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Weil die Liebe dich findet, auch wenn du nicht nach ihr suchst
Bea Weidemann kann es nicht fassen: Schlimm genug, dass ihr kleiner Verlag in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Aber dass sie nun als Tim Bergmanns persönliche Anstandsdame abgestellt wird und mit ihm den Verlag retten soll, ist einfach zu viel für die junge PR-Referentin. Denn der schwierige Bestseller-Autor lässt sich von nichts und niemandem etwas vorschreiben - und ist genau die Sorte Mann, um die Bea sonst einen weiten Bogen macht. Herzklopfen hin oder her. Doch während sie versucht, das Chaos von Tim - und sich - abzuwenden, merkt sie bald, dass auch die Liebe absolut nichts von ihren Prinzipien hält ...
"Lach- und Glücksgarantie! Die perfekte Mischung aus Witz, Gefühl und umwerfendem Charme" Literaturmarkt
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Seitenzahl: 309
KRISTINA GÜNAK
Wer weiß schon, wie man Liebe schreibt
Roman
Bea Weidemann liebt nichts so sehr wie ihren Job in der Marketing- und Presseabteilung des kleinen Königstein-Verlags in Braunschweig. Wenn es darum geht, im Chaos den Überblick zu behalten, kann ihr gewöhnlich niemand das Wasser reichen. Doch jetzt steckt der Verlag in finanziellen Schwierigkeiten und steht kurz vor dem Aus – und selbst Bea kommt an ihre Grenzen. Denn alle Hoffnung liegt auf Bestseller-Autor Tim Bergmann. Um den Verlag zu retten, muss Tim einen wichtigen Leserpreis gewinnen – einziges Problem: Tim hält nichts von Plänen und macht nur das, was er will. Er hasst Lesungen vor großem Publikum, Literaturkritiker sind ihm egal, und dumme Fragen von Journalisten beantwortet er gern auf die grobe Tour – wenn er überhaupt zum Interview auftaucht. Bea wird für die anstehende Lesereise als Tims persönliche Anstandsdame abgestellt und soll den schwierigen Autor in verkaufsfördernde Bahnen lenken. Keine leichte Aufgabe, denn um Männer, für die ausgereifte Nahkampftechniken von Vorteil sind, macht Bea für gewöhnlich einen weiten Bogen – und wenn sie noch so gut aussehend sind! Doch während sie versucht, das Chaos von Tim – und sich – abzuwenden, merkt sie bald, dass auch die Liebe absolut nichts von ihren Plänen hält …
Das habe ich jetzt von meiner großen Klappe. Ein echt großes Problem.
»Abgemacht. Dann wirst du dich also um Tim Bergmann kümmern. Prima!« Carola, meine Chefin, ist hocherfreut.
Ja. Prima. Ich möchte mich ungefähr so gerne um Tim Bergmann kümmern wie mich einer Wurzelresektion beim Zahnarzt zu unterziehen. Trotzdem lächle ich in die Runde. Meine Möglichkeiten, jetzt noch etwas anderes zu tun, sind in den letzten Minuten auf null gesunken. Ich hätte vielleicht nicht ganz so enthusiastisch erklären sollen, dass man das Problem schon irgendwie in den Griff bekommen wird. Aus man ist dann ganz plötzlich ich geworden.
»Wir brauchen Bergmann. Dringend. Er ist quasi unsere Rettung!«, sagt Carola und sieht uns alle der Reihe nach mit ernstem Blick an. Für einen Moment herrscht absolute Ruhe im Besprechungsraum, und es schaffen auch tatsächlich alle, den abgebissenen Besprechungskeks still in der Backentasche einzuspeicheln und nicht zu kauen.
Doch dann ist der ernste Moment vorbei, und wir widmen uns mit jeglicher zur Verfügung stehenden Tatkraft endlich den wirklich wichtigen Dingen in unserem Leben: unseren vorzüglichen Besprechungskeksen und den vor uns liegenden pastellfarbenen Buchcovern mit Blumen, schwungvoll gezeichneten Helden und sanft rollenden südenglischen Hügeln, die allesamt tiefgründige Liebesgeschichten versprechen.
Wir verlegen nämlich Liebesromane. Wir, das sind alle um den Tisch versammelten Mitarbeiter von LOVE Books, sozusagen der Romantikabteilung des kleinen, aber feinen Königstein Verlags. Und wir lieben, was wir tun. Wenn es nach mir ginge, hätten wir auch einfach damit weitermachen können. Wir sind nämlich ausgesprochen gut darin – schließlich machen wir das schon seit fast dreißig Jahren. Ich gebe zu, die ersten Jahre noch ohne mich, aber seit ich vor ungefähr sechs Jahren beim Marketing an Bord gegangen bin, wurde alles noch besser. Seitdem gibt es bei LOVE Books nämlich nicht nur Liebesromane, nein, seitdem gibt es auch Lesungen, zu denen unsere Leserinnen zu Hunderten herbeiströmen, Gewinnspiele, Liebesroman-Tage, einen eigenen Blog einschließlich Facebook-Auftritt – und unsere Messe-Events sind legendär. Leserinnen-Bindung 2.0. Letztes Jahr haben wir für die Leipziger Buchmesse ein männliches Model gebucht, das doch tatsächlich genauso aussah wie der Held aus Amy McConnors Büchern, unsere absolute Starautorin. Ein zum Leben erwachter Bücherheld. Unsere Leserinnen waren begeistert, und unsere Fantasy-Kollegen haben das Geschehen neidvoll und mit offenem Mund bestaunt. Aber damit ist jetzt offenbar Schluss. Seit wir zwei unserer wichtigsten Autorinnen an die Konkurrenz verloren haben, sind die Absatzzahlen von LOVE Books in den Keller gerutscht. Und wenn wir nicht bald einen umsatzstarken Ersatz finden, sieht es schlecht aus für den Verlag. Das allein kann einem schon mal kräftig den Vormittag vermiesen, und jetzt habe ich auch noch diesen durchgeknallten Fantasy-Schreiberling an der Backe. Der liebe Herr Bergmann kann schreiben, keine Frage. Sein letztes Buch hat sich mittlerweile über sechzigtausendmal verkauft. Aber menschlich muss er eine mittlere Katastrophe sein. Und weil die Schwangerschaftsvertretung der Marketingabteilung ihm nicht gewachsen ist, muss die liebe Bea ran. Weshalb ab heute wohl eine Nahkampfausbildung hilfreich wäre.
