Das Glück zwischen den Bäumen - Julia Parin - E-Book

Das Glück zwischen den Bäumen E-Book

Julia Parin

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Beschreibung

Komm in den Wald und öffne dein Herz

Nachdem ihr Mann sie überraschend verlassen hat, hält Alice es nicht länger aus in ihrem großen Haus mit dem gepflegten Garten und der alten Kuckucksuhr, die nicht mehr funktioniert. Wenn sie schon ihr gebrochenes Herz nicht heilen kann, dann will sie wenigstens die Uhr reparieren. Also fährt Alice in den Schwarzwald zu dem Uhrmacher, der die Uhr vor über vierzig Jahren angefertigt hat. Da die Reparatur jedoch viel Zeit in Anspruch nimmt, macht Alice derweil einen Waldbaden-Kurs. Die Ruhe unter dem Blätterdach ist Balsam für ihre Seele, und in Gegenwart des attraktiven Försters Niklas scheint das Glück plötzlich wieder ganz nah. Doch was, wenn der Kuckuck ruft und sie in ihr altes Leben zurückkehren muss?

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Seitenzahl: 329

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DASBUCH

»Rebekka erklärte die Übung. ›Ich lade euch ein, die Augen zu schließen und euch vom Partner oder von der Partnerin zu einem Baum führen zu lassen. Tastet ihn ab, prägt euch seine Form, die Anordnung seiner Äste und seine Besonderheiten ein. Zurück am Ausgangspunkt könnt ihr die Augen wieder öffnen und versuchen, den Baum zu finden. Danach tauschen wir die Rollen.‹

Ich sollte die Augen schließen und mich von einem fremden Mann durch den Wald führen lassen? Alles in mir sperrte sich dagegen.

Ein Zweig knackte, und Rebekka richtete sich auf. Ihre Wangen waren gerötet, ihr Blick war auf eine Gestalt gerichtet, die leichtfüßig über einen Baumstrunk stieg. Auf einmal verstand ich, warum sie den Förster gebeten hatte einzuspringen.

Er war in ihrem Alter, vielleicht etwas älter. Groß, mit kräftigen Schultern und kurz geschnittenem sandblondem Haar. Sein wettergegerbtes Gesicht zeugte von vielen Stunden im Freien. Die haselnussbraunen Augen kamen mir bekannt vor, aber ich war mir sicher, dass ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte.«

DIEAUTORIN

Julia Parin ist das Pseudonym der erfolgreichen Autorin Petra Ivanov, die bereits zahlreiche Romane und Jugendbücher geschrieben hat. Ihr Roman »Wenn Träume Wurzeln schlagen« stand auf der Schweizer Bestsellerliste. Wenn sie nicht gerade schreibt, verbringt sie ihre Zeit am liebsten in ihrem Schrebergarten, wühlt in der Erde und hört den Bienen beim Summen zu.

JULIA PARIN

Das Glück zwischen den Bäumen

ROMAN

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe 06/2024

© 2024 by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Michelle Stöger

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design

unter Verwendung von Adobe Stock (Neda Asyasi, Mathias Weil, Box, hcast, Pencile Art Design); Bigstock (Serg64); Mauritius Images (Busse&Yankushev); Shutterstock.com (clarst5)

Satz: satz-bau Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-30506-2V001

www.heyne.de

Für Christel

1

Der Kuckuck rief zehnmal, aber die Klappe oberhalb des schlichten Zifferblatts blieb zu. Ich vermisste den kleinen Vogel, der hervorsprang. Kitsch hin oder her, er führte mir vor Augen, wie kostbar jeder Moment war. Ich überprüfte Riegel und Schalter, alles schien in Ordnung. Eine Feder musste kaputt sein, oder vielleicht hatte sich ein Zahnrad gelöst. Ich würde mich später darum kümmern, jetzt hatte ich Wichtigeres vor. In einer halben Stunde kam meine Tochter zum Brunch. Seit Pauline studierte, besuchte sie uns nur selten, dabei dauerte die Fahrt vom Zentrum Münchens aus, wo sie in einer Dreier-WG wohnte, bis zu uns nach Unterhaching an der Stadtgrenze keine Dreiviertelstunde. Ich schlüpfte in meine Gummistiefel und trat hinaus in den Garten, der hinter unserer Doppelhaushälfte lag.

Die Narzissen leuchteten in Goldgelb, Apricot und zartem Weiß, dazwischen blühten einzelne Traubenhyazinthen. Ich liebte den Frühling, die Farben, das sanfte Licht, die zaghafte Wärme. Der Regen der vergangenen Tage hatte die Wassertonne gefüllt, ich sollte eine Abdeckung besorgen, bevor die Mücken ihre Larven legten. Ich holte eine Gartenschere aus dem Schuppen und schnitt die schönsten Blumen. Obwohl erst Ende April, zeigten sich bereits die ersten Maiglöckchen, und auch die Anemonen strahlten in kräftigem Blau. Drinnen arrangierte ich den Strauß in einer mundgeblasenen Vase und stellte ihn auf den Wohnzimmertisch. Die Narzissen passten perfekt zu der weißen Leinentischdecke und den zitronengelben Servietten. Den Käse hatte ich nach seinem Geschmack angerichtet, von mild bis kräftig, die Aufschnittplatte mit Tomaten und Petersilie garniert. Die Walnüsse stammten aus dem Bioladen, die Erdbeeren, aus denen ich die Marmelade gemacht hatte, aus unserem Garten. Es fehlte nur noch das frisch gebackene Brot, das in der Küche auskühlte.

»Frank, würdest du bitte das Brot schneiden?«, bat ich.

Er stand am Fenster, tief in Gedanken versunken. Sein Gesichtsausdruck ließ mich innehalten. Wir waren seit dreiundzwanzig Jahren verheiratet, diese Mischung aus Wehmut, Unsicherheit und Unbehagen, mit der er mich anblickte, war jedoch neu.

»Alles in Ordnung?«, fragte ich.

Das vertraute Lächeln kehrte zurück. Es verwandelte Franks Gesicht in etwas Besonderes, erreichte nicht nur seine Augen, sondern auch seine breite Stirn, die sich nun glättete. In dieses Lächeln hatte ich mich verliebt, als ich im Ingenieurbüro seines Vaters anfing. Noch heute verband ich Liebe mit dem Geruch von Papier auf einem Zeichenbrett, dem Gefühl von Stiften, Linealen und Schablonen in der Hand.

