Wenn Träume Wurzeln schlagen - Julia Parin - E-Book
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Wenn Träume Wurzeln schlagen E-Book

Julia Parin

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Beschreibung

Du musst das Glück pflücken, wenn es greifbar ist

Als ihre Großmutter ins Krankenhaus muss, steht Charlie plötzlich vor einem Problem: Jemand muss sich um Oma Freyas Schrebergarten kümmern. Aber Charlie hatte noch nie einen grünen Daumen. Dank Freyas Tipps und der Hilfe der anderen Schrebergärtner lernt Charlie dann aber nicht nur, wie man Gemüse anbaut. Sie begreift auch, dass alle Pflanzen hier eine Geschichte haben und dass Freyas große Liebe unweigerlich damit verbunden ist. Wäre da nur nicht ihr unfreundlicher Nachbar Matteo. Doch als der Frühling kommt, hat Charlie sich verändert, und plötzlich weiß sie ganz genau, wie man das Glück zum Blühen bringen kann.

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Seitenzahl: 366

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Das Buch

Als ihre Großmutter ins Krankenhaus muss, steht Charlie plötzlich vor einem Problem: Jemand muss sich um Oma Freyas Schrebergarten kümmern. Aber Charlie hatte noch nie einen grünen Daumen. Dank Freyas Tipps und der Hilfe der anderen Schrebergärtner lernt Charlie dann aber nicht nur, wie man Gemüse anbaut. Sie begreift auch, dass alle Pflanzen hier eine Geschichte haben und dass Freyas große Liebe unweigerlich damit verbunden ist. Wäre da nur nicht ihr unfreundlicher Nachbar Matteo. Doch als der Frühling kommt, hat Charlie sich verändert, und plötzlich weiß sie ganz genau, wie man das Glück zum Blühen bringen kann.

Die Autorin

Julia Parin ist das Pseudonym einer erfolgreichen Autorin, die bereits zahlreiche Romane und Jugendbücher geschrieben hat. »Wenn Träume Wurzeln schlagen« ist ihr erster Roman, in dem sie sich ihrem Lieblingsort widmet, dem Garten. Wenn sie nicht gerade schreibt, verbringt sie ihre Zeit am liebsten in ihrem Schrebergarten, wühlt in der Erde und hört den Bienen beim Summen zu. Mehr zu Julia Parin unter www.juliaparin.de.

JULIAPARIN

Wenn TRÄUME Wurzeln schlagen

Roman

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Die Entstehung dieses Werks wurde unterstützt durch das Arbeitsstipendium Covid-19 von Stadt Zürich Kultur.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Original 05/2022

Copyright © 2022 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München

unter Verwendung von Shutterstock (Natalya Timofeeva), Creativemarket (Art Watercolor, GraphicsDis)

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN ISBN: 978-3-641-27672-0V002 

www.heyne.de

Für Susy

In der Agentur Magic herrscht Hektik. Der Marketingleiter eilt mit dem Handy am Ohr zu seinem Laptop, die Programmkoordinatorin betritt zum dritten Mal hintereinander das Büro des Chefs. Durch die Glasscheibe sieht Charlie, wie sie aufgebracht diskutieren. Noch vier Wochen bis zur Triumph Talent Show, dem wichtigsten Event des Jahres. Newcomer aus vierzehn Ländern treten gegeneinander an, das Begleitprogramm bestreiten bekannte Musiker und TV-Stars. Zwanzig Prozent des Jahresumsatzes gehen auf das Konto der Talentshow. Gestern hat der Stage Manager gekündigt, weil der Creative Director das Konzept ohne sein Wissen abgeändert hat. Und heute hat die Eröffnungsband abgesagt. Der Leadsänger ist in eine Entzugsklinik eingeliefert worden.

Charlie ist für das Storytelling zuständig, das einen Event greifbar macht. Sie entwickelt zusammen mit dem Projektmanager Leitmotiv und Dramaturgie, entwirft die Geschichte. Multisensorik heißt das Zauberwort. Die Gäste müssen einen Event sehen, hören, schmecken, riechen und fühlen können. Dieses Jahr steht die Triumph Talent Show unter dem Motto »Passion«. Location, Catering, Rahmenprogramm, Dekoration, sogar die Kleidung des Personals strahlen Leidenschaft und Begeisterung aus.

Charlie hat ihren Arbeitsplatz so eingerichtet, dass sie zwischen den Blättern der darbenden Zimmerpflanze, deren Namen sie vergessen hat, ihren Chef sieht, er aber nicht merkt, wie häufig sie in seine Richtung blickt. Lasse van de Kamp erwartet vollen Einsatz. Keine Textnachrichten während der Arbeitszeit, keine privaten E-Mails. Eine Designerin behauptet, er habe ihren Browserverlauf überprüft, weil er mit ihrer Performance nicht zufrieden war. Charlie stört das nicht. Lasse macht Unmögliches möglich. Dass er dabei nicht immer Rücksicht auf Befindlichkeiten nimmt, ist klar. Er ist eben zielstrebig, eine Eigenschaft, die sie beide verbindet.

»Dein Einblatt braucht dringend Wasser«, sagt Nuria, die am Layout eines Inserats arbeitet.

»Wer?«, fragt Charlie abwesend.

Nuria steht kopfschüttelnd auf, greift nach einem Glas Wasser und gießt die Zimmerpflanze. »Hier drinnen ist es so kalt, dass man eine Eiskunstlaufgala aufführen könnte«, klagt sie.

Das alte Fabrikgebäude, in dem die Agentur untergebracht ist, verbreitet zwar industriellen Charme, die Räume erwärmen sich jedoch nur langsam. Charlie hat sich daran gewöhnt, sie zieht unter dem Schreibtisch ihre Designerschuhe aus und schlüpft in ein Paar Lammfellpantoletten. Mit dem Großraumbüro kann sie sich hingegen nicht anfreunden. Wie soll sie kreativ denken, wenn sie andauernd abgelenkt wird? Von Nuria, die ihr stets mitteilt, wie sie sich gerade fühlt. Von Harro, der so laut telefoniert, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht hört. Von Lasse van de Kamp, der sich mit den Fingern durch das schulterlange Haar fährt, wenn er auf und ab geht, die ebenmäßigen Gesichtszüge konzentriert, Seidenshirt, Retrosneakers und Hosenträger perfekt aufeinander abgestimmt. Charlie stellt sich vor, wie sie die Hosenträger von seinen Schultern schiebt und das Shirt aufknöpft. Über seine glattrasierte Brust streicht. Sein Atem an ihrem Ohr. Seine Lippen auf ihrem Hals.

Sie reißt den Blick von ihm los, richtet sich auf und geht ihre Checkliste durch. Der Kreativprozess ist abgeschlossen, in dieser Phase sorgt sie dafür, dass die Story richtig umgesetzt wird. Dafür ist zwar die Assistentin zuständig, doch gegen Schluss packen alle mit an. Die Wochen vor einem Großevent sind wie ein Crescendo, die Triumph Talent Show ist der Paukenschlag.

Flüge und Hotels sind bestätigt. Der Rapper aus Sibirien hat endlich eine Einreisebewilligung erhalten. Die Südkoreaner bekommen ihr Kimchi, die Dänen extralange Betten. Das Stimmwunder aus Israel hat immer noch nicht entschieden, ob sie ihre Tochter mitnimmt. Charlie ruft den Mailverkehr auf und beschließt nachzufragen. Da klingelt ihr Privathandy. Eine unbekannte Nummer. Charlie geht nicht ran, dafür hat sie jetzt keine Zeit.