»Prima!«, wiederholt Carola, unsere Programmchefin, und löst damit die Runde auf. »Prima« ist ihr unangefochtenes Lieblingswort. Wenn sie es nicht in mindestens jedem dritten Satz verwendet, gibt es irgendein Problem. Und weil sie es den ganzen Morgen während unseres Meetings nicht einmal benutzt hat, sind meine Kolleginnen schon ganz nervös geworden. Nun holt sie das »Prima«-Defizit schnell nach, denn ihr Problem ist ja gelöst. Durch mich.
Hannah, eine unserer Lektorinnen, klopft mir im Vorbeigehen auf die Schulter und flüstert: »Tapfere Frau!«
Alle gehen schnell in ihre hübschen Büros in unserer hübschen Altbau-Stuck-Parkett-Etage, schließen ihre Türen hinter sich und lassen mich allein im Konferenzraum hocken. Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie man durchgeknallte und testosteronübersteuerte Arschlöcher, die dazu auch noch Bücher schreiben, die sich leider auch noch wesentlich besser verkaufen als unsere Liebesromane, auf den Pfad der Tugend führt. Aber ich bin ja stets bemüht.
Als ich ins Büro zurückkomme, finde ich meine Kollegin Diana mit der Nase am Bildschirm ihres Laptops kleben.
»Das ist so unglaublich!«, sagt sie, blickt mich über den Rand ihres Computers an und steckt sich einen Besprechungskeks in den Mund, den sie offenbar heimlich hat mitgehen lassen. »Völlig irre!«
Ich nicke und möchte das, was sie sich da gerade ansieht, eigentlich nicht noch mal sehen. Ich habe die Talkshow am Samstag live verfolgt und brauchte einen halben Liter Häagen-Dazs Macadamia Nut Brittle und zwei Tassen heiße Schokolade (einschließlich Sahne), um in der Nacht irgendwie in den Schlaf zu finden.
»Aber irgendwie auch … lässig.« Diana lehnt sich zurück und setzt ihre Brille wieder auf. »Hat er dem Obermann doch glatt eiskalt ins Gesicht gesagt, dass der keine Ahnung von seinem Job hat.« Sie grinst. Ich grinse nicht zurück. Er ist natürlich Tim Bergmann, und der hat Dr. Carsten Obermann, einem der wichtigsten Literaturkritiker dieses Landes (der natürlich den Namen unseres Verlags bisher noch nicht einmal in den Mund genommen hat, weil wir ja »nur« kitschige Liebesromane verlegen), im gleichen Atemzug noch eine unerkannte, narzisstische Störung attestiert und ihm erklärt, dass er chronisch untervögelt sei. Dann hat er sein drittes Glas Rotwein auf ex geleert, ist aufgestanden und hat die Sendung verlassen. Vor laufender Kamera. Daraufhin sind noch in der Nacht die Verkaufszahlen seines Buches explodiert, was ihn automatisch auf Platz eins der Spiegel-Bestsellerliste katapultiert hat. Und die Boulevardpresse hat ihn umgehend zum Enfant terrible der deutschen Literaturszene ernannt. Und um exakt diesen Tim Bergmann soll ich mich also ab sofort kümmern, damit er in der Öffentlichkeit niemanden mehr beleidigt.
»Iss einen Keks.« Diana wirft mir einen dicken Cookie mit Schokolade rüber, und ich stecke ihn komplett in den Mund. Kauend konnte ich die schweren Dinge des Lebens immer schon viel besser verarbeiten. Diana weiß das, denn sie kennt mich.
»Er fasziniert, weil er sich gegen alle Regeln benimmt und sich dabei auch noch gut ausdrücken kann. Er wirkt so ernsthaft und nachdenklich und im nächsten Moment wie ein komplett durchgeknallter Rocker …« Mit einem entrückten Lächeln im Gesicht bindet sie sich in aller Seelenruhe ihren weißen Schleifenkragen neu.
»Ja«, murmle ich und wecke meinen Computer aus dem Schlaf. »Er ist ein dummer Prolet, der das Glück hat, sich ausdrücken zu können. Purer Zufall. Das gibt es manchmal.« Und er könnte sich als meine neue Lebensaufgabe entpuppen. Dabei habe ich schon mehr als genug.
»Und sexy ist er auch«, verkündet meine Kollegin, während sie sich offenbar weitere Fotos von ihm anschaut.
»Da kann man geteilter Meinung sein«, murmle ich und wische einmal über die vielen Unterlagen, die auf meinem Schreibtisch verteilt sind, in der Hoffnung, dass dadurch ein wenig Ordnung eintritt.
»Hast du sein Buch eigentlich gelesen?«, fragt Diana, und nun blicke ich über den Rand des Computers zu meiner Lieblingskollegin hinüber, um zu ergründen, ob das eine ernstgemeinte Frage gewesen ist.
»Dass ICH so was nicht lese, ist klar. Aber du musst jetzt wohl, oder?«, fragt sie arglos und nippt an ihrem schwarzen Tee. Mit Milch. Diana tut alles mit Stil, und das äußerst korrekt. Sie fängt schon im Oktober an, ihre Weihnachtskarten selber zu basteln. Ich schreibe erst gar keine. Und ich lese normalerweise auch keine Fantasy, zumal Rache über Xalanton fast sechshundert Seiten hat. So viel Eis und Kekse kann ich gar nicht essen, um mich dazu zu motivieren.
»Klar, werde ich es lesen«, sage ich schließlich, weil sie mich immer noch anguckt und auf eine Reaktion wartet.
