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"In meinem Kopf sind viele Mosaiksteine. Aber ich weiß nicht, wie das Bild aussieht, weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll. Seit Tagen denke ich über den Anfang nach ... Damals, als die Christbäume am Himmel standen. Das hört sich abgegriffen an. Damals, als Großmutter sagte: damals, als die Bombe einschlug. Damals, als Anton Kocher Feldschütz im Dorf war und Ortsgruppenleiter. Damals, als der junge englische Flieger abgeschossen wurde ... Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war ... Das ist mein Anfang." 1985 erschien Walter Landins erstes Buch in der Pfälzischen Verlagsanstalt Landau. 14 Erzählungen, in denen die Zeit des Nationalsozialismus, das Aufwachsen in einem Pfälzischen Dorf, das Zusammenleben mit Migranten thematisiert wurden. Viele Jahre war "Wenn erst Gras wächst" vergriffen und nur antiquarisch erhältlich. Jetzt ist Landins Erzählband als eBook wieder zugänglich. Die Texte wurden an die neue Rechtschreibung angepasst und sprachlich bearbeitet.
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Seitenzahl: 157
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„In meinem Kopf sind viele Mosaiksteine. Aber ich weiß nicht, wie das Bild aussieht, weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll. Seit Tagen denke ich über den Anfang nach ... Damals, als die Christbäume am Himmel standen. Das hört sich abgegriffen an. Damals, als Großmutter sagte: damals, als die Bombe einschlug. Damals, als Anton Kocher Feldschütz im Dorf war und Ortsgruppenleiter. Damals, als der junge englische Flieger abgeschossen wurde ... Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war ... Das ist mein Anfang.“
1985 erschien Walter Landins erstes Buch in der Pfälzischen Verlagsanstalt Landau. 14 Erzählungen, in denen die Zeit des Nationalsozialismus, das Aufwachsen in einem Pfälzischen Dorf, das Zusammenleben mit Migranten thematisiert wurden. Viele Jahre war „Wenn erst Gras wächst“ vergriffen und nur antiquarisch erhältlich. Jetzt ist Landins Erzählband als eBook wieder zugänglich. Die Texte wurden an die neue Rechtschreibung angepasst und sprachlich bearbeitet.
Walter Landin
52-iger Jahrgang, Pfälzer, Dirmsteiner, Mannheimer (seit 1974), lebt in Mannheim und in Hertlingshausen. Lehrer im Ruhestand. Schreibt Prosa und Lyrik sowie Texte im „Pälzer Saund“.
1984 - erster Preis beim Mannheimer Kurzgeschichten-Wettbewerb, 1985 - „Wenn erst Gras wächst“, Erzählungen,, 1988 - „Dorfluft“, Erzählung, 1990 - Förderpreis Literatur des Bezirksverbandes Pfalz, 1993 - „Kennscht du detscht du“, Pälzer Saund, 1999 - „das Gras die Stille der Mohn“, Gedichte, 2005 – „Wu bitte is die Speisekart?“, Pälzer Saund, 2007 –„Mord im Quadrat“ – Erzählungen, (2012 in 6. Auflage), 2008 – „Mannheimer Karussell“, Kriminalroman, 2009 – „Bluthitze“ Kommissar Lauer ermittelt, Kriminalroman, 2011 – „Eiswut“, zweiter Krimi mit Kommissar Lauer, Wellhöfer Verlag Mannheim, 2013 - „Mordsherbst“, Kommissar Lauers dritter Fall, 2015 - „Gefährlicher Treffpunkt“, Kommissar Lauers vierter Fall, 2016 - Mehr Morde im Quadrat“, neue Kriminalgeschichten. 2017 wird der 5. Lauerkrimi erscheinen.
www.landin.de
www.facebook.com/Kommissar.Lauer
Walter Landin
Wenn erst Gras wächst
Erzählungen
Copyright: © 2017 Walter Landin
Höhenstr. 22
68259 Mannheim
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de ISBN 978-3-7418-8084-1
Umschlagillustration: Heiko Prodlik-Olbrich
Umschlaggestaltung: Walter Landin
Lektorat: Irene Landin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Am Samstagmorgen muss Willem kehren. Dabei kann er kaum noch gehen. Er wackelt hin und her, humpelt den Hof auf und ab, hält sich am Besen fest. Leo, der Student, der im Erdgeschoss wohnt, kann den Willem so wunderbar nachäffen. Der Hof ist groß, und Willem hat viel Arbeit. Willem macht gern eine Pause. Er verdrückt sich in einen stillen Winkel, fingert einen Zigarettenstummel aus seiner Tasche, steckt ihn an, zieht gierig und schnell.
