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Familie, das bedeutet für viele junge Paare: Schluss mit Feiern und Ausschlafen. Das geht gar nicht!, denken sie entsetzt. Doch, meint Robin Alexander. Die meisten wissen nur nicht, wie es geht. Sein Buch ist eine handfeste Anleitung für Anfänger: Wie Väter (und Mütter!) würdevoll mit einem positiven Schwangerschaftstest umgehen. Wie Mütter (und Väter!) ihrem Arbeitgeber schonend beibringen, dass sie bald um 17 Uhr nach Hause müssen, und trotzdem Karriere machen. Wie Eltern die vielen klugen Ratschläge von Freunden abwehren und wie sie die Verwandtschaft ertragen. Dabei wird klar: Oft sind andere Erwachsene das größere Problem als die lieben Kleinen. «Voller uneitler Selbstironie, gut gesetzter Pointen und kluger Beobachtungen!» emotion
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Seitenzahl: 232
Robin Alexander
Wenn Eltern laufen lernen
Eine Kurzanleitung
Natürlich hätte ich es ahnen können. Spätestens an diesem Abend. Spätestens als meine Freundin einverstanden war, dass ich einen doppelten Balvenie bestellte. Das ist so ein teurer Angeberwhisky, den sie mir nur durchgehen lässt, wenn wir etwas zu feiern haben. Oder wenn sie mir etwas schonend beibringen will. Oder wenn sie ein schlechtes Gewissen hat. An jenem Abend hätte ich wahrscheinlich auch einen Drei- oder Vierfachen gedurft.
Aber zu diesem Zeitpunkt habe ich noch nichts bemerkt. Ich bin ganz ohne Arg und denke, wir verbringen einen besonders schönen Tag am Ende einer langen Reise durch Südafrika.
Am letzten Reisetag besteht meine Freundin darauf, den Abend in einem bestimmten Lokal zu verbringen, das immerhin eine halbe Autostunde von Kapstadt entfernt liegt. Eine farbige Kollegin – ist die vielleicht eingeweiht? – hat ihr eine ganz besondere Bar empfohlen. Die soll genau dort liegen, wo der Indische und der Atlantische Ozean ineinanderfließen. Von der Terrasse aus soll man die Sonne in beiden Ozeanen gleichzeitig versinken sehen.
War nicht schon dieser Ort verdächtig? Letzter Abend. Letzte Drinks. Doppelter Whisky. Doppelter Sonnenuntergang. In einer Männer-Metapher ausgedrückt: Würde Romantik mit einem Drehzahlmesser gemessen, wären wir voll im roten Bereich gewesen. Die Situation schrie nach einer bedeutungsschwangeren Pause in der Konversation, einem tiefen Blick in die Augen und einer formellen Frage: «Möchtest du mein Mann werden?»
Aber Heiratsanträge machen ja Männer, nicht Frauen. Und meine Freundin schon gar nicht. Nicht weil sie konservativ wäre oder schüchtern. Anträge machen liegt ihr einfach nicht so. Denn die uralte europäische Kulturtechnik des Heiratsantrages setzt ein Gegenüber voraus, das ja sagt. Oder nein. Und genau dieser Unsicherheitsfaktor ist überhaupt nicht nach ihrem Geschmack. Sie entscheidet lieber allein. Und verkündet dann Tatsachen. Immerhin hat sie eine ziemlich charmante Art entwickelt, Menschen beizubringen, dass die Dinge liegen, wie sie liegen.
An diesem Abend geht das so: Sie nimmt eine kleine Papiertüte aus ihrer Tasche, zieht etwas daraus hervor und stellt es auf den Tisch. Es sieht aus wie eine Art Salamander, der aus einem Draht geformt ist, auf den viele kleine bunte Perlen gesteckt sind.
«Was ist das?», frage ich.
«Eine afrikanische Echse», sagt sie.
«Aha.»
«Sie ist in traditioneller Zulu-Technik gefertigt, und ich habe sie heute Morgen in Khayelitsha gekauft.»
«Aha.»
«Sie wird von einer Frauen-Kooperative gefertigt, die ein altes Kunsthandwerk wiederbeleben möchten.»
«Aha.»
«Und sie stellt dich dar.»
In diesem Moment ist klar, es passiert etwas. Blitzschnell kalkuliert mein Kopf, ob ich eher mit der Methode «Da ist gar nichts gewesen» davonkomme oder mit der Methode «Es tut mir schrecklich leid». Vertrackt: Ich weiß gar nicht, was ich mir diesmal habe zuschulden kommen lassen.
Jetzt greift sie zum zweiten Mal in die Papiertüte und stellt eine weitere Perlenechse auf den Tisch. Diese ist ein wenig kleiner als die erste.
«Und das bist du?», kombiniere ich vorsichtig.