»Und, was wirst du noch tun?« In dieser Frage schwingt eine gehörige Portion Sensationslust mit. Sie wird garantiert heute Abend ihren Freundinnen erzählen, was für eine schreckliche Aufgabe ich zu bewältigen habe und wie froh sie ist, dass sie sich stattdessen mit der emotionalen Entwicklung des neuen Helden von Amy McConnor beschäftigen darf. Der wiederum ist fast zwei Meter groß, extrem gut gebaut, dunkelhaarig und hatte eine schwere Kindheit. Und das Beste an ihm: Er ist nicht real.
»Ich werde mir eine neunschwänzige Katze zulegen, ein Buch über Hundeerziehung kaufen und sehen, was der Tag noch bringt«, antworte ich.
Der Tag bringt mir neuen unerwünschten Lesestoff.
»Es ist keine Fantasy!« Markus Drebel sieht mich entgeistert an und scheint kurz zu überlegen, wie er mich jetzt augenblicklich öffentlichkeitswirksam belehren kann. Das tut er gerne. Ist sein Hobby. Menschen belehren. Er hätte auch gut Notar werden können. Nun ist er aber Lektor geworden und seit sechs Monaten bei uns im Verlag. Mit einem Einzelbüro. Leider sind wir im Moment alleine in seinem Einzelbüro, und so wird niemand mitbekommen, wie er mir erklärt, dass ich mit meiner Einschätzung mal wieder völlig danebenliege.
»Es ist eine DYS-TO-PIE«, sagt er betont langsam und zieht dabei einen Mundwinkel missbilligend nach unten. Kein Mensch kann seinen Mund so komisch bewegen wie er. Er benutzt ihn, um abwertende und manchmal auch reichlich arrogante Grimassen zu produzieren. Wie eine Comicfigur. Theoretisch wäre das lustig. Da er jedoch unser aller Kollege ist und diese Grimassen immer in Bezug auf eine von uns »Liebesroman-Tanten« aufsetzt, ist das leider überhaupt nicht lustig.
»Weiß ich. Schwarzes Cover. Komische Figuren vorne drauf. Ist bei mir trotzdem alles Fantasy. Gib mir bitte ein Exemplar, damit ich mich weiterbilden kann und eine umfassende Betreuung des Autors durch mich gewährleistet wird.«
Er sieht mich düster an, was völlig normal ist. Er sieht uns alle düster an und hält uns für oberflächliche Tussis mit komischen Klamotten. Während er mich also finster anstarrt, atme ich flach und nur durch den Mund. Ich hasse das Rasierwasser, in dem er sich offenbar jeden Morgen wälzt. Endlich steht er auf und geht zu seinem Regal in der Ecke, in dem sich ungefähr tausend Exemplare tummeln. Er zieht eines hervor, streicht fast liebevoll über das Cover und reicht es mir.
»Ich finde ihn sprachlich außerordentlich talentiert und wunderbar sozialkritisch«, sagt er, als ich das Ding entgegennehme. »Der Erfolg gibt mir da recht.«
»Warum kümmerst du dich dann nicht um ihn? Du bist sein Lektor.«
»Du sagst es. Ich bin sein Lektor, nicht sein Kindermädchen. Abgesehen davon … ich habe hier eine ziemlich anspruchsvolle Sparte zu betreuen, die – ganz nebenbei bemerkt – die rückläufigen Verkaufszahlen der Liebesromane auffängt, damit ihr alle weiter eure Heftchen machen könnt. Dieses Buch wird euer aller Überleben sichern«, erklärt er, und die Theatralik in seinen Worten hallt in seinem Einzelbüro von Wand zu Wand. »Und für eine emphatische Eins-zu-eins-Betreuung haben wir schließlich unsere fleißige Arbeitsbiene.«
Ich lächle höflich, obwohl ich ihm für den letzten Satz gerne gegen das Schienbein treten möchte, klemme mir den Dystopie-Schinken unter den Arm und verlasse sein Büro.
Dicke Socken, heiße Schokolade, Sofa, Eis, Rache über Xalanton. Das passt nicht zusammen. Ich kann das Ding noch nicht einmal aufschlagen. Eine mächtige Instanz in mir verweigert sich komplett und befiehlt meinen Händen, stattdessen den Becher mit der heißen Schokolade zu umklammern. Vom Buchcover blickt mir eine verzweifelt dreinblickende Mittzwanzigerin entgegen, die mit der Spitze ihres Schwertes eine sonderbare Maschine anpiekst. Damit haben wir übrigens gerade einen Leserpreis für das beste Cover des Jahres gewonnen. »Warum?«, möchte man schreien. Alle meine Kolleginnen wollen das schreien. Erst im Chor und dann im Kanon. Mehrstimmig. Wir haben die schönsten Cover im Angebot – pastellfarben, designtechnisch durchgestylt, mit schönen Männern oder Hundewelpen drauf –, und dieses Ding hier gewinnt.
Nun gut, es ist nicht mein Genre. Vielleicht erschließt es sich mir deshalb nicht. Außerdem besteht meine ästhetische Präferenz aus zartblau abgetönten Wänden, kleinen rosafarbenen Blümchen auf dem Sofa und weißen Möbeln. Mit einem tiefen Seufzer lege ich die Hand auf das Buch und will es gerade aufschlagen, als mein Handy klingelt.
»Sie haben mich viermal angerufen«, konstatiert eine männliche Stimme am anderen Ende. Er macht sich nicht die Mühe, seinen Namen zu nennen und klingt deutlich genervt.
Am liebsten würde ich sagen: »Ich bitte diese Unannehmlichkeit zu entschuldigen.« Und dann auflegen. Klick.