Am Samstagmorgen im Hinterhof. Die dicke, rote Katze, die sich auf dem Schuppendach in der Oktobersonne wälzt. Leo, der auf seinen Auftritt wartet, hinter der Gardine. Willem mit dem Zigarettenstummel, der darauf spannt, dass Pauline, seine Frau, ihn antreibt.
„Willem, du fauler Bock, schaff weiter!“
Willem winkt ab.
„Ich mach dir Beine!“
Willem brummelt was vor sich hin.
„Muss ich runterkommen, du fauler Bock?“
Willem kehrt weiter. Die Katze gähnt. Leo hinter der Gardine ruft: „Paulina, Paulina.“
Pauline knallt wütend das Fenster zu. Und Willem zwinkert Leo verstohlen zu. Leo winkt dem Alten.
Eingefallene Wangen, stoppliges Kinn, zahnloser Mund, strähnige, grau-gelbe Haare, ängstliche, kleine Augen in viel zu großen Augenhöhlen, ein schäbiges, verwaschenes Hemd, lange, an den Knien ausgebeulte Unterhosen, die vorne am Pissschlitz einen braunen Fleck hatten, der an Intensität abnahm, je weiter die Entfernung vom Zentrum war. So stand Willem vor einigen Monaten an der Haustür, als Leo einzog und der Makler die Schlüssel für die Wohnung im Erdgeschoss verlangte. Der Alte schlurfte nach oben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zurückkam.
„Beim alten Willem funktioniert der Schließmuskel nicht mehr. Dauerpisser.“
Der Makler zuckte mit der Schulter.
Willem humpelt aufgeregt zum Fenster. Leo hält ihm ein Glas Schnaps hin. Willem schaut Leo dankbar an und trinkt in einem Zug aus.
„Noch einen?“
Willem nickt eifrig.
„Auch eine Zigarette?“
Willems Augen leuchten. Eine Zigarette, eine ganze Zigarette. Willem verschwindet mit der Zigarette ins hintere Treppenhaus.
„Willem, du fauler Bock, schaff weiter!“
Willem steckt die Zigarette an.
„Elendiger, fauler Bock!“
Willem zieht vorsichtig an der Zigarette.
„Na warte!“
Willem zieht genüsslich an der Zigarette.
„Ja, ja, die hält ihn kurz, den armen Willem. Nur wenn sie ihren Besuch erwartet, kriegt der Willem eine Flasche Bier mit zwei, drei Schlaftabletten drin, damit er nicht stört. Vor zwei Jahren hätte sie ihn beinahe losgekriegt. Da wurde der Willem nach Wiesloch ins Irrenhaus eingeliefert. Aber nach vier Wochen war er wieder da.“
Herr Schmidt kennt sich hier aus. Herr Schmidt ist Rentner. Seit 43 Jahren wohnt er mit seiner Frau im Hinterhaus, im ersten Stock.
„Ich mach dir Beine!“
Das Fenster knallt mit einem Scheppern zu. Pauline stürzt aus dem Haus. Die weißen Haare zu Löckchen aufgedreht. Die Wangen zartrosa gepudert. Die Lippen dick und knallrot angemalt. Pauline reißt Willem die Zigarette aus dem Mund, zerdrückt sie, wirft sie auf den Boden, trampelt darauf herum. Mit dem Besenstiel prügelt sie auf Willem ein.
Letzte Woche das Foto in der Zeitung auf der Lokalseite. Paulines Blick steng und unnahbar. Willem, gründlich rasiert, an seine Frau gelehnt, das Gesicht zu einem Lächeln verzogen.