«Genau.»
«Und?»
Dann folgt eine lange Sekunde. Ich weiß, dass alle Sekunden gleich lang sind. Und dass es kitschig ist, Momente, die man selbst intensiv empfunden hat, so zu beschreiben, als sei die Zeit oder gleich die ganze Welt stehengeblieben. Aber ich schwöre: In diesem Moment schweigen alle Gäste und alle Kellner in der Bar, und die Wellen von zwei Meeren, in denen die Sonne gleichzeitig versinkt, schlagen lautlos an den Strand.
Sie greift wieder in die Tüte.
Und hat wieder ein Reptil aus Perlen in der Hand.
Ein noch kleineres. Ein ganz kleines.
Meine Freundin rückt die Echse, die ich bin, und die Echse, die sie ist, ganz nahe zusammen und stellt die kleine Echse dazu. Und sagt nichts.
Da habe ich endlich etwas geahnt.
Ich gebe zu, das klingt, als hätte ich eine verdammt lange Leitung. Das ist an diesem Abend auch so. Aber Begriffsstutzigkeit ist nicht immer ein Zeichen von Dummheit. Andere Männer haben es mir später bestätigt: Egal, ob es dir mit klaren Worten gesagt wird oder entgegengeschrien; egal, ob dir ein angepinkeltes, verfärbtes Stäbchen unter die Nase gehalten wird oder die Düsseldorfer Tabelle; egal, ob du dabei das glücklichste Lächeln der Welt geschenkt bekommst oder drei Echsen aus Zulu-Perlen: Die Information, dass man Vater wird, braucht eine gewisse Zeit, bis sie ins männliche Bewusstsein gesickert ist.
Das ist nicht zufällig so. Um eine weitere Männer-Metapher anzuwenden: Die Mitteilung, dass man Vater wird, ist wie eine E-Mail, an der ein sehr großes Attachment hängt. Alle Programme, die gerade laufen, und alle, die auf der Festplatte warten, müssen sich diesem Attachment anpassen. Die komplette Software muss umgeschrieben werden. Und sogar die Hardware wird vielleicht umgebaut. So etwas runterzuladen dauert eben – sogar mit DSL.
Wobei ich wohl nur eine analoge Leitung habe an diesem Abend. Vielleicht auch kein Wunder: Gerade saßen wir noch in einer Bar am Kap der Guten Hoffnung und wollten Pläne schmieden, ob unsere nächste gemeinsame Expedition nach Indien oder nach Lateinamerika führt. Jetzt sind wir selber guter Hoffnung, und uns wird unter anderem klar, dass wir die nächste gemeinsame Fernreise verschieben müssen: um zehn bis fünfzehn Jahre. Es gibt wahrscheinlich wenige kinderfreundliche Hotels in Indien. Und selbst wenn das Kind hochbegabt wird, dürfte es eine Weile dauern, bis es Fotos machen kann oder aus dem Reiseführer Lateinamerika vorliest.
«Ich habe einmal in den Anden zwei Rucksacktouristen getroffen, die für ihren Fünfjährigen einen Esel gemietet hatten», spricht meine Freundin mehr zu sich selbst.
«Und?»
«Der Esel war störrisch, die beiden mussten ihn die Berge raufschieben. Und er hatte Flöhe. Sahen aber echt süß aus, die drei mit ihrem Esel.»
Um die peinliche Gesprächspause zu überbrücken, bestelle ich noch einen zweiten Doppelten. Meine Freundin nimmt auch noch einen Drink. Caipirinha, alkoholfrei. Alkoholfreier Caipirinha? Das fällt mir erst jetzt auf. Nur Wissende sehen.
Ich bin nicht der erste Mann, der in einer Bar am Ende der Welt von einer Schwangerschaft überrascht wird. Aber sollte Familie nicht eigentlich anders funktionieren? Verantwortliche Paare sprechen miteinander, bevor sie sich fortpflanzen. Sie betreiben Familienplanung. Und wir? Wir hatten auch über Kinder gesprochen. Selbstverständlich. Schließlich waren wir damals fast dreißig und schon ein paar Jahre zusammen. Da stellt sich die Kinderfrage. Und unsere Antwort war eindeutig und klar: Im Prinzip ja.
Weiter waren wir allerdings noch nicht gekommen: Wann, wo, wie haben wir nie gefragt. Es gab immer etwas Dringenderes, worüber wir uns unterhielten. Im Prinzip ja: Das war uns immer als ausreichende Antwort erschienen. Nachdem wir viele Eltern kennengelernt haben, weiß ich, dass es auch anders geht. Die meisten Paare in Deutschland wollen nur ein Kind, wenn vorher: erstens der Vater eine Festanstellung hat; zweitens die Mutter eine Festanstellung hat; drittens das Häuschen im Grünen bezogen ist; viertens das Kinderzimmer darin fertig eingerichtet ist; fünftens die angesagte Waldorf-Kita garantiert in zwei Jahren einen Platz frei hat; sechstens die Großeltern in den Vorruhestand eingetreten sind. Und, siebtens, das schwedische Au-pair-Mädchen schon auf gepackten Koffern sitzt.