Harro stellt ihr einen Becher Kaffee hin. »Cappuccino mit viel Schaum, genau, wie du ihn magst.«

Charlie lächelt verhalten. Harro ist wie ein Bernhardiner. Zottelig, treu und anhänglich. Und genauso starrköpfig. Seit sie bei der Agentur angefangen hat, umwirbt er sie. Anfangs hat sie ihn mit Ausreden abgewehrt, später hat sie behauptet, dass sie keine Verpflichtungen eingehen will. Sie wird Klartext reden müssen, auch wenn sie ihn damit verletzt. Sie mag ihn als Kollegen, mehr nicht. Hinter der Pflanze sieht sie Lasse, der mit angehobenem Arm telefoniert. Charlies Handy klingelt erneut. Sie steckt es weg. Ein Piepton verkündet eine Sprachnachricht.

Lasse kommt aus seinem Büro. »Meeting in zehn«, ruft er.

Hastiges Tastaturklicken, Unterlagen werden geholt, Stühle zurückgeschoben. Charlie druckt ihre Checkliste aus, schlüpft in ihre Schuhe, schnappt sich den Kaffee und begibt sich ins Sitzungszimmer.

Lasse kommt direkt zur Sache, wie immer. »Wir brauchen einen Ersatz für die Koreaner.«

Nuria wird blass. Es steht ihr, sie wirkt noch verletzlicher als ihre zierliche Statur sie ohnehin erscheinen lässt. Charlie entgeht nicht, wie der Marketingleiter sie anstarrt.

»Hat der Leadsänger auch ein Drogenproblem?«, fragt die Programmkoordinatorin trocken.

»Alkohol«, seufzt Lasse.

Charlie versucht zu begreifen, was die Absage bedeutet. Korean Pop ist angesagt, innerhalb von vier Wochen einen Ersatz zu finden, schwierig. Alle Stars sind weit im Voraus ausgebucht.

»Das wird dem Hauptsponsor gar nicht gefallen«, sagt Harro. »Was, wenn er einen Rückzieher macht?«

Seine Worte kommen schlecht an. Die Agentur kreiert Geschichten mit Happy End.

Charlie hält wenig von Panikmache, sie konzentriert sich lieber auf das, was sie beeinflussen kann. »Warum nicht mal einen Act abseits vom Mainstream?«, schlägt sie vor und nennt einen aufgehenden Stern der Elektro-Musikszene.

»Kommt aus Japan«, sagt die Programmkoordinatorin. »Der Hauptsponsor hat seine Unterstützung an die Bedingung geknüpft, dass mindestens eine Band aus Südkorea auftritt.«

Der Marketingleiter verdreht die Augen. »Nur, weil seine Frau aus Seoul stammt.«

Lasse steht auf. »Wir fahren zweigleisig. Südkoreas Underground-Musikszene hat Priorität, parallel dazu fragen wir die Japaner an. Um den Sponsor kümmere ich mich.«

Sie diskutieren über den Zeitplan, die Kosten, die Logistik. Ob Elektro zur Story passt, und ob Europa reif dafür ist. Lasse hat sich wieder gesetzt, er beugt sich vor, hört zu, knackt mit den Knöcheln. Charlie bekommt den Auftrag, mit den Japanern Kontakt aufzunehmen.

Lasse klatscht drei Mal in die Hände. »An die Arbeit! Wir treffen uns um sechs zu einem Update.«

Charlie ist schon in der Tür, als er sie ruft. Sie bleibt stehen.

Er reckt den Daumen in die Höhe. »Guter Input.«

Sein Blick ruht auf ihr, die blauen Augen funkeln. Trotz des Drucks, unter dem er steht, haftet ihm etwas Spitzbübisches an. Charlie fühlt sich, als wäre sie aus Wachs, schmilzt, ist aber gleichzeitig stolz.

Bevor sich Charlie in die Arbeit vertieft, macht sie einen Abstecher zur Toilette. Sie erinnert sich an die Sprachnachricht, die vor dem Meeting eingegangen ist, und kramt ihr Handy hervor. Mit dem Telefon am Ohr überprüft sie im Spiegel ihren Lippenstift und entdeckt einen Chiasamen zwischen ihren Zähnen. Ihr wird heiß. Ob Lasse ihn bemerkt hat?

Als sie sich vor drei Jahren bei der Agentur beworben hat, ist ihr klar gewesen, dass sie zu wenig Erfahrung mitbringt. Nach einem Betriebswirtschaftsstudium und einer Weiterbildung in Marketing hat sie zwei Jahre bei einer Werbeagentur gearbeitet, bevor sie in die Eventbranche eingestiegen ist. Zuerst als Assistentin und später als Juniorprojektleiterin hat sie kleinere Anlässe organisiert und durchgeführt. Die Agentur Magic spielt in einer anderen Liga. Lasse organisiert keine Events. Er erfindet sie. Also hat sich auch Charlie neu erfunden. Die Story, die sie für sich geschrieben hat, handelt von einer Macherin mit Visionen und einem Händchen für große Inszenierungen. Sie hat gelernt, auf Absätzen zu gehen. Jeans und T-Shirts sind aus ihrem Kleiderschrank verschwunden und haben Designerkleidern Platz gemacht. Das rotblonde Haar trägt sie nicht wie früher zu einem Pferdeschwanz gebunden, sondern offen und von einem Starfrisör gestylt. Sie hat sogar mit dem Gedanken gespielt, ihre Sommersprossen abzudecken, eine Stilberaterin hat ihr jedoch davon abgeraten. »Sie müssen nicht perfekt, sondern einzigartig aussehen.« Dass Charlie die Stelle bekommen hat, obwohl sie zu wenig Erfahrung vorweisen konnte, liegt aber nicht an ihrem Aussehen. Lasse hat erkannt, dass sie die Geschichten, die sie schreibt, auch lebt. Und Chiasamen zwischen den Zähnen passen nicht hinein.

Die Wörter »Krankenhaus« und »Unfall« dringen nur langsam zu Charlie durch. Sie spielt die Nachricht ein zweites Mal ab. Jetzt versteht sie die Worte, nicht aber deren Sinn. Nach dem dritten Mal lässt sie sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. Ihre Großmutter ist gestürzt. Der Zeitpunkt könnte nicht ungünstiger sein. Bis zur Talentshow muss Charlie rund um die Uhr arbeiten. Eine Welle der Scham überrollt sie. Als ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen, hat Freya sie bei sich aufgenommen. Sie hat sich liebevoll um ihre trauernde Enkelin gekümmert und dafür gesorgt, dass Charlie trotz des Verlusts eine glückliche Kindheit verbrachte. Noch heute spürt Charlie ihre schützenden Arme um sich, hört ihre warme Stimme und riecht ihren Duft, eine Mischung aus Kamille, Lavendel und Zitrusfrüchten. Sie denkt an die Nächte, in denen sie nach Albträumen zu Freya ins Bett gekrochen ist.

Nachdem sie die Nachricht ein weiteres Mal abgehört hat, ruft sie im Krankenhaus an. Am Telefon will man ihr keine Auskunft geben, sie erfährt nur, dass Freya heute operiert wird. Wie in Trance begibt sie sich an ihren Arbeitsplatz. Rund um sie herum herrscht Aufregung, doch Charlie fühlt sich wie in einer Blase.