„Jubiläumstag für Pauline und Wilhelm K. ... Goldene Hochzeit in der Schröderstraße ... leben seit 50 Jahren glücklich zusammen ... Freude und Leid auch in schwerer Zeit gemeinsam getragen.“
„Da, da und noch eine. Ist das genug, du alter Bock?“
Willem hält seine Arme schützend vor den Kopf und stößt unverständliche Laute aus.
„Ja, ja, der hat es nicht leicht, der arme Willem. Den hätten sie früher mal erleben sollen. Wie der damals im Hof rumstolziert ist. Spiegelblanke Stiefel, schwarze Uniform, das Koppelschloss mit dem Totenkopf am Gürtel, im Mund eine Zigarre. So marschierte der im Hof auf und ab. Auf und ab. Jeden Tag. Und das ganze Haus zitterte vor ihm.“
Herr Schmidt wohnt schon lange hier.
Leo steht immer noch hinter der Gardine.
„Paulina. Paulina.“
Pauline lässt den Besen fallen. Wie eine Furie stürzt sie aus dem Treppenhaus. Vor Leos Fenster bleibt sie stehen. Sie droht mit der Faust, die Lippen zu einem Strich zusammengekniffen. Hinter Pauline fällt die Tür krachend ins Schloss. Die Katze streckt sich auf dem Schuppendach, schärft ihre Krallen an der Dachpappe, macht einen Riesenbuckel, sträubt die Haare und rollt sich zusammen. Willem hebt vorsichtig den Kopf. Auf den Knien sucht er die Reste der wertvollen Zigarette zusammen und verstaut sie in der Jackentasche. Mühsam rappelt er sich hoch, hebt den Besen auf und murmelt: „Paulina, Paulina“, lacht und kehrt, auf und ab. Pauline öffnet das Fenster, sieht Willem kehren und zischt: „Na also!“
In meinem Kopf sind viele Mosaiksteine. Aber ich weiß nicht, wie das Bild aussieht, weiß nicht, wo und wie ich anfangen soll. Seit Tagen denke ich über den Anfang nach, schreibe Notizzettel voll, lege sie sorgfältig in die Ablage. Damals, als die Christbäume am Himmel standen. Das hört sich abgegriffen an. Damals, als Großmutter sagte: damals, als die Bombe einschlug. Damals, als Anton Kocher Feldschütz im Dorf war und Ortsgruppenleiter. Damals, als der junge englische Flieger abgeschossen wurde. Ich schreibe jung. Das ist eine Behauptung. Alle, die ihn in dieser Nacht gesehen haben, sind tot. Die Frau des Polizisten, dann die Getsche, Franziskas Patentante, und Anton Kocher, der ihn mit vorgehaltener Pistole abholte. Niemand, den ich fragen könnte. Der junge Flieger, ich bleibe dabei. Jung passt in mein Konzept, vor allem für das, was später kommt. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Ich habe die Straße so nie gesehen, aber vorstellen kann ich es mir. Ein einziges Schlammfeld im Herbst, erzählte Urgroßmutter. Und wenn der Winter zu Ende ging. Damals, als die Bahnhofstraße noch nicht geteert war. Das ist mein Anfang.
Damals im Winter 1944. Es ist Anfang Dezember und ein Sonntag. Sicher ist es kalt. Der Morast, durch den vor wenigen Wochen abgemagerte Pferde die Fuhrwerke, mit Rüben beladen, zur Dorfwaage zogen, dieser Morast ist festgefroren. Wenn Franziska morgens zum Bus geht, stampft sie mit ihren Stiefelabsätzen auf die kleinen Eisseen. Das knistert. Es ist Abend. Franziska steht im Hof. Es ist klar, die Sterne funkeln. Franziskas Gesicht ist rot. Die gute Stube drinnen ist reichlich geheizt. Ihr Vater hat gestern einen Handwagen voll mit Holzresten von der Arbeit gebracht. Jetzt wird dem Winter eingeheizt. Die Kälte draußen tut Franziska gut. Am Sonntagabend gibt es immer warmes Essen. Ihr Vater war nicht dabei. Er hat Nachtschicht, Schrankenwärter.