Vielleicht sollte gerade ich nicht über genaue Planung spotten. Von meinem Kind wussten immerhin drei Zulu-Echsen eher als ich. Sind meine Freundin und ich darauf vorbereitet, Eltern zu werden? Wir haben erstens keine zwei Festanstellungen, sondern nur eine, die zweitens bezahlt wird wie eine halbe. Drittens wohnen wir in Berlin-Neukölln. Viertens haben wir selbst unsere Zimmer noch nicht fertig eingerichtet. Fünftens wissen wir nicht einmal, wo die nächste staatliche Kita liegt. Sechstens haben wir Eltern, die a) noch zehn Jahre vom Ruhestand entfernt sind und b) 500Kilometer von uns entfernt leben. Und siebtens hegen wir ernste Zweifel, ob einer unserer Freunde zum Babysitter taugt.
Nein, so sicher wir uns sind, dass wir prinzipiell Kinder wollen, so sicher ist auch, dass wir praktisch auf Kinder überhaupt nicht vorbereitet waren. An diesem Abend in der Bar, eine halbe Stunde vor Kapstadt, hätten wir eher ein qualifiziertes Gespräch über die traditionelle Bauweise der Ovambo-Kraals in der Transkei führen können als darüber, wie es ist, ein Kind in Deutschland aufzuziehen.
Auch wenn wir unsere Elternschaft nicht vorausgeplant haben: Um das Rechnen kommen wir nicht herum. Eltern, die planen, rechnen vorher einen günstigen Termin aus. Eltern, die nicht planen, rechnen anschließend. Die Tage, an denen meine Freundin schon auf ihre Tage wartete, geben einen Hinweis. Aber nur einen vagen. Ist es also in Durban passiert? Wo wir die Surfer am Indischen Ozean fotografiert haben – tagsüber? Oder doch eher in Coffee Bay, dem abgelegenen Fischerdorf in der Transkei? Oder erst in Port Elizabeth? Wir kommen schließlich überein, dass es in Coffee Bay passiert sein muss: in einer afrikanischen Rundhütte ohne Strom unter den Sternbildern der Südhalbkugel. Das klingt doch wunderbar romantisch – wenn man die vielen Moskitos weglässt.
Nachdem wir uns darauf geeinigt haben, wann die entscheidende Nacht war, blicken wir wieder in die Zukunft: Wir wissen nicht, was kommt. Und beschließen an diesem Abend: Alles wird wunderbar.
An dieser Stelle würde ich gerne schreiben, dass seitdem tatsächlich alles gut wurde und ich mich von diesem Augenblick an nur noch auf das Kind gefreut habe. Das stimmt sogar – bis zum nächsten Tag. Schon auf dem Weg zum Flughafen bin ich melancholisch. In der Maschine schaue ich konzentriert aus dem Fenster und präge mir alles ein. Es könnte für lange Zeit mein letzter Start von einem Flughafen in einer interessanten Stadt sein.
Um dieses Männer-Gefühl in einer Frauen-Metapher ausdrücken: Ich fühle mich wie eine Zuschauerin in genau dem Moment, als Pro 7 nach der letzten Folge der letzten Staffel von Sex and the City den Trailer von Desperate Housewives gezeigt hat.
Aber, meine Damen, ich schäme mich nicht dafür, dass die Vorstellung, bald ein Kind zu haben, bei mir neben Freude auch andere Emotionen auslöst. Das geht nämlich nicht nur Männern so. Eine von den Frauen, die ähnlich fühlt, sitzt im Flugzeug neben mir: Unser Kind wächst in ihrem Bauch. Sie ist glücklich wie nie zuvor. Aber trotzdem ist da noch ausreichend Platz für Zweifel. Wir brauchen ungefähr bis zum Äquator, bis wir darüber sprechen:
«Ich bin ja prinzipiell dafür, wie du weißt», sage ich.
«Ja?»
«Aber ich hätte es konkret auch gern mitentschieden.»
«Ja, das verstehe ich gut. Ich nämlich auch.»
«Ich meine: Du hättest ja aufpassen können.»
«Ja, du aber auch.»
