Leben zu verwirklichen, und zwar selbst dann nicht, wenn man sich anstrengt. Es ist eben doch nicht immer alles möglich, wie es mir als Mädchen eingetrichtert wurde – und wie es uns Christian Lindner von der FDP als Finanzminister der Bundesregierung in der Debatte um die Kindergrundsicherung im Jahr 2023 glauben machen wollte (Lindner sagte sinngemäß: Gegen Armut hilft Arbeit). Manchmal sind es tatsächlich die eigenen Entscheidungen mit unvorhersehbaren Folgen, aber oft genug sind es eben die gravierenden systembedingten Fallen vor allem für Frauen, Mütter, Alleinerziehende und auch für Hinterbliebene in unserer patriarchalen Gesellschaft, die uns nicht zum Ziel kommen lassen. Und als letzten Punkt gibt es im Leben eben auch ungeplante Änderungen oder Schicksalsschläge, die das Leben ungewollt komplett verändern. Gott gibt einem nur das, was man tragen kann. Als bekennende Atheistin habe ich eines Tages für mich festgestellt, dass Gott es bei mir übertrieben hat. Und dennoch – oder gerade deswegen – kann ich heute mit „Mein Haus, mein Pferd, mein Auto“ prahlen, denn ich habe unglaublich viel geschafft. Mein steiniger Lebensweg scheint mir eine schier unerschöpfliche Kraft zu geben, gegen alle diese Ungerechtigkeiten zu kämpfen. Ich habe meine Initiative Gerechte HinterbliebenenRente, meine Webseite www.verwitwet-alleinerziehend.de und dieses Buch erschaffen, während ich selbst durch die Hölle ging. Anfangs gedacht, um unseren Personenkreis zusammen zu bringen, und um „gebündelt“ für politische Änderungen bei der Hinterbliebenenrente zu kämpfen, hat sich vor allem die Facebook-Gruppe Gerechte HinterbliebenenRente mit ihren über 2.200 Mitgliedern (Dezember 2023) zur ersten, einzigen und damit auch größten Plattform für finanzielle Fragen rund um die Hinterbliebenenrente entwickelt. Ich habe zwei tolle Kinder, für die ich durchs Feuer gehen würde und eine finanzielle Absicherung, bei der ich trotz des Empfangs von Hinterbliebenenrente voraussichtlich nicht in die Altersarmut gerate. Hiermit klopfe ich mir ausdrücklich selbst auf die Schulter! Eigenlob stinkt nicht, sondern ist überlebenswichtig.

Heute lebe ich mit meinen Kindern in unserem neuen Eigenheim in Wangen im Allgäu. Ich arbeite angestellt in Teilzeit, kümmere mich um zwei Söhne, einer davon mit Beeinträchtigung, kämpfe für Verbesserungen bei der Hinterbliebenenrente und „mutiere“ mehr und mehr zur überzeugten Feministin. Zu meiner eigenen Rentenabsicherung habe ich vermietete Immobilien und bilde mich durch externe Kurse über Finanzen fort, um das System besser zu verstehen – und trotz meiner Situation als Alleinerziehende mit Kindern nicht arm zu werden. Finanzen sind zu meinem Leben geworden. Doch wie kam es dazu?

2. TRENNUNG AUF RATEN

Wenn die todbringende Krankheit einzieht – Die böse Stiefmutter – „Die Firma geht sonst pleite“

Die Diagnose

Unser Leben sollte jetzt so richtig beginnen. Im August 2012 zogen wir endlich in unseren gemeinsamen Traum: unser Neubau-Eigenheim in Wangen. Ein schönes Einfamilienhaus, mit großem Garten und Ferienwohnung, welches genug Platz für unsere vierköpfige Kernfamilie und die drei großen Kinder aus erster Ehe bieten sollte. Gebaut haben wir aus knapp 800 Kilometer Entfernung bei Berlin, wo wir beide in der schwiegerelterlichen Firma arbeiteten. Die organisatorische und die finanzielle Planung für das Haus übernahm mein Mann, so hatten wir uns im Vorfeld geeinigt, denn ich würde mich um unsere beiden Kinder kümmern. So weit, so normal.