Nuria merkt sofort, dass etwas nicht stimmt. Sie beugt sich zu Charlie hinüber, legt ihr eine Hand auf den Arm. »Ist etwas passiert?«, fragt sie leise.

»Meine Großmutter ist gestürzt.«

»Schlimm?«

»Sie wird heute Nachmittag operiert.«

Nuria blickt sie erschrocken an.

Ein Kloß bildet sich in Charlies Hals. Ihr Verstand ist träge, die Gedanken wollen nicht fließen. Sie, die mit dem Telefon am Ohr einkauft, beim Kochen die Zeitung auf dem Tablet liest und an roten Ampeln die Nägel feilt, während sie die anstehenden Aufgaben in der Agentur durchgeht, schafft es kaum, die Tragweite der Nachricht zu erfassen. Aus dem Augenwinkel sieht sie, wie Lasse zu ihr hinüberblickt.

»Worauf wartest du?«, zischt Nuria. »Geh schon!«

»Und die Japaner?« Charlie erkennt ihre Stimme nicht mehr. Sie klingt unentschlossen, hilfesuchend. Die Karrierefrau ist weg, Charlie ist wieder das sechsjährige Mädchen, das im Bett liegt und auf den Gutenachtkuss einer Mutter wartet, die nie mehr zur Tür hereinkommen wird. Jetzt spürt auch sie die Kälte, die langsam in ihr hochkriecht, bis sie am ganzen Körper zittert.

Lasse kommt aus seinem Büro. »Bist du krank?«

Nuria erzählt von dem Unfall.

Lasse entspannt sich. »Deine Großmutter?«

Die Art, wie er es ausspricht, lässt Charlie zurückweichen. Als wäre das Leben im Alter wertlos.

»Falls es mit Südkorea und Japan nichts wird, können wir es mit der vietnamesischen Boygroup versuchen, die letztes Jahr die Charts erobert hat. Hauptsache, Asien ist vertreten.« Lasse kehrt in sein Büro zurück.

Charlie sieht ihm nach. Sie sagt sich, dass er nicht wissen kann, was Freya ihr bedeutet.

Nuria gibt ihr einen Schubs. »Geh schon. Ich kümmere mich um die Japaner.«

Charlie eilt auf den Informationsschalter zu. Ihre Absätze klackern laut auf den Fliesen, entschlossen, zielgerichtet. Sie hat sich wieder im Griff. Einige Kollegen werden sich über ihren Abgang ärgern, von Lasse ganz zu schweigen, jetzt aber schiebt sie die Gedanken an die Arbeit beiseite und erkundigt sich nach ihrer Großmutter.

»Freya Melde?«, fragt die Angestellte.

Charlie trommelt ungeduldig mit den Fingern auf den Tresen. Sie mag es nicht, wenn man ihre Worte wiederholt, um Zeit zu gewinnen.

»Da haben wir sie!« Die Angestellte nennt die Zimmernummer.

Der Aufzug bewegt sich quälend langsam nach oben. Endlich geht die Tür auf, und Charlie betritt einen breiten Flur. Ein alter Mann schiebt sich mit einer Gehhilfe der Wand entlang, die Sohlen seiner Hausschuhe quietschen auf dem blassgrünen Linoleum. Charlie senkt den Blick. Sie verbindet Krankenhäuser mit Vergänglichkeit und Mühsal. Der Geruch von Desinfektionsmittel ist allgegenwärtig. Aus einem Bad erklingen gedämpfte Stimmen, irgendwo lacht jemand. Vor dem Zimmer ihrer Großmutter steht ein Rollwagen mit leeren Blumenvasen.

Charlie klopft an und tritt ein. Freya liegt am Fenster, sie sieht viel kleiner aus als in ihrem eigenen Bett. Ihr Haar ist zu einem Zopf geflochten, ihr Blick geht ins Leere. Charlies Augen füllen sich mit Tränen. Das Krankenhaushemd reduziert ihre Großmutter auf ein Objekt, das in eine Maschinerie eingespeist wird.

»Charlie!« Leben kehrt in Freya zurück, und sie streckt eine Hand aus.

Charlie ergreift sie, beugt sich über das Bett und legt die Wange an Freyas Stirn. »Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, ich habe die Nachricht erst am Mittag abgehört.«

Freya drückt Charlies Hand. Ihre Finger sind erstaunlich kräftig.

»Was ist geschehen? Wo bist du verletzt?«, fragt Charlie. »Man wollte mir am Telefon keine Auskunft geben.«

Freya schaut aus dem Fenster.

Charlie streicht ihr sanft über die Finger.

»Ich bin von der Leiter gefallen«, gibt Freya kleinlaut zu.

Charlie versteht nicht, was ihre Großmutter derart in Verlegenheit bringt.

Freya räuspert sich. »Der Morgen war so schön!«

Langsam dämmert es Charlie. »Du warst im Garten?«

Ein Lächeln breitet sich auf Freyas Gesicht aus. Es verwandelt sie in die Großmutter, die mit Charlie Stopptanz gespielt und lustige Namen aus dem Telefonbuch gesucht hat. Die Ostereier in Gummistiefeln versteckte und sie dort vergaß. Als Charlie in der ersten Klasse war, hat Freya ihr Pausenäpfel mitgegeben, in die sie Smileys geschnitzt hatte. Sie hat sich für Charlie eingesetzt, hat Scherben aufgewischt, Wunden versorgt und sie vor Spinnen gerettet. Charlie kann sich nicht daran erinnern, dass sich Freya je vor etwas gefürchtet hat. Außer vor dem Alter. Auf Hilfe angewiesen zu sein, schlimmstenfalls bevormundet zu werden, davor graut es ihr.

»Was hast du dort gemacht?« Charlie will nicht vorwurfsvoll klingen, aber sie versteht nicht, was man um diese Jahreszeit im Garten sucht. »Es ist doch erst Februar.«

»Schau mal aus dem Fenster, Liebes.« In Freyas Stimme schwingt Trauer mit, fast als bedaure sie Charlie.

Charlie stellt sich ans Fenster. Gegenüber liegt die Augenklinik, davor steht ein kahler Baum. Am Himmel bilden Kondensstreifen ein unregelmäßiges Muster.

»Mach die Augen auf«, drängt Freya. »Schau genauer hin.«

Charlie blinzelt. Zwischen den einzelnen Klinikgebäuden befindet sich eine Parkanlage. Sträucher säumen den Wegrand, dazwischen liegt braunes Gras wie ein Teppich aus den Siebzigerjahren. Dann fallen ihr die Menschen auf, die im Freien sitzen, das Gesicht der Sonne zugewandt. Neben den Bänken entdeckt sie kleine, weiße Blumen.

»Wenn die Schneeglöckchen blühen, ist der Vorfrühling da«, sagt Freya. »Nicht mehr lange, und Hasel, Huflattich und Veilchen erwachen.«

Für Charlie beginnt der Frühling erst Ende März.

»Okay«, sagt sie gedehnt. »Der Frühling ist da. Aber ist es nicht trotzdem zu früh für Gartenarbeiten?«

»Der Quittenbaum musste zurückgeschnitten werden.«

Charlie öffnet den Mund, doch sie bringt keinen Ton heraus. Wie konnte Freya so unvorsichtig sein? Mit neunundsiebzig klettert man doch nicht auf Bäume! Schon mehrmals hat sie ihre Großmutter gebeten, den Kleingarten abzugeben. Sie begreift nicht, wie man an einem Fleckchen Erde hängen kann, in dem sich Schnecken und Spinnen tummeln. Dass es Spaß macht, auf allen vieren im Dreck zu wühlen. Von abgebrochenen Fingernägeln, rissiger Haut und Rückenschmerzen ganz zu schweigen. Freya weigert sich sogar, die elektrischen Gartengeräte zu benutzen, die Charlie ihr geschenkt hat, stattdessen schneidet, mäht und trimmt sie von Hand.