„Hoffentlich kommen sie heute nicht“, meinte Franziskas Mutter, „so kurz vor Weihnachten“, als der Vater aufs Fahrrad stieg.
„Eisenbahner fahren mit dem Rad zum Dienst“, sagte Franziskas Vater immer und fuhr die 15 Kilometer nach Oggersheim mit dem Rad. Bei jedem Wetter. Die Großeltern, Franziska und ihre Mutter, die zwei kleinen Brüder, Onkel Karl, Vaters Bruder, jeder bekam ein Stück Fleisch. Fleisch gibt es nicht oft in diesem Winter 1944. Franziska legt den Kopf zurück und betrachtet die Sterne.
Vor vier Wochen haben sie geschlachtet. Franziska schaut immer zu. Ich durfte nicht zusehen.
„Bringt den Jungen weg. Das ist nichts für ihn.“
Ich wurde in die Küche geschoben und hätte doch zu gern gesehen, warum das Schwein so entsetzlich quiekte. Ein einziges Mal war ich Augenzeuge, versteckt hinter Urgroßmutters weitem schwarzem Rock. Urgroßmutter saß in der Tür zum Hof auf ihrem Korbstuhl. Warum schrie nur das Schwein so fürchterlich? Franziskas Bruder hielt es am Schwanz, mein Großvater an den Ohren und der Metzger, ein dicker Mann mit einer fleckigen Gummischürze und feuerrotem Gesicht, setzte ein längliches Ding, das sah nicht wie ein Gewehr aus, dem Schwein auf die Stirn, genau zwischen die Augen. Es machte Plopp, dumpf und nicht sehr laut. Das Quieken verstummte schlagartig, das Schwein kippte um, zuckte einmal, zweimal noch mit den Hinterbeinen und lag dann still da. Meine Großmutter schob die Emailleschüssel unter, während der Metzger sein Messer wetzte. Ein Schnitt am Hals, überhaupt nicht umständlich, und das dampfende Blut schoss in die Schüssel. Landsam wurde der Strom dünner, Großvater goss dem Metzger einen Schnaps ein, der prostete ihm zu. Das ausgeblutete Schwein wurde in die Mulde, eine Zinkwanne auf Rollen, gewuchtet. Die Mulde gehörte dem Metzger und musste immer dort abgeholt werden, wo zuletzt geschlachtet worden war.
„Katharina, das Wasser“, rief Großvater und meine Großmutter kam mit zwei randvollen Eimern an. Der Metzger, das leere Schnapsglas in der Hand, stand unbeteiligt daneben. Das Schwein wurde mit dem heißen Wasser übergossen, die Borsten wurden abgeschabt. Es wurde mit zwei Drahtseilen an den Hinterbeinen festgebunden und über eine Winde hochgezogen. Da hing es, den Kopf nach unten, die Hinterbeine gespreizt. Dann entdeckte mich Urgroßmutter.
„Ab in die Küche!“
Und ich bekam noch einen Klaps auf den Hintern. Als ich endlich wieder auf den Hof durfte, war das Schwein kein Schwein mehr. Ohne Kopf hingen die beiden Hälften nebeneinander.
Franziska darf zuschauen. Sie hat kein Mitleid und der Metzger kein Gewehr, damals nicht. Der Metzger hat ein Beil, und mit der stumpfen Seite schlägt er zu. Wenn er nur Vater nicht trifft! Einmal, zweimal, jetzt fall doch endlich um, dreimal, viermal, endlich. Vor vier Wochen haben sie zwei Schweine geschlachtet. Nur eines wurde zum Wiegen gefahren, das kleinere. Das andere gab es nicht, zumindest nicht bei der Viehzählung im Frühjahr.