Ich bin ziemlich sicher, viele Paare reden so. Oder die Partner denken wenigstens so. Natürlich sind nicht alle werdenden Eltern traurig, weil sie das Reisen drangeben müssen. Es können auch durchtanzte Wochenenden sein. Oder lange Ausritte. Oder die Hoffnung auf eine schnelle Karriere. Irgendwas muss jeder einschränken, wenn das Kind kommt. Wer das Gefühl nicht kennt, muss vorher ein verdammt langweiliges Leben gehabt haben.
Das Gute an dieser Verlustmelancholie ist, dass sie schnell verfliegt. Spätestens dann, wenn man erfährt, was andere gemacht haben – unmittelbar bevor sie Kinder bekamen. Zum Beispiel die eigenen Eltern. Das kam raus, als wir wieder zu Hause waren und von unserem Souvenir aus der Kaffeebucht berichteten.
Zeugungsgeschichten gehören zu den wenigen Geschichten, die interessant sind, selbst wenn das Wesentliche weggelassen wird. Meine Eltern erzählen von einem von der Außenwelt abgeschnittenen Blockhaus an einem Fjord. Wochen vor und nach meiner Zeugung aßen sie nur frischgefangenen Fisch, weil Fleisch im norwegischen Supermarkt so teuer war.
Und die Mutter meiner Freundin berichtet von einer kleinen Pension auf Rügen an der Ostsee, deren Wirte es irgendwie geschafft hatten, dass ihr Familienunternehmen immer noch nicht verstaatlicht war. Sind das etwa keine Abenteuer? Vom Ruhrgebiet in einem alten VW Käfer 1975 bis nach Norwegen zu kommen geht eigentlich auch als Fernreise durch. Und es von Sachsen 1974 ohne organisierten Platz im FDGB-Heim bis auf Rügen zu schaffen, schon gar.
In unserer Familie gilt wirklich: Reisen macht Kinder. Seit ich das meiner Schwester erzählt habe, ist sie im Urlaub immer besonders vorsichtig.
Bitte lesen Sie dieses Kapitel nicht einfach nur so, während Sie einen Wein genießen oder nebenbei fernsehen. Nehmen Sie sich Zeit für diesen Text. Lesen Sie langsam. Nehmen Sie ihn bewusst wahr – Wort für Wort. Entspannen Sie Ihren Geist und lassen Sie Ihren Körper die Lesearbeit in seinem natürlichen Rhythmus verrichten:
Ihre Augen gehen langsam von links nach rechts.
Am Ende der Zeile gehen Sie sanft nur ein kleines Stück nach unten und beginnen wieder links.
Bei jedem Satzzeichen schenken Sie sich selbst eine Pause.
Und atmen.
Ein Satz.
Atmen.
Ein Satz.
Atmen.
Na? Eingeschlafen? Dann sind Sie noch nicht bereit, eine Familie zu gründen. Denn Familiengründung beginnt im Geburtsvorbereitungskurs. Und der beginnt mit Entspannungsübungen. «Wir werden richtig lernen, uns besser zu entspannen», sagt die Kursleiterin in einem alternativen Geburtshaus: «Das könnt ihr auch später als Familie sinnvoll anwenden: Gutes Entspannen!»
Das ist doch mal ein Versprechen: Entspannung! Damit habe ich bei einem Kurs, in dem eine Geburt trainiert wird, eigentlich nicht gerechnet. Ich dachte, es gehe im Gegenteil um das richtige Anspannen, ja sogar um Pressen. Aber so weit sind wir noch nicht.
Wir setzen uns bequem in den Schneider- oder Lotussitz, schließen die Augen und atmen. Bisher kein Problem. Aus einem CD-Player kommen die traditionellen keltischen Gesänge der Wale beim Besteigen tibetischer Berge. Na ja, warum nicht? Aber jetzt wird es schwierig:
«Wir folgen unserem Atem. Und jetzt schauen wir nach, ob unsere Stirn schon entspannt ist. Und jetzt unsere Nasennebenhöhlen. Unser Mund. Unser Rachenraum.»
Bei meiner Stirn war ich mir nicht ganz sicher, und in meiner Nebenhöhle habe ich etwas Hässliches entdeckt, aber jetzt ist keine Zeit zu fragen, denn: «Wir sind jetzt schon im Beckenbereich. Und atmen. Und mit einer ganz kleinen Taschenlampe reisen wir jetzt über unser Schambein.»
Ich finde mit einer ganz kleinen Taschenlampe über mein Schambein zu reisen eher anstrengend. Aber bei der Entspannung gibt es keinen Königsweg. Es gibt Leute, die machen sich ein Bier auf und gucken Sportschau. Andere joggen nach der Arbeit oder stemmen Hanteln, bis sie nicht mehr können. Das muss jeder selbst wissen. Warum also nicht mit der kleinen Taschenlampe über das Schambein reisen?
«So, jetzt haben wir alle unsere Körperteile von innen erkundet. Und jetzt halten wir noch einmal inne, atmen und schauen in unser Inneres und spüren einmal nach, was dort ist.»