Stattdessen straffe ich die Schultern, stelle mit Wucht meine Füße auf den Boden – ein fester Stand ist bei jeglicher Art von Problemgesprächen wichtig – und sage: »Ah. Ja. Mein Name ist Bea Weidemann vom Königstein Verlag. Ihrem Verlag. Ich bin zuständig für Marketing und Presse.«
Er könnte jetzt etwas antworten wie: »Schön.« Ein »Nett, dass wir uns kennenlernen« wäre natürlich schon fast übertrieben, aber wenigstens ein »Guten Abend« könnte man schon erwarten. Es kommt aber: nix. Ich höre noch nicht mal, dass er atmet. Während ich überlege, wie ich ihm erklären soll, dass ich ab sofort seine persönliche und durchaus engagierte Nanny sein werde, sagt er doch endlich etwas: »Sie haben mich angerufen. Also?«
Es ist natürlich nicht so, dass Carola ihn schon von den weitreichenden Veränderungen, die mich und ihn betreffen, in Kenntnis gesetzt hätte. Nein. Der gesamte Verlag hat die Talkshow gesehen, ist vor Entsetzen vom Sofa gerutscht, hat sich an die drei Lesungen erinnert, zu denen er zweimal gar nicht und einmal eine Stunde zu spät erschienen ist, und beschlossen: Der Mann braucht Betreuung. Durch mich. Nicht durch die völlig überforderte Volontärin, die die Schwangerschaftsvertretung von Heidrun, ihres Zeichens Marketingfachfrau für sonderbare Bücher, übernommen hat. Schließlich bekomme ich jetzt sogar eine eigene Praktikantin, damit der Goldesel – pardon Bestsellerautor – adäquat und Face-to-Face und das 24/7 an image- und verlagsschädigendem Verhalten gehindert und in die richtigen, sprich verkaufsfördernden Bahnen gelenkt wird.
»Also«, sage ich und gebe meiner Stimme einen kleinen, feschen Schmiss. Ich räuspere mich. Oh Gott. Ich kann nicht mit solchen Typen. Ich befasse mich lieber mit freundlichen Liebesroman-Autorinnen, die mich sogar in ihren Danksagungen erwähnen und auf Facebook dann Katzenvideos posten. Mit denen funke ich sozusagen auf einer Wellenlänge. Tim Bergmann und sein Buch hingegen entstammen irgendeinem fremden Planeten.
»Ich kümmere mich um den öffentlichen Auftritt des Verlags und bin für alle Aktivitäten verantwortlich.« Außer für die missglückten Lesungen des lieben Herrn Bergmann und seinen Talkshow-Auftritt – Gott sei Dank.
»Das schließt ab sofort auch alles ein, was Sie in der Öffentlichkeit tun. Oder sagen. Oder nicht tun. Oder sagen.« Mein Konzept lässt zu wünschen übrig. Was er sofort glasklar erkennt.
»Was genau wollen Sie von mir?« Im Hintergrund fängt etwas an, lautstark zu brummen. Vor Schreck kippe ich mir den Rest der heißen Schokolade über die Pyjamahose.
»Was ist das?«, rufe ich entsetzt ins Telefon. Der Lärm verebbt, und mein Gesprächspartner antwortet in normaler Lautstärke: »Kaffeemaschine.« Ein Einwortsatz. Mehr hält er wohl für überflüssig. Und wer bitte trinkt um diese Uhrzeit Kaffee?
»Ich will gar nichts von Ihnen«, nehme ich den Faden wieder auf. »Ich werde Sie nur ab sofort zu allen Veranstaltungen begleiten und bei der Repräsentation unseres Verlags unterstützen.«
Er schweigt. Vielleicht trinkt er lautlos seinen Kaffee und lauscht derweil seinem ansteigenden Herzschlag? Koffein um diese Uhrzeit muss zwangsläufig zu Schädigungen führen.
»Sie wollen mir also einen Maulkorb verpassen«, sagt er schließlich.
»Nein«, erwidere ich energisch. »Wir wollen nur nicht, dass Sie den Verkauf Ihres Buches durch unachtsame und nicht durchdachte Auftritte in der Öffentlichkeit gefährden.«
Er lacht.
»Bringen Sie auch meinen Müll raus?«, fragt er, als er sich wieder eingekriegt hat.
»Ist das eine Metapher?«, frage ich argwöhnisch zurück.
»Nein.«
»Dann nicht.«
Wieder Schweigen. Das hier ist das bekloppteste, anstrengendste und unangenehmste Telefonat, das ich in den vergangenen dreißig Jahren geführt habe. Und ich habe bereits im zarten Alter von zwei Jahren intensive Telefonate geführt, also kann ich da auf eine lange Erfahrung zurückblicken.
»Ich möchte mich möglichst bald mit Ihnen treffen. Gerne im Verlag oder in einem Café. Ganz wie Sie möchten. Wir müssen über die nächste Lesung sprechen«, sage ich so unterkühlt wie möglich. Ich habe eine Aufgabe. Alle halten mich für fähig, diese Aufgabe brillant zu meistern, und deshalb sollte tunlichst niemand merken – Autoren eingeschlossen –, dass mir der Hintern just in diesem Moment gewaltig auf Grundeis geht.
Und wieder lacht Tim Bergmann. Über mich. Was mich derart aufregt, dass ich einen Schluckauf bekomme.
Kaum habe ich erbost aufgelegt, klingelt es auch schon wieder. Vor Schreck gehe ich sofort dran, was ich exakt eine Sekunde später bitter bereue. Meine Freundin Marlene aus München möchte mit mir sprechen. Und das geht nicht unter einer Stunde. Außerdem gleichen unsere Gespräche meistens eher einem Verhör.
»Hallo meine Liebe, wie geht es dir im drögen Braunschweig?«, flötet sie ins Telefon, und ich höre die Sensationsgier in ihren Worten.
»Prima!«, bemühe ich Carolas Lieblingswort und rufe mir gleichzeitig in Erinnerung, mir nur ja nix an internen Informationen aus der Nase ziehen zu lassen.