Frank verschwand in der Küche. Hinter verschlossener Klappe verkündete der Kuckuck die halbe Stunde. Ich wollte gerade nach meinem Handy greifen, als ein BMW vor dem Haus hielt. Die Beifahrertür ging auf, und Pauline stieg aus, eine Handtasche unter den Arm geklemmt. Statt löchriger Jeans trug sie cremefarbene Leggings und eine taillierte Bluse. Ich war gespannt auf den Fahrer, doch ich konnte ihn vom Fenster aus nicht sehen. Der Wagen wendete bereits wieder.

Ich ging hinaus. »Wie schön, dass du uns endlich wieder besuchst !«

Zu spät erkannte ich den Vorwurf, der in den Worten steckte. Ich hätte mir die Zunge abbeißen können.

Pauline küsste mich flüchtig. »Hallo, Alice.«

Wann hatte sie aufgehört, mich Mama zu nennen?

Sie sah dem davonfahrenden BMW nach.

»Wer hat dich gefahren?«, fragte ich.

»Ein Freund.«

»Will er nicht zum Essen bleiben?«

»Er muss weiter.«

In der Diele streifte Pauline ihre Stiefeletten ab. Unwillkürlich dachte ich daran, wie sie darauf bestanden hatte, auf der Hochzeit ihrer Cousine Turnschuhe zu tragen. Wir hatten uns deswegen gestritten. Ich hatte ihr mangelnden Respekt vorgeworfen, sie hatte behauptet, mir wären Äußerlichkeiten wichtiger als innere Werte, was mich tiefer verletzte, als ich mir damals eingestehen wollte. Ich war nicht besonders mutig, aber zu meinen Werten stand ich. Dazu gehörten Respekt, Toleranz und Ehrlichkeit.

Frank kam mit dem Brotkorb aus der Küche, stellte ihn auf den Tisch und drückte Pauline. Sie erwiderte die Umarmung.

»Setzt euch«, sagte ich. »Pauline, wie viele Eier möchtest du?«

»Ich esse keine Eier mehr.« Pauline nahm am Eichentisch Platz.

Ich sah sie überrascht an. »Du liebst doch Rühreier zum Frühstück !«

Pauline seufzte.

»Frank?«, fragte ich.

»Ein Spiegelei, danke.«

In der Küche gab ich etwas Butterschmalz in eine Bratpfanne, schlug ein Ei auf und ließ es in das geschmolzene Fett gleiten. Die Morgensonne tauchte die rötlichen Fliesen in warmes Licht, was mir ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Auf dem Fensterbrett standen Töpfe mit Salbei, Thymian, Rosmarin und Estragon, sobald es etwas wärmer wäre, würde ich noch Basilikum kaufen. Einen Moment blieb ich stehen und schaute hinaus. Ich sah direkt auf den Aroniastrauch, den Frank mir zum vierzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Super Food für eine super Frau, stand auf der Karte. Ich hatte sie aufbewahrt.

Aus dem Wohnzimmer erklang Paulines Lachen, hell und herzlich. Ich ließ das Spiegelei auf einen wasserblauen Teller mit Naturglasur gleiten und kehrte an den Frühstückstisch zurück.

»Pauline erzählt mir gerade von ihrer chaotischen Mitbewohnerin«, sagte Frank. »Sie hat den Salzbehälter des Geschirrspülers aus Versehen mit Spülmittel gefüllt.«

»Wie hat sie denn das geschafft?«, fragte ich erstaunt.

»Sie war in Gedanken versunken«, sagte Pauline. »Und hat nicht gemerkt, dass sie nach dem Spülmittel gegriffen hat.«

»Aber die Verpackung sieht doch völlig anders aus«, stellte ich fest.

»Sie war eben geistig abwesend.« Pauline klang gereizt.

»Sie ist Künstlerin«, ergänzte Frank.

»Aha«, sagte ich.

»Was soll das jetzt heißen?«, fragte Pauline.

Mich störte die Vorstellung, dass kreative Menschen chaotisch sein mussten, denn es setzte Ordnung mit Biederkeit gleich. Ich fand, das eine schloss das andere nicht aus, schwieg aber wohlweislich.

»Nicht jeder ist so organisiert wie du.« Aus Paulines Mund klang das wie ein Vorwurf.

»Paulchen«, sagte Frank beschwichtigend. »Lass gut sein.«

Ich nahm mir eine Scheibe Brot.

»Warum?«, fragte Pauline. »Es stimmt doch.«

»Deine Mutter ist heute um halb sieben aufgestanden, um diesen Brunch vorzubereiten«, sagte Frank. »Ich schlage vor, wir genießen …«

»Das ist es ja ! Es genügt nicht, beim Bäcker Brot zu besorgen oder Marmelade im Supermarkt zu kaufen. Alles muss überperfekt sein !«

»Pauline !«, sagte Frank ungewöhnlich scharf.

Pauline verstummte und starrte auf ihren Teller.

Ich schnitt ein Stück Limburger ab. Plötzlich saß ich in Gedanken an einem anderen Tisch. Ich sah gezuckerte Smacks mit Milch, die ich für mich aus dem Schrank geholt hatte, während meine Mutter schlief. Ich hatte es besser machen wollen, Pauline die Nestwärme geben, die ich nicht bekommen hatte.

»Wer war das eigentlich im BMW?«, fragte Frank.

»Ein Freund.«

»Ein Student?«

»Nein.«

Pauline knabberte an einem Stück Brot. Ohne Butter oder Aufstrich. Ich suchte nach einem unverfänglichen Thema und erzählte von der Entwicklung eines Solarparks, an dem Frank arbeitete. Bald waren wir in ein Gespräch über den Boom der Solarenergie vertieft, und ich entspannte mich. Wenig später kam der BMW zurück.

Pauline stand auf. »Ich muss los.«

»Jetzt schon?«, fragte ich.

Auch Frank sah erstaunt aus.

»Ich habe im Moment viel um die Ohren.«

Ich hätte gern mehr gewusst, fragte aber nicht nach. Stattdessen setzte ich ein Lächeln auf und begleitete Pauline zur Tür. Wann war die Herzlichkeit dieser Höflichkeit gewichen?

»Schön, dass du dir die Zeit genommen hast, uns zu besuchen«, sagte ich zum Abschied.

»Lass bald von dir hören, ja?«, fügte Frank hinzu, der mir gefolgt war.