Was dort ist? Bei den weiblichen Kursmitgliedern sieht man recht deutlich, was in ihnen drin ist. Aber das ist nicht gemeint. Was ist in uns? Was sollen wir zu Walgesängen und Atemübungen in uns entdecken? Eine Seele? Gott? Die Urmutter?
Ich glaube, in mir ist nichts. Aber die anderen scheinen etwas gefunden zu haben. Heimlich öffne ich die Augen und schaue mich um: Alle lächeln selig mit geschlossenen Augen. Außer einem Dicken, der eingenickt ist. Ich versuche es noch einmal: Augen zu, kleine innere Taschenlampe an und gesucht – da muss doch was sein, verdammt nochmal! Bin ich denn so ein unsensibler Sack? Kann ich mich denn gar nicht fallenlassen?
Um mir nicht ganz so schäbig vorzukommen, besinne ich mich auf ein Gedicht von Robert Gernhardt, der ja eigentlich immer einen eher entspannten Eindruck macht:
«Ich horche in mich rein
In mir muss doch was sein
Ich hör nur ‹Gacks› und ‹Gicks›
In mir, da ist wohl nix.»
Ich bin also schon beim Entspannen durchgefallen. Und – das kann ich jetzt schon verraten – auch beim wechselnden Anziehen und Lockerlassen meines Beckenbodens und beim Dem-Kind-Entgegen-Atmen habe ich eine schlechte Figur gemacht. Nein, Geburtsvorbereitung ist kein Spaß.
Schon die Wahl des Kurses ist eine Qual. Vorbei die Zeiten, in denen werdende Eltern einfach zwei Abende im nächstgelegenen Krankenhaus einer Hebamme zuhörten. «Pressen lernen» ist schon lange nicht mehr «Pressen lernen». Vielmehr gibt es heute ein beinahe unüberschaubares Angebot. In Elternkreisen wird heiß gestritten, welche «GV» gerade nur angesagt oder wirklich gut ist. (Liebe Eltern, Sie denken bei der Abkürzung GV noch an etwas anderes? Das wird sich bald ändern!)
Hier eine kleine Auswahl von Kursen, die Angehörige unseres weiteren Bekanntenkreises tatsächlich besucht haben: Schwangeren-Yoga; Schwangeren-Shiatsu; Schwangeren-Bauchtanz («Damit sich der Beckenboden lockert»); Schwangeren-Gymnastik, die nicht zu verwechseln ist mit Schwangeren-Gymnastik nach Dr.Read oder Schwangeren-Wassergymnastik, was etwas anderes ist als Schwangeren-Schwimmen und wieder etwas anderes als Abtauchübungen im Wasser für werdende Mütter und Väter; Körperselbsterfahrungsgruppen; Elternschule; Kurse für Schwangerschaftsmassage; Geburtsvorbereitung mit meditativem Tanz; Psychosomatische Geburtsvorbereitung.
Alle Kurse werden in drei Varianten angeboten: mit Männern, ohne Männer, halb mit Männern (dann kommen die Männer immer erst in der zweiten Stunde jeder Sitzung hinzu). Tatsächlich gibt es auch schon Kurse nur für Männer. Allerdings kenne ich niemanden, der einen solchen besucht hat.
Sie haben sich noch gar keine Gedanken gemacht, ob Sie überhaupt einen Geburtsvorbereitungskurs besuchen wollen? Brauchen Sie auch nicht. In dieser Frage ist Entscheidungsfreiheit Illusion. Sie müssen. Früher musste man heiraten, bevor die Kinder kamen. Heute muss man zur Geburtsvorbereitung. Der Kurs gehört zur modernen Familienwerdung dazu wie der Advent zu Weihnachten. Na ja, vielleicht eher wie Karfreitag zu Ostern. Dennoch ist er für werdende Eltern völlig unvermeidlich.
Wenn überhaupt darf nur die Frau darauf verzichten. Werdende Mütter, die dem Bibelwort «Du sollst unter Schmerzen gebären» folgen wollen, treffen eine harte, aber gesellschaftlich durchaus akzeptierte Entscheidung. Männer hingegen, die sich dem Geburtsvorbereitungskurs verweigern, tragen heute ein Stigma der Asozialität: Sie lassen ihre Partnerin schon vor der Geburt im Stich! Sie vernachlässigen ihr Kind, schon bevor es geboren ist! Als Mann nicht zum GV-Kurs mitzukommen gilt unter modernen Eltern als ungefähr so anstößig, wie die Mutter mit der Babysitterin zu betrügen, die Alimente zu prellen und das Kind auf dem Spielplatz zu vergessen.