Mit einigen Diskussionen um Geld, Planung, Fußboden und Fliesen, war das Haus dann noch fast im Rohbau, als wir zum geplanten Termin umzogen. Einen alternativen Termin gab es nicht und wir waren der Meinung, dass wir von vor Ort alles besser würden klären können, als von Berlin aus. Mein Mann nahm sich für den Umzug sogar drei Wochen Urlaub, denn er wollte die IKEA-Küche selbst einbauen und zusätzlich einige andere Handwerkerarbeiten wie beispielsweise das Streichen selbst übernehmen. Schon zu diesem Zeitpunkt lief organisatorisch alles aus dem Ruder, denn die Küche brauchte weit mehr Zeit zum Einbau und zum Streichen oder für andere nötige Arbeiten blieb keine Zeit mehr. Daher wurden beim Umzug spontan die Hälfte der Möbel eingelagert, denn auch der Fußboden war noch nicht fertig verlegt und wir hatten keine Innentüren. Drei Wochen lang ging ich auf das Dixi-Klo, weil nicht einmal ein Badezimmer fertig war, die Kinder waren ja zum Glück noch Windelkinder.

Die Planungsphase und die kurze Bauphase des Fertighauses waren geprägt vom Stress, den die dauerhaft fast-insolvente Firma bei uns allen auslöste. Mein Mann beschreibt das später sehr passend so: „Ich habe mich mit allem übernommen: Als Familienvater für alle meine Kinder, vor allem für die kleinen Kinder und für dich da zu sein. Gleichzeitig die Firma so in Ordnung zu bringen, dass ich dort nicht mehr zwingend benötigt werde. Gleichzeitig ein Haus bauen und dabei einiges selbst machen. […] Seit wir zusammen sind, leben wir auf der Überholspur. Heiraten, schnell und blauäugig in die Firma von meinem Vater einsteigen, schnell nach Berlin ziehen [und] die völlig kaputte Firma sanieren.“6 Viele Dinge konnten nicht erledigt werden oder auch nicht einmal diskutiert werden, denn „sonst geht die Firma pleite“. Dieser Satz war das ständige K.O.-Kriterium für alle Einwände, die ich während dieser Zeit – wenn auch leise – anbrachte, sei es für eine bessere Organisation rund um den Hausbau durch externe Handwerker, aber auch für Hilfe bei der Care-Arbeit von unserem ersten Sohn und einem pubertierenden Stiefkind. Die Firma war allmächtig und allgegenwärtig. Es hingen schließlich unsere beiden Jobs an der Firma während uns die maroden finanziellen Verhältnisse im Vorfeld nicht bekannt gewesen waren. Also, was hatten wir für eine Wahl? Wir hatten „Ja“ zueinander gesagt, in guten wie in schlechten Zeiten und wir hatten tatsächlich die Hoffnung auf eine gute – nein, eine tolle – Zukunft. Es war eben nur eine anstrengende Phase, dachte ich. Dachten wir.

Fakt war aber, dass ich im August 2012 mit einem vier Monate alten Baby und einem fast zweijährigen Windelkind fünf Tage die Woche alleine in einem Rohbau saß, weil mein Mann – anders als geplant – unter der Woche in die Firma nach Berlin musste. Die Planung war eigentlich, dass mein Mann die Firma aus unserem eigens dafür gebauten Home-Office leiten und alle zwei Wochen für zwei bis drei Tage nach Berlin fahren würde. Noch im Umzugsmonat August teilte mein Mann mir unerwartet mit, er würde sich in Berlin eine Wohnung nehmen, damit er fünf Tage die Woche vor Ort sein könne, weil das anscheinend plötzlich doch nötig sei.

Mein Mann hatte zu diesem Zeitpunkt schon seit längerem „Bauchkrämpfe“, aber er klagte so gut wie nie. Einige Monate vor dem Umzug ging er deswegen zu einem Internisten in Berlin, der aber keine Ursache für die Bauchschmerzen finden konnte. Der Arzt und mein Mann einigten sich seinerzeit darauf, dass die Ursache für die Schmerzen eigentlich nur der Stress sein könne. Mein Mann kam also nach dem Arzttermin nach Hause und teilte mir mit einem verschmitzten Lächeln auf Allgäuerisch mit: „Schatz, ich bin pumperl g’sund!“ Man glaubt eben gerne das, was man glauben mag. Der Internist machte seinerzeit keinen Ultraschall und die Onkologen sagten später, dass ein Ultraschall zu diesem Zeitpunkt die Ursache für die Bauchkrämpfe vermutlich bereits offenbart hätte.