Es klopft, und ein Arzt mit Nickelbrille und Halbglatze tritt ein. »So, Frau Melde, es ist soweit«, verkündet er.

Charlie stellt sich vor. »Ich weiß noch immer nicht …« Sie schaut ihre Großmutter an, denn sie will nicht über sie sprechen, als wäre sie nicht hier.

»Altweiberbruch«, brummt Freya.

»Ihre Großmutter hat einen Oberschenkelhalsbruch erlitten«, erklärt der Arzt. »Kein Grund zur Sorge. Es handelt sich um eine Routineoperation, allerdings muss sie so rasch wie möglich durchgeführt werden. Je länger wir warten, desto größer die Gefahr, dass Komplikationen auftreten.«

Altweiberbruch. Jetzt versteht Charlie, warum ihre Großmutter zerknirscht wirkt. Freya hat immer gesagt, wenn sie sich den Oberschenkelhals bricht, ist es Zeit abzutreten.

»Frau Melde besteht auf ein hüftkopferhaltendes Verfahren.« Der Arzt schildert den Eingriff.

»Was wäre die Alternative?«, fragt Charlie.

»Bei Patienten über fünfundsechzig empfehle ich häufig ein neues Gelenk. Ihre Großmutter ist allerdings in guter körperlicher Verfassung, und die Bruchform lässt beide Varianten zu.«

Freyas Nachbarin hat sich ein neues Hüftgelenk implantieren lassen. Ein Jahr danach ist es zu einer Spätinfektion gekommen, und eine weitere Operation wurde nötig. Komplikationen traten auf, ein Nerv wurde beschädigt, seither leidet sie unter Lähmungserscheinungen. Freya informiert sich gründlich, bevor sie Entscheidungen fällt, aber was künstliche Gelenke betrifft, ist sie voreingenommen.

»Wie lange, bis du wieder gehen kannst?«

Freya entspannt sich. »Ich darf schon morgen den Flur hinunterspazieren.«

Der Arzt sieht die Skepsis in Charlies Gesicht. »Moderne Operationsverfahren schonen Bänder und Muskeln. Ihre Großmutter darf aufstehen, sobald ihr Kreislauf es zulässt.«

»Und wann kann sie nach Hause?«

»Nach der Operation werden wir eine Reha-Spezialistin hinzuziehen und gemeinsam die weitere Therapie besprechen.«

»Wenn die Forsythien blühen, muss ich in den Garten, um Spinat, Karotten und Stielmangold zu säen«, mahnt Freya.

Sie wartet auf Zustimmung, doch der Arzt schweigt. Sind Freyas Hoffnungen unrealistisch? Vielleicht weiß er auch bloß nicht, wie Forsythien aussehen, denkt Charlie.

Ein Pfleger betritt das Zimmer, um Freya für die Operation vorzubereiten.

»Ich werde hier warten«, verspricht Charlie.

»Es reicht, wenn Sie gegen fünf zurückkommen«, sagt der Arzt.

»Das ist nicht nötig«, winkt Freya ab. »Du hast Wichtigeres zu tun, als eine alte Frau im Krankenhaus zu besuchen.«

Charlie umarmt ihre Großmutter. »Für mich bist du das Wichtigste! Mach dir keine Sorgen. Du bist bald wieder auf den Beinen.«

Freyas Augen sind feucht. »Das Gartenhäuschen steht noch offen. Würdest du bitte abschließen?«

»Klar, ich fahre jetzt gleich hin.« Charlie fischt Freyas Schlüsselbund aus dem Schließfach im Kleiderschrank.

»Bitte gieß auch die Paprika. Ich habe sie vor drei Tagen gesät, die Samen müssen immer schön feucht bleiben.«

»Ich kümmere mich um alles.«

Charlie küsst ihre Großmutter und streicht ihr über die Wange. Die faltige Haut fühlt sich trocken an. Charlie denkt an Krepppapier, und auf einmal hat sie Angst, dass Freya reißen könnte. Sie schiebt das seltsame Bild weg, wiederholt in Gedanken die Worte des Arztes. Eine Routineoperation. Kein Grund zur Besorgnis.

Vor dem Krankenhaus holt sie ihr Handy hervor. Der Grafiker will ein Meeting verschieben, die Location Managerin braucht genauere Angaben zur Story. Nuria hat mehrmals angerufen, aber keine Nachricht hinterlassen. Charlie stöpselt sich Kopfhörer ins Ohr und ruft zurück. Die einzigen anderen Südkoreaner, die infrage kommen, sind ausgebucht. Die Japaner wurden für einen MTV Video Music Award nominiert, nun werden sie mit Anfragen überhäuft, und ihre Honorarforderungen sind viel zu hoch. Die vietnamesische Boygroup hat sich aufgelöst. Nuria schlägt eine chinesische Band vor, die im Shanghai World Expo Park Tausende von Zuschauern begeistert hat.

»Soll ich mit Lasse reden?«, fragt sie.

»Erst, wenn du eine Zusage hast«, beschließt Charlie.

»Wie geht es deiner Großmutter?«

Charlie erzählt ihr von dem Unfall.

Nuria atmet erleichtert auf. »Zum Glück hat sie sich nur das Bein gebrochen.«

Glück bedeutet für Charlie einen freien Parkplatz vor dem Fitnessstudio oder einen kurzfristigen Termin beim Frisör zu bekommen, nicht, von einer Leiter zu fallen und sich den Oberschenkelhals zu brechen. Am liebsten würde sie Nuria fragen, was sie denn unter Pech verstehe, doch sie weiß, dass ihre Kollegin sie nur aufmuntern will. Auf der Fahrt in die Agentur ruft sie den Grafiker an. Sie steht bereits vor dem alten Fabrikgebäude, als sie wendet, zu der Coffee Bar um die Ecke fährt und zwei dieser Proteinriegel kauft, die Lasse ständig isst.

Nuria reckt den Daumen in die Höhe, als Charlie zur Tür hereinkommt. »Sieht gut aus mit den Chinesen. Morgen geben sie Bescheid.«

Charlie bläst Küsschen in ihre Richtung, marschiert direkt zu Lasse und übergibt ihm die Riegel, bevor er sie wegen ihrer Abwesenheit zur Rede stellen kann.

Er bedankt sich.

»Hast du schon mit dem Hauptsponsor gesprochen?«, fragt sie.

»Erst, wenn klar ist, wer auftritt.«

Sein Aftershave riecht würzig und frisch. Charlie stellt sich vor, wie der Rasierer an seiner Kieferlinie entlangfährt.

»Kannst du es einrichten?«, fragt er.

Charlie räuspert sich. »Entschuldige?«

»Die Galaveranstaltung«, sagt er. »Ich möchte, dass du mich begleitest. Der Hauptsponsor wird dort sein.«

Sie soll Lasse zu einer Galaveranstaltung begleiten? Charlie versucht, ruhig zu atmen. Lasse hat sich bereits wieder dem Bildschirm zugewandt. Seine Finger fliegen über die Tastatur.

»Ist noch etwas?«, murmelt er.