Spricht außer der Vermeidung sozialer Isolation noch etwas dafür, als Mann einen Geburtsvorbereitungskurs zu besuchen? Bei der Vorstellungsrunde unseres GV-Kurses sind die folgenden drei Argumente zu hören: Erstens, dann weiß man, was auf einen zukommt. Zweitens, dann ist die Partnerin mit dem Gebären nicht alleingelassen. Drittens, es ist auch für den werdenden Vater angenehm, sich als aktiver Teil der Geburt zu erfahren.
Klingt gut. Ist aber völliger Quatsch. Denn erstens, niemand, der zum ersten Mal eine Geburt miterlebt, weiß auch nur im Mindesten, was auf ihn zukommt. Ganz egal, ob er einen oder zehn Vorbereitungskurse absolviert hat. Zweitens gebiert jede Frau ganz allein. Egal, wie finster entschlossen ihr Mann ist mitzutun. Drittens, werdende Väter erfahren sich bei Geburten tatsächlich selbst. Und zwar als völlig ohnmächtig.
Diese Ohnmacht ist unvermeidbar. Allerdings können Männer sie in zwei Varianten kennenlernen: «O Gott! Und ich kann gar nichts tun!» Oder: «O Gott! Und ich kann gar nichts tun! Wäre ich doch bloß zum Geburtsvorbereitungskurs mitgegangen!» Die zweite Variante ist schwerer zu ertragen. Noch schwerer. Deshalb empfehle ich allen werdenden Vätern dringend den Besuch von Geburtsvorbereitungskursen – im völligen Bewusstsein ihrer Nutzlosigkeit. Der eigentliche Sinn, als Mann einen solchen Kurs zu besuchen, liegt allein darin, sich später nicht vorwerfen zu müssen, es nicht getan zu haben.
Jeder Mann sollte lernen, wann man gegen den Schmerz atmet und wie mit der Wehe. Jeder Mann sollte ein Gefühl für seinen Beckenboden entwickeln und herausfinden, welchen Vokal er ausstoßen muss, um sich «unten ganz offen» zu fühlen. Ob er das dann bei der Geburt anwendet oder doch lieber leise tausend Ave Maria betet oder auf Holz klopft, bis die Knöchel bluten – das kann er, wenn es so weit ist, spontan entscheiden.
Eine Gefahr birgt der Kurs jedoch: Die Vorbereitung auf eine Geburt lässt einige Männer annehmen, sie hätten mit der Geburt tatsächlich etwas zu tun. Diese völlig irrige Vorstellung befällt vor allem sogenannte neue Männer aus dem fortschrittlich-emanzipativen Milieu und hat schlimme Nebenwirkungen: Diese Männer klagen plötzlich ihr Recht auf Mitbestimmung ein. Ein Universitätsdozent aus unserem Bekanntenkreis bestand gegenüber seiner Partnerin darauf, dass sie das Kind nicht in einem dieser «kalten weißen Krankenhäuser» zur Welt bringe, sondern in einem Geburtshaus, in dem Wände und Decken in warmem Ocker gehalten seien. Dort fühle er sich einfach geborgener.
In unserem Kurs, in dem sich alle am Anfang entspannen, kommt es wenig später beinahe zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Die Kursleiterin erklärt die verschiedenen Methoden, unerträgliche Schmerzen bei der Geburt mit Betäubungsmitteln zu bekämpfen. Ein Mittdreißiger mit Halbglatze, dessen Arme zärtlich auf dem gewölbten Bauch seiner Freundin liegen, die kaum älter als Anfang zwanzig ist, kommentiert alle Schmerzmittel, die vorgestellt werden. Homöopathie und Bachblüten? Lässt er noch durchgehen. Akupunktur? Da verzieht er schon einen Mundwinkel. Krampflösende Zäpfchen? «Sind bei guter Vorbereitung nicht nötig». Opiate? «Haben ganz schlimme Nebenwirkungen».
Als die Kursleiterin schließlich die Teilnarkose PDA (Periduralanästhesie) vorstellt, unterbricht er sie: «Also wir haben uns als Paar jetzt schon dagegen entschieden. Wir wollen die Schmerzen notfalls aushalten.»
Nach diesem Satz können einige Kursteilnehmerinnen kaum noch von ihren Partnern abgehalten werden, dem mitfühlenden Mann auf der Stelle Schmerzen zuzufügen.
Das bleibt die einzige Meinungsverschiedenheit in unserem Kurs. Nach einigen Sitzungen frage ich mich, ob diese Harmonie schon etwas mit Familie zu tun hat: Alle hier denken das Gleiche und bestätigen einander dauernd, wie richtig man doch in Sachen Vorsorge, Krankenhaus, Elternzeit u.Ä. entschieden habe. Vielleicht sind sich alle hier einfach nur ziemlich ähnlich. Vorher dachte ich, elementare Erlebnisse wie Schwangerschaft, Geburt und Windeleimer rausbringen sind so universal menschlich, dass man als junge Eltern mit Leuten aus allen Ländern und Schichten in Kontakt kommt.