„Das ist gefährlich“, sagte Franziskas Großmutter. „Den Schulze aus dem Unterdorf hat der Kocher ein halbes Jahr ins Gefängnis gebracht. Nur weil er eine Sau schwarz geschlachtet hat.“
„Ja, ja“, brummte Franziskas Vater. „Ich könnte dir noch ganz andere Sachen erzählen. Aber denk an die Lebensmittelkarten.“
Die Lebensmittelkarten. 250 Gramm Butter im Monat, 500 Gramm Brot in der Woche, 100 Gramm Fleisch oder 125, alles für eine Person. So ganz genau weiß das keiner mehr. Das ist schon so lange her. Franziska putzt samstags die Backstube beim alten Bäcker. Am Sonntagmorgen klebt sie mit Mehlkleister die Mehlmarken für den Bäcker auf. Alles für einen Laib Brot, drei Pfund schwer. Das Brot können sie gut gebrauchen. Und ihre Großmutter kocht bei festlichen Gelegenheiten. Bei der Familie Maurer aus der Mohngasse hat sie schon 24 Mal gekocht. Der alte Maurer und die alte Maurerin sind begraben worden, Ihr Sohn Ludwig ist begraben worden und seine Schwester, die Lene. Und der Maurer Jean und seine Frau sind gestorben. Dann ist das Lisettsche gestorben. Und die anderen Kinder sind zur Kommuinion gegangen. Und als Verlobungen gefeiert wurden, war Franziskas Großmutter dort und bei Hochzeiten. Da fällt immer was ab, mal ein Zentner Kartoffeln, mal ein Sack Weizen, mal ein Korb Eier. Hoch oben sieht Franziska einen Christbaum. Sie kann sich aber auch getäuscht haben. Bald ist Weihnachten. Die Lebensmittelkarten. Geschlachtete Schweine werden auf die Fleischration angerechnet. Vier, fünf, sechs Monate keine Fleischmarken. Und bei zwei Schweinen?
Am Tag nach dem Schlachtfest kam Anton Kocher und ließ sich die Papiere zeigen, Wiegeunterlagen, Schlachtschein. Metzelsuppe wurde aufgetischt mit einem dicken Brocken Wellfleisch drin. Anton Kocher, Ortsgruppenleiter der Partei, ein Zugereister, wie die Einheimischen sagen, Jahrgang 1900, angelernter Arbeiter in der Anilin in Ludwigshafen, 1929 Eintritt in die Partei, 1931 arbeitslos, 1933, im Mai, Feldschütz im Dorf, Ortsgruppenleiter.
„Der wird sich die Zähne ausbeißen“, hieß es vor gut elf Jahren.
Die Metzelsuppe schien zu schmecken. Franziskas Vater war auch Mitglied in der Partei.
„Aber er ist erst spät eingetreten“, erzählt meine Großmutter. „Als der Krieg anfing, kam sein Vorgesetzter und sagte: Wenn Sie nicht in die Partei gehen, kann ich Sie nicht halten. Opa August hätte einrücken müssen, also ging er in die Partei“, erzählt Großmutter. „Er musste einfach. Beamter. Aber bei Aufmärschen und Versammlungen drückte er sich, so gut es eben ging“, erzählt Großmutter.
So gut es ging.
Anton Kocher ließ sich einen Nachschlag geben.
„Scheint ja alles in Ordnung zu sein“, sagte er mit vollem Mund.
„Ja, ja, alles in Ordnung“, versicherte Franziskas Mutter.
Da kam Georg, Franziskas kleiner Bruder, in die Küche. Er kniete sich auf den Stuhl neben Kocher und setzte eine wichtige Miene auf.
„Das Schwein gestern, das ist ein ganz besonderes Schwein gewesen. Das hat vier Nierchen gehabt, ehrlich, vier!“
Auch diese Geschichte ist schon oft erzählt worden. Franziskas Mutter griff Georg unter den Arm, beförderte ihn in den Flur, „warte nur, wenn Vater heimkommt“, ging zurück in die Küche, dachte an den Schulze aus dem Unterdorf. Anton Kocher aß weiter, sagte kein Wort, verabschiedete sich freundlich.
„Alles in Ordnung“, rief er, als er schon am Hoftor war.
Am Abend wurde mit Georg ein ernstes Wort geredet.