Charlie kehrt an ihren Arbeitsplatz zurück. Die Tochter der Israelin reist mit, Harro hat ihren Flug bereits gebucht. Das Telefon klingelt, es ist die Location Managerin. Sie besprechen die Story, beschließen, die Schinkencreme durch Dörrtomatenschaum zu ersetzen, Rot statt Pink, kraftvolle Liebe statt unentschlossenem Gesäusel. Charlie schreibt dem Caterer. Die Uhr läuft noch schneller als sonst. Wenn Charlie rechtzeitig bei ihrer Großmutter sein will, muss sie jetzt wieder los. Lasse telefoniert mit der neuen Webdesignerin und merkt nicht, dass Charlie früher Schluss macht. Als sie ihren Autoschlüssel sucht, findet sie Freyas Schlüsselbund. Das Gartenhäuschen fällt ihr ein. Sie hat vergessen abzuschließen. Das kann warten. Zuerst will sie ins Krankenhaus fahren. Sie muss wissen, wie es Freya nach der Operation geht.

Der Kleingarten liegt am Hang, direkt unterhalb des Waldes, der jetzt in der Dunkelheit kaum zu sehen ist. Die Anlage umfasst mehrere Dutzend Parzellen, jede ist schön säuberlich vom Nachbargarten abgetrennt. Charlie versucht sich zu erinnern, wo der Garten ihrer Großmutter liegt. Als Kind hat sie dort im Gras gespielt, während Freya Unkraut jätete, später im Liegestuhl dicke Schinken gelesen, und dazu Beeren genascht. Während des Studiums hat sie nebenbei als Barista gejobbt, den Garten besuchte sie nur noch selten. Seit sie in der Eventbranche arbeitet, ist sie nie mehr hier gewesen.

Zufahrtsstraßen teilen die Anlage in mehrere Bereiche. Jede Straße endet bei einem Wendeplatz. Charlie fährt sie alle hoch, aber keine kommt ihr bekannt vor. Zunehmend frustriert holt sie ihr Handy hervor, um die Karten-App aufzurufen. Ganz in der Nähe liegt ein Friedhof. Vage erinnert sich Charlie an schwarz gekleidete Gestalten, die schweigend an einer Himbeerhecke vorbeigingen. Sie parkt vor dem Friedhofeingang und stößt auf einen Weg, der zu den Kleingärten führt.

Unter ihr breitet sich Freiburg aus. Die Lichter der Stadt leuchten wie Sterne, Charlie kommt es vor, als stehe die Welt auf dem Kopf. Sie sucht das Krankenhaus, in dem ihre Großmutter jetzt schläft. Der Turm des Münsters dient ihr als Kompassnadel und weist ihr die Richtung. Die Operation ist gut verlaufen, Freya hat bereits ein leichtes Abendbrot gegessen. Ihre Hände haben so stark gezittert, dass Charlie ihr helfen musste, die Suppe zu löffeln. Sie hat von London gesprochen, von Brennnesseljauche, Eissalat und einem Konzert der Beatles.

»Wer hätte gedacht, dass ein paar Jungs aus Liverpool die Welt erobern.« Freyas Blick war verträumt. »Weißt du noch, wie wir über ihre Frisuren gelacht haben?«

Charlie strich ihr über den Arm. »Da war ich noch nicht geboren.«

Sofort bereute sie ihre Worte. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass eine Narkose bei älteren Menschen manchmal zu Verwirrung führe. Postoperatives Delir hatte er es genannt und versichert, dass Freya bald wieder klar denken werde. Charlie war trotzdem beunruhigt. Es kam ihr vor, als habe jemand die Fast-Forward-Taste betätigt. An einem einzigen Nachmittag hat sich Freya in eine alte Frau verwandelt. Charlies Herz schmerzt. Am liebsten würde sie die Zeit anhalten.

Der Mond geht hinter dem Wald auf und taucht die Anlage in silbriges Licht. Die Kleingärten sehen mit ihren nackten Bäumen, den schiefen Tomatenhäuschen und den welken Pflanzen gespenstisch aus. Charlie schließt das Haupttor auf. Ab hier erinnert sie sich plötzlich an den Weg. Automatisch zählt sie die Brunnen zwischen den Parzellen. Freyas Garten liegt hinter dem siebten. Ein Schatten huscht über den Kies, und zwei Augen leuchten auf. Charlies Puls schießt in die Höhe. Nur ein Fuchs, beruhigt sie sich, aber es dauert einen Moment, bis sie wieder normal atmen kann. Aus dem Wald strömt kalte Luft, es riecht nach feuchter Erde und modrigen Blättern. Charlie fühlt sich wie ein Eindringling in einer fremden Welt. Die Versuchung, umzukehren und in ihre moderne Wohnung auf dem Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs zu fliehen, überwältigt sie, doch Freya zuliebe zwingt sie sich weiterzugehen. Bloß abschließen und die Paprika gießen, in fünf Minuten ist sie weg. Zu Hause wird sie sich ein heißes Bad einlaufen lassen und sich anschließend eine Fußmassage gönnen. Das Massagegerät, das sie sich zu ihrem neunundzwanzigsten Geburtstag gekauft hat, steckt immer noch in der Originalverpackung.

Vor ihr tauchen die vertrauten Steinstufen auf. Ein Rebspalier bedeckt den Eingang, neben dem Gartenhäuschen streckt der Quittenbaum seine knorrigen Äste in den Himmel. Charlie hat erwartet, Spuren des Unfalls zu finden, doch die Leiter steht im Geräteschuppen, und die Tür ist zu, wenn auch nicht abgeschlossen. Auch im Häuschen befindet sich alles an seinem Platz. Der Hahn des Gaskochers ist zugedreht, die Fenster sind verriegelt. Charlie sieht die orange-braunen Sitzkissen auf der Eckbank und denkt daran, wie sie früher hier Hausaufgaben gemacht hat. Während der Woche war nur das Summen der Bienen und das Zwitschern der Vögel zu hören. An den Wochenenden strömten die Pächter in die Anlage, und der Duft von Grillwürsten waberte durch die Luft. Charlie schmeckt den Senf auf der Zunge, scharf und würzig, und riecht den Knoblauch, der in Bündeln an der Wand trocknete. Sie denkt an die Kekse, die immer im Schrank aufbewahrt wurden, und sieht nach. Die verbeulte Blechdose steht noch da, sie ist sogar mit ihren Lieblingsvanilleplätzchen gefüllt, als habe Freya jederzeit mit ihrem Besuch gerechnet. Gerührt greift Charlie danach. Die Zeiten, in denen sie ungestraft Plätzchen verschlang, sind längst vorbei, dennoch gönnt sie sich eines. Mit geschlossenen Augen schwelgt sie in süßen Erinnerungen.

Die Gießkanne befindet sich im Geräteschuppen. Die Regenwassertonne ist fast leer, Charlie muss sich tief vornüberbeugen, um an das Wasser zu gelangen. Sie streift mit der Stirn ein Spinnennetz, springt zurück, lässt die Gießkanne fallen und tastet panisch ihr Haar ab. Sie spürt ein Krabbeln am Hals, schlägt nach der vermeintlichen Spinne, doch da ist nichts. Es dauert eine Weile, bis sie sich traut, die Gießkanne erneut ins Wasser zu tauchen. Die Erde ist mit Grünzeug, Laub und verdorrten Pflanzen bedeckt, wie soll Charlie die Paprika finden? Da fällt ihr ein, dass Freya von Samen gesprochen hat. Sie sucht die Beete nach Steckschildern ab, entdeckt aber keine. Frustriert schaltet sie die Taschenlampe ihres Handys ein und schiebt mit den Fingerspitzen ein paar Blätter beiseite. Glänzende Schnecken kommen zum Vorschein. Plötzlich will Charlie nur noch weg von hier.