In Wirklichkeit wirft einen nichts so sehr auf das eigene Milieu zurück wie die Familiengründung. Die Menschen, mit denen wir gerade mit der inneren Taschenlampe übers Schambein gereist sind und bald über Muttermünder, Dammrisse und Kaiserschnitte reden werden, sind die, mit denen wir vor kurzem noch studierten und heute arbeiten, Sport machen oder Bier trinken. Andere sind prekär Beschäftigte, die sich als Freiberufler vorstellen. Ein oder zwei Männer haben es als Architekt und Berater tatsächlich zu dem Status gebracht, den ihre Eltern immer erhofft haben. Die hier Versammelten werden in ihrem Bekanntenkreis als junge Eltern gelten – und überall sonst auf der Welt als sehr alte.
Vielleicht erklärt dies die Leidenschaft, mit der sich unsere Generation in die Kurse und in alle anderen Aspekte der Geburtsvorbereitung stürzt. Wir Spätgebärenden schauen uns die Kreißsäle von drei bis sechs Krankenhäusern an, bevor wir entscheiden, wo unser Kind zur Welt kommen soll. Wir kennen die lateinischen Namen aller Medikamente, die bei einer Geburt zum Einsatz kommen können – und ihre Nebenwirkungen. Wir wissen mehr über Plazenta, Geburtskanal und Austreibungsphase als manche Medizinstudenten. Wir machen uns sogar Gedanken, welches der richtige Umgang mit der Nachgeburt ist!
Woher kommt die Akribie, mit der wir Wissen über den Geburtsvorgang zusammentragen? Woher das Bedürfnis, jedes Detail vorzuplanen und kontrollieren zu können? Es liegt wohl daran, dass uns in der kinderarmen Gesellschaft auch der Vorgang der Geburt als selbstverständliches Ereignis verloren gegangen ist. Frühere Generationen waren da viel entspannter – auch was die GV-Kurse angeht. Noch unsere Eltern sprachen spöttisch von «Hechelkursen». Die Frauen absolvierten sie wie eine Pflichtübung oft mit ironischer Distanz. Noch eine Generation davor hätten werdende Mütter und Väter nicht einmal gelacht: Schamgefühle hätten solche Übungen oder auch nur das gemeinsame Sprechen über die durchaus intimen Vorgänge bei einer Geburt unmöglich gemacht.
Meiner Oma musste ich wieder und wieder erklären, was in unserem Kurs geschieht.
«Ihr atmet da gemeinsam?»
«Ja, Oma. Gegen den Wehenschmerz.»
«Aber die Wehen haben doch noch nicht eingesetzt, oder?»
«Nein, Oma. Wir üben das.»
«Und die Männer üben auch Atmen gegen den Schmerz von Wehen, die noch nicht eingesetzt haben?»
«Ja, Oma.»
Auch nachdem ich die Geburt ihres Urenkels miterlebt habe, sieht meine Oma nicht ein, was Männer in Vorbereitungskursen verloren haben. Bei Geburten selbst ist sie übrigens nicht so streng. Als sie gebar, war ihr Mann nämlich auch dabei – ganz ohne Vorbereitung. In einem Krankenhaus war meine Oma nicht, denn 1946 stand kaum noch eins in ihrer Heimatstadt im Ruhrgebiet. Deshalb hat mein Opa zu Hause ein Pfund Kaffee aufgebrüht, das damals schwer aufzutreiben war. Ein altes Hausmittel: In Kaffee getauchte Tücher werden über die weibliche Scham gelegt, damit sie sich besser dehnt. Die Geburt meines Vaters ging nach Auskunft meiner Oma jedoch so schnell, dass die Kaffee-Tücher gar keine Anwendung fanden. Den schon gebrühten Kaffee hat nach der Geburt die Hebamme ausgetrunken. Vor lauter Glück über seinen Erstgeborenen hat mein Opa dies nicht verhindert. Der teure Kaffee war alle, als meine Oma danach fragte. Seitdem ist sie sich sicher, dass Männer bei Geburten zu wirklich gar nichts taugen.
Ich bin nicht ihrer Meinung. Es gibt sehr wohl Dinge, die Männer bei einer Geburt unter Umständen tatsächlich sinnvoll tun können. Genau zwei. Erstens: Der Frau die Hand halten, bis das Kind kommt. Zweitens: Das Kind halten, wenn es da ist. Meine Freundin wollte mich bei der Geburt unbedingt dabeihaben, weil sie in extremen Situationen gerne die Nähe ihrer Lieben spürt. Nachdem die Geburt vorbei war, nähten die Ärztinnen alles wieder zusammen. In dieser Dreiviertelstunde hielt ich meinen Sohn. Natürlich hätte ihn auch eine Hebamme halten können. Aber das hätte er vielleicht nicht so schön gefunden. Und ich ganz sicher nicht.