»Was ist denn bei euch los?«, fragt Marlene, und schlagartig schwingt in ihrer Stimme ein Mix aus Mitgefühl und blanker Neugierde mit. Ich bin augenblicklich auf der Hut. Ich kenne Marlene. Sie arbeitet bei Freidenburg, einem der größten Verlage in Deutschland. Dort, wo ich auch mal gearbeitet habe. Solange, bis ich aufgrund diverser komplexer Sachverhalte fast einer Depression anheimgefallen bin. Ich war unfassbar einsam, und der Leistungsdruck hat es geschafft, mir einen wochenlang grellrot blühenden Hautausschlag ins Dekolleté zu zaubern. Ich weiß, dass ich mir mit meiner Rückkehr nach Braunschweig und dann auch noch zu einem Mini-Verlag meinen Lebenslauf auf das Äußerste versaut habe, aber mir geht es hier besser. Ich brauche zum Leben nette Menschen um mich herum. Und meine Familie. In München war nur der Pförtner nett zu mir. Marlene versteht das nicht, was ich wiederum verstehen kann, weil doch niemand freiwillig von Freidenburg in München zu Königstein in Braunschweig wechseln würde. Also niemand außer mir. Und meiner Mutter. Aber die versteht sowieso alles, was ich tue, weil sie die Beste ist.
»Och, alles ganz okay hier«, sage ich lapidar und höre, wie Marlene scharf einatmet. Damit fängt es immer an. Sie befeuert ihr Gehirn mit einer Überdosis Sauerstoff und wird dann versuchen, höchst eloquent und einfühlsam in die Tiefen der Verlagsgeheimnisse einzutauchen. Meines Verlags, versteht sich. Denn schließlich weiß mittlerweile die komplette Verlagswelt, dass Tim Bergmann bei Königstein veröffentlicht. Wir sind jetzt so interessant, dass München sich für uns interessiert. Das hier ist kein Privatgespräch, das ist Wirtschaftsspionage!
»Du«, sage ich schnell, denn Marlene hat mittlerweile schon dreimal tief ein- und wieder ausgeatmet, was bedeutet, ihr Hirn muss bereits unter einer Sauerstoff-Überdosis leiden.
»Ich habe hier noch ein Manuskript liegen, das ich bis morgen lesen muss. Kann ich dich zurückrufen? Tschüss, meine Liebe!« Und zack habe ich aufgelegt und beeindrucke mich selber mit dieser Tat. Normalerweise höre ich mir mindestens eine Stunde lang an, wie bedauernswert mein Leben ist und wie großartig Marlene die Herausforderungen ihres großartigen Lebens meistert. Sie meint das gar nicht so, wie es jetzt klingt. Sie ist eigentlich ganz nett. Aber Marlene braucht das wohl irgendwie. Aber heute brauche ich meine Ruhe.
Am nächsten Morgen fällt mir beim ersten Kaffee im Büro ein, dass ich mit Tim Bergmann nicht über die Lesungen gesprochen habe. Also über die pünktliche Anreise zum Beispiel. Was ungünstig ist, denn die nächste Lesung ist heute Abend um acht in der Buchhandlung Baumann. Zweihundertfünfzig Karten sind verkauft, es hat sich viel Presse angesagt, und natürlich warten alle darauf, dass sich Tim Bergmann wieder danebenbenimmt – den Moderator mit harten Gegenständen beschmeißt, Menschen öffentlich beleidigt oder vielleicht irgendwann auch mal die Hosen runterlässt. Auf der einen Seite ist das durchaus medienwirksam, und ich vertrete den Standpunkt, dass auch schlechte Werbung manchmal ganz gute Werbung sein kann, aber ich würde solches Verhalten natürlich nicht akzeptieren. Weil es um den guten Ruf meines Verlags geht. Meines Zuhauses. Dieser Verlag ist mein Ein und Alles. Insofern muss ich mir eine geeignete Gegenmaßnahme überlegen, falls Tim Bergmann öffentlich zu entgleisen droht. Bisher bin ich mit meiner strategischen Planung allerdings noch nicht sonderlich weit.
Als ich am Abend in der Buchhandlung ankomme, stehen Carola und Markus Drebel leicht angespannt herum und beobachten, wie das Team von Baumann schnell und effizient zweihundertfünfzig Stühle aufbaut. Übrigens ist das hier die einzige Buchhandlung in Braunschweig mit einer solchen Anzahl von Stühlen – und den entsprechenden Räumlichkeiten.
»Wann kommt er?«, raunt Carola mir zu und leert dann nahtlos ihr Sektglas.
»Ich habe dir doch gesagt, dass er nicht mehr ans Telefon gegangen ist«, antworte ich. Nach meiner frühen Erkenntnis am Vormittag habe ich ihn natürlich etliche Male angerufen. »Er hat nur auf die Mail geantwortet. Also auf eine der zwanzig.« Ich trinke selten Alkohol, deswegen nippe ich an meinem Tee, den mir eine freundliche Buchhändlerin aus ihrem privaten Vorrat gekocht hat.
»Kannst du anhand dieser Mail mit hundertprozentiger Sicherheit ableiten, dass er hier auftauchen wird?« Meine Chefin knallt ihr Sektglas auf den Stehtisch und verknotet ihre Finger ineinander. Das tut sie, um nicht an den Nägeln zu kauen. Ich fasse in meine Tasche und reiche ihr einen Schokoriegel. Und auch gleich noch ein Taschentuch – prophylaktisch.
»›Ich habe Ihre Information zur Kenntnis genommen‹«, gebe ich den Inhalt der knappen Antwort-Mail wieder.
»Bedeutet das, dass er kommt?« Carola fixiert mich mit ihren stechend blauen Augen und schnauft einmal viel Luft durch die Nase aus. Irgendeine fernöstliche Entspannungsübung. Wenn man das nicht weiß, klingt sie wie Antje, das Walross.
»Chefin. Ich weiß es nicht«, sage ich akzentuiert. »Ich mache diesen Job ›Betreuung eines höchst unkooperativen Autoren, der leider unser einziger Bestsellerautor ist, war und vermutlich bleiben wird‹ auch erst seit gestern. Du erinnerst dich?«
»Diese Verkaufszahlen machen mir Angst«, sagt sie und knabbert jetzt doch an ihrem Daumennagel.