Und dann war sie weg. Frank und ich standen reglos im Flur, als spielten wir Ochs am Berg, während sich das Motorengeräusch langsam entfernte. Mit einem Gefühl, versagt zu haben, trug ich das Geschirr in die Küche. Während ich spülte, räumte Frank die Essensreste in den Kühlschrank. Er war ungewöhnlich schweigsam. Erneut lag dieser seltsame Ausdruck auf seinem Gesicht.

Ich trocknete mir die Hände ab und sah ihn an. »Was ist los mit dir?«

Frank mied meinen Blick.

»Wollen wir uns auf die Terrasse setzen?«, schlug ich vor.

Frank schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Ich …«

Ich wartete darauf, dass er weitersprach. Ein dünner Schweißfilm hatte sich auf seiner Stirn gebildet. Wusste er etwas über Pauline? Hatte sie vielleicht das Psychologiestudium abgebrochen? Sie war so stolz, als sie einen Studienplatz an der LMU bekommen hatte. Ein neuer Gedanke schoss mir durch den Kopf, und ich schnappte nach Luft.

»Ist sie schwanger?«, stieß ich aus.

Frank sah mich erschrocken an. »Nein !«

Er war blass geworden. Mit beiden Händen rieb er sich über das Gesicht. In der Stille war nur das Ticken der Kuckucksuhr zu hören.

Frank schluckte. »Wie lange weißt du schon von ihr?«

Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach.

»Es tut mir leid.« Er flüsterte jetzt beinahe. »Es hat nichts mit dir zu tun.«

»Wovon sprichst du?«

Frank wirkte verwirrt. »Ich dachte, du …?«

Ich wurde ganz kribbelig. »Nun sag schon !«

»Ist wer schwanger?«, fragte er stattdessen.

»Pauline natürlich. Wer sonst?«

Auf einmal ergab alles einen Sinn. Die Distanz, die sich zwischen uns gebildet hatte, sein seltsames Verhalten.

Ich starrte ihn an. »Du hast eine Affäre?«

Er wand sich. »Alice, ich wollte es dir nicht auf diese Art und Weise sagen.«

Ich war sprachlos.

»Wir haben uns letztes Jahr auf der Intersolar-Messe kennengelernt«, fuhr er mit gesenktem Blick fort. »Vor einigen Monaten sind wir uns zufällig am Stachus über den Weg gelaufen, und da hat es sich … einfach ergeben.«

Ich versuchte zu atmen. »Wer ist sie?«

Frank sah todunglücklich aus. »Eine … sie ist Kunstmalerin, jobbt aber nebenbei als Hostess auf Messen.«

Warum hatte ich nichts mitbekommen? Ich arbeitete im selben Büro wie Frank. Führte seinen Terminkalender, erledigte seine Korrespondenz. Ich hatte immer den Kopf geschüttelt über Frauen, die angeblich aus allen Wolken fielen, wenn sie erfuhren, dass ihr Partner fremdging. Ich hatte sie für feige gehalten, weil ich annahm, dass sie die Wahrheit nicht sehen wollten, obwohl alle Zeichen da waren.

»Wie heißt sie?«, fragte ich.

»Olivia.«

Ich staunte, wie ruhig ich mich fühlte. Da war keine Wut, kein Entsetzen, keine Trauer. Fast kam es mir vor, als schaute ich einen Film, der nichts mit mir zu tun hatte.

»Sag doch etwas«, bat Frank.

»Ich möchte, dass du deine Koffer packst.«

Frank zuckte zusammen. »Können wir nicht darüber reden?«

»Nicht jetzt«, flüsterte ich.

»Aber …«

»Nicht jetzt«, wiederholte ich.

Frank stieg mit schweren Schritten die Treppe hoch. Ich hörte, dass er eine Schublade öffnete, und stellte mir vor, wie er seine Kleider herausnahm und auf dem Bett ausbreitete. Auf unserem Bett. Mein halbes Leben war ich neben Frank eingeschlafen. Um nicht mitzubekommen, wie er packte, floh ich in den Garten. Mechanisch deckte ich die Regentonne mit einer Plane ab. Ich brauchte einen richtigen Deckel. In Gedanken machte ich mir eine Liste der anstehenden Garten- und Hausarbeiten. Ich musste mich ablenken, mich mit Alltäglichem beschäftigen.

Im Nachbarsgarten hatte jemand den Apfelbaum geschnitten. Der neue Besitzer? Ein Investmentbanker hatte die andere Doppelhaushälfte vor zwei Monaten erworben, ich war ihm aber noch nie begegnet. Frank und ich hatten uns gefragt, ob der Banker den Hausteil vermieten oder selbst bewohnen würde. Wir hatten ihn zum Grillen einladen wollen.

Die Terrassentür ging auf, und Frank kam heraus. Er trug die braune Jacke, die ich ihm letztes Jahr gekauft hatte. Ich versuchte, ihn aus Sicht einer anderen Frau zu betrachten, doch er war mir zu vertraut. Er wartete darauf, dass ich mich bewegte, einen Schritt auf ihn zu machte. Ich schaffte es nicht. Meine Füße waren wie angewurzelt. Er lächelte traurig und wandte sich ab. Dann war er weg.

2

Der Schmerz überfiel mich in der Nacht. Immer wieder durchlebte ich die letzten Tage, Wochen, Monate. Jetzt saß ich auf dem Sofa und lauschte den sechs Rufen des Kuckucks, der sich nicht mehr zeigte. Ich dachte an die Abende, an denen Frank länger im Büro blieb. Seine Erklärungen klangen immer plausibel, ich wusste ja, woran er gerade arbeitete. Warum hatte ich nichts bemerkt? Die Scham darüber war fast so groß wie meine Trauer.

Um halb sieben griff ich zum Telefonhörer und rief meine Freundin Lizzy an.

»Er hat was?«, stieß Lizzy am anderen Ende aus.

»Eine Affäre«, flüsterte ich. »Vielleicht … auch mehr.«

»Frank will dich verlassen?« Sie klang fassungslos.

»Ich weiß nicht, was ich tun soll !«

»Du gehst jetzt in deinen Garten, pflückst irgendetwas Beruhigendes und kochst dir einen Tee. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Ich suchte meine Gummistiefel, aber sie standen nicht dort, wo sie hingehörten. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. Schließlich schlüpfte ich in ein paar Turnschuhe und trat in den Garten hinaus. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, und ich fror in meinem dünnen Pyjama. Ich fragte mich, ob Frank erwartete, dass ich zur Arbeit kam. Wer würde die Assistenz im Ingenieurbüro erledigen, wenn ich zu Hause blieb?