„Der ist doch anständig, der Kocher“, sagte Franziskas Mutter zu ihrem Mann. „Das hätte ich nicht gedacht.“
Franziska kennt den Anton Kocher ganz anders. Reichskristallnacht. Erst viel später wird sie mit diesem Ungetüm von Wort etwas anfangen können. Im Dorf brannte keine Synagoge, es gab keine. Franziska wusste nicht so recht, was Juden sind. Lehrer Bast schimpfte immer über sie. Die seien lauter Schweine und Verbrecher, man müsse alle aufhängen und auf den Mist werfen, sagte er Tag für Tag. Und Sarah musste in der Ecke stehen. Und der Pirmin stand manchmal neben ihr, aber der war kein Jude. Gegen den Lehrer sich stets folgsam, wahrheitsliebend, bescheiden und höflich benehmen, für Franziska kein Problem. Strammstehen, aufrecht sitzen, den Körper nicht nach vorne biegen, laut und wohl tönend in ganzen Sätzen die Antworten geben, für Franziska ist das nicht schwer. Aber die Unberechenbarkeit des Lehrers.
„In die Schützengräben“, brüllte er ohne Vorwarnung, und alle mussten blitzschnell unter die Bänke kriechen. Und die Angst vor seinem Stock, vor seinen Wutausbrüchen. Wenn meine Mutter von ihm erzählt, sehe ich meinen ersten Lehrer vor mir. Unter die Bänke mussten wir nicht kriechen, ansonsten gleicht sich vieles. Bei der Rückgabe der Diktate durfte jeder, Lehrer Mohn sagte: dürfen, seine Fehler am Katheder abholen. Vier Fehler sind vier Schläge mit dem Bambusstock auf die Handfläche, ein Schlag links, einer rechts, links, rechts. Wenn er ins Zimmer trat, das Strammstehen wie bei Lehrer Bast. Wenn ich an die Tafel ging und die Kreide als Linkshänder in die linke Hand nahm, schlug er ohne Vorwarnung mit seinem Stock zu. Ich lernte schnell und packte die Kreide nur noch mit der richtigen Hand an. So muss Lehrer Bast gewesen sein, vor dem Franziska zitterte.
Mit Sarah hatte Franziska immer gerne gespielt, bis ihre Mutter es verbot. Und eines Tages war Sarah nicht mehr in der Schule. Das war nach diesem Morgen, als Sarah auf der Straße saß. Franziska hatte Bilder in der Zeitung gesehen. Brennende Synagogen.
„Was ist eine Synagoge?“
„Warum dürfen die so was wie Kirchen anstecken?“
„Ach so, keine richtigen Kirchen?“
„Und schließlich waren es die Juden, die unseren Herrgott ans Kreuz geschlagen haben.“
„Aber die Sarah ...“
„Schluss jetzt.“
Franziskas Großmutter duldet keinen Widerspruch. Sarah Eltern hatten einen Lebensmittelladen. Als Franziska an jenem Morgen an dem Laden vorbeikam, saß Sarah auf der Straße, inmitten unzähliger zerschlagener Marmeladentöpfe. Mehl, gutes Mehl war auf den Bürgersteig gekippt. Die Schaufensterscheibe war eingeschlagen, die Regale im Laden waren umgeworfen. Franziska wollte stehen bleiben, wollte Sarah fragen. An der Tür stand geschrieben: „Kauft nicht beim Judenpack!“
„Weitergehen, los weiter!“
Das war Kochers Stimme, zischend, durchdringend. Franziska kannte sie vom Park. Sie hatte ihn gar nicht bemerkt. Jetzt erst sah sie ihn, sah seine stechenden Augen und rannte schnell weg. So kannte sie Anton Kocher.
Die Christbäume sind wunderschön. Es werden immer mehr. Bald ist der Himmel voll davon. Franziska weiß, dass die Christbäume schön aussehen, sie weiß aber auch, was auf sie folgt. Aber schön sind sie doch. Franziska reißt sich los, geht ins Haus zurück.
„Sie kommen wieder“, ruft sie, „ganz viele.“
Ihre Großmutter ist schon im Keller, als die Sirene heult. Franziskas Mutter kommt als letzte. Sie hat schnell noch das Besteck in die Waschschüssel geworfen.
„Ist oben alles verdunkelt? Ging so schnell heute, und ihr wisst doch, was passiert, wenn nicht ordnungsgemäß verdunkelt ist.“