»Ja«, sage ich. Wir alle befinden uns in einer Schockstarre. Tim Bergmanns Roman hat sich in den vergangenen drei Wochen besser verkauft, als alle anderen Titel des Programms im ganzen Jahr. Die dritte Auflage ist mittlerweile im Druck, und dabei war die zweite mit fünfzigtausend Exemplaren schon mutig hoch kalkuliert. »Wenn er sich weiter so gut verkauft, können wir die eventuellen Schadensersatzforderungen für eine ausgefallene Lesung allerdings locker zahlen«, sage ich und versuche ebenfalls eine Atemübung, die aber misslingt. Ich klinge wie Bambi mit Asthma. Carola sieht mich erschüttert an, ob jetzt wegen der Annahme, die Lesung könnte ausfallen und uns trotzdem nicht in den Ruin stürzen, oder wegen meines Schnaufens, weiß ich nicht.
»Darum geht es nicht!«, erwidert sie scharf. »Es geht darum, dass heute zweihundertfünfzig Leser kommen. Sie freuen sich, haben sich freigenommen, Babysitter organisiert, Geld bezahlt, und wenn er dann nicht auftaucht, ist das kein unpassendes Verhalten, das man voyeuristisch im Fernsehen betrachten kann, sondern dann wird das schnell sehr persönlich.«
Auch eine Art, die Sachlage zu betrachten. Ich nicke langsam und schiele auf die Uhr. Halb sieben. In einer Stunde geht es los. Gleich werden unten die Türen geöffnet und die vielen Menschen, die schon draußen stehen, hereingelassen.
»Zur Not lese ich«, erkläre ich forsch, und meine Chefin blickt mich böse an, woraufhin wir beide schweigen. Nach ungefähr drei Minuten sage ich: »Gib mir deine Autoschlüssel.« Sie gibt sie mir nicht nur, sie bewirft mich förmlich damit, und ich rase los. Erst zu Fuß, dann mit dem Auto. Zum Glück ist meine Kollegin Diana chronisch neugierig und hat Tim Bergmanns Privatadresse heute Morgen noch gegoogelt, um zu sehen, wo er wohnt. Sie kann nämlich nicht glauben, dass er tatsächlich in Braunschweig wohnt. Und das noch nicht einmal weit von der Innenstadt entfernt. Ich hätte ihn ja eher in Berlin oder Hamburg erwartet. Markus Drebel tut so, als wäre es sein Verdienst, dass unser Goldesel in der Nähe seines Verlags wohnt, dabei scheint es purer Zufall zu sein. Zumindest kenne ich so den Weg zu ihm, was mir viel Zeit erspart, weil ich nicht erst umständlich das Navi programmieren muss.
Allerdings muss ich dafür an der Ausfahrt der Tiefgarage lange herumstehen, weil vor mir ein Mann seine Luxuskarosse nicht dicht genug an den Schrankenautomaten manövrieren kann, um die Parkkarte hineinzuschieben. Ich habe zwar auch eine ziemliche Karosse (Chefins Auto), doch mir gelingt dieses Manöver nach der Warterei problemlos und unter drei Sekunden, dann gebe ich Gas. Da ich vor Tim Bergmanns Haus keinen Parkplatz finde, stelle ich mich in die zweite Reihe, mache den Warnblinker an, steige aus und jage los, nur um dann frontal gegen die Haustür von Hausnummer einhundertzehn zu prallen. Ich kenne mich nicht aus mit geschlossenen Haustüren, meine steht immer auf, und so drücke ich erst mal sämtliche zur Verfügung stehenden Klingelknöpfe. Irgendjemand reagiert auf mein hektisches Klingeln mit dem Betätigen des Türöffners, und ich rase die Treppe hoch. Laut Klingelschild wohnt Tim Bergmann ganz oben. Wie könnte es anders sein. Keuchend komme ich in der vierten Etage an und drücke wieder einen Klingelknopf. Diesmal den richtigen. Drinnen bleibt es ruhig. Ich klingele erneut und zücke gleichzeitig mein Handy, um ihn auch noch anzurufen – ich war schon immer eine Verfechterin der These: Viel hilft viel! Und sie bestätigt sich, denn nach gefühlten zwanzig Minuten (es waren wohl eher nur drei), öffnet sich die Tür.
Vor mir steht ein Mann. Ich trete einen Schritt zurück, und der Mann sagt: »Das Grauen hat doch tatsächlich ein menschliches Antlitz.«
Ich trete noch einen Schritt zurück, weil der Typ für einen kleinen Moment und wirklich nur vorübergehend so aussah wie etwas, das in mein Beuteschema passen könnte. Das passiert nicht so häufig, deswegen bin ich ganz kurz ein ganz klein wenig irritiert. Aber: mein Fehler. Vor mir steht tatsächlich Tim Bergmann. In einer alten Jogginghose und einem verwaschenen Shirt. Er sieht anders aus als im Fernsehen. Handfester. Größer. Ein echter Kerl. Und Diana hatte recht. Er ist durchaus sexy. Bis man ihm in die kalten, grauen Augen sieht.
»Bea Weidemann«, sagt er und kneift besagte Augen zusammen, während er mir irgendwie anklagend sein Handy vor die Nase hält. »Wieso rufen Sie mich an und klingeln gleichzeitig an meiner Tür?« Er kann auf fast kunstvolle Art seine linke Augenbraue hochziehen. »Hätten Sie als Nächstes die Tür eingetreten?« Sein Blick ist stechend, und mir ist nach Luftschnappen. Mach ich aber nicht.
»Sie lesen in exakt fünfunddreißig Minuten in der Buchhandlung Baumann. Dort sitzen zweihundertfünfzig Menschen und warten auf Sie!« Es kann sein, dass ich die letzten Worte ein wenig schärfer ausgesprochen habe, zumindest sieht er so aus, als wolle er die Tür wieder zumachen, was ich durch einen energischen Schritt, der mich einiges an Überwindung kostet, zu verhindern weiß. Ich gucke Krimis ja nicht nur zum Spaß. Tim Bergmann zieht jetzt auch die andere Augenbraue hoch und betrachtet mich wie eine achtbeinige Kreatur, die aus Versehen über seine Türschwelle gekrochen ist.
»Wie spät ist es denn?«, fragt er, und ich schnauze ihm ein »fast sieben!« entgegen. Was mich selbst beeindruckt.