In der blassen Morgendämmerung erntete ich ein paar Zweige Pfefferminze. Da fiel mir auf, wie schief der Maulbeerbaum stand. Er war jung, jetzt konnte ich ihn noch richten. Ich fand einen Holzpfahl, sogar Naturbast war genug vorhanden. Ich platzierte den Pfahl neben dem Stamm und holte den Vorschlaghammer. Beim ersten Schlag drang der Pfahl tief in den Boden hinein. Dann ging nichts mehr. Ich zog ihn heraus und setzte ihn ein paar Zentimeter weiter rechts. Diesmal gelang es mir, ihn so weit in den Boden zu treiben, dass er von alleine hielt. Noch würde er dem Gewicht des Maulbeerbaums aber nicht standhalten. Ich hob den Hammer über den Kopf und schlug mit aller Kraft zu, dabei verlor ich ein wenig das Gleichgewicht und traf den Pfahl an der Kante statt in der Mitte. Nun stand er so schief wie der Baum. Ich stieß und rüttelte, doch er steckte fest.

»Alice?«, rief Lizzy. »Ich habe geklingelt, aber … Was machst du da?«

Keuchend sah ich auf und entdeckte Lizzy am Zaun. Mit ihrem kobaltblauen Pullover und der gelben Hose sah sie wie ein Paradiesvogel aus.

»Du trägst ja noch deinen Pyjama !« Lizzy verschwand um die Hausecke und tauchte kurz darauf im Garten auf. »Lass uns reingehen, hier draußen holst du dir noch den Tod !«

Erschöpft legte ich den Hammer weg. Ich zitterte vor Anstrengung, und mir war leicht übel. Was war nur in mich gefahren? Als käme mein Leben wieder in Ordnung, wenn ich den Baum richtete.

Lizzy legte mir den Arm um die Schultern und führte mich ins Haus. Kaum war ich im Warmen, flossen die Tränen. Lizzy hielt mich fest, murmelte beruhigende Worte. Mit einem letzten, tiefen Schluchzer ließ ich mich aufs Sofa fallen.

»Ich setze Wasser auf«, sagte Lizzy.

Ich nickte dankbar. Lizzy arbeitete im Altenpflegeheim Waldblick, wo Franks Vater die letzten Monate seines Lebens verbracht hatte. Als ich sie vor knapp acht Jahren dort kennengelernt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie mir einmal so viel bedeuten würde. Ich empfand sie als überschäumend, manchmal sogar als aufdringlich. Dann starb Franks Vater, und der Kontakt brach ab. Ich stellte fest, dass ich Lizzy vermisste. Wenig später trafen wir uns zufällig beim Einkaufen. Wir kamen ins Gespräch und setzten uns in ein Café. Lizzy erzählte von ihrer Mutter, die in Indonesien einen Tauchkurs gemacht hatte und schwanger nach Deutschland zurückgekehrt war, von ihrem Vater, den sie nicht kannte, und von der Einsamkeit, die sie manchmal überkam, wenn sie daran dachte, alleine alt zu werden. Auch ich kannte meinen Vater nicht, er war vor meiner Geburt gestorben. Wir tauschten uns über unsere Kindheit und unsere Träume aus, dabei stellten wir fest, dass wir uns ähnlicher waren, als wir geglaubt hatten. Es war der Beginn einer Freundschaft, die mit jedem Jahr stärker wurde.

»Grünen Tee?«, fragte sie nun aus der Küche.

Ich wusste nicht, wo die Pfefferminzzweige abgeblieben waren.

Lizzy kam mit einer dampfenden Tasse zurück und stellte sie auf den Couchtisch. »So, und jetzt erzähl !«

Ich redete und redete, wiederholte immer wieder, wie dumm ich mich fühlte und wie gekränkt ich war. Aber auch, wie sehr ich mich nach Frank sehnte, schon nach einer einzigen Nacht.

»Für mich hat es nie einen anderen Mann gegeben.« Ich wischte mir mit dem Handrücken über die tränennassen Wangen. »Ich kann mir ein Leben ohne ihn nicht vorstellen !«

»Trink deinen Tee, dann lasse ich dir ein heißes Bad einlaufen«, sagte Lizzy.

Kurz darauf lag ich in der Wanne. Vor meinem Gesicht türmte sich der Schaum auf, er roch nach Kokosnuss. Ich erinnerte mich daran, dass Lizzy mir vor ein paar Jahren ein Pflegeschaumbad geschenkt hatte, das seither ungeöffnet im Regal stand. Frank hatte mir vorgerechnet, dass eine 120-Liter-Wanne knapp siebzig Liter warmes Wasser benötigte und der Energieverbrauch bei einer Badetemperatur von neununddreißig Grad 4,1 kWh betrug. Seither konnte ich nicht mehr ohne schlechtes Gewissen baden. Nun ertappte ich mich dabei, dass ich Genugtuung empfand. Als würde ich mit dem Bad Frank schaden, nicht der Umwelt.

Lizzy setzte sich auf den Klodeckel. »Lass uns zusammen wegfahren !«

Ich tauchte tiefer ins Wasser ein.

»Irgendwohin, wo es junge Männer gibt.«

Unter »jung« verstand Lizzy Männer unter sechzig. Sie klagte darüber, dass sie auf der Arbeit nur Greise traf.

»Ich kann nicht einfach verreisen«, sagte ich.

»Warum denn nicht?« Lizzy blickte mich über den Rand ihrer Schmetterlingsbrille hinweg an, die vom Dampf beschlagen war.

»Weil sich jemand um das Haus kümmern muss.«

»Es läuft schon nicht weg.«

Ich wollte ihr erklären, dass ein Haus Pflege brauchte, genau wie die Menschen im Altenheim. Im Frühjahr putzte ich die Fenster, wusch die Vorhänge, ölte die Böden nach. Auch im Garten gab es viel zu tun. Ich schnitt Stauden, jätete Unkraut, fegte die Terrasse. Einmal hatte ich mich von Frank dazu überreden lassen, ihn in die Schweizer Alpen zu begleiten, wo er einen schwimmenden Solarpark auf einem Stausee installierte. Als wir zurückkamen, hatten sich Löwenzahn, Giersch, Disteln und Zaunwinde ausgebreitet, und am Wegrand wucherte das Schöllkraut.

»Früher konntest du wegen Pauline nicht weg, dann war es die Arbeit, jetzt schiebst du das Haus vor«, sagte Lizzy.

