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Auf dem Weg zur Arbeit im Mannheimer Polizeipräsidium kommt Kommissar Leo Lauer am Hotel Leonardo in den Quadraten vorbei. So wird er Augenzeuge, wie ein Mann von der Dachterrasse des Hotels stürzt. Unfall? Selbstmord? Mord? Lauer und seine Kollegen müssen in einer Szene ermitteln, die ihnen fremd ist: Der Tote ist ein Deutsch-Türke, der in Mannheim eine undurchsichtige Hinterhofmoschee besuchte, bevor er sich in Syrien dem IS anschloss.Lauer stößt auf ein Dickicht aus losen Fäden. Wollte das Opfer aus dem IS aussteigen und war deshalb wieder zurück in Deutschland? Welche Rolle spielt ein ehemaliger Freund des Toten, der mehr verbirgt, als er erzählt? Und haben die illegalen Aufputschmittel, die der Tote nach Deutschland geschmuggelt hat, mit dessen Tod zu tun? Als sich plötzlich eine Spur herauskristallisiert, heften sich Lauer und ein Kollege an die Fersen des mutmaßlichen Täters. Aber der kommt ihnen zuvor: Er sperrt die Kommissare in eine alte Gartenhütte und flieht in Lauers Auto …"Zauberer des Wortes, Walter Landin, der mehrfach ausgezeichnete Krimiautor."(Mannheimer Morgen) "Landin ist begeisterter Mannheimer, der auf die Authentizität der Tatorte und des Milieus in seinen Erzählungen großen Wert legt." (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung)
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Seitenzahl: 281
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WALTER LANDIN
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Walter Landin, 52-er Jahrgang, Pfälzer,
Dirmsteiner, Mannheimer (seit 1974),
Realschullehrer, seit September 2013 im
Vorruhestand, Schreiber, Mitglied im
Verband Deutscher Schriftsteller, im
Syndikat und im Literarischen Verein der
Pfalz. »Die achte Sure« ist Kommissar
Lauers fünfter Fall.
www.landin.de
www.facebook.com/Kommissar.Lauer
1. Auflage 2017
© 2017 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: © belterz – iStockphoto.
Druck: CPI books, Leck.
Printed in Germany.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1766-0
E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1767-7
Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-2027-1
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www.silberburg.de
Personen im Buch
Mannheimer Kripo
Befragte und Verdächtige im Fall Leonardo-Hotel
Der ungelöste Fall von 1987
Freitag, 12. September
Eins
Zwei
Drei
Samstag, 13. September
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Sonntag, 14. September
Neun
Montag, 15. September
Zehn
Elf
Zwölf
Samstag, 13. Juni 1987
Dreizehn
Dienstag, 16. September
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Mittwoch, 17. September
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Donnerstag, 18. September
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Freitag, 19. September
Fünfundzwanzig
Samstag, 20. September
Sechsundzwanzig
Montag, 22. September
Siebenundzwanzig
Dienstag, 23. September
Achtundzwanzig
Neunundzwanzig
Dreißig
Einunddreißig
Mittwoch, 24. September
Zweiunddreißig
Dreiunddreißig
Vierunddreißig
Donnerstag, 25. September
Fünfunddreißig
Sechsunddreißig
Siebenunddreißig
Achtunddreißig
Freitag, 26. September
Neununddreißig
Samstag, 27. September
Vierzig
Mittwoch, 1. Oktober
Einundvierzig
Zweiundvierzig
Dreiundvierzig
Donnerstag, 2. Oktober
Vierundvierzig
Nachwort
Roman Clement ist Lauers Vorgesetzter und will nicht an seine Eheprobleme erinnert werden.
Faulhaber, Polizeipräsident, hat eine Schwäche für ungelöste Altfälle.
Christian Gernhardt merkt, dass seine Aufgaben als Kommissar und seine Pflichten als junger Vater nicht immer in Einklang zu bringen sind.
Susanne Gernhardt, Kommissarin, ist stolze Mutter im Mutterschutz.
Leo Lauer, Hauptkommissar, weiß nicht, was er der Enkeltochter zum ersten Geburtstag schenken soll.
Julian Meißner, Hauptkommissar und Lauers Kollege und Freund, wird aus dem Verhalten seiner Frau nicht schlau.
Irene Meyers, Oberkommissarin, ist nicht glücklich, dass sie sich ihrer Tochter zuliebe nach Frankfurt hat versetzen lassen.
Onur Tanaoğlu, Kriminaltechniker, ist häufig unterwegs zwischen Heidelberg und Mannheim.
Annemarie Werner, Schreibkraft im Polizeipräsidium, hört immer noch ihren Fritz Wunderlich, dieses Mal mit Kopfhörern.
Elke Abelt hofft vergeblich auf Kommissar Lauers Beachtung.
Michael Bruhn ist zum Islam konvertiert und lässt sich Abu Yahia al-Almany nennen.
Hildegard Fahrenbach hält ihren Vorgarten und ihr Wohnzimmer penibel sauber.
Katharina Feidel, Jugendleiterin auf dem Lindenhof, hat auffallend gefärbte Haare.
Fatima Güney, Moscheeführerin, hält nichts von Hinterhofmoscheen.
Onur Güyünc, Azubi im Leonardo, raucht verbotenerweise auf der Dachterrasse.
Oliver Mehmet Hayreddin kehrt nach Mannheim zurück und wird nicht glücklich dabei.
Frau Hayreddin-Weber verliert viel.
Cem Korkmaz muss erfahren, dass es nicht so einfach ist auszusteigen.
Emrah Osmanoglu steht zu seinem Wort.
Winfried Schoeneck hat sich seine Arbeit als Richter in Mannheim ruhiger vorgestellt.
Erich Steinfeld ist Co-Trainer einer Jugendfußballmannschaft.
Aaron Sternberg will als Pflichtverteidiger alles geben bei seinem ersten großen Fall.
Karlotta Tessier, Rechtsanwältin, möchte ihr Mandat niederlegen und tut es doch nicht.
Martin Weber hat eine Vorliebe für Schinken-Käse-Baguette.
Urs Burgy betreibt einen Flohmarktstand auf dem Petersplatz in Basel.
Stefan Lubzinski stöbert gerne in alten Büchern.
Frau Pfeiffer ist fünffache Mutter und stolz darauf, wo sie herkommt.
Sandra Pfeiffer ist erst fünfzehn Jahre alt, als sie 1987 ihren Mörder trifft.
Evelyn Ruch ist eine Pflichtverteidigerin, die ihrem Mandanten nicht nach dem Mund redet.
Anton Schindler hat es nie verwunden, dass er den Mord an Sandra Pfeiffer nicht aufgeklärt hat.
Beat Scherzinger, Wachtmeister aus Muttenz, hilft Leo Lauer.
Margit Zutter-Bertschy, Staatsanwältin, ist die Teamarbeit mit Leo Lauer sehr wichtig.
Look up here, I’m in heavenI’ve got scars that can’t be seenDavid Bowie
»Erst wegpennen. Dann sich klammheimlich aus dem Staub machen.«
Er erstarrte in der Bewegung, die Türklinke in der Hand. Zuvor hatte er seine Sachen zusammengesucht, war auf Zehenspitzen zur Tür geschlichen.
Er dachte nach. Schüttelte den Kopf. Ein Ruck ging durch ihn, er öffnete die Tür und verließ das Zimmer. Er gab sich keine Mühe, die Tür geräuschlos zu schließen. Im Flur zog er seine Hosen und sein Hemd an, verzichtete darauf, die Schnürsenkel zu binden, griff nach seiner Jacke an der Garderobe, fühlte sein Handy in der Jackentasche.
Dann ließ er die Wohnungstür zufallen. Im ersten Stock fielen ihm die neuen Schuhe ein. Hatte er den Karton noch dabeigehabt, als er nachts, es musste lange nach Mitternacht gewesen sein, das Haus betreten hatte? Das Haus in den Quadraten. Er dachte angestrengt nach. Aber er förderte nicht den Hauch einer Erinnerung zutage, wie er in das Bett der fremden Frau gekommen war.
Frau Werner hatte sich gestern Abend wie immer Punkt halb sechs verabschiedet. »Machen Sie nicht so lange, Herr Lauer«, hatte sie, in der Tür stehend, zu ihm gesagt.
Unten auf der Straße atmete er durch. Wie war er in diese Wohnung geraten? Es regnete und er schlug den Kragen seiner Jacke hoch. Er hasste es, nasse Haare zu bekommen. Wer war die Frau, neben der er aufgewacht war?
Lauer schaute nach links und nach rechts. Die S-Quadrate.
Der gestrige Abend. Es war nach 19 Uhr gewesen, als er das Polizeipräsidium verlassen hatte. Sein spontaner Entschluss. Neue Schuhe. Ein Paar Veloursleder-Boots. Sündhaft teuer. Für Lauer zumindest. 199 Euro. Noch nie hatte er sich so teure Schuhe geleistet. Und wo waren die jetzt? Wo war der Karton geblieben? In der Wohnung der Frau? Er versuchte, sich zu erinnern. Es gelang ihm nicht. War ihm der Karton früher abhandengekommen? Auf seinem eher ziel- und planlosen Weg durch die Quadrate?
Nach dem Schuhkauf in den Planken der Milchkaffee im Café Prag, seinem Lieblingscafé. Einige Worte mit Adonis, dem Wirt, gewechselt. Noch einen Weißburgunder im Stehen. Im Istanbul am Marktplatz hatte er einen Adana Kebap gegessen, einen Ayran getrunken. Lauer war ziellos durch die Quadrate geschlendert. Schließlich die Frau in den U-Quadraten, die ihn angesprochen hatte. Sie musste in seinem Alter sein, Mitte fünfzig. Aber Lauer tat sich schwer, das Alter von Menschen zu schätzen. Wie hatte sie ausgesehen? Er hatte keine Erinnerung. Sie hatte vor der Kneipe gestanden, an deren Namen sich Lauer nicht erinnern konnte. Sie hatte geraucht.
»Neue Schuhe?«, hatte sie zu ihm gesagt und eine Handbewegung in Richtung der Schuhschachtel gemacht.
Lauer hatte genickt.
»Das müssen wir begießen«, hatte sie gesagt.
Lauer hatte genickt. Er konnte nicht sagen, warum er der Frau in die Kneipe gefolgt war. Der Rotwein war ungenießbar gewesen, das hatte er nach dem ersten Schluck gemerkt. Also Export und Korn im Wechsel. Wie die Frau. Irgendwann hatte Lauer aufgehört zu zählen. Den Karton, den hatte er unter dem Arm gehabt, als er die Kneipe betreten hatte. Das war sicher. Zumindest glaubte er es.
Er überquerte die Planken in Höhe des Kornmarkts. Lief über die Kapuzinerplanken. Vorbei an engelhorn sports. Vor dem Binokel waren die Sonnenschirme zu, klar, der Regen. An der Ampel vor Galeria Kaufhof musste er warten, bis er über die Straße gehen konnte. Die Autos rollten an ihm vorbei. Ein endloser Strom.
Sein Handy klingelte.
»Herr Lauer, wo bleiben Sie?«
Frau Werner, die gute Seele in L 6. Ihr »Backoffice«, wie sein Kollege Meißner sie nannte, Schreibkraft, wie sie sich bezeichnete.
»Susanne kommt in einer Viertelstunde. Mit dem Baby. Das können Sie ihr nicht antun. Gerade heute nicht da zu sein. Herr Lauer! Sie sind viel zu spät.«
Lauer schaute auf die Uhr. Viertel vor zehn. In der Tat, er war zu spät. Die morgendliche Besprechung hatte er versäumt.
»Sie können froh sein, dass Clement heute bei der Besprechung nicht da war. Da ist Ihr Fehlen nicht weiter aufgefallen. Und ich habe Ihren Kollegen gesagt, Sie hätten noch einen Termin außer Haus.«
Seit Anfang des Jahres die Polizeireform in Kraft getreten war und Mannheim und Heidelberg jetzt eine Einheit unter dem Namen Polizeipräsidium Mannheim bildeten, war Clement nicht mehr jeden Tag bei der Dienstbesprechung um 8.30 Uhr im Polizeipräsidium anwesend. Ein Großteil der Kripo einschließlich der Kriminaltechnik mit der Spurensicherung war in Heidelberg angesiedelt worden. Ebenso der Kriminaldauerdienst, obwohl 75 Prozent der Einsätze in Mannheim stattfanden. Mehr Polizisten auf die Straße bringen, das war das Ziel der Polizeireform gewesen.
Ziel erreicht, dachte Lauer. Die Kollegen verbringen mehr Zeit auf der Straße, wenn sie ständig zwischen Mannheim und Heidelberg pendeln müssen.
Mannheim blieb als Kriminalkommissariat erhalten, sodass sich für Lauer wenig geändert hatte. Außer der positiven Folge, dass er Roman Clement, seinem direkten Vorgesetzten, nicht mehr tagtäglich über den Weg lief. Negativ schlug zu Buche, dass manche Sitzungen in Heidelberg oder in Weinheim stattfanden.
»Danke, Frau Werner«, sagte Lauer, »in fünf Minuten bin ich da.«
Susanne Gernhardt, geborene Dobler, die junge Kommissarin. Während der Ermittlungen zum Dreifachmord im Rheinauer Wald im Frühling 2013 hatte sie sich in den Kollegen Gernhardt verliebt, nach einem Vierteljahr waren sie zusammengezogen. Im Dezember letzten Jahres die Hochzeit. Susanne Gernhardt war schwanger geworden, im August war ihr Kind, ein Junge, wie Lauer wusste, auf die Welt gekommen, der Name fiel ihm nicht ein. Jetzt war die junge Frau im Mutterschutz und wollte danach die Elternzeit in Anspruch nehmen. Ein knappes Jahr vorher war Lauer Großvater geworden. Sophia hieß die Tochter seines Sohnes Fabian. Kommenden Montag feierte sein Enkelkind seinen ersten Geburtstag und Lauer hatte seinem Sohn versprochen, zum Geburtstag zu erscheinen. Morgen Nachmittag wollte er in Richtung Basel aufbrechen, nicht ohne am Vormittag noch ein Geschenk für das Mädchen zu besorgen. Er hatte keinerlei Vorstellung, was man einem Mädchen zum ersten Geburtstag schenkte. Er würde sich im Laden beraten lassen.
Die Ampel sprang um, Lauer steckte sein Handy in die Jackentasche zurück und konnte endlich die Straße überqueren.
Hoch oben an dem Gebäude aus rotem Backstein auf der anderen Seite nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr. Er schaute nach oben. Und schaute wieder weg. Zu unwirklich erschien es ihm, was er da gesehen hatte. Ein Mann stand oben, ganz oben auf der Brüstung des Flachdachs, über ihm eine gelbe Markise. Der Mann ruderte mit den Armen, stand mit dem Rücken zum Gehweg. Gleich stürzt er, dachte Lauer. Aber der Mann fing sich, konnte den Oberkörper nach vorne bringen, weg von der Kante, weg vom Nichts.
Für einen Moment sah Lauer den Oberkörper nicht mehr, sah nur die Beine, die Füße, die scheinbar sicher auf der Kante standen. Und darüber spannte sich die Markise wie das Himmelszelt. Waren da nicht Stimmen?, fragte sich Lauer. Aber die konnten von sonst woher kommen.
Dann tauchten die Arme wieder auf, weit ausgebreitet, der Oberkörper neigte sich nach hinten.
»Lassen Sie das, um Himmels willen!«, wollte er rufen.
Er kam nicht dazu. Der Mann verlor das Gleichgewicht und stürzte in die Tiefe. Warum stürzt sich einer rückwärts vom Dach?, fragte sich Lauer, ohne den Gedanken weiter zu verfolgen. Fünf Meter unterhalb der Dachbrüstung war ein Balkon im Weg. Der Körper des Mannes schlug mit einem dumpfen Geräusch mit der Schulter auf und drehte sich halb um die eigene Achse. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Lauer das Gefühl, dem Mann in die Augen zu sehen. Dann schlug der Unglückliche keine zehn Meter von Lauer entfernt auf dem Gehweg auf. Neben sich hörte er eine Frau aufschreien.
Sofort bildete sich eine Blutlache um den Kopf. Blut auf dem Gehweg, von dem das Regenwasser in Bächen in den Rinnstein floss.
Lauer warf einen Blick auf den Mann. Der lag auf dem Bauch, das Gesicht war zur Seite gedreht. Das Auge, das Lauer sehen konnte, war aufgerissen, der Mund stand offen. Jung ist er, dachte Lauer. Nichts mehr zu machen.
Instinktiv warf Lauer einen Blick auf seine Uhr, zwei Minuten vor zehn, damit erübrigte sich die Frage nach dem Todeszeitpunkt. Er schaute nach oben, an der Brüstung war nichts zu sehen, schaute nach links und nach rechts, versuchte sich zu orientieren.
Das riesige, rote Backsteingebäude. Wo war der Eingang zum Hotel? In der Tiefgarage des Leonardo hatte er hin und wieder geparkt. Im Erdgeschoss zu den Kapuzinerplanken hin waren diverse Boutiquen untergebracht. Dann fiel es ihm ein. Der Eingang des Leonardo befand sich auf der gegenüberliegenden Seite. Also nach links. Lauer quetschte sich an der weiß-roten Schranke vorbei, rannte an der überdachten Zufahrt der Tiefgarage vorbei, direkt auf den Scipiogarten zu. Vorne am Gehweg konnte er gerade noch einer Frau mit Kinderwagen ausweichen.
»Basse Se doch uff«, rief die Frau ihm nach.
Lauer hob den Arm zur Entschuldigung und stand vor zwei langen Rolltreppen, die ihn an die Rolltreppen der U-Bahn in Rom erinnerten. An einem Pfeiler war eine Hinweistafel mit der Aufschrift »Leonardo Hotel – Reception«, darunter eine kleine Zeichnung. Links neben den Rolltreppen, engelhorn sports gegenüber, entdeckte Lauer eine Glastür, auf der auch der Name des Hotels stand. Dorthin wollte er sich in Bewegung setzen, als sich ihm die Zeichnung auf der Hinweistafel erschloss. Ein weißer Pfeil auf blauem Hintergrund vor einem eckigen Gebilde, das eine Rolltreppe darstellen sollte. Ohne die Rolltreppe in Natur vor sich zu sehen, wäre Lauer nie auf diese Interpretation gekommen. Er stürmte die Rolltreppe hoch, die kein Ende zu nehmen schien. Oben angekommen entdeckte er die Rezeption, an der eine junge Frau in grauen Hosen, weißer Bluse und grauem Schal über einen Laptop gebeugt war.
»Rufen Sie einen Notarzt. Und die Polizei!«
Die Frau schaute ihn verwundert an, sodass er hinzufügte: »Von Ihrem Hotel ist ein Mann gestürzt.« Lauer blickte sich um. »Wo geht’s zur Dachterrasse?«
Die Empfangsdame griff nach dem Telefonhörer und deutete mit dem Kopf in Richtung Fahrstuhl. Sie schien unbeteiligt.
Lauer ging zum Fahrstuhl, drückte auf alle Knöpfe, nichts tat sich. Er schaute sich um, entdeckte eine Treppe und rannte los. Als er im zweiten Stock war, kamen ihm Zweifel, ob er sich richtig verhalten hatte. Was, wenn der Täter sich mit dem Fahrstuhl aus dem Staub machte? Wieso Täter? Vielleicht war es ja ein Selbstmord. Oder ein Unfall.
Lauer rannte weiter, erreichte im fünften Stock die Dachterrasse, war außer Atem, riss die Glastür auf. Die Terrasse war leer. Kein Wunder, das Wetter war ungemütlich. Kein goldener September. Da hielt sich niemand nach dem Frühstück auf der Dachterrasse auf. Ein Stuhl in der Nähe der Brüstung war umgefallen.
Ein junger Mann in grauen Hosen, grauer, ärmelloser Weste, grauer Krawatte stand an der Eingangstür der Terrasse. Gab es das noch, Pagen?, fragte sich Lauer. Er ging dem Mann entgegen. Der hatte einen Dreitagebart, trug die Haare zu einem Zopf zusammengebunden und war Anfang zwanzig.
»Haben Sie jemanden gesehen?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Was machen Sie hier?«
Der junge Mann zuckte mit den Schultern.
»Wie heißen Sie?«
»Onur Göyünc.«
Der kann reden, dachte Lauer.
»Türke?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Mannemer, in de Neggastadt gebore.«
Lauer war irritiert. »Sie arbeiten hier?« Dämliche Frage. Was sonst, dachte Lauer.
Der junge Mann nickte. »Azubi zum Hotelfachmann.«
»Haben Sie in den letzten Minuten jemanden bemerkt, der die Dachterrasse verlassen hat?«
Onur Göyünc schüttelte den Kopf. »Da ist heute Morgen niemand gewesen. Bei dem Regen.«
Logisch, dachte Lauer und war ein zweites Mal irritiert, dieses Mal über den Wechsel vom Mannheimer Dialekt ins Hochdeutsche. Trotzdem hatte sich mindestens eine Person auf der Dachterrasse aufgehalten: der Mann, der von der Brüstung aus in die Tiefe gestürzt war.
»Gut. Sie bleiben hier. Sie lassen niemanden durch diese Tür auf die Dachterrasse. Niemanden. Bis die Kriminaltechnik kommt. Haben Sie verstanden?«
Der junge Mann nickte.
»Ist es der Soner?«
»Wer? Was?«
»Der da unten liegt.«
»Wieso Soner?«
»Mit dem hab ich gestern Abend hier oben eine Zigarette geraucht. Awwer net verroote, des middem Raache.«
»Denken Sie dran, Sie sind verantwortlich, dass niemand die Terrasse betritt!«, rief Lauer dem Auszubildenden zu und rannte die Treppe wieder hinunter.
»Wenn ich es Ihnen sage! In den letzten zehn Minuten ist kein Mensch mit dem Aufzug hier unten angekommen.« Der Mann, der sich anstelle der Empfangsdame hinter der Rezeption aufgebaut hatte, machte einen genervten Eindruck.
»Müller – Geschäftsführer« las Lauer auf dem Schild an der Anzugjacke, grau, versteht sich. Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Empfangstresen.
»Und über die Treppe?«
»Fehlanzeige.«
Draußen waren Sirenen zu hören.
»Sie verlassen den Raum nicht!«, rief Lauer Herrn Müller zu und machte sich auf den Weg nach draußen.
»Das habe ich nicht vor«, antwortete der Geschäftsführer am Empfangstresen. »Hören Sie, alle Sicherheitsmaßnahmen wurden befolgt. Der Mann kann unmöglich aufgrund mangelnder Sicherheit gestürzt sein!«, rief er hinter Lauer her.
Aber das hörte der nicht mehr.
Schon von der Absperrschranke aus sah Lauer, dass sich eine Menschentraube um den auf dem Pflaster liegenden Körper gebildet hatte.
»Vom Himmel hoch.«
Nur Meißner lachte.
»Du hast Glück gehabt, Leo. Wärst du ein wenig schneller unterwegs gewesen …«
Lauer saß mit unbewegter Miene im Sessel in der Eingangshalle des Hotels Leonardo im ersten Stock.
»Gut, Leo, ich habe verstanden. Keine flapsigen Sprüche mehr. Im Moment bist du unser wichtigster Zeuge. Ein Augenzeuge.«
Lauer nippte am Milchkaffee, der ihm bitter schmeckte.
»Ich fasse zusammen.« Meißner blätterte in seinem Notizbuch. »Soner Kurtbek. So lautet der Name des Toten. Zumindest steht das im Anmeldeformular, das die Frau am Empfang uns gezeigt hat. Den Pass hat sie sich vorlegen lassen. In seinem Koffer im Zimmer haben wir besagten Pass gefunden. Danach ist Kurtbek Türke. Er hat gestern kurz nach 18 Uhr eingecheckt. Reserviert hat er das Zimmer zwei Tage vorher telefonisch. Die Dame an der Rezeption war so freundlich, mir die Nummer, von der Kurtbek angerufen hat, herauszusuchen. Ich habe die Nummer Onur durchgegeben. Beim Einchecken hat Kurtbek gleich bezahlt. Bis Sonntag einschließlich. Und in bar. Er soll gestern Abend im Restaurant zu Abend gegessen und dann das Hotel verlassen haben. Kurz vor Mitternacht soll er eine Cola in der Hotelbar getrunken haben und auf sein Zimmer verschwunden sein. Heute Morgen ist er um halb neun zum Frühstück erschienen und danach auf sein Zimmer gegangen. Angeblich soll er keinen Besuch und keine Telefongespräche empfangen haben. Zumindest über den Festnetzanschluss des Hotels nicht.«
Lauer nippte ein weiteres Mal am Kaffee, verzog den Mund und schob die Tasse zur Mitte des Tisches.
»Ein Handy haben wir nicht gefunden. Weder bei dem Toten noch auf der Terrasse, auch nicht in seinem Zimmer. Dort haben wir einen Laptop entdeckt, auf dem Bett. Ein Fall für Onur Tanaoğlu. So, Leo, jetzt bist du dran. Was hast du gesehen?«
Lauer schaute in die Luft. Meißner war sich nicht sicher, ob seine Aufforderung bei seinem Kollegen angekommen war.
»War Susanne da?«, fragte Lauer.
»Ja, sie war da und sie hat nach dir gefragt.«
»Und ihr Sohn?«
»Der hat die ganze Zeit geschlafen. Frau Werner war verrückt nach dem Baby. Ich soll dich von Susanne grüßen.«
»Ich würde mich nicht so in die Tiefe fallen lassen, wenn ich Selbstmord begehen würde«, sagte Lauer nach einer weiteren Pause.
»Wie meinst du das?«
»Wenn du vom Dach springen würdest, wie würdest du das anstellen, Julian?«
»Du weißt, dass das bei mir unvorstellbar ist.«
»Rein hypothetisch.«
»Gut, Leo. Ich würde mich auf die Brüstung stellen, nach unten schauen, die Augen schließen und springen.«
»Du würdest vorwärts springen?«
»Was sonst?«
»Siehst du, das ist es, was ich nicht verstehe. Der Türke ist rückwärts gefallen.«
»Bist du dir da sicher, Leo? Schließlich haben wir den Mann auf dem Bauch liegend gefunden.«
»Es sah aus, als ob er das Gleichgewicht verloren hat. Er ruderte mit den Armen. Dann verlor er das Gleichgewicht. Er kam mit der Schulter auf dem Rand des Balkons auf, dabei drehte sich der Körper. Du wirst es nicht glauben, ich konnte ihm kurz in die Augen blicken. Ich sah Angst, Entsetzen.«
»Wundert mich nicht«, sagte Meißner. »Wenn die Entscheidung gefallen ist, wenn es nicht mehr rückgängig zu machen ist, wenn du weißt, dass gleich … Aber ich verstehe, was dir durch den Kopf geht. Rückwärts springt man nicht in den Tod.« Er schrieb in sein Notizbuch. »Hast du jemanden gesehen, der Kurtbek gestoßen hat?«
Lauer schüttelte den Kopf.
»Einen Schatten, einen Arm oder eine Hand?«
»Da war nichts. Also, ich konnte nichts ausmachen.«
Meißners Handy klingelte, kein normaler Klingelton, der Anfang eines Songs. Lauer hatte ihn beim allerersten Hören gleich erkannt. Bob Dylan. Duquesne Whistle. Das Eingangslied von Dylans Platte »Tempest«. Lauer hatte sich die Langspielplatte gleich nach Erscheinen gekauft.
»Und du bist absolut sicher, Onur?«, hörte Lauer Meißner fragen. »Das ist wirklich … Du meldest dich sofort, wenn du was über die Identität erfährst. Und die Nummer?«
Meißner steckte sein Handy in die Jackentasche zurück. »Der Pass ist eindeutig gefälscht.«
»Und jetzt?«, fragte Lauer.
»Jetzt heißt es abwarten. Wir haben seine Fingerabdrücke, die DNA. Vielleicht ist er in der Kartei. Und die Nummer, unter der sich Kurtbek, oder wie er hieß, im Hotel angemeldet hat, gehört zu einem Prepaidhandy, nicht registriert. Onur versucht, einen richterlichen Beschluss zur Ortung zu erwirken.«
»Wir sollten uns mit dem Pagen unterhalten«, sagte Lauer, »der mir auf der Dachterrasse über den Weg gelaufen ist.«
»Du meinst Onur Göyünc, den Auszubildenden?«
»Genau den«, antwortete Lauer und schüttelte den Kopf über Meißners Korrektheit.
Und ihm ging durch den Kopf, dass dieser Fall verdammt türkenlastig war. Onur Tanaoğlu, ihr Kollege von der Kriminaltechnik, hatte türkische Wurzeln und den gleichen Vornamen wie der Hotelpage. Lauer beschloss für sich, bei der Berufsbezeichnung zu bleiben.
»Kenne mer nooch drauße gehe?«, fragte Onur Göyünc. »Ich muss dringend an die frisch Luft«, schob er nach, als er die Reaktion der beiden Kommissare sah.
Lauer hatte sich daran gewöhnt, dass der Azubi sprachlich hin- und hersprang.
»Von mir aus«, sagte Meißner.
»Aber der Regen«, warf Lauer ein.
»Kää Problem.« Der Azubi strahlte. »Am Hinnerausgang vum Engelhorn sinn große Sunnescherm.«
So standen sie jetzt vom Regen geschützt, blickten auf den Scipiogarten und Lauer wunderte sich nicht zum ersten Mal, wie viele grüne Ecken es in Mannheims Innenstadt gab.
»Er hat sich als Soner vorgestellt«, sagte Onur Göyünc und zog an seiner Zigarette.
Von wegen frische Luft, dachte Lauer.
»Ich verdrück mich manchmal auf das Dach.« Göyünc deutete auf seine Zigarette. »Awwer net verroote.«
»Erzählen Sie weiter«, drängte Lauer. »Wie haben Sie«, er zögerte, »den Mann kennengelernt?«
»Auf dem Dach. Beim Beten.«
So erfuhren Julian Meißner und Leo Lauer, dass der Türke religiös gewesen sei, dass der Azubi ihn auf seinem Gebetsteppich auf der Dachterrasse zuerst gesehen habe, dass sie eine Zigarette zusammen geraucht hätten, dass Soner Kurtbek ihn mehrmals aufgefordert habe, den Koran zu lesen, Alkohol zu meiden, Allah zu lieben.
»Der ist krass gewesen. Aber in Ordnung.«
»Was wollte er in Mannheim?«
»Er hat gesagt, dass er lange im Ausland gewesen ist und dass er seine Mutter besuchen will.«
»Wissen Sie, wie seine Mutter heißt?«
»Was wääß ich.«
»Und weiter?«
»Nichts weiter. Wir haben eine zweite Zigarette geraucht, nebeneinandergestanden und nichts mehr gesagt. Dann ist er …«
»Göyünc«, rief es vom Eingang des Hotels.
Herr Müller, der Geschäftsführer.
»Alla donn. Ich muss«, sagte der Auszubildende und schnipste seine Zigarette in die Büsche.
»Was ist er dann …?«, rief ihm Meißner nach.
»Donn isser verschwunne.«
Onur Göyünc hatte die Straße überquert.
Die Stelle, an der der unglückliche Türke aufgekommen war, war noch nach allen Seiten abgesperrt, zu den Kapuzinerplanken, den Lauerschen Gärten und zu Galeria Kaufhof hin. Die Schaulustigen hatten sich verzogen, spätestens, als die Leiche abtransportiert worden war. Kriminaltechniker in ihren weißen Schutzanzügen waren noch bei der Arbeit. Und auch auf der Dachterrasse und im Zimmer des Opfers waren Kollegen zugange. Das Blut auf dem Pflaster hatte sich mit dem Regen vermischt und war in den Rinnstein geflossen. Nur ein dunklerer Fleck erinnerte noch daran, was hier passiert war.
Es war kurz nach 18 Uhr. Lauer und Meißner standen vor dem hellgrauen Wohnblock in der Torwiesenstraße auf dem Lindenhof und suchten den passenden Klingelknopf. Angehörigen die Todesbotschaft zu überbringen: ein schlimmer Job.
Auf dem Weg vom Leonardo zum Polizeipräsidium hatten sich Lauer und Meißner im Koeripike in den M-Quadraten eine Currywurst besorgt, Lauer wählte bei der Soße den Schärfegrad zwei. Er hatte seine Erfahrungen gemacht und war lernfähig. In ihrem Büro hatte sie Frau Werner empfangen mit einer Lobeshymne auf den kleinen Felix, Susannes Sohn.
»Susanne war enttäuscht, dass Sie nicht da waren«, schloss sie und verschwand an ihren Schreibtisch im Nebenzimmer. Keine fünf Sekunden später streckte sie den Kopf noch einmal zur Tür herein. »Bevor ich es vergesse, Herr Tanaoğlu hat angerufen. Sie sind beide nicht an Ihr Handy gegangen. Er bittet um Ihren Rückruf. Es sei dringend.«
Von ihrem Kollegen von der Kriminaltechnik erfuhren Lauer und Meißner die wahre Identität des Toten vom Leonardo.
»Oliver Mehmet Hayreddin«, sagte Tanaoğlu.
»Oliver Mehmet?«, fragte Meißner.
»Ja, Oliver Mehmet. Die Mutter ist Deutsche, der Vater Türke, ist vor einigen Jahren gestorben. Hayreddin hat die deutsche Staatsangehörigkeit, nur die deutsche. Und er war im Visier der Behörden. Im Oktober 2013 hat er Deutschland in Richtung Türkei verlassen. Nach einem Aufenthalt in Istanbul ist er nach Kayseri weitergereist. Von hier stammt sein Vater. Hier kam er bei seinem Onkel unter und hier verliert sich seine Spur. Hayreddin war radikaler Islamist und wollte weiter nach Syrien. Zum Islamischen Staat.«
»Dem sogenannten«, beeilte sich Meißner zu betonen.
Lauer notierte sich die Adresse der Mutter von Oliver Mehmet Hayreddin. Meißner steckte sich die letzten Pommes in den Mund, Lauer trank seinen Kaffee aus. Dann winkten sie Frau Werner zu, die vor ihrem Computer saß und nichts wahrzunehmen schien von dem, was um sie herum passierte. Sie trug dicke Kopfhörer.
»Sie hört wieder ihren Fritz Wunderlich«, sagte Lauer, als sie die Tür zuzogen. »Ich fass das nicht.«
Vor einigen Wochen hatte sich Lauer über das Gedudel, wie er sich ausdrückte, beschwert. Frau Werner hatte den Mund aufgerissen, aber keinen Ton gesagt. Am nächsten Tag war sie mit dem Kopfhörer zur Arbeit erschienen.
»Sie brauchen nicht zu glauben, dass ich es nicht höre, wenn Sie über mich lästern«, rief Frau Werner den Kommissaren nach.
»Hier: Hayreddin-Weber.« Lauer deutete auf den Klingelknopf.
Beide starrten auf das Namensschild.
»Und?«, fragte Meißner nach einer Weile.
Lauer drückte auf den Knopf. Nichts geschah. Er drückte ein zweites Mal. Nach zehn Sekunden, die Lauer viel länger vorkamen, knackte und knisterte es.
Dann sagte eine verzerrte Stimme: »Ja?«
»Lauer und Meißner, Frau Hayreddin-Weber, wir sind von der Kriminalpolizei.«
»Es geht um meinen Sohn.«
Lauer fiel auf, dass die Frau keine Frage gestellt hatte.
»Ja, es geht um Ihren Sohn.«
»Zweiter Stock, links.«
»Es musste so kommen.«
Frau Hayreddin-Weber saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und hatte ihre Hände auf dem Schoß gefaltet. Dafür, dass sie erfahren hatte, dass ihr Sohn Oliver Mehmet ums Leben gekommen war, wirkte sie ruhig und gefasst.
»Ich habe meinen Sohn nicht heute verloren.«
»Erklären Sie es uns«, bat Meißner.
»Ich habe Oliver verloren, als er sich radikal dem Islam zuwandte.«
Das Zimmer war einfach eingerichtet. Ein Sideboard mit einem Flachbildschirm. Eine Glasvitrine mit Geschirr und Gläsern. Ein helles Dreiersofa, mit Kunstleder bezogen, zwei passende Sessel dazu. Ein Wohnzimmertisch aus Rauchglas. In der Ecke ein Esszimmertisch mit vier Stühlen. An den Wänden Fotos, die einen kleinen Jungen zeigten, vier, fünf Jahre alt. Auf einem Foto waren Frau Hayreddin-Weber, der Junge und ein Mann mit Glatze zu sehen.
»Wussten Sie, dass Ihr Sohn in der Stadt war?«, fragte Meißner.
Frau Hayreddin-Weber nickte. »Er hat mir am Donnerstagabend eine SMS geschickt.«
»Die würden wir uns gerne anschauen.«
»Einen Moment.«
Die Frau stand auf und verließ das Wohnzimmer. Nach einer Minute kam sie zurück und reichte Meißner ein Smartphone.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten? Kaffee? Tee?«
Die Kommissare schüttelten den Kopf.
»Es macht keine Umstände.«
»Danke, Frau Hayreddin-Weber«, sagte Lauer.
»Mutti, komme Freitagmittag vorbei. Musst Wahrheit erfahren. Oliver«, las Meißner vor.
»Welche Wahrheit?«, fragte Lauer.
»Ich weiß es nicht. Ich brauche jetzt einen Kaffee.« Frau Hayreddin-Weber verschwand in der Küche.
Meißner notierte sich die Nummer, von der die SMS geschickt worden war. Er blätterte in seinem Notizbuch vor und zurück.
»Es ist die gleiche Nummer, unter der Hayreddin sich im Hotel angemeldet hat.«
Kurz darauf kam die Frau mit einer Tasse zurück und setzte sich auf ihren Platz auf dem Sofa.
»Sie haben keine Vermutung, was Ihr Sohn gemeint haben könnte?«, fragte Meißner nach.
»Ich kann es Ihnen beim besten Willen nicht sagen. Vielleicht ging es um den Islam.«
»Wie meinen Sie das?«
»Dass der Islam die einzig richtige Religion ist, die Wahrheit, was weiß ich.« Frau Hayreddin-Weber verzog das Gesicht und schüttelte sich, als wolle sie jeden Gedanken an dieses Thema verscheuchen. Dann griff sie nach ihrer Tasse, trank einen Schluck, stellte die Tasse zurück und starrte auf den ausgeschalteten Fernseher.
»Erzählen Sie uns von Ihrem Sohn«, forderte Lauer die Frau auf. »Von Ihrem Mann, von Ihrer Familie.«
»Ich lernte meinen Mann 1992 kennen. Ich war damals an der Kasse beim Edeka in der Seckenheimer Straße. Ismail war 40, fünfzehn Jahre älter als ich. Es war Liebe auf den ersten Blick. Ein Jahr später heirateten wir. Ihm zuliebe trat ich zum Islam über, das war eher formal. Ismail war kein strenggläubiger Muslim. Ab und zu ein Bier, das schlug er nicht aus. 1994 wurde Oliver Mehmet geboren. Wir waren eine glückliche Familie. Mein Mann liebte Oliver über alles. Und für Oliver war sein Vater der wichtigste Mensch. Aber diese glückliche Zeit ging bald zu Ende. 1999 wurde bei meinem Mann Krebs festgestellt. Lungenkrebs. Obwohl er in seinem ganzen Leben keine einzige Zigarette geraucht hatte. Mein Mann arbeitete bei Mercedes-Benz in der Gießerei. Feinstaub. Die Berufsgenossenschaft lehnte es ab, die Erkrankung als Berufskrankheit anzuerkennen. 2000 starb mein Mann, 48 Jahre alt. Oliver veränderte sich. Aus dem lebenslustigen Jungen wurde ein verschlossener Junge, der kaum noch mit mir redete und sich in seinem Zimmer verkroch.
2003 lernte ich meinen jetzigen Mann kennen. Oliver lehnte ihn ab, aber Martin hat sich um den Jungen bemüht, unternahm viel mit ihm. Fußball. Schwimmbad. Zoobesuche. Oliver taute auf, konnte sich freuen, lachte, tobte. Wir waren wieder eine glückliche Familie. Die Veränderungen kamen schleichend. Anfangs bemerkte ich es nicht. Oliver fing an, sich abzusondern. Das muss in der Zeit um seinen 13. oder 14. Geburtstag gewesen sein. Ich solle mir keine Gedanken machen, meinte mein Mann. Pubertät und so. Aber je älter Oliver wurde, desto schlimmer wurde es. Er sprach jeden Tag von seinem Vater, von Ismail. Er besuchte die Koranschule, fing an, Türkisch zu lernen, später Arabisch. Es wurde eine richtige Manie von ihm. Er wollte den ganzen Koran auswendig lernen. Er betete fünfmal am Tag. Er stritt sich mit mir, warf mir vor, keine richtige Muslimin zu sein. Und meinen Mann, seinen Stiefvater, nannte er nur den Ungläubigen.
An seinem 18. Geburtstag zog er bei uns aus. Der Kontakt riss ab. Von seinem besten Freund habe ich erfahren, dass er in die Türkei gegangen ist, dass er sich diesem Islamischen Staat anschließen wollte. Ismails Bruder, der in Kayseri wohnt, hat mich angerufen, im November 2013 muss das gewesen sein. Er hat mir erzählt, dass Oliver in Richtung Syrien aufgebrochen ist, dass er ihn nicht aufhalten konnte. All die Monate habe ich nichts von meinem Jungen gehört. Weder ich noch mein Mann. Die SMS vom Donnerstagabend war sein erstes Lebenszeichen nach langer Zeit. Und sein letztes.« Frau Hayreddin-Weber schlug die Hände vor das Gesicht.
Lauer wollte eine Frage stellen, Meißner hob den Arm und schüttelte den Kopf. Eine Minute saßen sie sich schweigend gegenüber.
»Es tut uns leid, was mit Ihrem Sohn passiert ist«, sagte Meißner schließlich.
»Was ist genau passiert?«
»Oliver Mehmet stürzte von der Dachterrasse des Leonardo Hotels in den Quadraten. Es ist im Moment noch offen, ob er freiwillig sprang oder in irgendeiner Form dazu gezwungen wurde.«
»Oliver? Selbstmord? Niemals.«
»Was macht Sie so sicher?«, fragte Lauer.
»Mein Gefühl. Und weil es seine Religion ihm verbietet.«
»Seine Religion?«
»Und all die Selbstmordattentäter?«, warf Lauer ein.
»Leo, es reicht. Frau Hayreddin-Weber, habe ich Sie richtig verstanden, Sie hatten keinerlei Kontakt zu Ihrem Sohn ab dem Zeitpunkt, als er nach Syrien reiste, bis zu dieser SMS?«
»Es war schrecklich. Diese Ungewissheit. Die Bilder ständig in den Nachrichten. Abgeschlagene Köpfe. Vermummte, fanatische Gestalten, die Fahnen schwenken und mit Gewehren herumfuchteln.«
»Mit wem hatte Oliver Kontakt? Mit wem war er befreundet, bevor er sich absetzte?«, fragte Lauer.
»Über das letzte Jahr, als er ausgezogen war, da kann ich Ihnen nichts sagen. Wir haben uns kaum gesehen. Und Oliver war verschlossen. Aber vorher, als er 16, 17 Jahre alt war, war er mit Emrah befreundet.«
»Emrah und weiter?«
»Den Nachnamen kenne ich nicht. Aber ich kann Ihnen seine Telefonnummer geben.« Sie griff nach dem Handy, das vor ihr auf dem Wohnzimmertisch lag, drückte einige Tasten und sagte: »Hier ist die Nummer, schreiben Sie mit.«
»Sie wirkt erstaunlich gefasst«, sagte Lauer, als sie das Haus verließen und zu ihrem Auto unterwegs waren.
»Ich glaube, es stimmt, was sie sagt. Sie hat ihren Sohn nicht erst heute verloren.«
Lauers Handy klingelte. Er schaute auf das Display. Kollege Tanaoğlu von der Kriminaltechnik.
»Onur, was gibt es?«
»Vier Nachrichten, Leo, zwei gute, zwei schlechte.«
»Wie immer die guten zuerst.«
»Erstens ist der Beschluss zur Ortung durch.«
»Wie hast du das angestellt?«
»Frau Brandes, deine Lieblingsstaatsanwältin, hat sich ins Zeug gelegt. Zweitens konnte das Handy geortet werden.«
»Und wo?«
»Kapuzinerplanken. Der Standort hat sich im Verlauf der Ortung nicht verändert.«
»In der Nähe des Tatortes. Und jetzt die schlechten Nachrichten, Onur.«
»Um 17.24 Uhr genau, also vor 15 Minuten, ist die Ortung abgerissen.«
»Verflixt.«
»In der Tat, Leo. Die zweite schlechte Nachricht betrifft Theresa Brandes. Du hast ihr so vorgeschwärmt von einem Rotwein aus … Moment, ich hab es mir aufgeschrieben. Der würde wie ein guter Bordeaux schmecken.«
Lauer hörte ein Rascheln in der Leitung.
»Hier, aus Dirmstein, den wünscht sich die Frau Staatsanwältin.«
»Soll sie bekommen«, sagte Lauer und dachte an den Preis. »Danke, Onur, gute Arbeit.«
»Es hätte einfach sein können«, sagte Meißner, als sie auf den Kapuzinerplanken standen. »Wir schlendern über den Platz, wählen die Nummer und warten auf das Klingeln.«
»Das wäre zu billig«, sagte Lauer.