Sie setzt die Suche fort. Irgendwann gibt sie schlotternd vor Kälte auf und verlässt den Garten mit dem Gefühl, versagt zu haben. Warum musste ihre Großmutter nur auf eine Leiter steigen? Weshalb gibt sie den Garten nicht ab, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, sich darum zu kümmern? Schuldbewusst bleibt Charlie stehen. Weil er mehr als Gemüse hergibt. Der Garten nährt Freyas Seele, ohne ihn würde sie eingehen – wie Paprikasamen ohne Wasser. Mit einem Seufzer geht Charlie zurück. Doch egal, wie sehr sie sich anstrengt, sie findet die Stelle, an der Freya die Samen gesät hat, nicht.

Eigentlich hat sie vorgehabt, noch Kleider und Toilettenartikel aus Freyas Wohnung zu holen, aber sie ist zu erschöpft. Zu Hause schiebt sie ein Fertiggericht in die Mikrowelle und zieht ihre Designerhose aus. Ein brauner Fleck prangt auf dem Stoff. Ihre Schuhe sehen aus, als sei sie durch Schlamm gewatet. Charlie holt eine Wildlederbürste, macht damit aber alles nur schlimmer. Während sie isst, überfliegt sie auf dem Tablet die Veranstaltungskritiken. Im Schaumbad schläft sie augenblicklich ein. Das Massagegerät bleibt unangetastet.

Freyas Wohnung liegt im Stadtteil St. Georgen. Charlie schafft es erst am nächsten Mittag, dorthin zu fahren. Kaum etwas hat sich verändert, seit Charlie ausgezogen ist. Noch immer herrscht ein buntes Durcheinander. Auf dem Fensterbrett reihen sich Eierkartons aneinander, die mit Erde gefüllt sind, in der Küche trocknen Kräuter an Kleiderbügeln, und die Wände sind mit Kinderzeichnungen tapeziert. Obwohl Freyas Duft in der Luft hängt, wirken die Räume verlassen. Die alten Möbel stehen da, als warteten sie darauf, abgeholt zu werden. Charlie berührt eine Tropfkerze, die in einer Flasche steckt. Sie stellt sich vor, wie sie nach Freyas Tod Schränke leert, Kleider in Kartons packt, Bücher und Geschirr entsorgt. Die Einsamkeit, die in ihr aufkommt, droht sie zu verschlucken. Sie verbannt die düsteren Gedanken und überlegt, was ihre Großmutter im Krankenhaus brauchen könnte.

Ihr Handy klingelt.

»Wir müssen eine andere Lösung finden!« Nuria spricht schnell. »Das Image der Chinesen geht nicht, meint Lasse. Made in China macht Angst. Du weißt schon, Diktatur, Fledermäuse, Hunde auf dem Teller. Beißt sich mit Dörrtomatenschaum.«

»Wir sollen canceln? Es war ein Glücksfall, dass die Band so kurzfristig zugesagt hat!«

»Wir treffen uns zu einem Brainstorming, Lasse will, dass du dabei bist.«

»Wann?«

»Zwanzig Minuten.«

»Ich muss meiner Großmutter ein paar Sachen ins Krankenhaus bringen.«

»Kannst du das nicht am Abend erledigen?«

In Gedanken sieht Charlie Freya im Krankenhaushemd.

»Lasse tickt aus, wenn du nicht auftauchst«, warnt Nuria.

Charlie fährt sich durch die Haare und schließt für einen Moment die Augen. »Ist ja gut, bin schon unterwegs.«

Sie stopft ein paar Kleidungsstücke in eine Tasche, legt eine Zahnbürste, Seife und Shampoo dazu, sie will den Reißverschluss zuziehen, da fällt ihr ein, dass Freya mit Gummistiefeln ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Sie braucht Hausschuhe. Oder Turnschuhe? Charlie nimmt, was sie gerade findet, da liegt auch ein Gartenheft, das passt noch rein. Beim Abschließen denkt sie an die Lebensmittel im Kühlschrank. Morgen, sagt sie sich. Den Briefkasten muss sie ohnehin noch leeren.

Das Brainstorming entpuppt sich als Flop. Alle Bands, die infrage kommen, sind ausgebucht.

Nuria schlägt eine südkoreanische Sängerin vor, die ihren Zenit längst überschritten hat. »Wenigstens erfüllen wir damit die Bedingungen des Hauptsponsors.«

»Risiko minimieren«, nickt Harro.

»Mit dieser Einstellung könnt ihr euch einen Job in der Versicherungsbranche suchen«, schnauzt Lasse. »Charlie?«

Sie denkt nach. »Ich könnte die Story abändern. Einen Touch Exotik hineinbringen. Eine Band aus Malaysia oder Indonesien? Sofern der Hauptsponsor einverstanden ist«, fügt sie rasch hinzu.

»Das ist gut!« Lasse nickt. »Immer noch Asien, aber mehr Exotik.« Er schnippt mit den Fingern. »Was geht euch bei dem Wort durch den Kopf?«

»Bora Bora«, sagt Nuria. »Krokodilleder, Abendkleid mit Stola, Jasminblüten, Sansibar.«

»Ajowan«, ergänzt Harro. »Kardamom, Kurkuma.«

»Forsythien.« Charlie spricht es aus, bevor sie sich zurückhalten kann.

Lasse runzelt die Stirn. »Sind das nicht diese gewöhnlichen gelben Blumen, die Spießer im Garten anpflanzen?«

»Kokosnuss, Tukan, Schuppentier«, fügt Charlie schnell hinzu.

»Schuppentiere übertragen Viren«, gibt Harro zu bedenken.

Der Flow ist unterbrochen. Pessimismus statt Optimismus. Lasse beauftragt Charlie damit, den neuen Gig zu organisieren. Eine Band aus Malaysia oder Indonesien aufzutreiben.

»Soll ich warten, bis du mit dem Hauptsponsor gesprochen hast?«, fragt sie.

Er schüttelt den Kopf. »Mache ich heute noch, aber leg du schon mal los.«

Charlie kehrt an ihren Arbeitsplatz zurück. Sie muss endlich wissen, wie Forsythien aussehen. Auf ihrem Bildschirm erscheint ein Strauch mit gelben Blüten, den sie schon häufig gesehen hat. Sie lächelt. Es ist, als werde ihr ein Nachbar vorgestellt, dessen Namen sie nicht kennt, obwohl sie seit Jahren nebeneinander wohnen.

Die Reha-Spezialistin breitet Prospekte vor ihnen aus. Charlie fühlt sich wie in einem Reisebüro, außer, dass auf den Titelseiten keine Naturwunder, sondern Parkanlagen zu sehen sind. Drei bis vier Wochen wird der Aufenthalt dauern, hat der Arzt gesagt. Seit der Operation sind erst vier Tage vergangen, doch Freya will jetzt schon nach Hause.

»Ich komme dich jedes Wochenende besuchen«, verspricht Charlie.