»Ich schiebe nichts vor !«, protestierte ich, wohl wissend, dass sie recht hatte. Ich verreiste nicht gern. In Hotels fühlte ich mich verloren, ich hatte das Gefühl, nirgendwohin zu gehören.

Lizzy sah mich tadelnd an.

»Wovon soll ich das bezahlen?«, fragte ich trotzig. »Bei Frank kann ich nicht mehr arbeiten ! Und du klagst ohnehin ständig über Geldsorgen.«

Als Lizzy seufzte, überkam mich ein schlechtes Gewissen. Ich wusste, dass sie Tagträume genauso sehr brauchte wie ich Ordnung und Vorhersehbarkeit. Wenn sie einsam war, las sie Reiseführer und malte sich aus, wie sie auf einem Kamel durch die Wüste ritt, Datteln naschte und sich nachts in das Zelt des Tourguides schlich. Oder auf einer Kreuzfahrt durch die Südsee trieb und einem Pianisten lauschte, der nur für sie spielte. Ich tickte da völlig anders. Falsche Versprechen und unerreichbare Träume deprimierten mich, ich hielt mich lieber an feste Abläufe und konkrete Pläne.

Ich wechselte das Thema. »Wie lange hast du Uwe nachgetrauert?«

Lizzy schnaubte. »Keinen einzigen Tag.«

Ich wartete, doch es kam nichts mehr. Über ihren Ex-Mann sprach Lizzy nicht, und ich fragte mich oft, was zwischen ihnen vorgefallen war. Ich hatte Uwe nie getroffen.

Lizzy sah auf die Uhr. »Ich muss zur Arbeit. Ich schaue am Abend wieder vorbei. Wenn etwas ist, ruf mich an, versprochen?«

Sie beugte sich vor und pustete in den Schaum, der daraufhin in alle Richtungen flog. Dann verschwand sie mit einem Winken.

Ich schloss die Augen. Obwohl Frank um diese Zeit nie da war, wirkte das Haus ungewöhnlich still, als traute es sich nicht zu atmen. Ich dachte daran, wie ich als Kind auf Zehenspitzen durch die Räume geschlichen war, um meine Mutter nicht zu stören. Den Hörer neben das Telefon legte, damit der Klingelton sie nicht weckte.

Fröstelnd wachte ich auf. Das Wasser war kühl geworden, ich musste eine ganze Weile geschlafen haben. Ich stieg aus der Wanne und wickelte mich in einen dicken Bademantel ein. Ich sollte etwas essen, als ich aber im Kühlschrank die Überreste des Brunchs sah, brach ich in Tränen aus und kroch wieder ins Bett.

3

Sechs Tage waren seit Franks Auszug vergangen. Zweimal hatte er angerufen, aber ich nahm nicht ab. Der Schock hatte zwar nachgelassen, die Trauer jedoch nicht. Dennoch zwang ich mich, jeden Morgen um sieben aufzustehen, wie ich es getan hatte, als ich ins Büro fuhr. Zu präsent waren die Erinnerungen an meine Mutter, die oft den ganzen Tag im Bett liegen geblieben war. Ich hatte schon als Jugendliche beschlossen, dass mein Leben anders aussehen würde. Deshalb saß ich nun am Küchentisch und starrte auf die Kuckucksuhr, die ich in Einzelteile zerlegt hatte. Trotz des Reparaturvideos, das auf YouTube lief, schaffte ich es nicht, die Klappe zu reparieren. Schlimmer noch, ich konnte die Uhr nicht mehr zusammensetzen. Frustriert trat ich hinaus auf die Terrasse.

Der Maulbeerbaum stand noch immer schief, der Pfahl steckte fest. Auf einmal kochte blanke Wut in mir hoch. Frank hatte den Baum gepflanzt, voller Begeisterung, weil er irgendwo Maulbeeren gekostet hatte und sie so lecker fand. Mir wäre eine Blumenstaude lieber gewesen. Rittersporn vielleicht, oder Hortensien. Nun war Frank weg, und der Maulbeerbaum immer noch da. Ich holte meine Handtasche und setzte mich in den Wagen.

Vor dem Gartencenter stauten sich die Fahrzeuge, wie nicht anders zu erwarten an einem sonnigen Samstagmorgen Ende April. Kunden luden Pflanzen und Sträucher in den Kofferraum, die Vorfreude auf die beginnende Gartensaison war ihnen deutlich anzusehen. Ich parkte neben einem Paar mit Kleinkind und nahm mir einen Einkaufswagen. Am Eingang gab es einen Imbissstand, der Duft von gegrillten Würsten hing in der Luft. Mein Magen knurrte, doch ich hatte keinen Appetit. Vor den Sonderangeboten blieb ich stehen. Eine Bougainvillea im Topf, Pfingstrosen, eine Feuerschale aus Edelstahl. Ob ich den Maulbeerbaum durch die Bougainvillea statt Rittersporn ersetzen sollte? Oder doch lieber Hortensien?

»Alice?«

Ich drehte mich um und blickte in das vertraute Gesicht von Jutta. Ihre Tochter war mit Pauline in dieselbe Klasse gegangen; die Mädchen konnten sich ebenso wenig leiden wie Jutta und ich einander.

»Wie geht es dir?«, fragte Jutta in mitleidigem Tonfall.

»Gut, danke.«

»Es tut mir so leid wegen Frank«, sagte sie. »Das muss ein Schock sein !«

Ich schwieg.

»Männer !« Jutta schnalzte mit der Zunge. »Im Grunde sind sie doch alle gleich. Kaum überschreitet die Ehefrau die vierzig, wissen sie nicht mehr, wo die Musik spielt. Kommt dann noch das eine oder andere Fettpölsterchen hinzu …«

Unwillkürlich zog ich den Bauch ein.

Jutta tätschelte meinen Arm. »Diese Olivia kann dir das Wasser bestimmt nicht reichen.«

»Du kennst sie?«, rutschte es mir heraus.

»Nicht persönlich, ihr Name steht auf dem Nachsendeauftrag«, erklärte Jutta, die bei der Post arbeitete. »Aber wir wissen doch beide, worauf Männer in Franks Alter stehen.«

Nachsendeauftrag. Frank war zu Olivia gezogen, nicht in ein Hotel, wie ich geglaubt hatte. Ich umklammerte den Griff des Einkaufswagens mit beiden Händen so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten.