Es fängt ganz langsam an. Zuerst fällt es gar nicht weiter auf. Aber die Wirkung ist gewaltig. In der Schwangerschaft verändert sich das soziale Umfeld – unmerklich, aber radikal. Es ist nicht so, dass wir nicht mehr angerufen werden oder dass sich niemand mit uns verabredet. Nein, wir haben immer noch die gleichen Freunde und Bekannten. Nur eins ist anders: Sie gehen uns plötzlich furchtbar auf die Nerven!
Die Freunde. Die Kollegen. Die Nachbarn sowieso. Die Geschwister auch. Ja, selbst unsere Eltern. Alle, wirklich alle.
Als wir nach viereinhalb Monaten eine Halbzeitbilanz der Schwangerschaft ziehen, stellen wir fest, dass meine Freundin beweglich und unternehmungslustig ist wie eh und je. Dennoch gehen wir kaum noch raus. Wir sind ziemlich häuslich geworden. Vielleicht sogar ein bisschen arg häuslich. Neulich hat einer von uns doch tatsächlich den Begriff «gemütlicher Fernsehabend» in den Mund genommen. Kurz: Wir werden spießig. Woran liegt’s?
«Vielleicht nimmt unser Unterbewusstsein die Fesseln der Kleinfamilie vorweg», analysiere ich küchenpsychologisch: «Weil wir bald nicht mehr so viel Zeit für Sozialkontakte haben, reden wir uns jetzt schon ein, wir brauchen überhaupt keine anderen Menschen außer uns zweien, äh, dreien.»
«Quatsch», sagt meine Freundin dazu: «Wenn ich tagelang nur mit dir zusammen bin, gehst du mir eigentlich immer noch auf den Keks.»
Das ist beruhigend. Es liegt nicht an uns. Also kommen nur noch die anderen in Frage. Und tatsächlich: So ist es. Wir schauen uns unseren Bekanntenkreis im Einzelnen an und stellen erstaunt fest: Vorher hatten wir Kollegen, mit denen wir die Arbeit besprachen. Jetzt haben wir Kollegen, die uns im Büro Ratschläge und Ermunterungen für das Familienglück geben. Vorher hatten wir beste Freunde, mit denen wir über den nächsten Urlaub sprachen. Jetzt haben wir beste Freunde, die uns beim Rotwein unbedingt noch Ratschläge und Ermunterungen für das Familienglück erteilen müssen. Vorher hatten wir Nachbarn, die mit uns über die Interpretation der Hausordnung stritten. Jetzt haben wir Nachbarn, die uns im Flur Ratschläge und Ermunterungen für das Familienglück geben. Vorher wurde ich nach meinem wöchentlichen Kick wegen angeblich maßloser Zweikampfhärte beschimpft, jetzt bekomme ich in der Kabine Ratschläge und Ermunterungen für – aufmerksame Leser ahnen es bereits – das Familienglück.
Nicht alle gehen gleich skrupellos vor: Nach ein paar Wochen Erfahrung teilen wir unsere Mitmenschen grob in zwei Kategorien ein: «Ratschläger» und «consultants». Während die «Ratschläger» mit ihrer Weisheit wie mit einer Keule auf uns einprügeln, kleiden die «consultants» offensichtlichen Unfug in schöne Fremdwörter – wie Unternehmensberater.
Unglaublich, was einem in neun Monaten alles so geraten wird! Am Anfang erzählen wir uns gegenseitig lachend die schlimmsten wohlwollenden Hinweise und Andeutungen. Aber als wir beginnen, uns damit gegenseitig auf die Nerven zu fallen, erklären wir unsere Wohnung zur ratschlagfreien Zone. Das ist aber auch nicht gut, denn wer den ganzen Tag beraten wird, verspürt ein großes Bedürfnis, zumindest einige Ratschläge vor dem Schlafengehen wieder loszuwerden. Wir legen schließlich ein eigenes Notizbuch an, in dem wir alles verzeichnen. Jeden Abend notieren wir beide getrennt voneinander die Ratschläge, welche unsere Freunde und der Rest der Welt auf uns ergießen. Dieses Buch haben wir bis heute nicht mehr aufgeschlagen. Bis heute. Denn jetzt wird zurückberaten. Hier sind die schönsten drei Ratschläge in sieben Kategorien für Vater, Mutter, Kind und alles, was dazugehört.
Die schönsten Ratschläge:
Kategorie 1) Vaterschaft
Platz 3: