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Wie tief sind die Abgründe der Vergangenheit? Sie waren die perfekte Clique, bis sich eine von ihnen in den falschen Mann verliebte. Die Beziehung der siebzehnjährigen Norah zu dem vier Jahre älteren David hielt nicht lange, und nach der Trennung wurde David zum Mörder. Er tötete ein Liebespaar auf einem abgelegenen Parkplatz und kam dann auf der Flucht ums Leben. Für die Bewohner des abgelegenen Ortes war Norah fortan nur »Die Freundin des Killers«. Knapp zwanzig Jahre später kehrt Goran, Norahs bester Freund aus Kindertagen, nach Waldesroda zurück, als er erfährt, dass Norah Drohbriefe erhält, die klingen, als würden sie vom verstorben geglaubten David stammen. Um herauszufinden, was dahintersteckt, muss Goran in die Vergangenheit abtauchen. In Norahs, aber auch in seine eigene.
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© Piper Verlag GmbH, München 2024
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Redaktion: Lars Zwickies
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Cover & Impressum
2020 gab es …
Goran
Norah
Goran
Waldesroda
Weltweit fallen jährlich …
Norah
Waldesroda
Goran
Er
Norah
Waldesroda
Goran
Eine Studie der …
Norah
Goran
Norah
Waldesroda
Goran
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2022 wurden in …
Norah
Goran
Norah
Goran
Waldesroda
Norah
Jede dritte Frau …
Goran
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Norah
Goran
Norah
Goran
Norah
Waldesroda
Goran
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Norah
Goran
Norah
Studien zufolge lügen …
Goran
Norah
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Goran
Waldesroda
Norah
Goran
Norah
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Goran
Norah
Sogenannte »Prostituiertenmorde« …
Goran
Norah
Waldesroda
Goran
Er
Norah
Goran
Norah
Waldesroda
Goran
Er
Rund die Hälfte …
Norah
Goran
Waldesroda
Norah
Goran
Norah
Goran
Norah
Vier Tage später
Waldesroda
Goran
Nachwort und Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
2020 gab es in Deutschland 245 vollendete Mordversuche. Das entspricht einer Quote von 0,25 Morden je 100 000 Einwohner, was Deutschland zu einem der sichersten Länder der Welt macht. Als gefährlichste deutsche Städte werden in der Statistik Frankfurt am Main und Berlin angegeben, als gefährlichstes Bundesland Bremen.
Weltweit betrachtet steht Jamaika mit 52 Morden je 100 000 Einwohnern an der Spitze, dicht gefolgt von Südafrika, St. Lucia und Honduras.
In Deutschland liegt die Aufklärungsquote dieser Verbrechen bei über 91 Prozent, während sie in Ländern wie Venezuela kaum die 5-Prozent-Marke überschreitet.
Quelle: Statista.com
Niemand musste Goran sagen, dass Waldesroda ein gebrochener Ort war. Er wusste es, seit er das von dunklen Wäldern umschlossene Dorf vor neunzehn Jahren verlassen hatte. Und er spürte es auch jetzt, als er zum ersten Mal seit damals wieder dorthin zurückkehrte.
Goran war jetzt siebenunddreißig Jahre alt. Von Waldesroda aus war er nach Berlin gezogen und hatte dort in den vergangenen Jahren mit seinem Partner Jozo sieben Wettbüros eröffnet, die über die ganze Stadt verteilt lagen. Er hatte geheiratet und sich wieder scheiden lassen. Und während all der Zeit hatte er geglaubt, seinen Heimatort weit hinter sich gelassen zu haben. Die Menschen dort. Die Dinge, die vor einer gefühlten Ewigkeit in den umliegenden Wäldern geschehen waren.
Aber das war ein Irrglaube gewesen, wie er sich jetzt eingestehen musste. Die Geister der Vergangenheit waren nicht verschwunden, sie hatten all die Jahre über nur geschwiegen. Als er gedankenverloren den Blinker setzte, um am Autobahnkreuz Erfurt von der A 4 auf die A 71 zu wechseln, glaubte er, sie leise lachen zu hören. Die eben noch weit entfernten Hügel kamen jetzt viel zu schnell näher. Sie kauerten unter einem wolkenverhangenen Himmel, aus dem bereits die ersten Regentropfen fielen. Er schaltete die Scheibenwischer seines SUVs an, die sich nun gleichmäßig hin- und herbewegten. Fast schon hypnotisierend, als wollten sie auch die trüben Gedanken vertreiben, die sich in seinem Kopf ausgebreitet hatten. Die Erinnerung an das, was dieser Ort einst für ihn gewesen war.
Waldesroda lag mitten im Thüringer Wald, irgendwo zwischen Ilmenau und Neustadt am Rennsteig. Ein Kaff mit kaum zweitausend Einwohnern, das im Wesentlichen aus einer lang gezogenen Hauptstraße und davon abgehenden Seitenstraßen bestand. Als Goran noch dort gelebt hatte, gab es im trostlosen Ortskern nur einen kleinen Supermarkt, eine evangelische Kirche und mehrere Restaurants, die in erster Linie von Touristen aufgesucht wurden. Mehr nicht. Mehr hatten die Einheimischen, ein eher verschlossener Menschenschlag, auch gar nicht gewollt.
Dennoch war dieses Dorf damals seine ganze Welt gewesen. Als seine Eltern nach der deutschen Wiedervereinigung aus dem ehemaligen Jugoslawien mit ihm nach Waldesroda zogen, war er gerade mal vier Jahre alt. Inmitten der schmalen Straßen und Gassen lernte er zu lieben und zu hassen, sich zu streiten und wieder zu versöhnen. Er fand Freunde – die besten, die man sich vorstellen konnte – und verbrachte mit ihnen Tage, die ihm trotz ihrer Eintönigkeit nie langweilig erschienen waren. Gemeinsam erlebten sie Dinge, die ihn für den Rest seines Lebens prägen sollten. Rolaf und Peggy, Marcel und Lisa, Daniel und Norah.
Norah war für ihn besonders wichtig gewesen. Sie war die erste Liebe seines Lebens, so etwas vergaß man nicht. Genauso wenig wie er ihr Lachen vergessen konnte, ihre Stimme oder den Duft des blumigen Mädchenparfüms, das sie damals immer benutzt hatte. Mit Norah verband er die besten Erlebnisse seiner Jugend. Aber auch das schlimmste, doch daran wollte er jetzt nicht denken.
Bis zu jener verhängnisvollen Nacht war in Waldesroda nie etwas Außergewöhnliches passiert. Abwechslung gab es immer nur in den Ferienmonaten, wenn Hunderte Besucher wie Heuschrecken in den Ort einfielen, um dort ihren Urlaub zu verbringen. Meist waren es Wanderer, Skilangläufer oder Naturfreunde, einfach Menschen, die Entspannung von ihrem hektischen Großstadtleben suchten. Die meisten von ihnen blieben nur ein paar Tage lang, und wenn sie abends in dem Restaurant seines Vaters saßen und über die Gegend sprachen, bezeichneten sie sie häufig verträumt als »ein Idyll«.
Aber das waren Touristen, sie wussten es nicht besser. Wenn man das ganze Jahr über in Waldesroda lebte, sah die Sache schon anders aus. Dann konnte man spüren, dass der Ort auch etwas Böses ausstrahlte. Nicht auf eine metaphorische Art, sondern ganz real, als sei das Böse im Lauf der Jahrzehnte ein fester Bestandteil der Landschaft geworden.
Goran zumindest hatte es gespürt. Damals, als Waldesroda noch seine Heimat gewesen war.
In siebenhundert Metern die Autobahn an der Abfahrt Ilmenau-West verlassen.
Er zog den SUV in eine lang gezogene Linkskurve und folgte anschließend einer Bundesstraße, die ihn ins Zentrum der alten Universitätsstadt Ilmenau führte. Nachdem er den Ortskern passiert hatte, bog er auf die Schleusinger Allee ab und erreichte anschließend eine verwinkelte Landstraße, die sich wie ein Gedärm den Rennsteig hinaufschlängelte. Die letzten Häuser verschwanden allmählich aus seinem Sichtfeld, und bald schon säumten bis zu fünfzig Meter hohe Fichten den Weg, die ihre Kronen wie Lanzen Richtung Himmel streckten.
Immer weiter ging es jetzt bergauf, an Orten wie Stützerbach und Schmiedefeld vorbei, durch dunkle Waldgebiete, während die Temperatur alle hundert Höhenmeter um ein halbes Grad sank. Obwohl es bereits Mitte Mai war, begann Goran zu frieren, und daran konnte auch die Fahrzeugheizung nichts ändern. Die Kälte kam aus seinem Inneren. Hervorgerufen durch die Erinnerung an das, was in diesen Wäldern geschehen war.
Je höher er kam, desto dichter schoben sich die Bäume an die Straße heran. Und dann, hinter einer Biegung, tauchte plötzlich das Ortseingangsschild auf. Waldesroda. Darunter war noch ein weiteres Schild angebracht, weiße Schrift auf braunem Grund. UNESCO-Biosphärenreservat Thüringer Wald.
Goran ging vom Gas und ließ den SUV in den Ort rollen. Er empfand die unterschiedlichsten Gefühle, von denen er jedoch kein einziges benennen konnte. Wohin er auch sah, alles wirkte fremd und dennoch vertraut. Die Straßen, die Häuser, die Gassen.
Durch die Windschutzscheibe betrachtet ähnelte der gesamte Ort einer Zeitkapsel, die zwischen Gestern und Heute gefangen war. Grobes Kopfsteinpflaster bedeckte die Straßen, die von zweistöckigen Häusern gesäumt waren. Keins davon fiel durch irgendwelche Extravaganzen auf. In Waldesroda gab es keine Villen mit riesigen Panoramafenstern, keine Luxusfahrzeuge in den Auffahrten und auch sonst nichts, was auf eine Welt des großen Geldes oder der hohen Schulden hindeutete. Nur den Anstrich von Bürgerlichkeit. Aus Erfahrung wusste Goran, wie brüchig dieser war.
Obwohl die Gebäude alt waren, wirkte der Ort sauber und gepflegt. Gorans Blick fiel auf akkurat geschnittene Hecken, bunt bepflanzte Blumenkästen vor den Fenstern und glänzende Mittelklassewagen, die an den Bordsteinen parkten. Zwischen den Gehwegen und den Häusern erstreckten sich meist noch schmale Vorgärten, von hüfthohen Zäunen umgeben, an denen auffällig viele E-Bikes standen.
Als vor ihm ein älteres Paar in dunkelgrauen Blousons die Straße überqueren wollte, stieg Goran auf die Bremse und ließ die beiden passieren. Ein Stück weiter sah er eine Frau um die vierzig, die einen Regenschirm hielt und aufgeregt in ihr Mobiltelefon sprach. Ansonsten waren die Bürgersteige leer. Weder die Frau noch das Paar beachteten ihn. Im Ort war man Fremde gewohnt, und genau das war er mittlerweile auch. Ein Fremder.
Ursprünglich hatte Goran geplant, Norahs Mutter Elisabeth sofort nach seiner Ankunft aufzusuchen. Doch nun verschob er dieses Vorhaben auf später. Er würde bei der Frau, die für ihn wie eine eigene Mutter gewesen war, keine Ruhe finden, wenn er vorher nicht jenen Ort noch einmal mit eigenen Augen sah, an dem das Grauen Einzug in sein Leben gehalten hatte. Jene Stelle im Wald, die für Goran die Keimzelle alles Bösen darstellte.
Nachdem er den Ortsausgang hinter sich gelassen hatte, bog Goran auf eine namenlose Kreisstraße ab, die ihn noch tiefer in die Wälder führte. Hinter den dichten Baumreihen ging die Sonne bereits unter. Es wurde allmählich dunkel, und als Goran das Seitenfenster seines SUVs einen Spaltbreit öffnete, hatte sich auch der Geruch verändert. Die hereinströmende Luft roch nach feuchter Erde, ein wenig modrig vielleicht, aber keinesfalls unangenehm. Er atmete sie tief ein und stellte verwundert fest, wie sehr er diesen Geruch vermisst hatte.
Die Straße war von unzähligen Schlaglöchern übersät, die der Winter gerissen hatte, und wand sind in engen Kurven durch ein endloses Dickicht aus Bäumen und dornigen Büschen. Als er bereits dachte, sein Ziel verpasst zu haben, erschien links von der Straße plötzlich ein Schild, das auf einen hinter den Bäumen liegenden Parkplatz für Wanderer hinwies. Goran stieg auf die Bremse, und während er abbog, hörte er kleine Steinchen leise unter seinen Reifen knirschen.
Als er den Motor ausschaltete, wurde es still. Totenstill. Außer ihm war kein Mensch auf dem Parkplatz zu sehen. Kein anderes Auto. Die Wanderer, die den Parkplatz tagsüber angesteuert haben mussten, waren schon lange wieder in ihre Unterkünfte gefahren, und nur die Geister waren geblieben. Endlich, riefen sie. Endlich bist du zu uns zurückgekehrt.
Goran atmete ein letztes Mal durch, dann stieg er aus. Er hätte nicht sagen können, was er nach so vielen Jahren noch erwartet hatte. Natürlich gab es keine Polizeiabsperrungen aus rot-weißem Flatterband mehr, keine Umrisse aus Kreide auf dem Boden. Und selbstverständlich hatte die Gemeinde keine Gedenktafel aufgestellt, die an die Toten erinnern sollte. Ihn wunderte das nicht. In dieser Region glaubten die Menschen sowieso, dass Dinge, über die man nicht sprach, auch niemals geschehen waren.
Wenn man dieser Logik folgte, hatte es auf dem Parkplatz auch keine Schüsse um Mitternacht gegeben, kein totes Liebespaar und keinen Täter, den man nie zur Rechenschaft gezogen hatte. Wenn es nach dem Willen der Einheimischen ging, sollte nichts den Ruf des Ortes als »ein Idyll« gefährden.
Goran ging auf die Stelle zu, an der damals der Wagen gestanden hatte. Es war ein alter Opel Corsa gewesen, magmarot und mit getönter Heckscheibe, auf der ein unansehnlicher Aufkleber prangte. Die Polizei vermutete später, dass der tödliche Angriff das junge Pärchen völlig unvorbereitet getroffen hatte, während die beiden gerade damit beschäftigt waren, einander auf den Sitzen zu erkunden.
Goran hatte der Presse entnommen, dass der erste Schuss des Täters in einen der Hinterradreifen gegangen war, der zweite durch die Seitenscheibe in die Schulter des Jungen. Dieser hatte anschließend noch versucht, aus dem Fahrzeug zu fliehen, bevor ihn der nächste Schuss in den Hals traf. Als die Polizei den Jungen fand, hingen der Kopf und der Oberkörper aus der geöffneten Fahrertür heraus, während sich die Beine noch im Inneren des Fahrzeugs befanden.
Auch das Mädchen musste versucht haben, seinem Schicksal irgendwie zu entkommen. Wenige Meter vom Fahrzeug entfernt traf sie eine Kugel in den Rücken, und sie stürzte. Anhand der Blutspuren ließ sich später feststellen, dass sie trotz der schweren Verletzung noch versucht hatte, sich kriechend ins schützende Dickicht zu retten. Vergeblich.
Der Schütze drückte erneut ab, vier weitere Male. Das Mädchen war sofort tot, während der Junge noch ein paar Minuten lang gelebt hatte. Zumindest deuteten die rechtsmedizinischen Untersuchungen darauf hin. Goran konnte nur hoffen, dass er zu dem Zeitpunkt schon bewusstlos war und nicht mehr mitbekam, was mit seiner Freundin geschah.
Goran hatte die Opfer Anna und Sebastian flüchtig gekannt. Die beiden waren ein Jahr älter als er und wohnten in einem acht Kilometer entfernten Nachbarort. Außerdem war Anna die Cousine von Gorans Freundin Peggy, zu der sie allerdings nur sporadisch Kontakt hatte.
Als Goran damals von Annas und Sebastians Tod erfahren hatte, verlor er auch seine Seele. Es sollte noch Jahre dauern, bis sie zu ihm zurückkehrte, und noch länger, bis sie aufhörte, wieder und wieder zu bluten.
*
Als Goran den Klingelknopf drückte, pochte sein Herz vor Aufregung. Kurz darauf öffnete sich die Tür, und Elisabeth stand vor ihm.
Elisabeth war nicht nur die Mutter seiner Jugendliebe Norah. Auch für ihn war sie wie eine Mutter gewesen, nachdem er seine eigene viel zu früh verloren hatte. Damals war er erst acht Jahre alt gewesen. Ein Kind noch, das von den anderen Kindern meist nur Der Jugo genannt wurde. Zu dieser Zeit hatte er sich einsam und verlassen gefühlt. Auch weil sein Vater immer öfter versuchte, die Trauer über den Verlust seiner Frau in Alkohol zu ertränken.
Als Goran an einem grauen Herbsttag heulend auf dem Heimweg von der Schule war, hatte Elisabeth ihn einfach auf der Straße angesprochen. Sie war der erste Mensch, der ihm wirklich zuhörte. Und durch sie hatte er auch Norah kennengelernt, die zwar auf dieselbe Schule ging, aber in der Parallelklasse war.
Vor einigen Tagen hatte Elisabeth ihn angerufen und gebeten, zurück nach Waldesroda zu kommen. Anfangs hatte er abgelehnt, aber dann waren ihre Bitten immer flehender geworden, bis er ihnen schließlich nachgab. Er konnte dieser Frau einfach nichts abschlagen. Nicht nach dem, was sie für ihn getan hatte, als er noch ein Kind gewesen war.
Als sie jetzt vor ihm stand, fiel Goran auf, dass sie älter geworden war, aber immer noch eine beeindruckende Frau von stiller Eleganz darstellte, die eine natürliche Autorität ausstrahlte. Ihre Haare waren jetzt vollständig ergraut und zu einem Dutt gebunden, doch die Augen darunter glänzten weiterhin wie die eines jungen Mädchens.
Bevor Goran auch nur einen Ton sagen konnte, hatte sie ihn schon in die Arme geschlossen und an sich gedrückt. Er erwiderte die Geste. Verblüfft stellte er fest, wie schmal sie geworden war. Ihr Körper fühlte sich in seinen Armen zerbrechlich an, die Knochen mussten so fragil wie die eines Vogels sein.
»Wie schön, dass du endlich da bist«, sagte sie, nachdem sie sich wieder voneinander gelöst hatten, und strahlte. »Jetzt komm aber erst mal rein, du wirst doch sicherlich Hunger und Durst haben.«
»Weder noch«, wiegelte er ab. »Ich habe unterwegs an einer Autobahnraststätte haltgemacht und eine Kleinigkeit gegessen.«
»Aber einen Kaffee trinkst du doch, oder? Ich hab ihn gerade frisch aufgebrüht.«
»Natürlich.«
Er folgte ihr ins Wohnzimmer und machte es sich auf dem mit Cord bezogenen Sofa bequem.
Elisabeth schenkte ihnen Kaffee ein und legte ein paar Plätzchen auf einen Porzellanteller mit Goldrand. Vanilleplätzchen natürlich, dachte er. Die hatte sie schon früher gerne gebacken, und Goran konnte nie an Elisabeth denken, ohne gleichzeitig auch den Geruch von Vanille in der Nase zu haben.
»Ich muss schon sagen, du siehst mittlerweile ja richtig wild aus«, meinte sie mit tadelndem Unterton, während sie mit den Tassen hantierte. »Der Bart steht dir ja, aber diese ganzen Tätowierungen auf den Armen … Na ja, für mich ist das nichts, aber ihr jungen Leute habt natürlich euren eigenen Geschmack.«
Junge Leute, dachte er und musste grinsen. Mit siebenunddreißig.
Während Elisabeth in die Küche ging, um Milch und Zucker zu holen, sah er sich in dem Wohnzimmer um. Bis auf die neue Couch war an der Einrichtung alles beim Alten geblieben. Der Schrank aus Nussbaumholz war immer noch derselbe, ebenso die Porzellanfiguren, die ordentlich aufgereiht in der Vitrine standen. Links von ihm befand sich eine Leselampe aus Messing, und als er sich umdrehte, sah er hinter sich die alten Familienfotos an der Wand hängen. Die meisten davon zeigten Norah. Mal war sie allein zu sehen, mal mit Elisabeth, mal mit ihm. So, als seien sie damals wirklich eine Familie gewesen und Norah nicht das Mädchen, nach dem er sich fast jede Nacht so sehr sehnte, dass es ihm den Schlaf raubte.
Nachdem er die Fotos ausgiebig betrachtet hatte, schaute er durch das Fenster auf den Waldrand hinter dem Haus. Er spürte, wie sehr er all das vermisst hatte. Elisabeth und dieses Haus, wo immer viel gelacht und nur selten gestritten wurde.
»Ich hatte fast schon vergessen, wie schön es hier ist«, sagte er leise, als sie wiederkam.
»Du hättest schon früher kommen sollen«, erwiderte sie. »Du weißt doch, dass du hier jederzeit willkommen bist. Das ist auch dein Zuhause, Goran.«
Ja, dachte er.
Das war es.
Damals zumindest. Bevor ich tat, was ich tat, und wir anschließend alle wie Blätter auseinandergeweht wurden.
Er trank einen Schluck Kaffee, dann sah er sie an. Es war an der Zeit, zum Thema zu kommen.
»Warum bin ich hier, Elisabeth?«
»Das habe ich dir doch gesagt.«
»Nicht wirklich«, entgegnete er. »Du hast nur gesagt, dass Norah Drohbriefe bekommt. Aber du hast mir nicht verraten, von wem oder was in ihnen steht. Genau genommen weiß ich gar nichts.«
»Das kann ich dir leider auch nicht sagen«, gab sie zu. »Norah … Sie redet nicht darüber. Ich weiß nur, dass die Briefe ihr Angst machen.«
Na prima, dachte er. Genau wie er war auch Norah schon immer gut darin gewesen, über die wirklich wichtigen Dinge nicht reden zu wollen. Sie gehörten beide zu jener Sorte Mensch, die gewisse Sachen lieber mit sich selbst ausmachten, als sich anderen anzuvertrauen. Vermutlich war das auch der Grund dafür, warum ihre Freundschaft in die Brüche gegangen war.
Seit Goran nach Berlin gezogen war, hatte er Norah nicht mehr gesehen. Er hatte Waldesroda quasi über Nacht verlassen und sie im Stich gelassen, sie alle. Nicht nur Norah, auch die anderen. Rolaf und Peggy, Lisa, Daniel und Marcel. In gewisser Weise auch Elisabeth, obwohl sie ihm das nie übel genommen hatte und als Einzige weiterhin Kontakt zu ihm hielt.
»Weiß Norah überhaupt, dass du mich angerufen hast und dass ich heute kommen wollte?«
Sie senkte den Kopf und schüttelte ihn, sah richtiggehend verlegen aus.
»Elisabeth …«, begann er, wurde aber sofort unterbrochen.
»Ich weiß«, fiel sie ihm ins Wort. »Ihr habt seit Ewigkeiten keinen Kontakt mehr gehabt. Aber du bist früher mal ihr bester Freund gewesen. Sie hat dir immer schon bedingungslos vertraut, und jetzt braucht sie deine Hilfe. Die darfst du ihr nicht verwehren, auch wenn sie selbst nie danach fragen würde.«
»Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie meine Hilfe überhaupt annehmen würde«, meinte er. »Mittlerweile dürfte ich ein Fremder für sie sein.«
»Ach, so ein Blödsinn.« Sie wischte seinen Einwand mit einer Handbewegung vom Tisch. »Zwischen euch hat es schon immer ein Band gegeben, das auch die Zeit nicht zerschneiden kann. Vertrau einer alten Frau. Ich weiß, wovon ich spreche.«
Er war nicht so überzeugt, was das anging. Dennoch gab er ihrem Drängen widerwillig nach.
»Okay, ich kann es ja zumindest versuchen«, sagte er seufzend. »Vielleicht erzählst du mir erst mal, warum du dir solche Sorgen machst. Wenn du noch nicht einmal weißt, was in den Briefen steht.«
»Wie gesagt, Norah wollte nicht über den Inhalt sprechen. Wir haben nur einmal darüber geredet, und da meinte sie, dass die Briefe … Nun ja … Sie würden klingen, als ob sie von ihm stammen.«
Goran erstarrte. Er musste nicht fragen, wen Elisabeth gemeint hatte.
David.
Jener David, der Norahs Freund gewesen war, bevor er das Pärchen auf dem Parkplatz erschoss.
»Das kann nicht sein«, sagte Goran entschieden, nachdem er die Fassung wiedergefunden hatte. »Die Polizei ist doch sicher, dass der Mistkerl damals in der Ostsee ertrunken ist. Er ist tot, und Tote können keine Briefe schreiben.«
»Das hat Norah auch gesagt, aber …«
»Warum ist sie mit den Briefen nicht einfach zur Polizei gegangen?«
»Da war sie doch«, sagte Elisabeth verzweifelt. »Aber die auf der Dienststelle haben nur gesagt, dass sie nichts machen können. Nicht, bevor nicht wirklich etwas passiert ist. Kannst du dir das vorstellen?«
O ja, das konnte er.
Goran kannte sich mit Drohungen bestens aus. Auch wenn er und Jozo meistens diejenigen waren, die sie anderen gegenüber aussprachen.
So langsam verstand er auch, warum Elisabeth glaubte, dass er Norah helfen konnte. Sie wusste aus seinen Erzählungen, was er in Berlin tat und was damit verbunden war. Vielleicht nur in deutlich abgemilderter Form, aber immerhin.
»Schau …«, fuhr Elisabeth fort und legte ihre schmale Hand auf seine. »Kannst du nicht einfach ein paar Tage hierbleiben und versuchen, mit ihr zu reden? Es würde mir einfach besser gehen, wenn du …«
Weiter kam sie nicht.
Goran hörte, wie die Haustür aufging, und kurz darauf schallte auch schon ein »Mama?« durchs Haus, gefolgt von: »Ich habe uns ein paar Brötchen mitgebracht.«
Bevor er sich darauf vorbereiten konnte, stand Norah schon im Wohnzimmer. Sie sah ihn an, und er sah sie an. Die Zeit stand still. Alles stand still, und dann brach alles zusammen, überrollte ihn. Das Gestern und das Heute. Die Erinnerungen, all das Gewesene, die Sehnsucht und das Misstrauen.
Er hätte Norah sofort wiedererkannt, wenn er ihr zufällig auf der Straße begegnet wäre. Das ebenmäßige Gesicht und die großen Augen, die ihn jetzt so fragend anschauten. Das dunkelbraune Haar, welches ihr immer noch in langen Wellen auf die Schultern fiel.
Damals war Norah erst siebzehn gewesen, seine erste große Liebe. Sie war unerfüllt geblieben, und dann hatte Norah David kennengelernt. Es hatte nicht lange gedauert, bis die beiden ein Paar wurden. Sie blieben es nur drei Monate lang, dann trennte sich Norah wieder von ihm. Und David tat, was er getan hatte.
Er tötete.
Er floh.
Er ertrank in der Ostsee.
Früher war Norah für alle im Ort immer nur Norah gewesen, aber seit dieser Zeit galt das nicht mehr. Sie wurde zu einer anderen. Wenn die Leute anschließend hinter vorgehaltener Hand über sie sprachen, nannten sie sie nur noch die Freundin des Killers. Ein Begriff, den die Presse verwendet hatte und der an ihr hängen geblieben war wie ein Brandmal.
Sein Anblick paralysierte sie. Im ersten Moment glaubte Norah noch an eine optische Täuschung, aber dann erkannte sie ihn wieder. Trotz der Tätowierungen, die auf seinen Unterarmen prangten, trotz des Fünftagebarts und trotz der harten Gesichtszüge, aus denen alles Jungenhafte verschwunden war.
Das war Goran, der da auf dem Sofa saß, kein Zweifel. Jener Goran, der früher mal ihr bester Freund gewesen und dann aus ihrem Leben verschwunden war, als sie ihn am dringendsten gebraucht hätte. Während sie ihm jetzt ins Gesicht sah, wusste sie nicht, was sie denken oder sagen sollte. Am liebsten hätte sie ihm einfach nur eine Ohrfeige verpasst und ihm ihre gesamte Verachtung entgegengeworfen.
»Norah«, begann ihre Mutter, um dann wieder zu verstummen.
Sie blickte wortlos in ihre Richtung.
»Das ist Goran«, fuhr Elisabeth dann fort, als sei sie nicht sicher, dass Norah ihn erkannt hatte. »Er ist extra aus Berlin gekommen, um uns zu besuchen.«
»Wie nett von ihm«, erwiderte Norah, die ihre Beherrschung allmählich wiederfand, sarkastisch. »Und warum hat er sich dazu herabgelassen, wenn ich fragen darf?«
Da Goran bislang noch keinen Ton gesagt hatte, musste er auch damit leben, dass sie über ihn redete, als ob er nicht da wäre.
Elisabeth seufzte. »Ich habe ihn angerufen und ihn gebeten, nach Waldesroda zu kommen. Ich weiß, dass ihr keinen Kontakt mehr habt, und dennoch ist er meinetwegen über seinen Schatten gesprungen. Kannst du das nicht auch versuchen?«
»Ich wüsste nicht, warum.« Ein kurzer Blick in seine Richtung. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
»Wir waren mal Freunde«, entgegnete er mit einer Stimme, die ungewohnt rau klang. »Vielleicht wäre das ja ein Anfang.«
»Du willst ernsthaft über Freundschaft reden? Dann kannst du ja damit anfangen, mir zu erzählen, wo du all die Jahre gewesen bist!«
»In Berlin«, erwiderte er trocken. »Aber jetzt bin ich ja hier.«
»Ja, jetzt.« Neunzehn Jahre zu spät. »Und wo wirst du morgen sein? Wieder in Berlin?«
»Das liegt ganz bei dir.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich will mich nicht aufdrängen, und wenn du nicht mehr mit mir reden willst, akzeptiere ich das und verschwinde wieder. Ich glaube nur …«
»O nein, so läuft das nicht«, giftete sie. »Versuch jetzt bloß nicht, mir die Verantwortung zuzuschieben! Du hast damals die Entscheidung getroffen, über Nacht zu verschwinden, und mit dieser Entscheidung musst du jetzt leben. Für mich bist du ein Fremder, und es gibt nichts, was uns noch auf irgendeine Art verbinden würde.«
»Hört doch bitte auf damit«, flehte ihre Mutter. »Ich kann ja verstehen, dass du wütend bist, aber einen Streit kann man auch beilegen. Habt ihr beide vergessen, wie wichtig ihr euch mal wart?«
Norah musste sich dazu zwingen, ruhig zu bleiben. Das Letzte, was sie wollte, war, vor ihm die Fassung zu verlieren.
»Warum ausgerechnet jetzt?«, fragte sie dann. »Wieso hast du ihn gerade jetzt angerufen?«
»Das weißt du.«
»Wenn dem so wäre, würde ich nicht fragen!«
»Ich bin wegen der Drohbriefe gekommen«, schaltete Goran sich wieder ein. »Elisabeth hat sich große Sorgen gemacht und mich dann angerufen. Vielleicht können wir zusammen ja herausfinden, wer …«
»Du hast was?« Sie fuhr zu ihrer Mutter herum. »Sag mir bitte nicht, dass du ihm hinter meinem Rücken von den Briefen erzählt hast!«
Ihrer Mutter traten Tränen in die Augen, aber sie sagte nichts. Was auch? Es gab nichts zu sagen. Und schon gar nichts zu entschuldigen. Was sie getan hatte, war in Norahs Augen unverzeihlich gewesen. Sie fühlte sich von ihrer Mutter betrogen und hintergangen. Ausgerechnet von dem einzigen Menschen, dem sie immer blind vertraut hatte. In diesem Moment wollte sie nur noch raus hier, ins Freie, wo sie mit ihren Gefühlen allein war und durchatmen konnte.
»Vielleicht hast du ja recht«, sagte sie abschließend, um dann auf Goran zu zeigen. »Vielleicht brauche ich wirklich Hilfe. Aber sicher nicht von dem da!«
Dann drehte sie sich um und ging. In den Flur und durch die Haustür auf die Straße. Niemand lief ihr nach, aber damit hatte sie auch nicht gerechnet. So wütend sie auf die beiden auch war, wusste sie doch, dass sie ebenfalls Verwundete waren. Verletzt durch das, was damals geschehen war.
Ein paar Monate nach den Morden war Norah in der Hoffnung nach Dresden gezogen, dies alles hinter sich lassen zu können. Aber das war ein Trugschluss gewesen. Manche Dinge verfolgten einen ein Leben lang. Egal, wohin man ging und wie schnell man sich dabei bewegte, man konnte die Vergangenheit einfach nicht abschütteln. Sie war hartnäckig. Blieb einem auf den Fersen und tauchte immer dann auf, wenn man am wenigsten mit ihr rechnete.
So wie die Briefe.
So wie Goran.
Auf einen Schlag war alles wieder da. Die offenen Fragen und die fett gedruckten Schlagzeilen, darunter ein meist nur schlecht verpixeltes Foto, das sie auf einem Schulausflug zeigte.
Die Freundin des Killers!
Das Mörder-Liebchen!
Die schlimmste Schlagzeile lautete jedoch: Unschuldiges Opfer oder Mittäterin?
*
Als sie zu Hause ankam, war Norah nicht nur auf Goran und ihre Mutter wütend, sondern mittlerweile auch auf sich selbst. Sie hatte bei dem Treffen mit ihm überreagiert und ihm gar keine Chance gegeben, seine Sicht der Dinge zu erklären. Ein Verhalten, das sie ihm in Gedanken ironischerweise selbst oft vorgeworfen hatte.
Als Goran Waldesroda verlassen hatte, waren die Morde an Anna und Sebastian gerade erst geschehen und David noch nicht als Täter ausgemacht. Dennoch hatte sie Gorans überstürzten Aufbruch immer persönlich genommen und dabei vergessen, dass er auch andere Gründe gehabt haben konnte. Seinen Vater zum Beispiel. Nach dem Tod von Gorans Mutter begann Herr Milardović zu trinken und verlor immer öfter die Kontrolle. Er wurde gemein, richtiggehend bösartig, und mehr als einmal war Norah Zeugin der cholerischen Wutanfälle gewesen, zu denen er auch in Gegenwart Fremder neigte. Meist war Goran dabei das Ziel gewesen, und schon Jahre vor jenem verhängnisvollen Tag hatte er ihr gesagt, dass er plante, möglichst weit wegzuziehen, sobald er volljährig war. Das nahm sie ihm auch nicht übel, sondern die Art, in der sein Abgang dann erfolgt war.
Still und heimlich. Über Nacht. Ohne vorher noch einmal mit ihr zu sprechen.
Sie hatte also allen Grund, sauer zu sein. Und dennoch bereute sie, was sie ihm vorhin an den Kopf geworfen hatte. Vor allem die Behauptung, dass er für sie nur noch ein Fremder war. Das stimmte nicht, und das würde er auch nie sein – völlig egal, was er getan hatte oder wie lange sie sich nicht mehr gesehen hatten.
Norah kannte Goran praktisch schon ihr ganzes Leben lang. Sie konnte sich noch daran erinnern, wie ihre Mutter an einem eiskalten Tag im Februar mit einem verheulten Kind an der Hand zu Hause aufgetaucht war, das nur gebrochen Deutsch sprach. Andere Kinder hatten ihn in der Schule gemobbt, und Elisabeth wollte ihn nicht nach Hause bringen, bevor er sich beruhigt und wenigstens eine Tasse heiße Schokolade getrunken hatte. Von dem Tag an war Goran dann immer öfter zu ihnen gekommen. Nach der Schule aßen sie häufig gemeinsam zu Mittag und machten anschließend die Hausaufgaben, während Gorans Vater sich um das Restaurant kümmern musste. Mit der Zeit begann ihre Mutter immer mehr, Goran wie einen eigenen Sohn zu behandeln.
Andere Kinder wären vielleicht eifersüchtig gewesen, Norah jedoch nicht. Stattdessen betrachtete sie den Jungen, obwohl er ein Jahr älter war, wie einen kleinen Bruder. Als er noch klein war, hatte Goran auf eine sonderbare Art schutzbedürftig gewirkt, und erst Jahre später war ihr klar geworden, woran das gelegen hatte. Nicht an seinen anfangs noch mangelnden Sprachkenntnissen oder an der Tatsache, dass er zu diesem Zeitpunkt keine anderen Freunde hatte. Goran war einfach ein Kind, das mit einem Bein in dieser Welt und mit dem anderen in einer anderen Welt stand, aber nie mit beiden Beinen in einer. Er war heimatlos. Hin- und hergerissen zwischen seinen Wurzeln und dem Ort, an dem er aufwuchs und in dem viele ihn trotzdem nur den Jugo nannten.
Wenn sie an ihre Kindheit zurückdachte, konnte Norah sich am besten an die Wintermonate erinnern, als sie beide im Grundschulalter gewesen waren. Fast jeden Tag rodelten sie mit einem Schlitten die umliegenden Berge hinunter, wobei Goran immer eine gestreifte Pudelmütze trug, deren Bommel bei den Abfahrten lustig im Wind flatterte. Wenn sie es mal übertrieb und vom Schlitten fiel, rannte er jedes Mal sofort zu ihr, um sich mit Panik im Blick zu vergewissern, dass ihr auch wirklich nichts passiert war.
In den Jahren darauf entwickelte er sich zu einem guten Fußballer – und zu jemandem, der bei Gesellschaftsspielen nur schwer verlieren konnte. Mehr als einmal schubste er die Figuren bei Mensch ärgere Dich nicht vom Brett und behauptete, auf ein solch blödes Spiel keine Lust mehr zu haben. Norah lachte dann immer nur und wartete ab, bis er von selbst an den Tisch zurückkehrte und sie mit flehender Stimme aufforderte, ihm eine Revanche zu gewähren.
Über Jahre hinweg waren sie unzertrennlich gewesen, aber dann änderte sich etwas. Zu der Zeit vielleicht, als sie Teenager wurden. Sie sahen sich jetzt seltener, und auch ihre Interessen verschoben sich. Norah verbrachte immer mehr Zeit mit ihren Freundinnen, vor allem mit Peggy, während Goran im Nachbarort mit seinem besten Kumpel Rolaf wie ein Wilder Karate trainierte. Ein Sport, dem sie überhaupt nichts abgewinnen konnte.
Irgendwann begann sie, ihn mit anderen Augen zu sehen. Aus dem Blickwinkel einer Heranwachsenden. Ihr fiel plötzlich auf, wie dicht und dunkel sein Haar war und dass seine langen Wimpern denen eines Mädchens glichen. Seine Schultern wurden durch das Karatetraining immer breiter, während der Rest von ihm schmal blieb, und wenn er lächelte, erinnerte er sie an Johnny Depp, den sie gerade erst in Sleepy Hollow im Kino gesehen hatte.
Die optische Veränderung, die Goran zu der Zeit durchlief, blieb auch ihren Mitschülerinnen nicht verborgen. Sie begannen, ihm interessierte Blicke zuzuwerfen, und jeder dieser Blicke löste in Norah ein Gefühl aus, von dem sie sich anfangs nicht eingestehen wollte, dass es Eifersucht war. Es dauerte, bis sie sich selbst gegenüber zugeben konnte, dass sie in Goran verliebt war. Und noch länger, bis sie sich bereit fühlte, mit ihm über ihre Gefühle zu sprechen. Das wollte sie während einer Feier in der Schulmensa tun, aber genau auf dieser Feier tauchte er dann Arm in Arm mit Julia auf.
Julia war ein Mädchen aus ihrer Parallelklasse, das Norah schon vorher nicht hatte ausstehen können. In ihren Augen war Julia nur eine eingebildete Tussi, deren größte Sorge darin bestand, dass ihre albernen Korkenzieherlocken nicht richtig liegen könnten. Dass Goran sich ausgerechnet für sie entschieden hatte, schmerzte Norah, während sie sich gleichzeitig einzureden versuchte, dass er tun und lassen konnte, was er wollte. Er war ihr keine Rechenschaft schuldig. Wirklich übel nahm sie ihm nur, dass er ihr aus den Augenwinkeln heraus immer prüfende Blicke zuwarf, sobald er Julia in ihrer Anwesenheit küsste. Fast so, als wolle er sie durch sein Tun absichtlich verletzen, obwohl Norah keine Ahnung hatte, warum.
Eine Zeit lang brannte das Feuer für Goran noch lichterloh, aber dann erlosch es langsam. So, wie es jedes Feuer tut, wenn es keine neue Nahrung bekommt. Irgendwann verlosch auch die Glut, und als nur noch Asche übrig war, begann Norah, sich auch für andere Jungs zu interessieren. Genauer gesagt für David, den sie bei einem Badeausflug kennengelernt hatte, als sie sich in der Bude, in der er jobbte, ein Eis kaufte.
David war zu dem Zeitpunkt schon einundzwanzig gewesen, und das Interesse des vier Jahre älteren Jungen schmeichelte ihr. Er bat sie um ein Date, bei dem er sie dann mit Komplimenten überhäufte, von denen jedes einzelne ehrlich gemeint klang. Auch der schlechte Ruf, den David bei einigen ihrer Schulkameradinnen genoss, störte sie nicht, ganz im Gegenteil. Einen Bad Boy als Freund zu haben, der bereits ein Auto besaß, war etwas, das für Norah durchaus verlockend klang.
Zumindest hatte sie das gedacht.
Damals.
Heute dachte sie das nicht mehr.
Wenn sie überhaupt jemals an David dachte.
Nachdem feststand, dass er zwei Menschen auf grausamste Art getötet hatte, und die Gerüchte über sie und David kein Ende nahmen, war sie nach Dresden gezogen und hatte dort Geistes- und Sozialwissenschaften studiert. An der Uni lernte sie dann André kennen, heiratete ihn zwei Jahre später und ließ sich nach sieben weiteren Jahren wieder von ihm scheiden. Anschließend spielte sie immer häufiger mit dem Gedanken, zurück nach Waldesroda zu ziehen. Als es mit der Gesundheit ihrer Mutter langsam bergab ging, setzte sie diesen Gedanken schließlich um. Sie fand eine schöne Zweizimmerwohnung in Schmiedefeld und eröffnete direkt am Marktplatz in Waldesroda ein kleines Café. Davon hatte sie schon lange geträumt.
Alles schien sich zum Guten zu wenden, die Vergangenheit vergessen, aber dann hatte sie die Briefe erhalten. Mit ihnen kehrte auch die Erinnerung zurück, und seitdem fühlte Norah sich, als hätte ein Zeitstrahl sie gepackt, der sie in ein längst vergangenes Leben zurückziehen wollte.
Ermattet von den Erlebnissen des Tages, ging Norah jetzt in die Küche und schenkte sich ein Glas Rotwein ein. Sie wollte runterkommen, endlich mal wieder an etwas anderes denken, aber ihre Gedanken kehrten erneut zu den Briefen zurück. Das erste Schreiben war vor gut sechs Wochen in ihrem Briefkasten gelandet. Ein unschuldig wirkendes Kuvert, das in Stralsund abgestempelt war. Sie hatte es geöffnet und ein einzelnes Blatt Papier vorgefunden, auf dem lediglich sechs gedruckte Worte standen.
Denkst du noch an mich, Äffchen?
Äffchen … So hatte David sie immer genannt, aber das hatte nichts zu bedeuten. Diesen Spitznamen hätte praktisch jeder mitbekommen können, der sie damals gekannt hatte.
Norah hatte dem ersten Schreiben keine große Bedeutung zugemessen und das Ganze lediglich für den geschmacklosen Scherz eines Spinners gehalten. Aber dann war kurz darauf der nächste Brief gekommen. Der Verfasser hatte ihn in Frankfurt an der Oder aufgegeben, den dritten dann in Cottbus, den vierten in Leipzig.
Im zweiten Brief stand:
Du sollst wissen, dass ich immer noch an dich denke, mein Äffchen. Du bist damals so süß und unschuldig gewesen, zumindest hast du das alle immer glauben gemacht. Das konntest du schon immer gut, nicht wahr? Eine Rolle spielen und dich so geben, wie es andere von dir erwarten. Ob du die Scharade auch durchhältst, wenn ich wieder bei dir bin?
Der nächste Brief war dann der erste, der Anspielungen auf die Morde enthielt, und mit diesem war sie auch zur Polizei gegangen. Ein Weg, den sie sich hätte sparen können. Die Beamten hatten sie von Anfang an nicht ernst genommen und gemeint, dass sie dem Inhalt zu viel Bedeutung beimessen würde. Ein dummer Scherz, sagten sie, bevor sie mit einem schmierigen Grinsen im Gesicht fragten, ob sie es sich vielleicht mit irgendeinem Ex-Lover verdorben hatte.
In dem Brief stand:
Sobald ich die Augen schließe, frage ich mich, was wohl aus uns geworden wäre, wenn du dich damals loyaler verhalten hättest. Wahrscheinlich würde ich dann auch heute noch deine hart aufgerichteten Brustwarzen lecken. Ich habe Brüste ja schon immer geliebt, das weißt du, auch wenn du damals noch nicht ahnen konntest, wie sehr.
Nachdem er Anna und Sebastian auf dem Parkplatz getötet hatte, schnitt David Anna die rechte Brust ab. Die Polizei fand das verstümmelte Körperteil nur wenige Meter vom Tatort entfernt, achtlos ins Unterholz geworfen.
Genau darauf spielte der anonyme Schreiber in seinem dritten Brief an, und Norah konnte nicht fassen, dass die Behörden den Zusammenhang nicht sahen. Sie hatte sich gerade vorgenommen, die Polizeiwache deswegen erneut aufzusuchen, als das nächste Schreiben kam.
Kannst du mich noch fühlen, Äffchen? Ich zumindest fühle dich. Wenn ich an dich denke, berühre ich mich häufig selbst und stelle mir vor, dass es deine Hand wäre, die mich dort streichelt. Es ist eine perfekte Vorstellung, und dennoch weiß ich nicht, wie lange sie mir noch genügen wird. Wahrscheinlich nicht mehr lange, dann will ich wieder mit dir vereint sein. So wie damals, als wir noch Verbündete waren und ich der kostbarste Mensch, den du hattest.
Dieses Schreiben war vor neun Tagen in ihrem Briefkasten gelandet. Ein außenstehender Leser musste zu dem Schluss kommen, dass sie bei den Morden eine Mittäterin gewesen war. Zumindest eine Mitwisserin. Das wollte sie nicht riskieren. Nicht nach alldem, was sie in dieser Geschichte schon durchgemacht hatte.
Nach diesem Brief war bislang kein weiterer mehr gekommen, was allerdings nichts bedeutete. Wenn der Absender – und Norah war sicher, dass es sich um einen Mann handelte – seinem Zyklus treu blieb, würden auch dieses Mal wieder zehn bis vierzehn Tage vergehen, bevor er sich erneut meldete.
Sie lehnte sich zurück, nippte an dem Wein und dachte an David. Die Nachrichten klangen nach ihm, konnten aber nicht von ihm stammen. Laut den Ermittlungsbehörden war er vier Tage nach den Morden gestorben, als er versucht hatte, in einem geklauten Sportboot mit Außenborder über die Ostsee nach Schweden zu fliehen. Das gekenterte Boot hatte man am nächsten Tag vor Bornholm treibend gefunden, von David fehlte jede Spur. Nach intensiven Ermittlungen ging die Polizei davon aus, dass er bei dem heftigen Sturm, der damals über der Ostsee tobte, über Bord gegangen war. Die Wassertemperatur hatte zu dem Zeitpunkt nur fünf Grad betragen, und der Fundort lag knapp zwanzig Kilometer von der nächsten Küste entfernt. Der ermittelnde Beamte sagte ihr, dass David keine Chance gehabt hatte, dies zu überleben.
»Abgesehen vom hohen Wellengang kann ein Mensch solche Bedingungen keine halbe Stunde überstehen, dann erfriert er«, hatte ein Polizeisprecher Tage später in einem Zeitungsinterview verkündet. »Natürlich haben wir neben der Wassertemperatur auch die dort herrschenden Strömungsverhältnisse berücksichtigt und können mit Sicherheit sagen, dass der Täter das nächstgelegene Ufer nicht schwimmend erreicht haben kann. Wir verfügen außerdem über Radaraufzeichnungen aus dieser Nacht, die belegen, dass sich zu dem fraglichen Zeitpunkt auch kein anderes Schiff in der Nähe befand.«
David war tot, das stand außer Zweifel. Und die Briefe hätte praktisch jeder schreiben können, der sich nur ein wenig mit dem Fall beschäftigt hatte. Viele Menschen hatten damals gewusst, dass er sie Äffchen nannte. Und viele wussten von der abgeschnittenen Brust. Nichts, was in den Botschaften stand, ließ auf reines Täterwissen schließen, und die unterschwellige Behauptung, dass Norah damals seine Verbündete gewesen sein könnte, war völlig aus der Luft gegriffen.
Als David in jener Nacht zum Mörder wurde, waren sie schon seit drei Wochen getrennt gewesen. Trotzdem bezeichnete eine Erfurter Tageszeitung sie in einem Artikel als Die Freundin des Killers, und dieser Begriff blieb auch in anderen Medien und bei der Bevölkerung hängen. Vielleicht, weil er so simpel und einprägsam war.
Norah hatte anfangs versucht, sich gegen die Unterstellungen zu wehren und die Dinge geradezurücken, aber ihre Versuche waren samt und sonders vergeblich gewesen. Am Ende hatte sie nur das Gegenteil erreicht. Jede Erklärung heizte die Gerüchte nur noch weiter an, ließ die Theorien wilder werden. Vier Monate hielt sie das aus, dann zog sie gemeinsam mit ihrer besten Freundin Peggy nach Dresden, um in der Großstadt neu anzufangen.
Der Rest war Geschichte.
Erst jetzt, da sie intensiv darüber nachdachte, fiel ihr auf, wie perfide die Briefe waren. Sie konnte sie niemandem zeigen, ohne zu riskieren, dass die alten Gerüchte wieder neu entflammten. Auch Goran nicht, von dem sie eh nicht wusste, wie sie ihn nach so vielen Jahren einschätzen sollte.
Ihre Mutter hatte ihr immer wieder von ihm erzählt und dabei auch über Dinge berichtet, die ihn in Norahs Augen in einem dubiosen Licht erscheinen ließen. Sie wusste beispielsweise, dass er gemeinsam mit einem Partner mehrere Wettbüros betrieb und vor acht Jahren eine Albanerin geheiratet hatte, von der er mittlerweile wieder geschieden war. Auch von irgendwelchen Strafanzeigen hatte ihre Mutter gesprochen. Doch alle Ermittlungen wurden wieder eingestellt, scheinbar aus Mangel an Beweisen.
Wenn Norah all dies zusammenzählte, kam sie zu dem Schluss, dass Goran ein Leben am Rande der Legalität führte. Vielleicht auch darüber hinaus. Als sie ihre Mutter darauf ansprach, hatte diese jedoch nur gelacht.
»Goran ist doch kein Krimineller«, war ihr Kommentar gewesen. »Du kennst ihn doch!«
Ja, sie kannte ihn. Zumindest hatte sie ihn gekannt, und jetzt war er wieder hier. In Waldesroda, ganz in der Nähe. Noch immer wusste Norah nicht, was sie bei der Vorstellung empfinden sollte, ihn wieder in ihrer direkten Umgebung zu haben. Sie konnte Goran einfach nicht einschätzen, und auch an seiner Mimik hatte sie kaum etwas ablesen können. Gewiss, er hatte sich verändert, war härter geworden – aber wer von ihnen war das nicht?
Durch David war alles anders geworden. Ihr Leben, aber auch das Leben vieler anderer Menschen. Am härtesten hatte Davids Tat natürlich Anna und Sebastian getroffen. Aber mit deren Tod war auch ein Teil von ihr gestorben.
Der Teil, von dem Norah schon seit Langem wusste, dass es ihr bester Teil gewesen war.
Nachdem Goran sich von Elisabeth verabschiedet hatte, stieg er in sein Auto und griff als Erstes zu seinem Handy, um auf einem Buchungsportal nach Hotels in der Umgebung zu suchen. Elisabeth hatte ihm zwar ihr Gästezimmer angeboten, aber das hatte er ausgeschlagen. Er brauchte Ruhe und Abstand, war zu viel Enge und Nähe nicht mehr gewohnt.
Er buchte ein passendes Zimmer in Schmiedefeld, startete den Motor und fuhr los. Nicht ins Hotel, sondern nochmals durch den Ort, um sich weiter umzuschauen und die Plätze aufzusuchen, die in seiner Kindheit eine Rolle gespielt hatten. Zu den meisten dieser Orte war er in den letzten Jahren oft in Gedanken gereist, wobei die Bilder in seinem Kopf immer verschwommener wurden, bis er selbst nicht mehr wusste, welches davon der Realität und welches nur der Fantasie entsprang.
Sein erster Weg führte in eine schmale Sackgasse, an deren Ende sich sein ehemaliges Elternhaus befand. Unter Bäumen versteckt schaute es wie ein schüchternes Kind hinter dem Rockzipfel seiner Mutter hervor, und als er es nach so vielen Jahren jetzt wiedersah, erschrak er fast.
In der hereinbrechenden Dunkelheit wirkte das Gebäude heruntergekommen, fast schon schäbig, und an der ehemals weiß gestrichenen Fassade blätterte bereits großflächig der Putz ab. Noch schlimmer war es jedoch um den Vorgarten bestellt. Wo früher immer bunte Blumenbeete geblüht hatten, wuchs jetzt nur noch Unkraut, und mitten im kniehohen Gras lag ein altes Kinderfahrrad, das augenscheinlich schon seit Jahren unbeachtet vor sich hin rostete.
Bis auf die letzten Jahre, in denen sein Vater zum Alkoholiker geworden war, hatte er das Haus immer hingebungsvoll gepflegt, und auch Goran hatte sich dort wohlgefühlt. Sein Kinderzimmer lag im ersten Stock nach hinten raus, und wenn er aus dem Fenster schaute, fiel sein Blick immer auf eine abschüssige Wiese, an die sich in einiger Entfernung dunkel der Waldrand anschloss.
Von diesem malerischen Bild war nichts mehr übrig geblieben. Es gab nur noch Fäulnis und Zerfall. Ein Anblick, der Goran unsagbar wütend machte. Am liebsten wäre er auf der Stelle ausgestiegen, hätte an der Tür geklingelt und den neuen Besitzer gefragt, wie zum Teufel er das Haus nur so vernachlässigen konnte.
Doch das tat Goran nicht. Denn aus Erfahrung wusste er, zu welch unüberlegten Handlungen ihn sein Temperament – ein ungewolltes Erbe seiner Mutter – treiben konnte. Not my monkeys, dachte er stattdessen, um wieder runterzukommen. Not my circus.
Nachdem er seine alte Straße verlassen hatte, steuerte er als Nächstes das ehemalige Restaurant seines Vaters an. Es lag direkt an der Hauptstraße, unweit der Kirche, und als Goran es erreichte, wurde er erneut überrascht. Dieses Mal aber positiv. In dem Gebäude befand sich immer noch ein Restaurant, aber ansonsten deutete nur noch wenig auf das ehemalige Dalmatien hin. Die neuen Besitzer hatten die Gaststätte völlig modernisiert. Statt grauem Schiefer zierte jetzt weißer Putz die Fassade, und auch den Eingangsbereich hatte man erneuert. Direkt daneben stand jetzt ein mit Kreide beschriebenes Schild, das in schwungvollen Buchstaben Frische Spezialitäten aus Thüringen versprach.
Auch den Namen des Lokals hatte man geändert. Es hieß nun Restaurant Rennsteighöhe, und Goran musste lächeln. Scheinbar begannen die Menschen auch hier, sich wieder auf ihre Wurzeln zu besinnen, nachdem sie jahrelang allem hinterhergehechelt waren, was aus dem Ausland kam.
Er überlegte gerade, ob er nicht hineingehen und eine Kleinigkeit essen sollte, als die Tür aufging und ein gut gekleidetes Paar ins Freie trat. Die beiden blieben einen Moment im Licht der Straßenlaterne stehen. Der Mann kam ihm seltsam vertraut vor.
»Rolaf?«, fragte er zögerlich, als er aus dem Auto stieg und auf die beiden zuging.
Der Mann warf ihm einen fragenden Blick zu, bevor sich seine Augenbrauen ungläubig hoben.
»Goran?«, fragte er zweifelnd. »Ich glaube es ja nicht! Was machst du denn hier?«
Rolaf schloss Goran in die Arme. Gorans Körper versteifte sich kurz, dann erwiderte er die Umarmung. Dabei stellte er fest, dass sein alter Freund in den vergangenen Jahren ziemlich in die Breite gegangen war. Rolaf war schon immer ein großer, massiger Kerl gewesen. Aber seit ihrer letzten Begegnung mussten unzählige Koteletts seinen Weg gekreuzt haben. Mittlerweile war er dick, wenn auch nicht auf eine wabbelige, unangenehme Art. Der sich unter dem Pullover abzeichnende Bauch sah eher so aus, als hätte Rolaf gerade einen Medizinball verschluckt.
»Ich wollte Elisabeth mal wieder besuchen«, sagte Goran ausweichend, nachdem sie sich voneinander gelöst hatten. »Und bei der Gelegenheit dachte ich, guck dir doch mal an, was aus dem alten Dalmatien geworden ist.«
»Und an mich hast du gar nicht gedacht?« Rolaf warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Wie lange bleibst du denn?«
»Zwei, drei Tage vielleicht.«
»Dann müssen wir uns unbedingt mal treffen, ganz in Ruhe! Es gibt so viele Dinge zu erzählen. Und noch mehr, was ich wissen will.« Wieder schüttelte er ungläubig den Kopf. »Mensch, ich kann es immer noch nicht fassen, dass du wirklich und leibhaftig vor mir stehst!«
Goran grinste und nutzte die Gelegenheit, sich Rolafs Begleiterin genauer anzuschauen, die sich bislang im Hintergrund gehalten hatte. Das Erste, was ihm auffiel, war ihr Alter. Wenn er nicht komplett danebenlag, konnte sie höchstens Mitte zwanzig sein.
»Das ist übrigens Eva, meine zweite Frau«, setzte Rolaf zu einer Erklärung an. »Wir haben erst vor einem Jahr geheiratet, aber dieses Mal bin ich mir hundertprozentig sicher, dass sie die Richtige ist.«
Eva lächelte zurückhaltend, dann streckte sie Goran die Hand entgegen. »Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Mann hat immer so viel erzählt, und jetzt lerne ich Sie endlich mal kennen. Sie müssen großer Freund gewesen sein.«
Ein osteuropäischer Akzent, bemerkte Goran. Ukraine oder Russland.
»Es freut mich auch, Sie kennenzulernen«, sagte er, während er ihre Hand schüttelte. »Rolaf scheint ein wahrer Glückspilz zu sein.«
»Bevor wir uns jetzt noch lange Komplimente machen: Wie wäre es gleich mit morgen Abend, gegen sechs?«, schlug Rolaf vor. »Wir könnten direkt hier was essen gehen. Dann siehst du auch, wie der Laden jetzt von innen aussieht.«
»Morgen kann ich nicht, das weißt du doch«, sagte Eva. »Da bin ich schon mit Jule verabredet. Aber geht besser allein. Ihr habt sicher viel zu reden, da will ich nicht stören.«
»Du störst doch nie«, versicherte Rolaf, bevor er Goran anschaute. »Also, morgen um sechs?«
»Gerne«, sagte Goran, der eh nichts vorhatte und sich freute, Rolaf wiederzusehen. »Ich werde pünktlich da sein.«
Rolaf strahlte. »Und vielleicht hast du übermorgen ja auch Zeit. Dann müssen wir uns unbedingt zu dritt treffen! Du kannst Waldesroda nicht verlassen, ohne Eva besser kennenzulernen.«
Eva stupste ihren Mann liebevoll an und schmiegte sich enger an ihn, als würde ihr der Körperkontakt Sicherheit verleihen. Ein Verhalten, das Goran aus eigener Erfahrung kannte. Er wusste am besten, wie unsicher man sich fühlte, wenn man in einem fremden Land noch nicht wirklich angekommen war.
Kurz darauf verabschiedeten sie sich voneinander. Goran sah den beiden nach, während sie auf den Parkplatz neben dem Restaurant zugingen und dort in einen dunkelgrauen Mercedes stiegen. Ein neues und ziemlich teures Modell, wie Goran mit Kennerblick feststellte.
Er freute sich, dass sein alter Freund sein Glück gefunden hatte. Als die beiden an ihm vorbeifuhren, winkte er ihnen zu, bevor die rot glimmenden Rücklichter des Luxuswagens in der Nacht verschwanden.
Goran dachte nach.
Rolaf war sein erster Freund in Waldesroda gewesen, kurz danach war Daniel dazugekommen. Sie hatten über Jahre hinweg in der örtlichen Fußballmannschaft gespielt, wobei Rolaf der Abräumer in der Abwehr gewesen war, Daniel der Lenker im Mittelfeld und er selbst derjenige, der die Tore machte. Rolaf wusste fast alles über ihn; bis zu dem Tag, an dem er Waldesroda über Nacht verlassen hatte.
Bis zu den Morden.
Bis Goran getan hatte, was er sich bis heute nicht verzeihen konnte.
Frühling 2004
Es waren Osterferien. Die letzten, bevor für die meisten von ihnen die Schulzeit im Sommer zu Ende gehen würde.
Über der kleinen Lichtung lag bereits der Geruch des Sommers, der in den Abendstunden immer besonders intensiv war. Es war ein malerischer Ort, auch wenn Goran den umliegenden Wald nicht so romantisch beschrieben hätte, wie viele andere das taten. Wenn er an ihn dachte, hatte er die rauen Rillen der Baumrinden im Sinn, die Moosflecken der Steine und das Laub des Herbstes, das den Boden bedeckte. Für ihn war der Wald schon immer ein Ort voller Gefahren gewesen, dicht und abweisend. Die Bäume ragten dunkel und bedrohlich empor, umschlossen von Ranken, die sich wie im Würgegriff um sie legten und beständig stärker zuzogen.
Normalerweise traf sich ihre Clique immer erst gegen Abend an diesem Ort, wo sie ihre Privatsphäre hatten und vor den neugierigen Blicken der anderen Dorfbewohner geschützt waren.
Dass Goran jetzt schon am Nachmittag zur Lichtung gekommen war, hatte mit Peggys Anruf zu tun, die meinte, etwas Wichtiges mit ihm besprechen zu müssen. Was genau, hatte sie nicht sagen wollen, aber schon ihre Andeutungen klangen geheimnisvoll. So geheimnisvoll zumindest, dass er sich direkt auf den Weg machte, gleich nachdem er seinem Vater bei den Einkäufen fürs Restaurant geholfen hatte.
»Also, was gibt es?«, wollte er nun wissen, als sie nebeneinander auf der Wiese saßen.
Peggy schaute nach oben, in einen blassblauen Himmel, der nur vereinzelt mit Schäfchenwolken betupft war.
»Es geht um Norah«, sagte sie dann.
Natürlich, dachte Goran. Um was auch sonst.
Er hatte es langsam satt, immer auf sie angesprochen zu werden. Sich vor jedermann erklären zu müssen. In letzter Zeit wollten alle ständig wissen, ob er in sie verknallt war, und scheinbar fehlte seinen verneinenden Antworten bislang stets die Überzeugungskraft.
»Wenn du mich nur angerufen hast, um mich wieder zu fragen, ob ich …«
»Darum doch nicht, du Dummkopf!« Sie schnaufte. »Dass du in Norah verknallt bist, sieht doch eh jeder. Na ja, jeder außer ihr natürlich.«
»Worum geht’s dann?«
Peggy atmete tief durch. »Sie ritzt sich.«
»Was?«