»Ich muss los, Wolfgang wartet. Er ist zwar kein Prachtexemplar, dafür dreht sich auch keine Dreißigjährige nach ihm um !« Sie lachte schallend. »Melde dich, wenn du etwas brauchst, ja?«

Sie marschierte ungewöhnlich leichtfüßig über den Parkplatz. Die Menschen strömten an mir vorbei, doch ich nahm sie kaum wahr. Ich hatte mir Olivia älter vorgestellt. Frank hatte immer gesagt, er mochte die Spuren, die das Leben auf meinem Körper gezeichnet hatte. Ich ging auf die fünfzig zu und hatte nie das Bedürfnis verspürt, es zu verheimlichen.

Ich betrat das Gartencenter und suchte die Blumenstauden. Obwohl ich versuchte, mich auf die unterschiedlichen Pflanzen zu konzentrieren, hörte ich in Gedanken immer wieder Jutta. Ich fragte mich, wer sich über die neue Staude freuen würde. Ich sah das leere Haus vor mir, den verlassenen Garten. Wen interessierte es, ob ich putzte oder Blumen pflanzte? Ob Mücken in der Wassertonne Larven legten, die Fenster sauber waren oder der Maulbeerbaum gerade wuchs? Es kam mir vor, als pflegte ich eine Kulisse, vor der sich nichts mehr abspielte. Kurz entschlossen ließ ich den Einkaufswagen stehen und eilte aus dem Gartencenter. Eine halbe Stunde später parkte ich vor dem Altenheim, in dem Lizzy arbeitete. Hecken säumten die breiten, rollstuhlgängigen Wege, da und dort stand ein Hochbeet, das die Bewohner mit Primeln bepflanzt hatten.

Ich fand Lizzy im Aufenthaltsraum, wo sie einem gebrechlichen Mann das Fernsehprogramm vorlas.

»Alice?«, fragte sie erschrocken, als sie mich in der Tür entdeckte. »Was machst du hier? Ist alles in Ordnung?«

»Keine Sorge, mir geht es gut.« Ich zögerte. »Machst du vielleicht bald Mittagspause?«

Lizzy blickte auf die Uhr. »Erst in einer halben Stunde.«

»Entschuldigen Sie, dass ich einfach so hereinplatze«, sagte ich zu dem Mann.

»Kein Problem, ein bisschen Abwechslung ist immer willkommen.«

»Ich warte draußen«, sagte ich zu Lizzy.

Eine halbe Stunde später saßen wir auf einer der zahlreichen Parkbänke, die um das Altenheim verteilt waren. Lizzy bot mir von ihrem Kartoffelsalat an.

Ich lehnte ab und erzählte ihr von meiner Begegnung mit Jutta. »Es ist weit mehr als eine Affäre. Frank ist bereits zu dieser Olivia gezogen !«

»Ach, Schätzchen.«

»Und ich mache einfach weiter, als wäre nichts geschehen.«

»Du brauchst eben Zeit, um das alles zu begreifen.«

»Gestern habe ich den Teppich im Wohnzimmer gereinigt ! Dabei sieht ihn ja ohnehin keiner.«

Lizzy sah mich mitfühlend an. »Vielleicht solltest du dich nach einer neuen Stelle umschauen? Das würde dich auf andere Gedanken bringen.«

»Als was denn? Wir haben damals gelernt, von Hand zu zeichnen. Am Reißbrett. Heute werden technische Zeichnungen am Computer erstellt. Davon verstehe ich nichts.«

»Aber von Büroarbeit. Du hast den Laden praktisch allein geschmissen. Ohne dich hätte sich Frank nie dermaßen auf seine Projekte konzentrieren können.«

Ich dachte daran, wie ich nach einer Pause von mehreren Jahren, in denen ich mich um Pauline gekümmert hatte, wieder ins Ingenieurbüro zurückgekehrt war. An meinem Platz saß ein technischer Produktdesigner, der mit einem CAD-System arbeitete. Natürlich hatte Frank mir von den Veränderungen erzählt, aber ich war zu sehr ins Muttersein vertieft gewesen, um mich damit zu befassen. Erst als ich auf den Bildschirm schaute, wurde mir klar, dass meine Fähigkeiten als Zeichnerin nicht mehr gefragt waren. Also machte ich, was ich schon immer gut konnte: organisieren, strukturieren, planen. Frank war dankbar, denn seine damalige Bürokraft hatte gerade gekündigt.

»Ich habe keinen kaufmännischen Abschluss, ich kann überhaupt nichts vorweisen«, sagte ich.

Hätte ich mich doch wenigstens weitergebildet ! Doch ich hatte es nie für nötig gehalten. Warum Geld und Zeit investieren, nur, um ein Stück Papier in der Hand zu halten, das ich nie brauchen würde? Ich war davon ausgegangen, dass ich für immer bei Frank im Büro arbeiten würde.

»Aber du hast Erfahrung«, sagte Lizzy. »Das zählt mehr als ein Abschluss. Glaub mir, ich weiß, wovon ich rede.«

Sie hatte im vergangenen Jahr einen kaufmännischen Abendkurs besucht. Die körperliche Arbeit im Altenheim setzte ihr zu, und sie wollte gerne etwas ganz Neues tun. Trotz guter Fachkenntnisse hatte sie aber keine Stelle gefunden, weil es ihr an Erfahrung mangelte.

»Es braucht beides«, sagte ich. »Erfahrung und einen Abschluss.«

»Du könntest zu einem Karrierecoach gehen. Oder ein Wiedereinstiegsseminar besuchen. Viele Frauen stehen vor ähnlichen Problemen.« Ein Spatz hüpfte um Lizzys Füße und pickte die Krümel vom Boden. »Was sagt eigentlich Pauline zu dem Ganzen?«

Ich senkte den Blick. Mehrmals hatte ich Pauline anrufen wollen, doch ich brachte es nicht über mich. Zu präsent waren die Vorwürfe, die sie mir beim Brunch gemacht hatte.

»Du hast ihr doch erzählt, dass Frank ausgezogen ist?«, fragte Lizzy.

»Sie weiß es bestimmt von ihm.«

Plötzlich fragte ich mich, ob sie Olivia bereits kennengelernt hatte. Das würde zumindest erklären, warum sie sich beim Brunch so unwohl gefühlt hatte und gleich wieder gegangen war. War ich die Einzige, die nichts von Franks neuer Beziehung gewusst hatte?

Lizzy nahm meine Hand. »Du brauchst Pauline jetzt ! Ruf sie an !«

»Sie wird behaupten, dass ich Frank vertrieben habe.«

Lizzy sah mich ungläubig an. »Wieso das?«

»Sie hält mich für überorganisiert und bieder.« Ich erzählte, dass Olivia Künstlerin war.