»Der Garten …«

»Es ist zu früh für Gartenarbeit«, unterbricht Charlie. »Die Forsythien blühen noch nicht einmal.«

Freyas Mundwinkel zucken. »Woher weißt du, wie Forsythien aussehen?«

»Aus dem Internet.« Charlie deutet auf einen Prospekt, bevor Freya sie nach den Paprikasamen fragt. »Da sieht es schön aus!«

Das Foto zeigt eine strahlende Seniorin, umringt von Pflegepersonal. Weiße Zähne, weiße Kittel, weißes Haar. Freya rümpft die Nase.

»Wie wäre es hiermit?« Die Reha-Spezialistin greift nach einem dicken Hochglanzprospekt. »Diese Klinik liegt im Schwarzwald, von den Zimmern aus genießen Sie eine wunderbare Fernsicht. Behandlungsqualität und Patientenzufriedenheit sind besonders hoch.«

Freya schaut nicht einmal hin.

Charlie entdeckt einen Faltprospekt, auf dem eine Blumenwiese abgebildet ist.

»Das Zentrum Hofgarten ist eine Schwerpunktklinik für Orthopädie und Kardiologie«, erklärt die Reha-Spezialistin. »Die Atmosphäre ist familiär, der Ansatz interdisziplinär. Fachärztinnen, Therapeuten und Psychologen kümmern sich gemeinsam um die Patienten.«

»Das klingt doch gut«, sagt Charlie. »Schau, die Zimmer sehen richtig gemütlich aus.«

Freya weigert sich mitzureden.

»Eine gute Wahl«, bestätigt die Reha-Spezialistin. »Soll ich Sie anmelden?«

Charlie fällt die Entscheidung für ihre Großmutter. Wohl ist ihr dabei nicht. Sie sieht auf die Uhr. Heute findet die Galaveranstaltung statt, in einigen Stunden wird sie an Lasses Seite Champagner trinken. Eigentlich wollte sie sich eine neue Abendrobe kaufen, sie weiß aber jetzt schon, dass sie es nicht schaffen wird. Das Organza-Kleid von Red Valentino muss genügen. Sie hat es bereits einmal zu einem Geschäftsanlass getragen, hoffentlich erinnert sich Lasse nicht daran.

Sie klären die offenen Fragen, erledigen den Papierkram. Der Arzt informiert Charlie über Freyas Fortschritte, und dann sind sie endlich allein.

Freya zupft an der Bettdecke. »Es tut mir leid«, sagt sie leise. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.«

»Ich verstehe, dass es dir schwerfällt wegzufahren. Aber in drei Wochen bist du zurück. Ich werde mich gut um den Garten kümmern.«

»Ach, Charlie. Du hast genug um die Ohren. Gartenarbeit hat dir nie wirklich Freude bereitet. Ich kann das nachvollziehen, ich war früher auch keine begeisterte Gärtnerin.«

»Ich dachte, du bist mit einem grünen Daumen zur Welt gekommen!«

Ein schelmischer Ausdruck schleicht sich auf Freyas Gesicht. Das ist die Großmutter, die Charlie kennt. Eine Last fällt von ihr ab.

»Ganz und gar nicht«, sagt Freya. »Als junge Frau habe ich geglaubt, dass Rosenkohl zu Weißkohl heranwächst.«

»Tut er das nicht?«

Freya kichert. »Nein, Rosenkohl wächst an einem Stängel.«

»Und Weißkohl?«

Freya nimmt ihre Hand. »Es ist in Ordnung, Charlie. Du musst kein Interesse vortäuschen. Erzähl mir von der Agentur. Was denkst du, wer wird dieses Jahr die Triumph Talent Show gewinnen?«

»Du lenkst ab«, protestiert Charlie. »Ich möchte wirklich wissen, wie du deine Liebe zum Gärtnern entdeckt hast.«

Freya streicht über Charlies Hand. Ihr Blick ist verträumt, ihre Gesichtszüge werden weich. »Das ist eine lange Geschichte.«

»Erzählst du sie mir?«, bittet Charlie.

»Ja, aber nicht jetzt. Dafür brauchen wir Zeit.«

Charlie weiß, dass kein versteckter Vorwurf in Freyas Worten liegt, dennoch hat sie ein schlechtes Gewissen. Sie eilt von Verabredung zu Verabredung, immer kommt etwas zu kurz. Sie ist eine Jongleurin mit zu vielen Bällen und fürchtet sich vor dem Moment, in dem alle gleichzeitig herunterfallen.

»Wenn ich dich in der Reha besuche, ja?«, schlägt sie vor.

Freya tätschelt ihre Hand. »Geh jetzt zu deinem Lasse.«

Mein Lasse, denkt Charlie, als sie das Zimmer verlässt. Sie erklärt Freya immer wieder, dass Lasse ihr Chef ist, nicht ihr Freund, doch ihre Stimme verrät sie. Sie kommt sich vor wie ein Teenager. Damals lag sie stundenlang auf ihrem Bett und träumte vom Klassenschwarm. Sie schrieb jedes Wort, das er von sich gab, und jeden Blick, den er ihr zuwarf, in ihr Tagebuch. Nie hätte sie ihn angesprochen oder ihm gar von ihren Gefühlen erzählt. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Sie ist eine erwachsene Frau, keine unsichere Jugendliche, und dennoch regt sich Widerstand in ihr, wenn sie sich vorstellt, sich zu öffnen. Ein Teil von ihr genießt es, verliebt zu sein, ohne sich den Herausforderungen einer Beziehung zu stellen. Die Art, wie Lasse sie neulich nach dem Meeting ansah, hat ihr Mut gemacht. Es ist nicht das erste Mal gewesen, dass sein Blick länger auf ihr geruht oder er ihre Leistung hervorgehoben hat. Wenn er das Thema heute Abend nicht anspricht, wird sie es tun.

Charlie drückt auf den Liftknopf. Sie hat viel vor, Nägel lackieren, Körperpflege, Styling, Make-up. Davor muss sie noch die Lebensmittel aus Freyas Wohnung holen, die seit Tagen im Kühlschrank vor sich hingammeln.

Freyas Briefkasten ist randvoll. Viele Briefe stammen von Hilfswerken, die Spenden sammeln. Freya unterstützt sie alle, hungernde Kinder, Behinderte, Frauen in Afrika, Schulen, Opferhilfestellen, Friedensmissionen. Letztes Jahr ist ein Bügel ihrer Lesebrille gebrochen, doch statt sich eine neue zu kaufen, hat Freya ihn mit Klebeband umwickelt, weil sie das Geld lieber UNICEF gab.

Eine feine Staubschicht hat sich auf die Möbel gelegt. Charlie packt Lebensmittel in Tüten und schafft sie zu ihrem Wagen, anschließend blickt sie sich kurz in der Wohnung um. Überall hängen Fotos von ihr. Als Kind hat sie ihr glattes Haar, die Sommersprossen und den breiten Mund gehasst. Klassenkameraden nannten sie Pippi, oft hat sie deswegen geweint. Mit ihrem Taschengeld hat sie sich einen Lockenstab gekauft, danach sah sie aus wie ein Weihnachtspaket mit ein paar gekringelten Geschenkbändern. Mit ihrem Äußeren hat sie sich inzwischen versöhnt. Sie weiß, was sie tragen muss, damit sie romantisch und nicht aufsässig wirkt, welche Farben ihr stehen und wie sie ihre grünen Augen mit Mascara und Kajal zum Leuchten bringt. Die Sommersprossen stören sie nur, wenn sie zu zahlreich werden.