»Hm«, sagt er, bewegt sich aber nicht. Mein Zeigefinger fuchtelt vor seiner Nase herum, und ich schnauze weiter: »Wenn wir JETZT losfahren, können wir es noch halbwegs pünktlich schaffen!«
»Hm.«
»Warum sind Sie noch nicht fertig? Warum sind Sie überhaupt noch nicht auf dem Weg?«
Er presst kurz missbilligend die Lippen aufeinander. »Ich habe die Zeit vergessen.«
»Sie haben die Zeit vergessen«, wiederhole ich schwach. Nicht dass wir irgendwie Zeit hätten, um schweigend herumzustehen, trotzdem tun wir das einen Moment lang. Ich, weil ich nicht fassen kann, dass jemand eine Lesung, also seine Lesung, vergisst, er weil er mich für das sonderbarste Wesen links des Mittellandkanals hält. Das erkenne ich glasklar in seinem Gesicht.
»Ich habe geschrieben. Wissen Sie, wie das geht? Wissen Sie, dass das eben nicht geht, wenn man ständig Zeitdruck hat? Ach nee …« Er macht eine kurze Pause und beugt sich ein paar Zentimeter zu mir hinunter, weil er wirklich groß ist. Ich möchte ausweichen, und mein Herz macht einen heftigen Hüpfer, aber ich bleibe stehen. Keine Angst zeigen. Sonst wird man gefressen. So läuft das im Leben. »Sie verkaufen ja nur den ›Content‹.« Er malt mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. »Vom Entstehungsprozess haben Sie ja keine Ahnung.«
Ich denke: »Arschloch!«, und sage: »Das stimmt nicht.« Ich habe sehr wohl Ahnung vom Schreiben. Und für mich war noch kein einziges Buch einfach nur Content. Abgesehen von seinem. Alle anderen waren Herzblutprojekte. Geschrieben von Herzblut-Autoren, die es nicht nötig haben, sich so aufzuführen wie er. Profis eben. Keine durchgeknallten Zufalls-Schreiberlinge.
»Wir müssen jetzt fahren«, erkläre ich mit fester Stimme. Er dreht sich um, geht zurück in seine Wohnung und lässt mich stehen. Ohne auch nur den Ansatz einer Erklärung. Was soll ich jetzt tun? Und was soll ich denn bitte tun, wenn er sich einfach verweigert? Den Drang, ihn an den Füßen die Treppe hinunterzuschleifen, werde ich wohl unterdrücken müssen. Er wird so viel wiegen wie ein mittlerer Grizzly.
Mein Handy klingelt. Carola. »Sachstandsbericht«, fordert sie knapp, als ich abnehme.
»Wir sind quasi unterwegs.«
»Definiere quasi!«
»Fast losgefahren. Bis gleich«, sage ich und lege auf. Ich beschließe, den widerspenstigen Schreiberling zu suchen und die Nummer mit dem Hinterherschleifen zumindest gedanklich schon mal durchzuspielen. Es geht hier um meinen Verlag, ich muss meine persönlichen Befindlichkeiten hintanstellen. Die Wohnung ist recht klein und rumpelig. Durchaus gemütlich rumpelig. Er lebt eindeutig alleine, es ist nämlich eine Kerle-Wohnung, und gearbeitet hat er tatsächlich. Im Wohnzimmer steht ein riesiger Tisch, auf dem zwei Laptops und mindestens zwei explodierte Schreibblöcke wild durcheinander liegen, mit einem grellgrünen Tacker in Froschform als Krönung obendrauf. Dazwischen steht eine geöffnete Flasche Wein und ein halbvolles Glas. Die Flasche ist allerdings leer. Ob er die alleine getrunken hat? Gerade eben? Ist er eventuell betrunken?
»Hallo?!«, rufe ich in den Flur, und tatsächlich kommt er prompt um die Ecke geschlendert. Irritiert starre ich ihn an. Vor exakt fünf Minuten sah dieser Mann noch so aus, als hätte er die vergangenen Tage unter einer Brücke verbracht. Jetzt ist er optisch plötzlich ein echter Knaller. Um so auszusehen, würden vermutlich sehr viele Männer direkt ihre Seele verkaufen. Andere Männer bräuchten vermutlich Stunden, um dem nur nahe zu kommen. Nur dass der Bad Boy Look bei Tim Bergmann absolut authentisch wirkt. Nicht nur das, man könnte meinen, er hat ihn erfunden. Er trägt Biker-Stiefel, eine verwaschene Jeans und eine alte, schwarze Lederjacke. In Kombination mit den millimeterkurzen Haaren, dem Dreitagebart und einer großen Tätowierung, die sich offenbar von seiner Schulter bis in den Nacken zieht, wirkt er durchaus furchteinflößend. Ich unterdrücke meinen innerlichen Fluchtinstinkt. Sein Anblick ist zwar durchaus beängstigend, weil er quasi einen Testosteron-Tsunami durch den viel zu kleinen Flur jagen lässt, aber er ist da!
Halleluja!
»Wo sind Ihre Lesungsunterlagen?«, frage ich schnell und werfe einen suchenden Blick über seinen Schreitisch.
»Was?«
»Lesung!«, sage ich knapp und mache dann eine gelungene pantomimische Darstellung von Blättern in meiner Hand, woraufhin er abwertend und äußerst gekonnt wieder eine Augenbraue hochzieht.
»Buchhandlung!«, antwortet er, und ich bin mir sicher, dass seine Stimme eine Spur schneidender geworden ist. »Verkaufen die mein Buch nicht? Die werden doch wohl eins für mich übrig haben, damit ich daraus vorlese, was?«
Ich atme tief ein. Es ist egal. Er ist da. Vielleicht erzählt er statt zu lesen einen Schwank aus seiner Jugend. Oder er kann einen irischen Stepptanz aufführen. Lesen wird sowieso überbewertet.
Ich stürze also aus der Wohnung, und er folgt mir. Ruhig und entspannt. Ohne erkennbare Form von Eile. Was mich rasend macht.