Lizzy machte eine abschätzige Handbewegung. »Na und? Du bist auch kreativ ! Du lebst es bloß anders aus. Schau dir nur die Blumenpracht in deinem Garten an, von deinen ausgezeichneten Kochkünsten ganz zu schweigen.«

Ich wusste, dass Lizzy mich aufmuntern wollte, doch sie erreichte genau das Gegenteil. Sie führte mir vor Augen, wie andere mich sahen. Wie Pauline mich sah. Meine Tochter begriff nicht, dass ich eine gewisse Biederkeit immer für erstrebenswert gehalten hatte. Für mich bedeuteten Ordnung und Vorhersehbarkeit Normalität. Als Kind hatte ich mir gewünscht, meine Mutter würde am Herd stehen, wenn ich nach Hause kam. Ich träumte von Dampfnudeln in Vanillesoße, Gardinen am Fenster und sorgfältig gefalteter Wäsche. Pauline konnte das nicht nachvollziehen, und das war gut so. Denn es bedeutete, dass ich nicht die gleichen Fehler gemacht hatte wie meine Mutter.

»Ich werde mit ihr reden«, versicherte ich.

Wir sprachen noch eine Weile über dieses und jenes, doch meine Gedanken waren bei Pauline. Auf der Fahrt nach Hause dachte ich über Lizzys Rat nach. Ich würde Pauline anrufen, aber noch fühlte ich mich nicht imstande dazu. Erst brauchte ich Klarheit. Ich musste wissen, wie es weitergehen würde. Lizzy hatte recht, ich konnte mich nicht verstecken und so tun, als käme alles von alleine wieder in Ordnung. Ein Wiedereinstiegsseminar wollte ich nicht besuchen. Ich kannte meine Stärken und Schwächen, ich musste bloß herausfinden, wo sie gefragt waren.

Als ich zu Hause ankam, stand vor dem Nachbarhaus ein Umzugswagen. Arbeiter in Overalls trugen Möbel hinein. Ein graues Ledersofa, Tischbeine aus Chromstahl, ein granitschwarzes USM-Sideboard. Männermöbel, dachte ich, und stellte mir den Besitzer vor. Jung, zurückgegeltes Haar, Hemd mit Hosenträger. In Gedanken sah ich, wie Pauline die Augen verdrehte. Hallo? Gordan Gekko war einmal, wir leben im 21. Jahrhundert ! Aber wie kleideten sich Investmentbanker heute? Ich erfuhr es nicht, denn der Besitzer der Möbel war nirgends zu sehen. Die Arbeiter schlossen bereits die Hecktür und fuhren davon.

Normalerweise fühlte sich das Nachhausekommen wie eine Umarmung an. Als ich jetzt die Diele betrat, empfing mich zwar der vertraute Geruch von Magnolien-Duftstäbchen, doch die Stille war bedrückend. Seit die Kuckucksuhr schwieg, kam es mir vor, als habe das Herz des Hauses aufgehört zu schlagen. War es Zufall, dass die Klappe ausgerechnet am Tag von Franks Geständnis kaputtgegangen war?

Auf einmal wusste ich, was ich zu tun hatte. Meine Ehe konnte ich vermutlich nicht mehr kitten. Ich kannte Frank gut genug, um zu wissen, dass er mich nicht für einen Flirt betrogen hätte. Die Sache mit Olivia war ihm ernst. Aber ich würde dafür sorgen, dass meine Uhr wieder lief. Ohne die Schuhe auszuziehen, ging ich in die Küche, sammelte die Teile auf dem Tisch ein, packte sie in eine Kiste und googelte den Namen des Uhrengeschäfts, der auf einem vergilbten Schild auf der Rückseite des Gehäuses stand: Bärentaler Kuckucksuhren. Ich machte mir keine großen Hoffnungen, dass das Geschäft noch existierte. Die Uhr hatte meine Mutter schon vor meiner Geburt besessen. Doch ich täuschte mich.

4

Mit jedem Kilometer, den ich zwischen München und mich brachte, fühlte ich mich ein wenig freier. Ich tat etwas, das ich noch nie zuvor getan hatte: Ich fuhr ohne Plan los. Weder hatte ich im Uhrengeschäft angerufen noch jemandem erzählt, wohin ich wollte.

Bärentaler Kuckucksuhren lag im Hochschwarzwald. Meine Mutter hatte oft vom Titisee erzählt, wo sie zwei Wochen Urlaub gemacht hatte, bevor ich zur Welt kam. Dabei waren ihre Augen stets feucht geworden, und ihre Stimme hatte einen seltsamen Tonfall angenommen. Es lag eine Sehnsucht darin, die mich tief verunsicherte. Als sei ihr Leben vor meiner Geburt noch in Ordnung gewesen. Ich hatte mich schuldig gefühlt und wollte wiedergutmachen, was ich offenbar durch meine Geburt zerstört hatte. Doch egal, wie viele Blumen ich für sie pflückte oder wie viele Bilder ich zeichnete, sie wurde einfach nicht glücklich.

Ich stellte das Radio an, um die unliebsamen Gedanken zu vertreiben. Vor mir erstreckte sich die A8, und ich malte mir aus, wie es wäre, einfach weiterzufahren. Ins Saarland, nach Luxemburg oder vielleicht bis ans Meer. Gleichzeitig wusste ich, dass ich es nicht tun würde. Sobald meine Kuckucksuhr geflickt war, würde ich nach München zurückkehren. In Roadmovies sah es so einfach aus. Die Heldinnen ließen alles zurück, als streiften sie lediglich ein altes Paar Schuhe ab. Aber woher kam das Geld? Und wer bezahlte während ihrer Abwesenheit die Rechnungen oder goss die Pflanzen? Darüber machten sie sich so wenig Gedanken wie über die Menschen, die sie zurückließen.