Bevor sie geht, dreht sie die Heizkörper aus. Sie kommt an den Eierkartons vorbei, die auf dem Fensterbrett stehen. Ihre Großmutter besitzt keine Zimmerpflanzen, was wachse, gehöre nach draußen, sagt sie jeweils. In den Eierkartons ist aber Erde. Trocken und staubig zwar, doch hier soll eindeutig etwas wachsen. Charlie fällt ein, dass Freya früher Gemüse in der Wohnung vorgezogen hat. Sie schiebt die Eierkartons auseinander und entdeckt dazwischen eine leere Tüte Paprikasamen. Rasch holt sie Wasser. Die Erde ist so trocken, dass die Tropfen auf der Oberfläche liegenbleiben wie Glasmurmeln. Ob die Samen noch keimen werden? Bekümmert gießt Charlie Wasser nach. Sie wird im Gartencenter Paprikasetzlinge kaufen, nimmt sie sich vor. Der Unterschied wird Freya kaum auffallen.

Zu Hause stellt sie sich als Erstes unter die Dusche, wo sie sich einem Tagtraum hingibt. Sie schwebt mit Lasse im Takt eines Wienerwalzers über die Tanzfläche. Seine Hand liegt auf ihrem Rücken, federleicht und warm. Er beherrscht die Schritte, kann ausgezeichnet führen, besitzt aber wenig Gespür für ihre Bewegungen. Der Gedanke hat sich zwischen die romantischen Bilder geschmuggelt, Charlie will ihn verdrängen, doch er setzt sich hartnäckig in ihrem Kopf fest.

Vor dem Spiegel betrachtet sie ihren Körper. Auf ihre schmale Taille ist sie stolz, die Brüste dürften etwas voller sein. Ihre Mutter besaß die gleiche blasse Haut, manchmal fragt sich Charlie, woher sie stammt. Freyas Seite der Familie ist dunkel. Schwarzes Haar, Augen wie Kohle. Ihren Großvater hat Charlie nie kennengelernt, er starb, bevor sie zur Welt kam. Auf Fotos ist seine Haut aber stets gebräunt, und seine dunkelblonden Haare weisen nicht den geringsten Rotstich auf.

Das Organzakleid hängt auf dem Balkon. Kein Parfüm riecht so gut wie sonnengetränkte Seide. Charlie berührt den ekrüfarbenen Stoff, lauscht seinem Flüstern und bewundert die kleinen Kristalle, die im Licht aufblitzen. Sie mag das schlichte Design, es erinnert sie an die ärmellosen Sommerkleider, die sie als Mädchen trug. Der runde Ausschnitt gibt nicht viel preis, und der Rock reicht ihr bis über die Knie. Romantik pur. Sie wählt als Kontrast Sandalen mit hohen Absätzen und Knöchelband. Bevor sie geht, stellt sie sich noch einmal vor den Spiegel. Was sie sieht, gefällt ihr. Ihre Augen leuchten vor Aufregung, ihre Wangen sind leicht gerötet. In einen warmen Mantel gehüllt, macht sie sich auf den Weg.

Der Anlass findet im Konzerthaus statt. Im Parkhaus überprüft Charlie ihre Nachrichten, doch Lasse hat ihr nicht geschrieben. Ob er schon da ist? Seinen Roadster sieht sie nirgends. Sie betritt einen Saal mit zahlreichen runden Tischen, jeder ist für zwölf Personen gedeckt. Charlie sucht ihren Platz, dann liest sie die Tischkärtchen, um sich mit den Namen der anderen Gäste vertraut zu machen. Die meisten sind Geschäftskontakte aus der Eventbranche, zwei Männer und eine Frau kennt sie nicht. Neben ihr sitzt nicht Lasse, sondern der Hauptsponsor, und zu ihrer Linken die unbekannte Frau. Enttäuscht sucht Charlie den Waschraum auf, um ihr Make-up zu überprüfen. Auf dem Weg zurück in den Saal trifft sie auf eine Geschäftskollegin, die sie in ein Gespräch über anstehende Events verwickelt. Sie trinken Weißwein an einem Stehtisch, bis sich die Gäste nach und nach an ihre Plätze begeben. Der Hauptsponsor ist schon da, begleitet vor einer aparten Asiatin in einem Etuikleid.

Kellner bringen Getränke. Lasse ist immer noch nicht eingetroffen, auch der Stuhl neben seinem bleibt leer.

»Sumi freut sich bereits auf die Triumph Talent Show.« Der Hauptsponsor berührt den Arm seiner Frau. »Der Zufall will es, dass ihre Familie genau dann zu Besuch sein wird. Sehen Sie eine Möglichkeit, uns zusätzliche Eintrittskarten zukommen zu lassen?«

Beide wissen, dass er nur aus Höflichkeit fragt. Der Event ist ausverkauft, doch es gibt immer Plätze für VIPs.

»Selbstverständlich«, lächelt Charlie.

Sumi beugt sich vor. »Meine Familie ist sehr stolz darauf, dass unsere Landsleute in Europa auftreten.«

Ihre Worte lösen in Charlie Unbehagen aus. Hat Lasse den Hauptsponsor noch nicht über die Absage der Koreaner informiert? Sie nickt unverbindlich und sieht nervös zum Eingang. Wo bleibt er bloß? Sie will bereits ihr Handy hervorholen, als sie ihn entdeckt. Er trägt einen Smoking mitsamt Kummerbund und Einstecktuch. An seiner Seite lacht eine Frau über etwas, das er ihr ins Ohr flüstert. Charlie sieht rot. Buchstäblich. Feuerrotes Kleid, knallrote Lippen, rote Pumps. Sie fühlt sich wie das verwaschene T-Shirt, das sie zum Schlafen trägt. Die beiden kommen auf sie zu. Charlie kann den Blick nicht von der Frau abwenden. Lange Beine, schwarze Haare, eine Oberweite, die den Namen verdient. Lasse und sie gehen im Gleichschritt, als wären ihre Bewegungen aufeinander abgestimmt. Auf der kurzen Strecke hat er sie mindestens ein dutzend Mal berührt.

Annabelle steht auf dem Tischkärtchen. Sie hätte es sich denken können, dass Lasse in Begleitung kommt. Wie naiv war sie eigentlich?

Lasse bleibt vor Charlie stehen. Sie sieht, dass sich seine Lippen bewegen, die Worte dringen aber nicht zu ihr durch. Sie schüttelt eine Hand mit roten Fingernägeln.

Sumi will alles über die Stars wissen, die Charlie kennengelernt hat. Charlie erzählt ihr von den Popidolen, TV-Größen und anderen Berühmtheiten, mit denen sie zu tun hatte. Sie gibt die Geschichte eines Magiers zum Besten, der ihre Ohrringe verschwinden ließ, ohne dass sie es bemerkte. Sie läuft auf Autopilot. Auf einmal ist ihr alles zu viel. Sie klemmt ihre Clutch unter den Arm, entschuldigt sich und flieht in die Toilette, wo sie gegen die Tränen ankämpft. Sogar Freyas Kleingarten erscheint ihr verlockender als der Abend, der vor ihr liegt. Sie strafft die Schultern und atmet tief durch. Als sie an ihren Platz zurückkehrt, wird bereits die Vorspeise serviert. Lustlos stochert Charlie in der Basilikum-Frischkäseterrine, während Annabelle Small Talk macht.

»Ich liebe Ihr Kleid«, sagt sie.

Charlie lächelt höflich.

»Lasse schwärmt von Ihnen«, fährt Annabelle fort. »Sie seien nicht nur kreativ, sondern hätten auch einen guten Geschäftssinn.«