»Los, los, los!«, feure ich ihn an, doch jetzt bleibt er auch noch stehen, mitten auf dem Fußweg, während das Auto meiner Chefin immer noch in der zweiten Reihe vor sich hin blinkt. Wenigstens ist es noch nicht abgeschleppt oder über den Haufen gefahren worden.
»Bea Weidemann«, sagt er und fixiert mich mit einem vernichtenden Blick. In mir regt sich der leise Verdacht, dass dies der ideale Zeitpunkt wäre, um genau jetzt doch noch das Weite zu suchen. Reflexartig. Mit meinen Reflexen ist nämlich nicht zu spaßen. Allerdings habe ich etwas entdeckt. Oder besser, mein Instinkt, der ja ständig mit meinen Reflexen unter einer Decke steckt. Tim Bergmann sieht mich immer noch an, und das Rohe, Furchteinflößende an ihm, das mich so erschreckt hat, verwandelt sich in eine sonderbare Ernsthaftigkeit, die eigentlich gar nicht zu ihm passt. Oder zu dem, wie ich ihn bisher gesehen habe. Was er der Welt zeigen will. Es ist diese sonderbare Andersartigkeit, die mich stocksteif stehen bleiben lässt. Er verschränkt die Arme und knurrt: »Wenn Sie mir auf den Sack gehen, können Sie Ihre Lesung alleine machen.« Das reißt mich zwar nicht aus meiner Starre, aber mir bleibt doch die Spucke weg.
»Sie werden dafür bezahlt!«, stoße ich schließlich hervor.
»Der Verlag, also Sie, möchten, dass ich diese ganzen Lesungen abhalte. Ich habe eingewilligt. Obwohl ich das hasse. Meine Bedingung lautete: keine großen Sachen. Nur kleine Lesungen. Das hier ist nicht klein. Ich komme mit, aber wir machen es so, wie ich es will.«
Er ist ganz eindeutig sauer, und augenblicklich mischt sich mein Reflex wieder ein und befiehlt nachdrücklich: Rückzug! Leider liefert er mir keine konkrete Angabe, wohin, und wovon ich dann, nach dem Rückzug, meine Miete zahlen soll. Deswegen straffe ich den Rücken, stemme die Füße in den Asphalt und erkläre: »Wir müssen jetzt fahren!«
Der schlecht gelaunte Kerl in der Lederjacke brummt und knurrt, steigt dann aber tatsächlich ein, und ich jage los. Während der kurzen Fahrt schweigen wir. Was vermutlich auch besser ist. Ich bin noch so sehr mit meinem klitzekleinen Blick hinter seine Fassade beschäftigt, dass mir erst vier Ampeln später auffällt, dass es im Auto gut riecht. Da es auf der Hinfahrt noch nicht so gerochen hat, ist anzunehmen, dass Tim Bergmann der Grund für den Wohlgeruch ist. Wie kann es sein, dass ich ausgerechnet diesen Kotzbrocken gut riechen kann?
Glücklicherweise habe ich keine Zeit, mich mit dieser sonderbaren Fragestellung zu befassen, denn als wir in der Buchhandlung ankommen, ist der gesamte Raum mit Menschen gefüllt. Bis auf den letzten Platz. Bei den Lesungen, die ich normalerweise organisiere, besteht das Publikum hauptsächlich aus Frauen, die manchmal noch ihre Männer mitschleifen. Hier und heute aber ist das Publikum bunt gemischt. Viele junge Leute, viele mittelalte Leute, viele alternative Leute, viele total normale Leute. Ich dirigiere Tim Bergmann zur Bühne, und der Moderator, der so aussieht, als würde er sonst Möbelhauseröffnungen und Modenschauen moderieren, sackt vor Erleichterung über unser Auftauchen ein wenig in sich zusammen. Ich geselle mich zu meiner Chefin an einen der hinteren Stehtische.
»Wo war der Kerl?«, fragt sie und knabbert an ihrem Daumennagel.
»Er hat die Zeit vergessen«, antworte ich, und sie zieht theatralisch die Luft durch die Schneidezähne ein und lässt dann ihren Kopf auf die Tischplatte sinken.
Er ist gut. Das muss ich ihm lassen. Ich habe schon Lesungen erlebt, bei denen der Autor mit monotoner Stimme und komplett betonungsfrei seinen Text heruntergerasselt hat, sodass es nicht weiter aufgefallen wäre, wenn er aus dem Hamburger Telefonbuch vorgelesen hätte. Die Zuhörer haben das durch leises Schnarchen honoriert. Tim Bergmann hingegen hört man gerne zu. Er hat eine angenehme Stimme und zieht seine Zuhörer förmlich in seinen Bann. Selbst ich lasse mich nun auf diesen Fantasy-Roman ein. Äh … Dystopie. Sorry.
Zwei Brüder leben in einer scheinbar perfekten Welt. In der Zukunft. Es gibt zwar keine Kriege, keine Krankheiten, keine Konflikte, dafür aber eine diktatorische Herrschaftsform, aber auf den ersten Blick scheint es der Gesellschaft ganz gut zu gehen. Viele der alltäglichen Handlungen und Ereignisse in Tim Bergmanns Roman erinnern an die Lebenswirklichkeit seiner Leser, und genau diese Passagen liest er anfangs auch vor. Äußerst geschickt, wie ich finde. Denn dann lässt der Protagonist allmählich durchblicken, was mit den Menschen in seiner Welt passiert, die nicht so sind, wie das Regime vorschreibt: Alles, was nicht perfekt funktioniert, wird abtransportiert. Weggesperrt. Für wertlos erklärt. Die Konsequenz? Eine Gesellschaft, in der es keine offensichtlichen sozialen und persönlichen Probleme zu geben scheint – aber dementsprechend auch keine wirklichen Menschen mit widersprüchlichen Gefühlen, Mängeln und Bedürfnissen.
Tim Bergmann liest ganz gezielt einzelne Passagen aus seinem Buch, und ja, ich gebe zu, dass ich in einem Werk dieses Genres nicht unbedingt eine solch poetische Sprache erwartet hätte. Und schon gar nicht von diesem Mann.