Kurz vor Stuttgart hielt ich an einer Raststätte, kaufte mir einen Becher Kaffee und ein pampiges Sandwich. Noch ein Grund, warum ich nicht gerne verreiste. Zu Hause bereitete ich alle Mahlzeiten von Grund auf aus frischen Zutaten zu. Wieder dachte ich an Pauline, die mich für meine hohen Ansprüche kritisiert hatte. War ich doch überperfekt? Aber warum sollte ich mich mit einem pampigen Sandwich zufriedengeben, wenn ich mein Brot selbst backen konnte? Frank hatte meine Mahlzeiten immer gelobt. Ob Olivia eine gute Köchin war? Vielleicht kümmerte sie sich nicht um Banalitäten wie Essen, immerhin war sie Künstlerin. In Gedanken spie ich das Wort aus. Tief in meinem Innern aber nagten die Zweifel. Mein Leben erschien mir auf einmal furchtbar banal. Was hatte ich je erschaffen? Ich hatte Frank bei seiner Arbeit unterstützt. Ihm zugehört und manchmal auch eigene Ideen eingebracht, umgesetzt aber hatte immer er sie. Er gab den Impuls, ich hielt die Maschinerie am Laufen. Wann hatte er gemerkt, dass er mehr brauchte? Warum hatte er es nicht bei mir gefunden?

Mir war der Appetit vergangen. Ich packte die Überreste des Sandwiches ein – auch wenn es nicht schmeckte, Lebensmittel wegzuwerfen schaffte ich nicht – und machte einen Abstecher zur Toilette. Es war ungewöhnlich warm für Ende April, und ich zog meinen Pullover aus. Darunter trug ich ein ärmelloses Top. Als ich mir die Hände wusch, betrachtete ich mich im Spiegel. Mein blondes Haar war mit weißen Strähnen durchzogen, um Augen und Mund hatten sich feine Fältchen gebildet. Obwohl ich mich im Garten und im Haushalt viel bewegte, war die Haut an meinen Oberarmen schlaff. »Mama-Flügel« hatte Pauline sie einst genannt. Und wo war meine Taille eigentlich geblieben? Hastig zog ich meinen Pullover wieder an. Ich fragte mich, wie Olivia aussah. Ob sie regelmäßig ins Fitnessstudio ging? Frank hielt nichts von Kraftübungen, aber er hatte sie auch nicht nötig. Er war kein Muskelprotz, doch seine Schultern waren wohlgeformt, seine Hüften schmal, und er hatte kein Gramm zu viel auf den Rippen.

Was erhoffte ich mir eigentlich von meinem Ausflug? Bildete ich mir wirklich ein, dass meine Welt in Ordnung käme, wenn meine Kuckucksuhr wieder lief? Ich erwog sogar umzudrehen, aber nun war ich schon so weit gekommen. Ich kehrte zu meinem Wagen zurück und fuhr los. Im Radio lief »Dancing Queen« von ABBA, und ich sang laut mit. Ich traf die Töne nicht, aber das störte ja niemanden. Manchmal hat Alleinsein auch Vorteile. Langsam begann sich die Landschaft zu verändern. Sie war weniger dicht besiedelt, im Westen ging die Ebene in sanfte Hügel über, dahinter erhoben sich niedrige Berge. Ein Schild kündigte Hüfingen an. Die Wälder wurden dichter, wenig später fuhr ich an Titisee-Neustadt vorbei. Ich sah die Turmspitze des Münsters und mehrere Industriegebäude, darunter auch eine Uhrenfabrik.

Plötzlich tauchte der See vor mir auf. Er lag unterhalb der Straße in einem Tal, eine schimmernde blaue Fläche inmitten einer Frühlingslandschaft. Wälder säumten die Ufer, sie bildeten einen grün-braunen Teppich, der mit zunehmender Entfernung immer blasser wurde. Die Sonne glitzerte auf der Wasseroberfläche, ein Ausflugsschiff entfernte sich langsam von einem Steg. Am liebsten hätte ich einen Abstecher an den kleinen Strand gemacht, der von hier aus zu sehen war, doch es war bereits halb vier. Ich wusste nicht, wie lange Bärentaler Kuckucksuhren geöffnet hatte, im Internet stand darüber nichts. Viele Geschäfte schlossen in der Nebensaison früher, ich wollte nichts riskieren.

Ich fuhr am Titisee vorbei, warf einen letzten Blick auf das tiefe Blau und konzentrierte mich auf die Straße, die nun kurvenreicher wurde. Ich öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. Es war deutlich kühler als in München, und es roch nach Nadelbäumen. Ich folgte den Anweisungen des Navis, bis ich nach Bärental kam, wo sich die Bundesstraßen 500 und 317 kreuzten. Ich hatte ein idyllisches Dorf erwartet, stattdessen gab es einen Lidl mit einem großen Parkplatz und eine Bäckerei, deren Dach wie ein roter Bollenhut aussah. Schräg gegenüber stand ein neues Gebäude aus Naturholz, in dem laut Schild eine Gastwirtschaft und ein Souvenirladen untergebracht waren. Von Bärentaler Kuckucksuhren keine Spur.

Ich parkte vor dem Holzbau und betrat das Souvenirgeschäft. Die Glasfront, die sich über zwei Stockwerke erstreckte, ließ viel Licht herein, das helle Holz und die Natursteinfliesen sorgten für eine angenehme Atmosphäre. Die Gastwirtschaft befand sich im oberen Stockwerk, im Erdgeschoss wurden Produkte aus dem Schwarzwald verkauft. Keine kitschigen Kühlschrankmagnete, Flaschenöffner oder Schlüsselanhänger, sondern Schwarzwälder Blütenhonig, Spirituosen aus lokalen Brennereien, Stickereien, Kunsthandwerk sowie hölzernes Küchenzubehör wie Schneidebretter, Salatschalen und Getreideflocker. Als ich eine Angestellte nach Bärentaler Kuckucksuhren fragte, führte sie mich zu einer Wand, an der verschiedene Uhren hingen.

»Diese hier hat Jakob Müller gemacht.« Sie zeigte auf die oberste Reihe. »Früher hat er seine Bärentaler Kuckucksuhren im eigenen Laden verkauft, seit dem Tod seiner Frau vertreiben wir seine Uhren. Es war ihm zu mühsam, die Arbeit in der Werkstatt immer wieder zu unterbrechen, wenn ein Kunde kam. Er ist nicht mehr der Jüngste. Aber immer noch der Beste !«, fügte sie rasch hinzu. »Sie finden keine schöneren Uhren im Schwarzwald. Jede ist ein Unikat. Schauen Sie nur, wie detailreich die Verzierungen sind.«

Ich trat näher und betrachtete zwei kleine Figuren, die Hand in Hand neben einem steinernen Brunnen standen. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern berührte mich. Jakob Müller hatte es geschafft, die Liebe auf wenigen Millimetern festzuhalten.

»Alles ist handgefertigt, jede Figur, jedes Blatt, jeder Fensterladen«, sagte die Angestellte.

Ich erzählte ihr von meiner Uhr. »Macht Jakob Müller auch Reparaturen?«