Zurück in Wangen fand mein Mann am Donnerstag, den 15. November 2012 endlich die Zeit, zu seinem vertrauten Hausarzt zu gehen. Der Hausarzt schickte meinen Mann sofort zu weiteren Untersuchungen ins Krankenhaus. Mir teilte mein Mann nur mit, dass da „etwas in der Leber sei, was da nicht hingehöre“. Am Dienstag, den 20. November 2012 fand die Darmspiegelung im Krankenhaus statt und weil die Ärzte bereits wussten, dass es schlimm war, wurde meinem Mann auch direkt ein Port gelegt. Ein Port ist so eine Art Stempelkissen, welches in der Nähe des Schlüsselbeins unter die Haut gelegt wird, damit dort ab sofort die Spritzen mit der hochgiftigen Chemo gelegt werden können. Im Arm würde das Zeug die Adern in kürzester Zeit verätzen. Am Donnerstag oder Freitag hatten wir dann den Termin mit dem Onkologen: es ist bösartiger Darmkrebs mit 25-30 bis zu ostereiergroßen Lebermetastasen. Die statistische Lebenserwartung läge mit dieser Diagnose bei rund zwei Monaten, wenn die Chemo nicht anschlägt oder bei sechs Monaten, wenn die Chemo anschlägt. In Gedanken rechnete ich aus: Ende Januar 2013 wäre mein Mann statistisch gesehen tot und unser jüngster Sohn nicht einmal ein Jahr alt. Der Arzt betonte immer wieder, dass mein Mann schon allein vom Alter aus der Statistik rausfiele und er sich immer „über Wunder“ freue, aber die Behandlung sei dennoch rein palliativ. Ich sollte erfahren, dass palliativ „schmerzlindernd“ oder wie der Arzt sagte: „lebensverlängernd“ heißt, und dass es für meinen Mann keine kurative, also keine heilende Behandlung geben würde. Ich heulte mir die Augen aus dem Kopf, während sich mein Mann alles scheinbar gefasst und sachlich anhörte. Egal welche der beiden Statistiken recht bekäme, unser Jüngster würde sich niemals mehr an seinen Vater erinnern können! Unser Ältester war gerade zwei Jahre alt geworden und auch für ihn würde es kaum Erinnerungen geben. Es war einfach grauenhaft.

Zwei Risikolebensversicherungen – oder?

Zurück zu Hause fragte ich meinem Mann am darauffolgenden Wochenende, ob er für das Haus eigentlich eine Risikolebensversicherung abgeschlossen hatte. Er war für die finanzielle Planung zuständig gewesen und ich hatte das vertrauensvoll in seine Hände gelegt. Mein Mann war ein gutmütiger, hochintelligenter Mann und seinerzeit immerhin Geschäftsführer – ich musste – und wollte – lernen zu vertrauen. Wenn nicht meinem Mann, wem dann? Das ernüchternde Ergebnis war: nein, er hatte keine Risikolebensversicherung abgeschlossen. Er war mit den Gedanken nur bei der maroden Firma gewesen, nicht aber bei uns.

Noch im Juni 2012 schloss mein Mann eine Risikolebensversicherung über 100.000 € für die Firma ab und im August/September 2012 hatte er eine weitere Risikolebensversicherung über 1,5 Mio. Euro für die Firma abschließen müssen. Bei so einer hohen Versicherungssumme muss man alle möglichen Untersuchungen über sich ergehen lassen, inklusive einem EKG, das heißt, der Versicherungsabschluss zog sich einige Wochen hin. Die Krankheit wurde so kurz vor der vernichtenden Diagnose nicht entdeckt und die Versicherung kam zustande. Das Verheerende aber war, dass mein Mann während dieser Zeit in keiner einzigen Sekunde daran dachte, dasselbe auch privat abzuschließen! Dabei hätte die Situation akuter nicht sein können: wir zogen just in dem Monat um, als sich mein Mann den Untersuchungen inklusive dem großen EKG unterzog. Es hätte nicht einmal einen eigenen Termin mit dem Versicherungsberater gebraucht, um die eigene Familie adäquat abzusichern. Ein einziger Schnipp mit den Fingern und die Aussage: „Mach dasselbe für unser Haus und für unsere Familie auch“ hätten gereicht. Eine Sekunde. Wie fatal und folgenreich dieses fahrlässige Verhalten war, stellt sich später noch heraus.

Ich war schockiert. Ich war allein. Das konnte alles nur ein schlechter Traum sein. Aber es war kein Traum. Heute sage ich immer: Krankheit und Tod kommen immer schneller als gedacht – und sind immer unerwünscht. So eine Diagnose kam für uns im denkbar ungünstigsten Moment einer Familienplanung, aber sie kann einen jeden treffen – jederzeit. Auch Tod durch Unfall ist nur einen Wimpernschlag entfernt. Es trifft eben nicht immer nur die anderen – manchmal trifft es auch einen selbst. Und dann ist es gut, wenn man darauf vorbereitet ist.

Wir versuchten auf dem Wege der bereits abgeschlossenen Risikolebensversicherung noch eine weitere Versicherung abzuschließen – dieses Mal für die private Absicherung. Wir datierten den Antrag etwas zurück, aber nicht so weit, dass es aufgefallen wäre. Nun war allerdings zwischen dem erstem Arztbesuch und dem Zeitpunkt der Diagnose durch den Onkologen bereits ein so langer Zeitraum vergangen, dass ein Rückdatieren vor dem ersten Arztbesuch unglaubwürdig geworden wäre. Wir suchten einen guten Kompromiss in einer extremen Situation und hatten Glück: die Versicherung kam zustande und ich nahm an, wir seien safe. Bis eben auf diese kleine Restwahrscheinlichkeit, dass die Versicherung unseren Betrug aufdecken würde…

Lass es deine Familie wissen

Ich war sauer auf den Mann, den ich liebte und der zu sterben drohte. Ich war vollkommen im Schockzustand. In der Woche darauf telefonierte mein Mann mit den großen Kindern, um ihnen von der Diagnose zu erzählen. In meiner Erinnerung war das ganze Telefonat ein einziges Weichspülprogramm. Er habe Krebs, aber er werde wieder gesund, so die Message. Ich saß neben meinem Mann und traute meinen Ohren nicht. Als geborene Rheinländerin habe ich – wie sagt man so schön? – das Herz auf der Zunge. Ich mag Wahrheiten und ich spreche Wahrheiten. Ich konnte dieses Telefonat kaum ertragen, so viel Schönreden war da drin. Die Kinder sollten doch wissen, was der Arzt gesagt hat, sie mussten es doch erfahren! Sollte mein Mann in zwei Monaten tot sein, wollten sie ihn vielleicht noch sehen? Sie waren doch inzwischen schon 17, 15 und zwölf Jahre alt. Sie waren alt genug für die Wahrheit! Und sie hatten ein Recht auf die Wahrheit!

Es ist schwer zu sagen, wie man selbst auf so eine todbringende Diagnose reagieren würde. Da wird einem bewusst, dass man wirklich nur ein Leben hat. Nur eine Entscheidung: mit Chemo oder eher mit alternativer Medizin? Ohne alles und nur durch alternative Methoden gesund werden? Rohkost? Wie würde man selbst entscheiden, wenn man noch mitten im Leben steht – und ganz und gar nicht zu sterben bereit ist? Wir hatten in unserem Traumhaus doch gerade erst angefangen zu leben!

Mein Mann konnte nicht über den Tod sprechen. Die Möglichkeit, dass er an Krebs sterben würde, gab es nicht, auch wenn es die Ärzte mehr als deutlich gesagt hatten. Er würde den Krebs besiegen, das gab ihm immer den Mut und die Kraft, alle Chemos und jegliche Behandlungen mehr oder weniger klaglos über sich ergehen zu lassen. Vielleicht hat mein Mann niemanden in der Familie je darüber aufgeklärt, wie schlimm es wirklich um ihn stand, ich weiß es nicht.

Wie die Diagnose das Familienleben verändert

Das Gute an der Diagnose war, dass mein Mann ab sofort jede zweite Woche zu Hause war. Er musste anfangs alle zwei Wochen montags zur Chemo ins Krankenhaus und verbrachte den Rest des Tages mit